Auch Arnheim sagte das, obschon er niemals anzufügen vergaß, daß es dabei in erster Linie auf starke, im Wirtschaftlichen ebenso wie im Bereich der Ideen erfahrene Menschen ankäme und dann erst auf den Umfang der Organisation. So hatte sich in Diotima die Parallelaktion untrennbar mit Arnheim verknotet, und die Vorstellungsleere, die anfangs mit diesem Unternehmen verbunden gewesen war, hatte einer reichen Fülle Platz gemacht. Es rechtfertigte sich die Erwartung, daß der Schatz von Gefühl, der im österreichertum ruhe, durch preußische Gedankenzucht gekräftigt werden könne, auf das glücklichste, und so stark waren diese Eindrücke, daß die korrekte Frau kein Empfinden für den Gewaltstreich hatte, den sie unternahm, als sie Arnheim einlud, der gründenden Sitzung beizuwohnen. Nun war es zu spät, um sich eines anderen zu besinnen; aber Arnheim, der diesen Zusammenhang ahnend begriff, fand in ihm etwas wesentlich Versöhnliches, so unwillig ihn auch die Lage machte, in die er gebracht worden war, und Se.
Erlaucht war im Grunde seiner Freundin viel zu wohlgesinnt, um seinem Erstaunen einen schärferen als den unwillkürlichen Ausdruck zu geben; er schwieg zu Diotimas Erklärung, und nach einer peinlichen kleinen Pause reichte er Dr. Arnheim liebenswürdig die Hand, wobei er ihn in der höflichsten und schmeichelhaftesten Weise so willkommen hieß, wie er es war. Von den ändern Anwesenden hatten wohl die meisten den kleinen Auftritt bemerkt, und sie wunderten sich auch, soweit sie wußten, wer er war, über Arnheims Gegenwart, aber unter wohlerzogenen Menschen setzt man voraus, daß alles einen guten Grund habe, und es gilt als schlechte Lebensart, neugierig nach ihm zu forschen.
Inzwischen hatte Diotima ihre bildhafte Ruhe wiedergefunden, eröffnete nach einigen Augenblicken die Sitzung und bat Se. Erlaucht, ihrem Hause die Ehre anzutun, darin den Vorsitz zu übernehmen.
Se. Erlaucht hielt eine Ansprache. Er hatte sie schon tagelang vorbereitet, und der Charakter seines Denkens war ein viel zu fester, als daß er vermocht hätte, im letzten Augenblick daran etwas zu ändern; er konnte nur gerade noch die unverhohlensten Anspielungen auf das preußische Zündnadelsystem (das im Jahre Sechsundsechzig den österreichischen Vorderladern heimtückisch zuvorgekommen war) mildern.
«Was uns zusammengeführt hat, » sagte Graf Leinsdorf «ist die Übereinstimmung darin, daß eine machtvolle, aus der Mitte des Volks aufsteigende Kundgebung nicht dem Zufall überlassen bleiben darf, sondern eine weit vorausblickende und von einer Stelle, die einen weiten Überblick hat, also von oben kommende Einflußnahme erfordert. Seine Majestät, unser geliebter Kaiser und Herr, wird im Jahre 1918 das hochseltene Fest seiner 70jährigen segensreichen Thronbesteigung feiern; so Gott will in jener Rüstigkeit und Frische, die wir an ihm zu bewundern gewohnt sind. Wir sind sicher, daß dieses Fest von den dankbaren Völkern Österreichs in einer Weise begangen werden wird, die der Welt nicht nur unsere tiefe Liebe zeigen soll, sondern auch, daß die österreichisch-ungarische Monarchie fest wie ein Felsen um ihren Herrscher geschart steht. » Hier schwankte Graf Leinsdorf, ob er etwas von den Zerfallserscheinungen erwähnen solle, denen dieser Fels selbst bei einer gemeinsamen Feier des Kaisers und Königs ausgesetzt war; denn man mußte dabei mit dem Widerstande Ungarns rechnen, das nur einen König anerkannte. Se. Erlaucht hatte darum ursprünglich von zwei Felsen sprechen wollen, die fest geschart standen. Aber auch das drückte sein österreichisch-ungarisches Staatsgefühl noch nicht richtig 88
aus.
Dieses österreichisch-ungarische Staatsgefühl war ein so sonderbar gebautes Wesen, daß es fast vergeblich erscheinen muß, es einem zu erklären, der es nicht selbst erlebt hat. Es bestand nicht etwa aus einem österreichischen und einem ungarischen Teil, die sich, wie man dann glauben könnte, ergänzten, sondern es bestand aus einem Ganzen und einem Teil, nämlich aus einem ungarischen und einem österreichisch-ungarischen Staatsgefühl, und dieses zweite war in Österreich zu Hause, wodurch das österreichische Staatsgefühl eigentlich vaterlandslos war. Der Österreicher kam nur in Ungarn vor, und dort als Abneigung; daheim nannte er sich einen Staatsangehörigen der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder der österreichisch-ungarischen Monarchie, was das gleiche bedeutet wie einen Österreicher mehr einem Ungarn weniger diesen Ungarn, und er tat das nicht etwa mit Begeisterung, sondern einer Idee zuliebe, die ihm zuwider war, denn er konnte die Ungarn ebensowenig leiden wie die Ungarn ihn, wodurch der Zusammenhang noch verwickelter wurde. Viele nannten sich deshalb einfach einen Tschechen, Polen, Slowenen oder Deutschen, und damit begannen jener weitere Zerfall und jene bekannten «unliebsamen Erscheinungen innerpolitischer Natur», wie sie Graf Leinsdorf nannte, die nach ihm «das Werk unverantwortlicher, unreifer, sensationslüsterner Elemente» waren, die in der politisch zu wenig geschulten Masse der Bewohner nicht die nötige Zurückweisung fanden. Nach diesen Andeutungen, über deren Gegenstand seither viele kenntnisreiche und gescheite Bücher geschrieben worden sind, wird man gerne die Versicherung entgegennehmen, daß weder an dieser Stelle noch in der Folge der glaubwürdige Versuch unternommen werden wird, ein Historienbild zu malen und mit der Wirklichkeit in Wettbewerb zu treten.
Es genügt vollauf, wenn man bemerkt, daß die Geheimnisse des Dualismus (so lautete der Fachausdruck) mindestens ebenso schwer einzusehen waren wie die der Trinität; denn mehr oder minder überall gleicht der historische Prozeß einem juridischen mit hundert Klauseln, Anhängseln, Vergleichen und Verwahrungen, und nur darauf sollte die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Ahnungslos lebt und stirbt der gewöhnliche Mensch zwischen ihnen, aber ganz und gar zu seinem Heil, denn wenn er sich darüber Rechenschaft geben wollte, in was für einen Prozeß, mit welchen Anwälten, Spesen und Motiven er verstrickt ist, könnte ihn wahrscheinlich in jedem Staat der Verfolgungswahnsinn packen. Das Verständnis der Wirklichkeit ist ausschließlich eine Sache für den historisch-politischen Denker. Für ihn folgt die Gegenwart auf die Schlacht bei Mohacs oder bei Lietzen wie der Braten auf die Suppe, er kennt alle Protokolle und hat in jedem Augenblick das Gefühl einer prozessual begründeten Notwendigkeit; und ist er gar wie Graf Leinsdorf ein aristokratischer politisch-historisch geschulter Denker, dessen Großväter, Schwert-und Spindelmagen selbst an den Vorverhandlungen mitwirkten, so ist das Ergebnis für ihn glatt wie eine aufsteigende Linie zu überblicken.
Darum hatte sich Se. Erlaucht Graf Leinsdorf vor der Sitzung gesagt: «Wir dürfen nicht vergessen, daß der hochherzige Entschluß Sr. Majestät, dem Volk ein gewisses Mitbestimmungsrecht in seinen Angelegenheiten zu schenken, noch nicht so lange her ist, daß auch schon überall jene politische Reife hätte eintreten können, welche in jeder Hinsicht des von höchster Stelle großmütig entgegengebrachten Vertrauens würdig erscheint. Man wird also nicht, wie das mißgünstige Ausland, in solchen an sich verdammungswürdigen Erscheinungen, wie wir sie leider mitmachen, ein greisenhaftes Zeichen der Auflösung zu erblicken haben, sondern weit eher ein Zeichen noch nicht reifer, darum unverwüstlicher Jugendkraft des österreichischen Volks!» Und daran hatte er auch in der Sitzung mahnen wollen, aber weil Arnheim dabei war, sagte er nicht alles, was er sich ausgedacht hatte, sondern begnügte sich mit einem an die Unkenntnis des Auslandes von den wahren österreichischen Verhältnissen und die Überschätzung gewisser unliebsamer Erscheinungen gerichteten Wink. «Denn» so schloß Se. Erlaucht «wenn wir einen nicht zu übersehenden Hinweis auf unsere Kraft und Einigkeit wünschen, so tun wir dies durchaus auch im internationalen Interesse, da ein glückliches Verhältnis innerhalb der europäischen Staatenfamilie auf gegenseitigem Respekt und Achtung vor der Macht des anderen beruht. » Er wiederholte dann nur noch einmal, daß eine solche urwüchsige Kraftleistung wirklich aus der Mitte des Volks kommen und deshalb von oben geleitet werden müsse, wozu die Wege zu finden, eben diese Versammlung berufen sei. Wenn man sich erinnert, daß dem Grafen Leinsdorf vor kurzem noch nicht mehr als eine Reihe von Namen eingefallen war, wozu er von außen bloß den Gedanken eines österreichischen Jahrs empfing, so wird man einen großen Fortschritt verzeichnen, obgleich Se. Erlaucht nicht einmal alles aussprach, was er gedacht hatte.
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Nach dieser Rede ergriff Diotima das Wort, um die Absichten des Vorsitzenden zu erläutern. Die große patriotische Aktion, erklärte sie, müsse ein großes Ziel finden, das, wie Se. Erlaucht gesagt habe, aus der Mitte des Volks aufsteigt. «Wir, die heute zum erstenmal Versammelten, fühlen uns nicht berufen, dieses Ziel schon festzusetzen, sondern wir sind vorerst nur zusammengetreten, damit wir eine Organisation schaffen, welche die Bildung von Vorschlägen, die zu diesem Ziel führen, in die Wege leiten soll. » Mit diesen Worten eröffnete sie die Diskussion.
Zunächst trat Schweigen ein. Sperre Vögel von verschiedener Herkunft und Sprache, die nicht wissen, was ihnen bevorsteht, in einen gemeinsamen Käfig, dann schweigen sie im ersten Augenblick genau so.
Endlich erbat sich ein Professor das Wort; Ulrich kannte ihn nicht, Se. Erlaucht hatte diesen Herrn wohl im letzten Augenblick durch seinen Privatsekretär einladen lassen. Er sprach vom Weg der Geschichte. Wenn wir vor uns blicken - sagte er —: eine undurchsichtige Wand! Wenn wir links und rechts blicken: ein Übermaß wichtiger Geschehnisse, ohne erkennbare Richtung! Er führe bloß einiges an: Den augenblicklichen Konflikt mit Montenegro. Die schweren Kämpfe, welche die Spanier in Marokko zu bestehen hätten. Die Obstruktion der Ukrainer im österreichischen Reichsrat. Wenn man aber zurückblickt, ist wie durch eine wunderbare Fügung alles Ordnung und Ziel geworden… Darum, wenn er so sagen dürfe: wir erleben in jedem Augenblick das Geheimnis einer wunderbaren Führung. Und er begrüße es als einen großen Gedanken, einem Volk sozusagen die Augen dafür zu öffnen, es einen bewußten Blick in die Vorsehung tun zu lassen, indem man es auffordert, in einem bestimmten Fall von besonderer Erhabenheit…
Nur das habe er sagen wollen. Es sei nämlich so, wie man ja auch in der zeitgenössischen Pädagogik den Schüler mit dem Lehrer gemeinsam arbeiten lasse, statt ihm fertige Ergebnisse vorzusetzen.
Die Versammlung sah versteint vor sich hin, freundlich auf das grüne Tischtuch; selbst der Prälat, der den Erzbischof vertrat, hatte bei dieser geistlichen Laienleistung nur die gleiche höflich abwartende Haltung wie die Ministerialen bewahrt, ohne die kleinste Kundgebung herzlicher Übereinstimmung seinem Gesicht entschlüpfen zu lassen. Man schien ein Gefühl zu haben, wie wenn unerwartet auf der Straße jemand laut und zu allen zu sprechen beginnt; alle, auch die, welche eben an gar nichts dachten, fühlen dann plötzlich, daß sie zu ernsten, sachlichen Zwecken unterwegs sind oder daß mit der Straße Mißbrauch getrieben wird.
Der Professor hatte, während er sprach, mit Befangenheit zu kämpfen gehabt, gegen die er seine Worte abgerissen und bescheiden durchpreßte, als verschlüge ihm Wind den Atem; nun aber wartete er, ob ihm Antwort werde, und zog diese Wartehaltung auf dem Gesicht nicht ohne Würde wieder ein.
Es wirkte auf alle gleich einer Rettung, als sich nach diesem Zwischenfall der Vertreter der kaiserlichen Zivilkanzlei rasch zum Wort meldete und der Versammlung eine Übersicht der Stiftungen und Widmungen gab, die im Jubiläumsjahr aus Allerhöchster Privatschatulle zu gewärtigen sein würden. Es begann mit der Zuwendung für den Bau einer Wallfahrtskirche und einer Stiftung zur Unterstützung unbemittelter Kooperatoren, dann marschierten die Veteranenvereine Erzherzog Karl und Radetzky, die Kriegerwitwen und -waisen aus den Feldzügen 66 und 78 auf, es kamen ein Fonds zur Unterstützung ausgedienter Unteroffiziere und die Akademie der Wissenschaften, und so ging es weiter; diese Listen hatten nichts Aufregendes an sich, sondern ihren festen Ablauf und gewohnten Platz bei allen öffentlichen Äußerungen des Allerhöchsten Wohlwollens. Als sie herabgelassen waren, stand denn auch gleich eine Frau Fabrikant Weghuber auf, die eine um das Wohltätigkeitswesen sehr verdiente Dame war, völlig unzugänglich der Vorstellung, daß es etwas Wichtigeres geben könne als die Gegenstände ihrer Sorgen, und sie trat mit dem Vorschlag einer «Groß-österreichischen-Franz-Josefs-Suppenanstalt» an die Versammlung heran, die mit Zustimmung zuhörte. Nur bemerkte der Vertreter des Ministeriums für Kultus und Unterricht, daß auch bei seiner Behörde eine gewissermaßen ähnliche Anregung eingelaufen sei, nämlich ein Monumentalwerk
«Kaiser Franz Josef I. und seine Zeit» herauszugeben. Aber nach diesem glücklichen Anlauf trat wieder Schweigen ein, und die meisten der Anwesenden fühlten sich in eine peinliche Lage gebracht.
Wenn man sie am Herweg gefragt hätte, ob sie wüßten, was geschichtliche, große oder dergleichen Ereignisse seien, würden sie das gewiß bejaht haben, doch gegenüber der gespannten Zumutung, ein solches Ereignis zu erfinden, war ihnen allmählich flau zumute geworden, und es regte sich so etwas wie das Murren einer sehr natürlichen Natur in ihnen.
In diesem gefährlichen Augenblick unterbrach die taktsichere Diotima, die Erfrischungen vorbereitet hatte, die Sitzung.
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Erste Begegnung Ulrichs mit dem großen Mann In der Weltgeschichte geschieht nichts Unvernünftiges, aber Diotima stellt die Behauptung auf, das wahre Österreich sei die ganze Welt
In der Pause bemerkte Arnheim: Je umfassender die Organisation sei, desto weiter würden die Vorschläge auseinander gehen. Dies sei ein Kennzeichen der nur auf den Verstand aufgebauten gegenwärtigen Entwicklung. Aber gerade deshalb stelle es einen ungeheuren Vorsatz dar, ein ganzes Volk zu zwingen, daß es sich auf den Willen, die Eingebung und das Wesentliche besinne, welches tiefer als der Verstand liege.
Ulrich antwortete mit der Frage, ob er denn glaube, daß aus dieser Aktion etwas entstehen werde?
«Ohne Zweifel; » erwiderte Arnheim «große Geschehnisse sind immer der Ausdruck einer allgemeinen Lage!» Diese sei heute gegeben; und schon die Tatsache, daß eine Zusammenkunft wie die heutige irgendwo möglich gewesen sei, beweise ihre tiefe Notwendigkeit.
Da sei aber etwas schwer zu Unterscheidendes dabei, meinte Ulrich. «Etwa angenommen, der Komponist des letzten Operettenwelterfolgs wäre ein Intrigant und würde sich zum Weltpräsidenten aufwerfen, was doch bei seiner ungeheuren Beliebtheit im Bereich des Möglichen läge: wäre dies nun ein Sprung in der Geschichte oder ein Ausdruck der geistigen Lage?»
«Das ist ganz unmöglich!» sagte Dr. Arnheim ernst. «Ein solcher Komponist kann weder ein Intrigant noch ein Politiker sein; es ließe sich sein komisch-musikalisches Genie sonst nicht begreifen, und in der Weltgeschichte geschieht nichts Unvernünftiges. »
«In der Welt aber doch so viel?»
«In der Weltgeschichte niemals!»
Arnheim war sichtlich nervös. In der Nähe standen Diotima und Graf Leinsdorf in lebhaft leisem Gespräch.
Se. Erlaucht hatte der Freundin nun doch sein Erstaunen darüber ausgedrückt, bei diesem ausnehmend österreichischen Anlaß einen Preußen zu treffen. Er hielt es schon aus Taktgründen für gänzlich ausgeschlossen, daß ein Staatsfremder in der Parallelaktion eine führende Rolle spielen könne, obgleich Diotima auf den vorzüglichen und beruhigenden Eindruck hinwies, den solche Freiheit von politischem Eigennutz auf das Ausland ausüben müsse. Da änderte sie aber ihre Kampfweise und vergrößerte überraschend ihren Plan. Sie sprach vom Takt der Frau, der eine Gefühlssicherheit sei und sich zu innerst an die Vorurteile der Gesellschaft nicht kehre. Se. Erlaucht solle nur einmal auf diese Stimme hören. Arnheim sei ein Europäer, ein in ganz Europa bekannter Geist; und gerade weil er kein Österreicher sei, beweise man durch seine Teilnahme, daß der Geist als solcher in Österreich eine Heimat habe, und plötzlich stellte sie die Behauptung auf, das wahre Österreich sei die ganze Welt. Die Welt, erläuterte sie, werde nicht eher Beruhigung finden, als die Nationen in ihr so in höherer Einheit leben wie die österreichischen Stämme in ihrem Vaterland. Ein Größer-österreich, ein Weltösterreich, darauf habe sie in diesem glücklichen Augenblick Se. Erlaucht gebracht, das sei die krönende Idee, die der Parallelaktion bisher gefehlt habe. -
Hinreißend, pazifistisch gebietend stand die schöne Diotima vor ihrem erlauchten Freund. Graf Leinsdorf konnte sich noch nicht entschließen, seine Einwände aufzugeben, aber er bewunderte wieder einmal den flammenden Idealismus und die Weite des Blicks dieser Frau und erwog, ob es nicht doch vorteilhafter wäre, Arnheim ins Gespräch zu ziehen, als gleich auf so folgenschwere Anregungen zu antworten.
Arnheim war unruhig, weil er dieses Gespräch witterte, ohne es beeinflussen zu können. Er und Ulrich wurden von Neugierigen umgeben, welche die Person des Krösus angezogen hatte, und Ulrich sagte gerade:
«Es gibt mehrere tausend Berufe, in denen die Menschen aufgehen; dort steckt ihre Klugheit. Wenn man aber das allgemein Menschliche und allen Gemeinsame von ihnen verlangt, so kann eigentlich nur dreierlei übrigbleiben: die Dummheit, das Geld oder höchstens ein wenig religiöse Erinnerung!» «Ganz richtig, die Religion!» schaltete Arnheim nachdrücklich ein und fragte Ulrich, ob er denn glaube, daß sie schon völlig und bis auf die Wurzeln verschwunden sei? - Er hatte das Wort Religion so laut betont, daß Graf Leinsdorf es hören mußte.
Se. Erlaucht schien inzwischen mit Diotima einen Ausgleich geschlossen zu haben, denn geführt von der Freundin näherte er sich jetzt der Gruppe, die sich taktvoll auflöste, und sprach Dr. Arnheim an.
Ulrich sah sich mit einemmal allein und konnte die Lippen nagen.
Er begann - weiß Gott wieso, um sich die Zeit zu vertreiben oder um nicht so verlassen dazustehn - an die 91
Wagenfahrt zu dieser Zusammenkunft zu denken. Graf Leinsdorf, der ihn mit sich genommen hatte, besaß als moderner Geist Kraftwagen, aber da er zugleich am Überlieferten festhielt, benützte er zuweilen auch ein Gespann zweier prächtigen Braunen, das er samt Kutscher und Kalesche beibehielt, und als der Haushofmeister seine Befehle einholte, hatte Se. Erlaucht es angemessen gefunden, zur gründenden Sitzung der Parallelaktion mit solchen zwei schönen, fast schon historischen Geschöpfen zu fahren. «Das ist der Pepi, und das ist der Hans», erläuterte Graf Leinsdorf unterwegs; man sah die tanzenden braunen Hügel der Kruppen und zuweilen einen der nickenden Köpfe, der im Rhythmus zur Seite blickte, daß der Schaum vom Maul flog. Es war schwer zu begreifen, was in den Tieren vor sich ging; es war ein schöner Vormittag, und sie liefen. Vielleicht sind Futter und Laufen die einzigen großen Pferdeleidenschaften, wenn man berücksichtigt, daß Pepi und Hans verschnitten waren und die Liebe nicht als greifbares Verlangen kannten, sondern nur als einen Hauch und Schmelz, der ihr Weltbild zuweilen mit dünn leuchtenden Wolken überzog. Die Leidenschaft des Futters war in einer marmornen Krippe mit köstlichen Haferkörnern aufbewahrt, in einer Raufe mit grünem Heu, dem Schnurren der Stallhalfter am Ring; und in dem Brodgeruch des warmen Stalls zusammengezogen, durch dessen würzigen, glatten Duft wie Nadeln das ammoniakhaltige starke Ichgefühl drang: hier sind Pferde! Etwas anderes mochte es um das Laufen sein. Da ist die arme Seele noch mit dem Rudel verknüpft, wo voran in den Leithengst oder in alle auf einmal von irgendwoher eine Bewegung kommt und die Schar Sonne und Wind entgegensprengt; denn wenn das Tier einsam ist und ihm alle vier Weiten des Raums offen stehn, so läuft oft ein irrsinniges Zittern durch seinen Schädel, und es stürmt ziellos fort, stürzt sich in eine schreckliche Freiheit, die in einer Richtung so leer ist wie in der anderen, bis es vor Ratlosigkeit still steht und mit einer Schüssel Hafer zurückzulocken ist. Pepi und Hans waren wohleingefahrene Pferde; sie griffen aus, schlugen die sonnenbeschienene, von Häusern eingezäunte Straße mit den Hufen; die Menschen waren ein graues Gewimmel für sie, das weder Freude noch Schreck verbreitete; die bunten Auslagen der Geschäfte, die in leuchtenden Farben prangenden Frauen - Wiesenstücke, die nicht genießbar sind; die Hüte, Krawatten, Bücher, Brillanten längs der Straße: eine Einöde. Nur die zwei Trauminseln von Stall und Traben hoben sich daraus, und zuweilen erschraken Hans und Pepi wie im Traum oder Spiel vor einem Schatten, drängten an die Deichsel, ließen sich von einem flachen Peitschenschlag wieder erfrischen und lehnten sich dankbar in die Zügel.
Und plötzlich hatte sich Graf Leinsdorf in den Polstern aufgerichtet und Ulrich gefragt: «Der Stallburg hat mir erzählt, Herr Doktor, daß Sie sich für einen Menschen verwenden?» Ulrich fand in der Überraschung gar nicht gleich den rechten Zusammenhang, und Leinsdorf fuhr fort: «Sehr schön von Ihnen. Ich weiß alles.
Ich meine, es wird sich nicht viel tun lassen, das ist ja ein schrecklicher Kerl; aber das unfaßbar Persönliche und Gnadenbedürftige, das jeder Christenmensch in sich hat, zeigt sich oft gerade an so einem Subjekt, und wenn man selbst etwas Großes unternehmen will, soll man am demütigsten der Hilflosen gedenken.
Vielleicht kann man ihn noch einmal ärztlich untersuchen lassen. » Nachdem Graf Leinsdorf im Rütteln des Wagens diese lange Rede aufgerichtet von sich gegeben hatte, ließ er sich wieder in die Polster zurückfallen und fügte hinzu: «Aber wir dürfen nicht vergessen, daß wir jetzt im Augenblick alle unsere Kraft einem geschichtlichen Ereignis schuldig sind!» Ulrich fühlte eigentlich ein wenig Neigung für diesen naiven alten Aristokraten, der noch immer im Gespräch mit Diotima und Arnheim stand, und fast etwas Eifersucht.
Denn die Unterhaltung schien sehr angeregt zu verlaufen; Diotima lächelte, Graf Leinsdorf hielt bestürzt die Augen offen, um folgen zu können, und Arnheim führte in vornehmer Ruhe das Wort. Ulrich fing den Ausdruck auf: «Gedanken in Machtsphären tragen». Er mochte Arnheim nicht ausstehen, schlechtweg als Daseinsform nicht, grundsätzlich, das Muster Arnheim. Diese Verbindung von Geist, Geschäft, Wohlleben und Belesenheit war ihm im höchsten Grade unerträglich. Er war überzeugt, daß Arnheim schon am Abend vorher alles darauf angelegt hatte, um am Morgen zu dieser Sitzung weder als erster noch als letzter einzutreffen; aber daß er trotzdem bestimmt, ehe er aufbrach, nicht nach der Uhr gesehen hatte, sondern vielleicht zum letztenmal, bevor er sich zum Frühstück niedersetzte und den Vortrag seines Sekretärs empfing, der ihm die Post überreichte: da hatte er die Zeit, die zur Verfügung stand, in die innere Tätigkeit verwandelt, die er bis zum Aufbruch leisten wollte, und wenn er sich dieser Tätigkeit dann mit Unbefangenheit überließ, war er sicher, daß sie genau die Zeit ausfüllen werde, denn das Richtige und seine Zeit hängen durch geheimnisvolle Kraft zusammen wie eine Plastik und der Raum, in den sie gehört, oder ein Speerschütze und das Ziel, das er trifft, ohne hinzusehen. Ulrich hatte schon viel von Arnheim gehört 92
und manches gelesen. In einem seiner Bücher stand, daß ein Mann, der seinen Anzug im Spiegel überwache, zu einer ungebrochenen Handlungsweise nicht fähig sei. Denn der Spiegel, ursprünglich zur Freude geschaffen, so führte er aus, sei zu einem Instrument der Angst geworden, wie die Uhr, die ein Ersatz dafür ist, daß unsere Tätigkeiten sich nicht mehr natürlich ablösen.
Ulrich mußte sich ablenken, um nicht ungezogen auf die benachbarte Gruppe zu starren, und seine Augen blieben auf dem kleinen Stubenmädchen ruhen, das zwischen den plaudernden Gruppen hindurchstrich und mit ehrfürchtigem Augenaufschlag Erfrischungen anbot. Aber die kleine Rachel bemerkte ihn nicht; sie hatte ihn vergessen und verabsäumte sogar, mit ihrem Brett zu ihm zu kommen. Sie hatte sich Arnheim genähert und bot ihm ihre Erfrischungen an wie einem Gott; sie hätte ihm am liebsten die kurze, ruhige Hand geküßt, als diese nach der Limonade griff und das Glas zerstreut festhielt, ohne daß der Nabob trank.
Nachdem dieser Höhepunkt überschritten war, tat sie ihre Pflicht wie ein verwirrter kleiner Automat und strebte schleunigst aus dem Zimmer der Weltgeschichte, wo alles voll Beinen und Gespräch war, wieder ins Vorzimmer hinaus.
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Fortgang und Schluß der großen Sitzung Ulrich findet an Rachel Wohlgefallen
Rachel an Soliman Die Parallelaktion erhält eine feste Organisation
Ulrich liebte diese Art Mädchen, die ehrgeizig sind, sich gut benehmen und in ihrer wohlerzogenen Einschüchterung Fruchtbäumchen gleichen, deren süße Reife eines Tages einem jungen
Schlaraffenkavalier in den Mund fällt, wenn er geruht, die Lippen zu öffnen. «Sie müssen tapfer und abgehärtet sein wie die Steinzeitweiber, die nachts das Lager teilten und tagsüber auf den Märschen Waffen und Hausrat ihres Kriegers trugen» dachte er, obwohl er selbst, außer im fernen ersten Voralter der erwachenden Männlichkeit, niemals auf solchem Kriegspfad gewandelt war. Seufzend nahm er Platz, denn die Beratung hatte wieder begonnen.
In der Erinnerung fiel ihm auf, daß das schwarz-weiße Ornat, in das man diese Mädchen steckt, die gleichen Farben habe wie das der Nonnen; er bemerkte es zum erstenmal, und er wunderte sich darüber.
Aber da sprach schon die göttliche Diotima und erklärte: Die Parallelaktion müsse in einem großen Zeichen gipfeln. Das heiße, sie könne nicht jedes beliebige weithin sichtbare Ziel haben, und wenn es noch so patriotisch wäre. Sondern dieses Ziel müsse das Herz der Welt ergreifen. Es dürfe nicht nur praktisch, es müsse eine Dichtung sein. Es müsse ein Markstein sein. Es müsse ein Spiegel sein, in den die Welt blicke und erröte. Nicht nur erröte, sondern wie im Märchen ihr wahres Antlitz erschaut habe und nicht mehr vergessen könne. Se. Erlaucht habe dafür die Anregung «Friedenskaiser» gegeben.
Dies vorausgeschickt, lasse sich nicht verkennen, daß die bisher erörterten Vorschläge dem nicht entsprächen. Wenn sie im ersten Teile der Sitzung Symbole gesagt habe, so meine sie natürlich nicht Suppenanstalten, sondern es handle sich um nichts Geringeres, als jene menschliche Einheit wiederzufinden, welche durch die so sehr verschieden gewordenen menschlichen Interessen verlorengegangen sei.
Da dränge sich freilich die Frage auf, ob die gegenwärtige Zeit und die Völker von heute überhaupt solcher ganz großer gemeinsamer Ideen noch fähig seien? Alles sei ja vortrefflich, was vorgeschlagen worden, aber es gehe weit auseinander, worin sich schon zeige, daß keiner dieser Vorschläge die vereinheitlichende Kraft besitze, auf die es ankomme!
Ulrich beobachtete Arnheim, während Diotima sprach. Aber es waren nicht Einzelheiten der Physiognomie, woran sein Unwille hängen blieb, sondern das Ganze schlechtweg. Obgleich diese Einzelheiten - der phönikisch harte Her-renkaufmannsschädel, das scharfe, aber wie aus etwas zu wenig Material und darum flach gebildete Gesicht, die englische Herrenschneiderruhe der Figur, und an der zweiten Stelle, wo der Mensch aus dem Anzug hervorsieht, die etwas zu kurzfingrigen Hände - genügend bemerkenswert waren.
Das gute Verhältnis, in dem alles zueinander stand, war es, was Ulrich reizte. Diese Sicherheit besaßen auch Arnheims Bücher; die Welt war in Ordnung, sobald sie Arnheim betrachtet hatte. In Ulrich erwachte eine Gassenjungenlust, mit Steinen oder Straßendreck nach diesem in Vollkommenheit und Reichtum aufgewachsenen Menschen zu werfen, während er zusah, mit welcher Aufmerksamkeit der sich anstellte, um den albernen Vorgängen zu folgen, denen sie beiwohnen mußten; er trank sie förmlich wie ein Kenner, 93
dessen Gesicht ausdrückt: ich will nicht zuviel sagen, aber das ist ganz edles Gewächs!
Diotima war inzwischen zu Ende gekommen. Gleich nach der Pause, als sie sich wieder hingesetzt hatten, war allen Anwesenden anzusehen gewesen, daß sie überzeugt waren, nun werde ein Ergebnis gefunden werden. Keiner hatte inzwischen darüber nachgedacht, aber alle nahmen die Haltung ein, in der man etwas Wichtiges erwartet. Und nun schloß Diotima: - Wenn sich also die Frage aufdränge, ob die gegenwärtige Zeit und die heutigen Völker überhaupt noch ganz großer gemeinsamer Ideen fähig seien, so müsse und dürfe man hinzufügen: der erlösenden Kraft! Denn um eine Erlösung handle es sich. Um einen erlösenden Aufschwung. Kurz gesagt; wenn man sich ihn auch noch nicht genau vorstellen könne. Er müsse aus der Gesamtheit kommen oder er werde überhaupt nicht kommen. Deshalb erlaube sie sich, nach Rücksprache mit Sr. Erlaucht, folgenden, die heutige Sitzung abschließenden Vorschlag zu erstatten: Se. Erlaucht habe mit Recht bemerkt, daß eigentlich schon die hohen Ministerien eine Einteilung der Welt nach ihren Hauptgesichtspunkten wie Religion und Unterricht, Handel, Industrie, Recht und so weiter darstellen.
Wenn man deshalb beschließen wolle, Ausschüsse einzusetzen, an deren Spitze je ein Beauftragter dieser Regierungsstellen stehe, und an seine Seite Vertreter der ressortzuständigen Körperschaften und Volksteile wähle, so werde man einen Aufbau schaffen, welcher die hauptsächlichen moralischen Kräfte der Welt schon geordnet enthalte, durch den sie einströmen und in dem sie gesiebt werden können. Die letzte Zusammenfassung würde dann im Hauptausschuß erfolgen, und dieser Bau müsse nur noch durch einige besondere Ausschüsse und Unterausschüsse wie ein Propagandakomitee, einen Ausschuß zur Beschaffung von Geldmitteln und dergleichen ergänzt werden, wobei sie sich persönlich die Gründung eines geistigen Ausschusses zur weiteren Bearbeitung der grundlegenden Ideen, natürlich im Einvernehmen mit allen anderen Ausschüssen, vorbehalten möchte.
Wieder schwiegen alle, aber diesesmal erleichtert. Graf Leinsdorf nickte mehrmals mit dem Kopf. Jemand fragte zur Ergänzung des Verständnisses, wie in die so gedachte Aktion das vornehmlich österreichische hineinkommen werde?
Zur Antwort erhob sich der General Stumm von Bordwehr, während alle Redner vor ihm sitzend gesprochen hatten. Er wisse wohl, - sagte er - dem Soldaten sei im Beratungszimmer eine bescheidene Rolle angewiesen. Wenn er dennoch spreche, so geschehe es nicht, um sich in die unübertreffliche Kritik der bisher aufgetauchten Vorschläge zu mengen, die alle vortrefflich waren. Dennoch möchte er zum Schlüsse folgenden Gedanken einer wohlwollenden Prüfung anheimstellen. Die geplante Kundgebung solle nach außen wirken. Was nach außen wirke, sei aber die Macht eines Volks. Auch sei die Lage in der europäischen Staatenfamilie derart, wie Se. Erlaucht gesagt habe, daß eine solche Kundgebung gewiß nicht zwecklos wäre. Der Gedanke des Staats sei nun einmal der der Macht, wie Treitschke sage; Staat sei die Macht, sich im Völkerkampf zu erhalten. Er rühre nur an eine bekannte Wunde, wenn er an den unbefriedigenden Zustand erinnere, in dem sich durch die Teilnahmlosigkeit des Parlaments der Ausbau unserer Artillerie und jener der Marine befinde. Er gebe darum zu bedenken, wenn kein anderes Ziel gefunden werden sollte, was ja noch ausstehe, daß dann eine breite, volkstümliche Teilnahme an den Fragen des Heeres und seiner Bewaffnung ein sehr würdiges Ziel wäre. Si vis pacem para bellum! Die Kraft, die man im Frieden entfalte, halte den Krieg fern oder kürze ihn zumindest ab. Er könne also wohl versichern, daß eine solche Maßnahme auch völkerversöhnend zu wirken vermöge und eine ausdrucksvolle Kundgebung friedlicher Gesinnung darstellen würde.
In diesem Augenblick war etwas Merkwürdiges im Zimmer. Die meisten der Anwesenden hatten anfangs den Eindruck gehabt, daß diese Rede nicht zu der eigentlichen Aufgabe ihres Beisammenseins passe, aber als sich der General akustisch immer weiter verbreitete, hörte sich das an wie der beruhigende Marschtritt geordneter Bataillone. Der ursprüngliche Sinn der Parallelaktion «Besser als Preußen» erhob sich schüchtern, als bliese ferne eine Regimentskapelle den Marsch vom Prinz Eugenius, der gegen die Türken zog, oder das Gott erhalte.. Allerdings wenn da Se. Erlaucht, was er jedoch ganz und gar nicht beabsichtigte, aufgestanden wäre, um vorzuschlagen, daß man den preußischen Bruder Arnheim an die Spitze der Regimentskapelle stellen solle, so würde man in dem Ungewissen inneren Hebezustand, in dem man sich befand, geglaubt haben, Heil dir im Siegerkranz zu hören, und hätte kaum etwas dagegen einwenden können.
Am Schlüsselloch signalisierte «Rachelle»: «Jetzt sprechen sie von Krieg!»
Ein wenig war es nämlich auch deshalb geschehen, daß sie am Ende der Pause ins Vorzimmer 94
zurückgestrebt hatte, weil Arnheim diesmal wirklich seinen Soliman nach sich gezogen hatte. Da das Wetter sich verschlechterte, war der kleine Mohr seinem Herrn mit einem Mantel gefolgt. Er hatte eine freche kleine Schnauze gemacht, als ihm Rachel öffnete, denn er war ein verdorbener junger Berliner, den die Frauen in einer Weise verwöhnten, mit der er noch nicht das Rechte anzufangen wußte. Aber Rachel hatte gedacht, daß man mit ihm in der Mohrensprache reden müsse, und war einfach nicht auf den Einfall gekommen, es deutsch zu versuchen; sie hatte, da sie sich unbedingt verständigen mußte, rundweg den Arm um die Schulter des sechzehnjährigen Jungen gelegt, auf die Küche gezeigt, ihm einen Stuhl hingesetzt und an Kuchen und Getränken herangeschoben, was in der Nähe war. Sie hatte so etwas noch nie in ihrem Leben unternommen, und als sie sich vom Tisch aufrichtete, hatte ihr Herz geklopft, wie wenn in einem Mörser Zucker zerstoßen wird.
«Wie heißen Sie?» fragte Soliman; da sprach er deutsch!
«Rachelle!» hatte Rachel gesagt und war davongelaufen.
Soliman hatte sich inzwischen in der Küche Kuchen, Wein und Brötchen schmecken lassen, eine Zigarette angezündet und ein Gespräch mit der Köchin begonnen. Als Rachel vom Servieren zurückkehrte, gab ihr das einen Stich. Sie sagte: «Da drinnen wird jetzt gleich wieder etwas sehr Wichtiges beraten werden!»
Aber auf Soliman machte das keinen Eindruck, und die Köchin, die eine ältere Person war, lachte. «Daraus kann auch ein Krieg werden!» hatte Rachel erregt hinzugefügt, und als höchste Steigerung kam nun ihre Meldung vom Schlüsselloch, daß es fast schon soweit sei.
Soliman horchte auf. «Sind österreichische Generale dabei?» fragte er.
«Sehen Sie selbst!» sagte Rachel. «Einer ist schon da»; und sie gingen miteinander zum Schlüsselloch.
Da fiel denn der Blick bald auf ein weißes Papier, bald auf eine Nase, bald ging ein großer Schatten vorbei, bald glänzte ein Ring auf. Das Leben zerfiel in helle Einzelheit; man sah grünes Tuch sich wie einen Rasen erstrecken; eine weiße Hand ruhte ohne Gegend, irgendwo, wächsern wie in einem Panoptikum; und wenn man ganz schief durchblickte, konnte man in einer Ecke die goldene Säbelquaste des Generals glimmen sehn. Selbst der verwöhnte Soliman zeigte sich ergriffen. Märchenhaft und unheimlich schwoll das Leben an, durch einen Türspalt und eine Einbildung gesehen. Die gebückte Haltung machte das Blut in den Ohren sausen, und die Stimmen hinter der Tür polterten bald wie Felsblöcke, bald glitten sie wie auf geseiften Bohlen. Rachel richtete sich langsam auf. Der Boden schien sich unter ihren Füßen zu heben, und der Geist des Ereignisses umschloß sie, als ob sie den Kopf unter eines jener schwarzen Tücher gesteckt hätte, welche die Zauberer und Photographen benutzen. Dann richtete sich auch Soliman auf, und das Blut senkte sich zitternd aus ihren Köpfen. Der kleine Neger lächelte, und hinter den blauen Lippen schimmerte ein scharlachrotes Zahnfleisch.
Während diese Sekunde im Vorzimmer zwischen den an den Wänden hängenden Überkleidern einflußreicher Personen langsam wie auf der Trompete geblasen dahinging, wurde im Zimmer innen alles zum Beschluß erhoben, nachdem Graf Leinsdorf dort ausgesprochen hatte, daß man den hochwichtigen Anregungen des Herrn Generals großen Dank schulde, aber vorerst noch nicht ins Meritorische eingehen, sondern nur das Organisatorisch-Grundlegende beschließen wolle. Dazu war aber, außer der Anpassung des Plans an die Welt nach den Hauptgesichtspunkten der Ministerien, nur noch eine Schlußresolution vonnöten, die zum Inhalt hatte, daß die Anwesenden einstimmig übereingekommen seien, sobald sich durch ihre Aktion der Wunsch des Volks herausgestellt haben werde, diesen Sr. Majestät mit der untertänigsten Bitte zu unterbreiten, über die bis dahin bereitzustellenden Mittel zu seiner materiellen Durchführung aus Allerhöchster Gnade frei zu verfügen. - Dies hatte den Vorteil, daß das Volk in die Lage kam, sich selbst, aber doch durch Vermittlung des Allerhöchsten Willens sein als würdigst erkanntes Ziel zu setzen, und war auf besonderen Wunsch Sr. Erlaucht beschlossen worden, denn obgleich es sich dabei nur um eine Formfrage handelte, fand er es wichtig, daß das Volk nichts aus sich allein und ohne den zweiten konstitutionellen Faktor tue; auch nicht diesen ehren.
Die übrigen Teilnehmer würden es nicht so genau genommen haben, aber eben deshalb wandten sie auch nichts dagegen ein. Und daß die Sitzung mit einer Resolution schloß, war in Ordnung. Denn ob man bei einer Rauferei mit dem Messer den Schlußpunkt setzt oder am Ende eines Musikstücks alle zehn Finger ein paarmal gleichzeitig in die Tasten schlägt, oder ob der Tänzer sich vor seiner Dame verbeugt, oder ob man eine Resolution beschließt: es wäre eine unheimliche Welt, wenn die Geschehnisse sich einfach davonschlichen und nicht am Ende noch einmal gehörig versichern würden, daß sie geschehen seien; und 95
darum tut man es.
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Schweigende Begegnung zweier Berggipfel
Als die Sitzung zu Ende war, hatte Dr. Arnheim unauffällig so manövriert, daß er als letzter zurückblieb, die Anregung dazu war von Diotima ausgegangen; Sektionschef Tuzzi hielt eine Respektsfrist ein, um sicher nicht vor dem Ende der Sitzung in sein Haus zurückzukehren.
In diesen Minuten zwischen dem Weggang der Gäste und der Festigung der zurückbleibenden Lage, während des Wegs von einem Zimmer ins andre, der von kleinen, in die Quere laufenden Anordnungen, Überlegungen und der Unruhe unterbrochen wurde, die ein davonziehendes großes Ereignis hinter sich läßt, war Arnheim lächelnd Diotima mit den Blicken gefolgt. Diotima fühlte, daß ihre Wohnung sich in zitternder Bewegung befand; alle Dinge, die wegen des Ereignisses ihren Platz hatten verlassen müssen, kehrten nun nacheinander zurück, es war, wie wenn eine große Welle aus unzähligen kleinen Grübchen und Gräben wieder über den Sand abrinnt. Und während Arnheim in vornehmem Schweigen wartete, bis sie und diese Bewegung um sie wieder zur Ruhe gekommen seien, erinnerte sich Diotima, daß, so viel Menschen auch schon bei ihr verkehrt hatten, noch nie ein Mann mit ihr so häuslich allein gewesen war, daß man das stumme Leben der leeren Wohnung spürte, außer Sektionschef Tuzzi. Und plötzlich wurde ihre Keuschheit durch eine ganz ungewohnte Vorstellung verwirrt; ihre leer gewordene Wohnung, in der auch ihr Mann fehlte, kam ihr wie eine Hose vor, in die Arnheim hineingefahren war. Es gibt solche Augenblicke, sie können wie Ausgeburten der Nacht dem keuschesten Menschen widerfahren, und der wunderbare Traum einer Liebe, wo Seele und Leib ganz eins sind, erstrahlte in Diotima.
Arnheim ahnte nichts davon. Seine Hose stellte eine einwandfreie senkrechte Linie auf das spiegelnde Parkett, sein Cut, seine Binde, sein ruhig lächelnder vornehmer Kopf redeten nicht, so vollkommen waren sie. Er hatte eigentlich den Plan gehabt, Diotima Vorwürfe wegen des Zwischenfalls bei seinem Kommen zu machen und Vorsorge für die Zukunft zu treffen; aber es gab in diesem Augenblick etwas, das diesen Mann, der mit amerikanischen Geldmagnaten als seinesgleichen verkehrte und von Kaisern und Königen empfangen worden war, diesen Nabob, der jede Frau mit Platin aufwiegen konnte, statt dessen gebannt auf Diotima starren ließ, die in Wahrheit Ermelinda oder gar nur Hermine Tuzzi hieß und bloß die Frau eines hohen Beamten war. Für dieses Etwas muß hier wieder einmal das Wort Seele gebraucht werden.
Es ist das ein Wort, das schon des öftern, aber nicht gerade in den klarsten Beziehungen aufgetreten ist.
Zum Beispiel als das, was der heutigen Zeit verlorengegangen ist oder sich nicht mit der Zivilisation vereinen läßt; als das, was in Widerstreit mit körperlichen Trieben und ehelichen Gewohnheiten steht; als das, was von einem Mörder nicht nur unwillig erregt wurde; als das, was durch die Parallelaktion befreit werden sollte; als religiöse Betrachtung und contemplatio in caligine divina beim Grafen Leinsdorf; als Liebe zu Gleichnissen bei vielen Menschen, und so fort. Von allen Eigentümlichkeiten dieses Wortes Seele ist aber die merkwürdigste, daß junge Menschen es nicht aussprechen können, ohne zu lachen. Selbst Diotima und Arnheim scheuten sich, es ohne Verbindung zu gebrauchen; denn eine große, edle, feige, kühne, niedrige Seele zu haben, das läßt sich noch behaupten, aber schlechtweg zu sagen, meine Seele, das bringt man nicht über sich. Es ist ein ausgeprägtes Wort für ältere Leute, und das ist nur so zu verstehn, daß man annimmt, es müsse sich im Lauf des Lebens irgend etwas immer fühlbarer machen, für das man dringend einen Namen braucht, ohne ihn zu finden, bis man schließlich den ursprünglich verschmähten dafür widerstrebend in Gebrauch nimmt.
Wie soll man es also beschreiben? Man kann stehn oder gehn, wie man will, das Wesentliche ist nicht, was man vor sich hat, sieht, hört, will, angreift, bewältigt. Es liegt als Horizont, als Halbkreis voraus; aber die Enden dieses Halbkreises verbindet eine Sehne, und die Ebene dieser Sehne geht mitten durch die Welt hindurch. Vorn sehen das Gesicht und die Hände aus ihr heraus, laufen die Empfindungen und Bestrebungen vor ihr her, und niemand bezweifelt: was man da tut, ist immer vernünftig oder wenigstens leidenschaftlich; das heißt, die Verhältnisse außen verlangen in einer Weise unsere Handlungen, die jedermann begreiflich ist, oder wenn wir, von Leidenschaft befangen, Unbegreifliches tun, so hat schließlich auch das seine Weise und Art. Aber so vollständig dabei alles verständlich und in sich 96
geschlossen erscheint, wird es doch von einem dunklen Gefühl begleitet, daß es bloß etwas Halbes sei. Es fehlt etwas am Gleichgewicht, und der Mensch dringt vor, um nicht zu wanken, wie es ein Seilläufer tut.
Und da er durchs Leben dringt und Gelebtes hinter sich läßt, bilden das noch zu Lebende und das Gelebte eine Wand, und sein Weg gleicht schließlich dem eines Wurms im Holz, der sich beliebig winden, ja auch zurückwenden kann, aber immer den leeren Raum hinter sich läßt. Und an diesem entsetzlichen Gefühl eines blinden, abgeschnittenen Raums hinter allem Ausgefüllten, an dieser Hälfte, die immer noch fehlt, wenn auch alles schon ein Ganzes ist, bemerkt man schließlich das, was man die Seele nennt.
Man denkt, ahnt, fühlt sie natürlich allezeit hinzu; in den verschiedensten Arten von Ersätzen und je nach Temperament. In der Jugend als ein deutliches Gefühl der Unsicherheit bei allem, was man tut, ob es wohl auch das rechte sei. Im Alter als Staunen darüber, wie wenig man von dem getan hat, was man eigentlich vorhatte. Dazwischen als Trost, daß man ein verfluchter, tüchtiger, braver Kerl sei, wenn auch nicht alles im einzelnen zu rechtfertigen ist, was man tut; oder daß ja auch die Welt nicht so sei, wie sie sollte, so daß am Ende alles, was man verfehlt hat, noch einen gerechten Ausgleich darstellt; und schließlich denken manche Leute sogar über alles hinaus an einen Gott, der das ihnen fehlende Stück in der Tasche trägt. Eine besondere Stellung nimmt dabei nur die Liebe ein; in diesem Ausnahmefall wächst nämlich die zweite Hälfte zu. Der geliebte Mensch scheint dort zu stehen, wo sonst stets etwas fehlt. Die Seelen vereinigen sich sozusagen dos a dos und machen sich dabei überflüssig. Weshalb die meisten Menschen nach dem Vorübergehn der einen großen Jugendliebe das Fehlen der Seele nicht mehr empfinden, und diese sogenannte Torheit eine dankbare soziale Aufgabe erfüllt.
Weder Diotima noch Arnheim hatten geliebt. Von Diotima weiß man es, aber auch der große Finanzmann besaß eine in erweitertem Sinn keusche Seele. Er hatte immer Angst gehabt, daß die Gefühle, die er in Frauen erregte, nicht ihm, sondern seinem Geld gelten könnten, und lebte deshalb nur mit Frauen, denen auch er nicht Gefühle, sondern Geld gab. Er hatte niemals einen Freund besessen, weil er sich fürchtete, mißbraucht zu werden, sondern nur Geschäftsfreunde, auch wenn der geschäftliche Austausch ein geistiger war. So war er durchtrieben von Lebenserfahrung, doch unberührt und in der Gefahr des Alleinbleibens, als ihm Diotima begegnete, die das Schicksal für ihn bestimmt hatte. Die geheimnisvollen Kräfte in ihnen stießen aufeinander. Es läßt sich das nur mit dem Streichen der Passatwinde vergleichen, dem Golfstrom, den vulkanischen Zitterwellen der Erdrinde; Kräfte, ungeheuer denen des Menschen überlegen, den Sternen verwandt, setzten sich in Bewegung, vom einen zum anderen, über die Grenzen der Stunde und des Tags hinaus; unermeßliche Ströme. Es ist in solchen Augenblicken ganz gleichgültig, was gesprochen wird.
Aus der senkrechten Bügelfalte empor, schien Arnheims Leib in der Gotteseinsamkeit der Bergriesen dazustehn; durch die Welle des Tals mit ihm vereint, stand auf der anderen Seite einsamkeits-überglänzt Diotima, in ihrem Kleid der damaligen Mode, das an den Oberarmen kleine Puffen bildete, über dem Magen den Busen in eine kunstvoll gefaltete Weise auflöste und unter der Kniekehle sich wieder an die Wade legte. Die Glasschnüre der Türbehänge spiegelten wie Weiher, die Lanzen und Pfeile an den Wänden zitterten ihre gefiederte und tödliche Leidenschaft aus, und die gelben Calman-Levy-Bände auf den Tischen schwiegen wie Zitronenhaine. Wir übergehen mit Ehrfurcht, was anfangs gesprochen wurde.
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Ideale und Moral sind das beste Mittel, um das große Loch zu füllen, das man Seele nennt Arnheim schüttelte als erster den Zauberbann ab. Denn längeres Verweilen in einem solchen Zustand war nach seiner Ansicht nicht möglich, ohne daß man entweder zu einem dumpfen, inhaltslosen, ruhseligen Brüten hinabsinkt oder der Andacht ein festes Gerüst von Gedanken und Überzeugungen unterschiebt, das ihr aber nicht mehr ganz wesensgleich ist.
Ein solches Mittel, das die Seele zwar tötet, aber dann gleichsam in kleinen Konserven zum allgemeinen Gebrauch aufbewahrt, ist seit je ihre Verbindung mit der Vernunft, den Überzeugungen und dem praktischen Handeln gewesen, wie sie alle Moralen, Philosophien und Religionen erfolgreich durchgeführt haben. Weiß Gott, wie gesagt, was überhaupt eine Seele ist! Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß der glühende Wunsch, nur auf sie zu hören, einen unermeßlichen Spielraum, eine wahre Anarchie übrig läßt, und man hat Beispiele dafür, daß sozusagen chemisch reine Seelen geradezu Verbrechen begehn. Sobald 97
dagegen eine Seele Moral hat oder Religion, Philosophie, vertiefte bürgerliche Bildung und Ideale auf den Gebieten der Pflicht und des Schönen, ist ihr ein System von Vorschriften, Bedingungen und Durchführungsbestimmungen geschenkt, das sie auszufüllen hat, ehe sie daran denken darf, eine beachtenswerte Seele zu sein, und ihre Glut wird wie die eines Hochofens in schöne Sandrechtecke geleitet.
Es bleiben dann im Grunde nur noch logische Fragen der Auslegung übrig, von der Art, ob eine Handlung unter dieses oder jenes Gebot fällt, und es hat die Seele die ruhige Übersichtlichkeit eines Feldes nach geschlagener Schlacht, wo die Toten still liegen und man sofort bemerken kann, wo ein Stückchen Leben sich noch erhebt oder stöhnt. Darum vollzieht der Mensch, so rasch er kann, diesen Übergang. Wenn ihn Glaubenssorgen quälen, wie es zuweilen in der Jugend vorkommt, geht er alsbald zu Verfolgung Ungläubiger über; wenn ihn die Liebe verstört, macht er aus ihr die Ehe; und wenn ihn irgendeine andere Begeisterung überwältigt, entzieht er sich der Unmöglichkeit, dauernd in ihrem Feuer zu leben, dadurch, daß er für dieses Feuer zu leben beginnt. Das heißt, er füllt die vielen Augenblicke seines Tags, von denen jeder einen Inhalt und Antrieb braucht, an Stelle seines Idealzustands mit der Tätigkeit für seinen Idealzustand, das heißt mit den vielen Mitteln zum Zweck, Hindernissen und Zwischenfällen aus, die ihm sicher verbürgen, daß er ihn niemals zu erreichen braucht. Denn dauernd vermögen bloß Narren, Geistesgestörte und Menschen mit fixen Ideen, im Feuer der Beseeltheit auszuharren; der gesunde Mensch muß sich damit begnügen, die Erklärung abzugeben, daß ihm ohne eine Flocke dieses geheimnisvollen Feuers das Leben nicht lebenswert vorkäme.
Arnheims Dasein war von Tätigkeit ausgefüllt; er war ein Mann der Wirklichkeit und hatte mit wohlwollendem Lächeln und nicht ohne Gefühl für die gute gesellschaftliche Haltung der Altösterreicher zugehört, wie man in der Sitzung, deren Zeuge er war, von einer Kaiser-Franz-Joseph-Suppenanstalt und dem Zusammenhang zwischen Pflichtgefühl und Militärmärschen gesprochen hatte; er war weit davon entfernt, sich darüber lustig zu machen, wie es Ulrich getan hatte, denn er war überzeugt, daß es weit weniger Mut und Überlegenheit anzeige, großen Gedanken zu folgen, als in solchen alltäglichen und etwas lächerlichen Gemütern von gutem Aussehen den rührenden Kern von Idealismus gelten zu lassen.
Als aber mitten darin Diotima, diese Antike mit einem wienerischen Plus, das Wort Welt-Österreich ausgesprochen hatte, ein Wort, das so heiß und fast auch so menschlich unverständlich war wie eine Flamme, da hatte ihn etwas ergriffen.
Man erzählte eine Geschichte von ihm. Er besaß in seinem Berliner Wohnhaus einen Saal, der ganz voll mit barocken und gotischen Skulpturen war. Nun bildet aber die katholische Kirche (und Arnheim hatte große Liebe zu ihr) ihre Heiligen und die Bannerträger des Guten meistens in sehr beglückten, ja verzückten Stellungen ab. Da starben Heilige in allen Lagen, und die Seele rang die Körper wie ein Stück Wäsche, aus dem man das Wasser preßt. Die wie Säbel gekreuzten Gebärden der Arme und der verwundenen Hälse, losgelöst aus ihrer ursprünglichen Umgebung und in einem fremden Zimmer vereinigt, machten den Eindruck einer Katatonikerversammlung in einem Irrenhaus. Diese Sammlung wurde sehr geschätzt und führte viele Kunstgelehrte zu Arnheim, mit denen er sich gebildet unterhielt, aber er setzte sich auch oft allein und einsam in seinen Saal, und dann war ihm ganz anders zumute; ein schreckartiges Staunen war in ihm wie vor einer halb irrsinnigen Welt. Er fühlte, wie in der Moral ursprünglich ein unsägliches Feuer geglüht hat, bei dessen Anblick selbst ein Geist wie er nicht viel mehr tun konnte, als in die ausgebrannten Kohlen starren. Diese dunkle Erscheinung von dem, was alle Religionen und Mythen durch die Erzählung ausdrücken, daß die Gesetze uranfänglich dem Menschen von den Göttern geschenkt worden seien, die Ahnung also eines Frühzustands der Seele, der nicht ganz geheuerlich und doch den Göttern liebenswert gewesen sein mußte, bildete dann einen seltsamen Rand von Unruhe um sein sonst so selbstgefällig ausgebreitetes Denken. Und Arnheim besaß einen Gärtnergehilfen, einen tiefschlichten Menschen, wie er das nannte, mit dem er sich oft über das Leben der Blumen unterhielt, weil man von so einem Mann mehr lernen kann als von Gelehrten. Bis Arnheim eines Tages entdeckte, daß dieser Gehilfe ihn bestahl. Man kann sagen, er trug geradezu verzweifelt alles weg, was er erreichen konnte, und sparte den Erlös auf, um sich selbständig zu machen, das war der einzige Gedanke, der ihn Tag und Nacht besaß; aber einmal verschwand auch eine kleine Skulptur, und die zu Hilfe genommene Polizei deckte den Zusammenhang auf.
An dem Abend, wo Arnheim von dieser Entdeckung benachrichtigt wurde, ließ er den Mann rufen und machte ihm die ganze Nacht lang Vorwürfe wegen der Irrwege seines leidenschaftlichen Erwerbtriebs.
Man erzählte, daß er selbst dabei sehr aufgeregt gewesen sei und zeitweise nahe daran, in einem dunklen 98
Nebenzimmer zu weinen. Denn er beneidete diesen Mann, aus Ursachen, die er sich nicht erklären konnte, und am nächsten Morgen ließ er ihn von der Polizei abführen.
Diese Geschichte wurde von nahen Freunden Arnheims bestätigt, und ähnlich war ihm auch diesmal zumute gewesen, als er mit Diotima allein in einem Zimmer stand und etwas wie das lautlose Lodern der Welt um die vier Wände fühlte.
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Was alle getrennt sind, ist Arnheim in einer Person
In den folgenden Wochen nahm der Salon Diotimas einen gewaltigen neuen Aufschwung. Man kam hin, um das Neueste von der Parallelaktion zu erfahren und um den neuen Mann zu sehen, von dem es hieß, daß sich Diotima ihn verschrieben habe, einen deutschen Nabob, einen reichen Juden, einen Sonderling, der Gedichte schrieb, den Kohlenpreis diktierte und der persönliche Freund des deutschen Kaisers war. Nicht nur Damen und Herren aus den Kreisen des Grafen Leinsdorf erschienen und aus der Diplomatie, sondern auch das bürgerliche Wirtschafts-und Geistesleben zeigte sich in erhöhtem Maße angezogen. So stießen Spezialisten der Ewesprache und Komponisten aufeinander, die voneinander noch nie einen Ton gehört hatten, Webstühle und Beichtstühle, Menschen, die bei dem Worte Kurs an den Rennkurs, Börsenkurs oder Seminarkurs dachten.
Nun ereignete sich aber etwas noch nie Dagewesenes: es gab einen Mann, der mit jedem in seiner Sprache reden konnte, und das war Arnheim.
Er hielt sich von den offiziellen Sitzungen, nach dem peinlichen Eindruck, den er am Beginn der ersten empfangen hatte, weiterhin fern, aber er nahm auch nicht immer an den Gesellschaften teil, denn er war viel von der Stadt abwesend. Von der Sekretärstelle war selbstverständlich nicht mehr die Rede; er selbst hatte Diotima auseinandergesetzt, daß sich dieser Einfall nicht schicken würde, auch für ihn nicht, und Diotima konnte zwar Ulrich nicht ansehn, ohne ihn als einen Usurpator zu empfinden, aber sie fügte sich dem Urteil Arnheims. Er kam und ging; während drei oder fünf Tage wie nichts verflossen, kehrte er aus Paris, Rom, Berlin zurück; was sich bei Diotima ereignete, war nur ein kleiner Ausschnitt aus seinem Leben. Aber er bevorzugte ihn und war mit ganzer Person in ihm anwesend.
Daß er mit Großindustriellen über die Industrie und mit Bankleuten über die Wirtschaft zu sprechen vermochte, war verständlich; aber er war imstande, ebenso unumschränkt über Molekularphysik, Mystik oder Taubenschießen zu plaudern. Er war ein außerordentlicher Redner; wenn er einmal angefangen hatte, hörte er so wenig auf, wie man ein Buch abschließen kann, ehe darin alles gesagt ist, was zum Wort drängt; aber er hatte eine still vornehme, fließende Art zu sprechen, eine Art, die fast traurig über sich selbst war, wie ein von dunklen Büschen eingesäumter Bach, und das gab dem Vielreden gleichsam etwas Notwendiges. Seine Belesenheit und sein Gedächtnis hatten wirklich einen ungewöhnlichen Umfang; er vermochte Kennern die feinsten Stichworte ihres Wissensgebiets zu bringen, kannte aber ebensogut jede wichtige Person aus dem englischen, dem französischen oder japanischen Adel und wußte auf Renn-und Golfplätzen nicht nur in Europa, sondern auch in Australien und Amerika Bescheid. So verließen selbst die Gemsjäger, Pferdebändiger und Stammlogenbesitzer der Hoftheater, die gekommen waren, um einen verrückten reichen Juden zu sehn (halt auch so was Neiches - hieß das in ihrer Mundart), Diotimas Haus mit einem achtungsvollen Kopfschütteln.
Se. Erlaucht nahm einmal Ulrich beiseite und sagte zu ihm: «Wissen Sie, der Hochadel hat in den letzten hundert Jahren Pech mit seinen Hauslehrern gehabt! Früher sind das Menschen gewesen, von denen ein großer Teil nachher in das Konversationslexikon gekommen ist; und diese Hofmeister haben wieder Musik-und Zeichenlehrer mit sich gebracht, die zum Dank dafür Sachen gemacht haben, die man heute unsre alte Kultur nennt. Aber seit es die neue und allgemeine Schule gibt und Leute aus meinen Kreisen, entschuldigen Sie, den Doktortitel erwerben, sind irgendwie die Hauslehrer schlecht geworden. Unsere Jugend hat ja ganz recht, wenn sie Fasanen und Säue schießt, reitet und sich hübsche Frauenzimmer aussucht, - dagegen ist wenig zu sagen, wenn man jung ist; aber früher haben eben die Hauslehrer einen Teil dieser Jugendkraft darauf gelenkt, daß man den Geist und die Kunst ebenso hegen muß wie die Fasanen, und das fehlt heute. » Es war das Sr. Erlaucht eben so eingefallen, und es fielen ihm manchmal 99
solche Dinge ein; plötzlich wandte er sich ganz zu Ulrich und schloß: «Sehen Sie, das ist das verhängnisvolle Jahr Achtundvierzig, welches das Bürgertum vom Adel zu beider Schaden getrennt hat!»
Er blickte besorgt in die Gesellschaft. Er ärgerte sich jedesmal, wenn in den Oppositionsreden des Parlaments die Wortführer mit der bürgerlichen Kultur protzten, und würde es gerne gesehen haben, wenn die wahre bürgerliche Kultur beim Adel zu finden gewesen wäre; der arme Adel aber konnte nichts an ihr finden, sie war eine für ihn unsichtbare Waffe, mit der man ihn schlug, und da er im Lauf dieser Entwicklung immer mehr an Macht verloren hatte, kam man schließlich zu Diotima und besah sich die Sache. So empfand es Graf Leinsdorf manchmal mit bekümmertem Herzen, wenn er den Betrieb beobachtete; er würde gewünscht haben, daß man das Amt, zu dem in diesem Hause Gelegenheit gegeben war, ernster genommen hätte. «Erlaucht, dem Bürgertum geht es heute mit den Intellektuellen genau so, wie es seinerzeit dem Hochadel mit seinen Hofmeistern gegangen ist!» suchte ihn Ulrich zu trösten. «Das sind ihm fremde Leute. Bitte, sehn Sie sich an, wie alle diesen Doktor Arnheim bestaunen. »
Aber Graf Leinsdorf hatte ohnedies die ganze Zeit über nur auf Arnheim gesehn. «Das ist übrigens schon kein Geist mehr, » ging Ulrich auf dieses Staunen ein «das ist ein Phänomen wie ein Regenbogen, den man beim Fuß fassen und ganz richtig betasten kann. Er spricht von Liebe und Wirtschaft, von Chemie und Kajakfahrten, er ist ein Gelehrter, ein Gutsbesitzer und ein Börsenmann; mit einem Wort, was wir alle getrennt sind, das ist er in einer Person, und da staunen wir eben. Erlaucht schütteln den Kopf? Aber ich bin überzeugt, die Wolke des sogenannten Fortschritts der Zeit, in die niemand hineinsieht, hat ihn uns aufs Parkett gestellt. » 240
«Ich habe nicht über Sie den Kopf geschüttelt, » berichtigte Se. Erlaucht «ich habe an den Doktor Arnheim gedacht. Alles in allem muß man zugeben, daß er eine interessante Persönlichkeit ist. »
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Die drei Ursachen von Arnheims Berühmtheit und das Geheimnis des Ganzen
Aber alles das war nur die gewöhnliche Wirkung der Person Dr. Arnheims.
Er war ein Mann großen Formats.
Seine Tätigkeit breitete sich über Kontinente der Erde wie des Wissens aus. Er kannte alles: die Philosophen, die Wirtschaft, die Musik, die Welt, den Sport. Er drückte sich geläufig in fünf Sprachen aus.
Die berühmtesten Künstler der Welt waren seine Freunde, und die Kunst von morgen kaufte er am Halm, zu noch nicht hinaufgesetzten Preisen. Er verkehrte am kaiserlichen Hof und unterhielt sich mit Arbeitern. Er besaß eine Villa in modernstem Stil, die in allen Zeitschriften für zeitgenössische Baukunst abgebildet wurde, und ein wackliges altes Schloß irgendwo in der kärgsten adeligen Mark, das geradezu wie die morsche Wiege des preußischen Gedankens aussah.
Solche Ausbreitung und Aufnahmefähigkeit ist selten von eigenen Leistungen begleitet; aber auch darin machte Arnheim eine Ausnahme. Er zog sich ein-oder zweimal im Jahr auf sein Landgut zurück und schrieb dort die Erfahrungen seines geistigen Lebens nieder. Diese Bücher und Abhandlungen, deren er nun schon eine stattliche Reihe verfaßt hatte, waren sehr gesucht, erreichten hohe Auflagen und wurden in viele Sprachen übersetzt; denn zu einem kranken Arzt hat man kein Vertrauen, was aber einer zu sagen hat, der es verstanden hat, für sich selbst zu sorgen, daran muß doch wohl mancherlei Wahres sein. Dies war die erste Quelle seiner Berühmtheit.
Die zweite entsprang dem Wesen der Wissenschaft. Die Wissenschaft steht bei uns in hohem Ansehen, und mit Recht; aber wenn es auch sicher ein Menschenleben ganz ausfüllt, wenn man sich der Erforschung der Nierentätigkeit widmet, so gibt es doch Augenblicke dabei, wo man sich veranlaßt sieht, humanistische Augenblicke will dies sagen, an den Zusammenhang der Nieren mit dem Volksganzen zu erinnern. Darum wird in Deutschland so viel Goethe zitiert. Will ein Akademiker aber ganz besonders zeigen, daß er nicht nur Gelehrsamkeit, sondern auch lebendigen, zukunftsfrohen Geist besitzt, so weist er sich am besten durch den Hinweis auf Schriften aus, deren Bekanntschaft nicht nur Ehre macht, sondern noch mehr Ehre verspricht, wie ein Papier, das im Steigen ist, und in solchen Fällen erfreuten sich Zitate aus Paul Arnheim zunehmender Beliebtheit. Die Ausflüge in die Gebiete der Wissenschaften, die er unternahm, um seine allgemeinen Auffassungen zu stützen, genügten freilich nicht immer den strengsten Anforderungen. Sie 100
zeigten wohl ein spielendes Verfügen über eine große Belesenheit, aber der Fachmann fand unweigerlich in ihnen jene kleinen Unrichtigkeiten und Mißverständnisse, an denen man eine Dilettantenarbeit so genau erkennen kann, wie sich schon an der Naht ein Kleid, das von einer Hausschneiderin gemacht ist, von einem unterscheiden läßt, das aus einem richtigen Atelier stammt. Nur darf man durchaus nicht glauben, daß das Fachleute hinderte, Arnheim zu bewundern. Sie lächelten selbstgefällig; er imponierte ihnen als etwas ganz Neuzeitliches, als ein Mann, von dem alle Zeitungen sprachen, ein Wirtschaftskönig, seine Leistungen waren, mit den geistigen Leistungen älterer Könige verglichen, immerhin überragend, und wenn sie bemerken durften, daß sie auf ihrem eigenen Gebiet doch noch etwas beträchtlich anderes darstellten als er, so erwiesen sie sich dafür dankbar, indem sie ihn einen geistvollen Mann nannten, einen genialen oder ganz einfach einen universalen, was unter Fachleuten soviel sagt, wie wenn man unter Männern von einer Frau erklärt, daß sie eine Schönheit für den Frauengeschmack sei.
Die dritte Quelle von Arnheims Berühmtheit lag in der Wirtschaft. Es erging ihm nicht schlecht mit ihren alten, seebefahrenen Kapitänen; wenn er ein großes Geschäft mit ihnen zu vereinbaren hatte, legte er selbst die gerissensten hinein. Sie hielten zwar nicht viel von ihm als Kaufmann und nannten ihn den
«Kronprinzen», zum Unterschied von seinem Vater, dessen kurze, dicke Zunge nicht beweglich zu reden vermochte, aber dafür im weitesten Umkreis und an den feinsten Anzeichen herausschmeckte, was ein Geschäft war. Diesen fürchteten sie und verehrten ihn; wenn sie aber von den philosophischen Forderungen hörten, die der Kronprinz an ihren Stand stellte und sogar in die sachlichsten Unterredungen verflocht, so lächelten sie. Er war berüchtigt dafür, daß er in Verwaltungsratsitzungen die Dichter zitierte und darauf bestand, daß die Wirtschaft etwas sei, das man von den anderen menschlichen Tätigkeiten nicht absondern könne und nur im großen Zusammenhang aller Fragen des nationalen, des geistigen, ja selbst des innerlichsten Lebens behandeln dürfe. Aber immerhin, wenn sie auch dazu lächelten, konnten sie doch nicht ganz übersehen, daß Arnheim junior gerade mit diesen Zutaten zum Geschäft die öffentliche Meinung in steigendem Maße beschäftigte. Bald im wirtschaftlichen, bald im politischen oder im kulturellen Teil der großen Blätter aller Nationen erschien eine Nachricht über ihn, die Würdigung einer Arbeit aus seiner Feder, der Bericht über eine bemerkenswerte Rede, die er irgendwo gehalten hatte, die Mitteilung von seinem Empfang durch irgendeinen Herrscher oder Kunstverein, und es gab in dem sonst in der Stille und hinter doppelt verschlossenen Türen wirkenden Kreis der Großunternehmer bald keinen Mann, von dem draußen so viel die Rede gewesen wäre, wie von ihm. Und man darf nicht glauben, daß die Herren Präsidenten, Aufsichtsräte, Generaldirektoren und Direktoren der Banken, Hütten, Konzerne, Bergwerke und Schifffahrtsgesellschaften in ihrem Innern die böswilligen Menschen seien, als die sie oft hingestellt werden.
Abgesehen von ihrem sehr entwickelten Familiensinn, ist die innere Vernunft ihres Lebens die des Geldes, und das ist eine Vernunft mit sehr gesunden Zähnen und schlichtem Magen. Sie alle waren überzeugt, daß die Welt viel besser wäre, wenn man sie einfach dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage überließe, statt Panzerschiffen, Bajonetten, Majestäten und wirtschaftsunkundigen Diplomaten; bloß weil die Welt ist, wie sie ist, und einem alten Vorurteil zuliebe ein Leben, das zuerst dem eigenen und dadurch erst dem allgemeinen Vorteil dient, tiefer bewertet wird als Ritterlichkeit und Staatsgesinnung, und Staatsaufträge moralisch höher stehen als private, waren sie die letzten, nicht damit zu rechnen, und machten sich bekanntlich die Vorteile, die bewaffnete Zollverhandlungen oder gegen Streikende eingesetztes Militär dem öffentlichen Wohl bieten, kräftig zunutze. Auf diesem Wege führt aber das Geschäft zur Philosophie, denn ohne Philosophie wagen heute nur noch Verbrecher anderen Menschen zu schaden, und so gewöhnten sie sich daran, in Arnheim junior eine Art vatikanischen Vertreters ihrer Angelegenheiten zu erblicken. Bei aller Ironie, die sie für seine Neigungen bereit hatten, war es ihnen angenehm, an ihm einen Mann zu besitzen, der ihre Bedürfnisse auf einer Bischofsversammlung ebensogut zu vertreten vermochte wie auf einem Soziologenkongreß; ja er gewann schließlich einen ähnlichen Einfluß auf sie, wie ihn eine schöne und schöngeistige Gattin ausübt, welche die ewige Kontortätigkeit schmält, aber dem Geschäft nützt, weil sie von allen bewundert wird. Nun braucht man sich dazu nur noch die Wirkung Maeterlinckscher oder Bergsonscher Philosophie, angewendet auf die Fragen von Kohlenpreis und Kartellierungspolitik vorzustellen, um zu ermessen, wie niederdrückend bald in Paris, bald in Petersburg oder Kapstadt der jüngere Arnheim auf Industriellenversammlungen und in Direktionsbüros wirken konnte, sobald er dahin als der Gesandte seines Vaters kam und von Anfang bis zu Ende angehört werden mußte. Die Erfolge für das Geschäft waren ebenso bedeutend wie geheimnisvoll, und aus alledem entstand das bekannte Gerücht 101
von des Mannes überragender Bedeutung und seiner glücklichen Hand.
So könnte noch mancherlei von Arnheims Erfolg erzählt werden. Von den Diplomaten, welche das ihnen wesensfremde, aber wichtige Gebiet der Wirtschaft mit der Vorsicht von Männern behandelten, die einen nicht ganz verläßlichen Elefanten zu pflegen haben, während er mit ihm in der Sorglosigkeit des eingeborenen Wärters umging. Von den Künstlern, denen er selten nützte, ungeachtet dessen sie doch das Gefühl hatten, mit einem Mäzen zu verkehren. Endlich von den Journalisten, die sogar den ersten Anspruch hätten, daß man von ihnen erzähle, weil sie es waren, die durch ihre Bewunderung Arnheim erst zu einem großen Mann machten, ohne den verkehrten Zusammenhang zu bemerken; denn man hatte ihnen einen Floh ins Ohr gesetzt, und sie glaubten das Gras der Zeit wachsen zu hören. Die Grundgestalt seines Erfolgs war überall die gleiche; umgeben von dem Zauberschein seines Reichtums und dem Gerücht seiner Bedeutung, mußte er immer mit Menschen verkehren, die ihn auf ihrem Gebiet überragten, aber er gefiel ihnen als Fachfremder mit überraschenden Kenntnissen von ihrem Fach und schüchterte sie ein, indem er in seiner Person Beziehungen ihrer Welt zu anderen Welten darstellte, von denen sie keine Ahnung hatten.
So war es ihm zur Natur geworden, einer Gesellschaft von Spezialmenschen gegenüber als Ganzes und ein Ganzer zu wirken. Zuweilen schwebte ihm eine Art Weimarer oder Florentiner Zeitalter der Industrie und des Handels vor, die Führerschaft starker, den Wohlstand mehrender Persönlichkeiten, die befähigt sein müßten, die Einzelleistungen der Technik, Wissenschaft und Künste in sich zu vereinen und von hohem Standpunkt zu lenken. Die Fähigkeit dazu fühlte er in sich. Er besaß das Talent, niemals in etwas Nachweisbarem und Einzelnem überlegen zu sein, wohl aber durch ein fließendes und jeden Augenblick sich aus sich selbst erneuerndes Gleichgewicht in jeder Lage obenauf zu kommen, was vielleicht wirklich die Grundfähigkeit eines Politikers ist, aber Arnheim war außerdem überzeugt, daß es ein tiefes Geheimnis sei. Er nannte es «das Geheimnis des Ganzen». Denn auch die Schönheit eines Menschen besteht beinahe in nichts Einzelnem und Nachweisbarem, sondern in jenem zauberhaften Etwas, das sich sogar kleine Häßlichkeiten dienstbar macht; und genau so sind die tiefe Güte und Liebe, die Würde und Größe eines Wesens fast unabhängig von dem, was es tut, ja sie sind imstande, alles, was es tut, zu adeln. Auf geheimnisvolle Weise geht im Leben das Ganze vor den Einzelheiten. Mögen also immerhin kleine Leute aus ihren Tugenden und Fehlern bestehn, so verleiht der große Mensch seinen Eigenschaften erst ihren Rang; und wenn es das Geheimnis seines Erfolgs ist, daß dieser aus keinem seiner Verdienste und keiner seiner Eigenschaften recht verstanden werden kann, so ist eben dieses Vorhandensein einer Kraft, die mehr ist als jede ihrer Äußerungen, das Geheimnis, auf dem alles Große im Leben ruht. So hatte es Arnheim in einem seiner Bücher beschrieben, und als er dies niederschrieb, glaubte er beinahe, das Überirdische an der Mantelfalte gefaßt zu haben, und ließ das auch im Text durchblicken.
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Beginnende Gegensätze zwischen alter und neuer Diplomatie
Der Verkehr mit Personen, deren Sonderfach der Geburtsadel war, machte darin keine Ausnahme. Arnheim dämpfte seine eigene Vornehmheit ab und beschränkte sich so bescheiden auf Geistesadel, der seine Vorzüge und Grenzen kennt, daß nach einer Weile die Träger hochadeliger Namen neben ihm wirkten, als hätten sie vom Tragen dieser Last einen gekrümmten Arbeiterrücken. Wer das am schärfsten beobachtete, war Diotima. Sie erkannte das Geheimnis des Ganzen mit dem Verstand eines Künstlers, der seinen Lebenstraum in einer Weise verwirklicht sieht, die jedes Bessermachen ausschließt.
Sie war nun wieder völlig mit ihrem Salon ausgesöhnt. Arnheim warnte vor Überschätzung der äußeren Organisation; grobe materielle Interessen würden sich der reinen Absicht bemächtigen; er legte mehr Wert auf den Salon.
Sektionschef Tuzzi sprach dagegen die Befürchtung aus, daß man auf diesem Wege über einen Abgrund von Reden nicht hinauskommen werde.
Er hatte ein Bein über das andere geschlagen und die stark geäderten, mageren dunklen Hände davor gekreuzt; er sah mit seinem Bärtchen und den südländischen Augen neben dem in einem tadellosen Anzug aus weichem Stoff aufgerichtet dasitzenden Arnheim aus wie ein levantinischer Taschendieb neben einem Bremenser Handelsherrn. Es stießen da zwei Vornehmheiten aufeinander, und die österreichische, die sich, 102
einem vielfach zusammengesetzten Hochgeschmack entsprechend, gerne mit einem Stich ins Nachlässige gab, hielt sich keineswegs für die geringere. Sektionschef Tuzzi hatte eine nette Art, sich nach den Fortschritten der Parallelaktion zu erkundigen, als ob er nicht selbst und unmittelbar wissen dürfte, was in seinem Hause vorgehe. «Wir wären froh, wenn wir möglichst bald erfahren könnten, was geplant wird»
sagte er und blickte seine Gattin und Arnheim mit einem freundlichen Lächeln an, das ausdrücken sollte, ich bin in diesem Fall ja hier ein Fremder. Danach erzählte er, daß das gemeinsame Werk seiner Frau und Sr.
Erlaucht den Amtsstellen schon schwere Sorgen bereite. Der Minister hatte während des letzten Vortrags bei Sr. Majestät vorgefühlt, welche äußeren Kundgebungen aus Anlaß des Jubiläums unter Umständen auf Allerhöchste Billigung rechnen dürften, namentlich, wie weit an Allerhöchster Stelle der Plan genehm sein möchte, dem Zuge der Zeit vorgreifend, sich an die Spitze einer internationalen pazifistischen Aktion zu stellen; - denn das wäre die einzige Möglichkeit, erläuterte Tuzzi, wenn man den bei Sr. Erlaucht aufgetauchten Gedanken eines Weltösterreich politisch fassen wolle. Aber Se. Majestät in Allerhöchst Ihrer weltbekannten Gewissenhaftigkeit und Zurückhaltung, erzählte er weiter, hätte sofort mit der energischen Bemerkung abgewehrt: «Ah, i mag mi net vordrängen lassen»; und nun wisse man nicht, ob es sich dabei um eine ausgesprochen entgegenstehende Allerhöchste Willensmeinung handle oder nicht.
Tuzzi verfuhr so in einer zarten Weise unzart mit den kleinen Geheimnissen seines Berufs, wie es ein Mann tut, der gleichzeitig größere gut zu bewahren weiß. Er schloß damit, daß die Gesandtschaften jetzt die Stimmung der fremden Höfe zu ergründen hätten, weil man der Stimmung des eigenen nicht sicher sei und doch irgendwo einen festen Punkt gewinnen müsse. Denn am Ende wären rein handwerklich ja viele Möglichkeiten gegeben, von der Einberufung einer allgemeinen Friedenskonferenz, über eine Zwanzig-Herrscher-Zusammenkunft, bis hinab zur Ausstattung des Haager Palastes mit Wandgemälden österreichischer Künstler oder einer Stiftung für die Kinder und Waisen der Hausangestellten im Haag. Er knüpfte die Frage daran, wie man am preußischen Hofe über das Jubiläumsjahr denke. -Arnheim erklärte, darüber nicht unterrichtet zu sein. Der österreichische Zynismus stieß ihn ab; der er selbst so elegant zu plaudern wußte, fühlte sich in Tuzzis Nachbarschaft zugeknöpft wie ein Mann, der zu betonen wünscht, daß es kalt und ernst zu werden hat, sobald von Staatsgeschäften die Rede ist. Dergestalt stellten sich zwei gegensätzliche Vornehmheiten, Staats-und Lebensstile, nicht ganz ohne nebenbuhlerische Absicht vor Diotima dar. Aber stelle einen Windhund neben einen Mops, eine Weide neben eine Pappel, ein Weinglas auf einen Sturzacker oder ein Porträt statt in eine Kunsthandlung in ein Segelboot, kurz, bringe zwei hochgezüchtete und ausgeprägte Formen des Lebens nebeneinander, so entsteht zwischen ihnen beiden eine Leere, eine Aufhebung, eine ganz bösartige Lächerlichkeit ohne Boden. Das fühlte Diotima in ihren Augen und Ohren, ohne es zu verstehen, und gab erschreckt dem Gespräch eine Wendung, indem sie mit großer Entschiedenheit ihrem Mann erklärte, sie beabsichtige, mit der Parallelaktion in erster Linie etwas geistig Großes zu erreichen, und werde nur die Bedürfnisse wirklich moderner Menschen in deren Führung einströmen lassen!
Arnheim empfand es dankbar, daß dem Gedanken seine Würde wieder zurückgegeben sei, denn gerade weil er sich gegen gewisse Augenblicke des Versinkens wehren mußte, wünschte er mit den Ereignissen, die sein Beisammensein mit Diotima in großer Weise rechtfertigten, so wenig zu spaßen wie ein Ertrinkender mit seinem Schwimmgürtel. Aber zu seiner eigenen Überraschung fragte er Diotima nicht ohne Zweifel in der Stimme, wen sie dann wohl in die geistige Spitzengruppe der Parallelaktion wählen wolle?
Diotima war dies natürlich noch ganz unklar; die Tage des Beisammenseins mit Arnheim hatten ihr eine solche Fülle von Anregungen und Ideen geschenkt, daß sie nicht dazu gekommen war, bestimmte Ergebnisse auszuwählen. Wohl hatte Arnheim einigemale ihr gegenüber wiederholt, daß es nicht auf die Demokratie der Ausschüsse, sondern auf starke und umfassende Persönlichkeiten ankomme, aber dabei hatte sie einfach das Gefühl gehabt: du und ich, — wenn auch noch keineswegs den Entschluß, ja nicht einmal die Einsicht; nun war es wahrscheinlich gerade das, woran sie durch den Pessimismus, der in Arnheims Stimme lag, erinnert wurde, denn sie antwortete: «Gibt es denn heute überhaupt etwas, das man ganz wichtig und groß nennen kann, um es mit aller Kraft zu verwirklichen?!»
«Es ist das Kennzeichen einer Zeit, welche die innere Sicherheit gesunder Zeiten verloren hat, » bemerkte Arnheim darauf «daß sich in ihr nur schwer etwas als das Wichtigste und Größte herausbildet. »
Sektionschef Tuzzi hatte die Augen zu einem Stäubchen auf seiner Hose niedergeschlagen, so daß man sein 103
Lächeln als Zustimmung deuten konnte.
«In der Tat, was sollte es sein?» fuhr Arnheim prüfend fort. «Die Religion?»
Sektionschef Tuzzi richtete nun sein Lächeln empor; Arnheim hatte das Wort zwar nicht so nachdrücklich und zweifelsfrei ausgesprochen wie seinerzeit in Nachbarschaft Sr. Erlaucht, aber immerhin mit wohlklingendem Ernst.
Diotima verwahrte sich gegen das Lächeln ihres Gatten und warf ein: «Warum nicht? Auch die Religion!»
«Gewiß, aber da wir einen praktischen Entschluß fassen müssen: Haben Sie je daran gedacht, einen Bischof in den Ausschuß zu wählen, der für die Aktion ein zeitgemäßes Ziel finden soll? Gott ist im tiefsten unmodern: Wir vermögen nicht, ihn uns in Frack, glattrasiert und mit einem Scheitel vorzustellen, sondern tun es nach Patriarchenart. Und was ist außer der Religion vorhanden? Die Nation? Der Staat?» Hier freute sich Diotima, weil Tuzzi gewöhnlich den Staat als eine männliche Angelegenheit behandelte, über die man mit Frauen nicht spricht. Jetzt schwieg er aber und tat nur so in den Augen, als ob darüber doch noch einiges mehr zu sagen wäre.
«Die Wissenschaft?» fragte Arnheim weiter; «die Kultur? Bleibt die Kunst. Wahrhaftig, sie wäre es, die am ersten die Einheit des Daseins und seine innere Ordnung spiegeln müßte. Aber wir kennen doch das Bild, das sie heute bietet. Allgemeine Zerrissenheit; Extreme ohne Zusammenhang. Dem neuen, mechanisierten Gesellschaftsund Gefühlsleben haben bereits im Anfang Stendhal, Balzac und Flaubert die Epopöe geschaffen, das Dämo-nium der Unterschichten haben Dostojewski, Strindberg und Freud aufgedeckt: wir heute Lebenden haben das tiefe Gefühl, daß in alledem nichts mehr für uns zu tun übrig ist. »
Hier schaltete Sektionschef Tuzzi ein, daß er den Homer vornehme, wenn er etwas Gediegenes lesen wolle, oder den Peter Rosegger.
Arnheim griff die Anregung auf. «Sie müßten noch die Bibel hinzunehmen. Mit Bibel, Homer und Rosegger oder Reuter läßt es sich auskommen! Und da sind wir auch in der innersten Zone des Problems!
Angenommen, wir hätten einen neuen Homer: Fragen wir uns mit letzter Aufrichtigkeit, ob wir überhaupt fähig wären, ihm zuzuhören? Ich glaube, wir müssen das verneinen. Wir haben ihn nicht, weil wir ihn nicht brauchen!» Arnheim saß nun im Sattel und ritt. «Wenn wir ihn brauchen würden, würden wir ihn haben!
Denn letzten Endes geschieht in der Weltgeschichte nichts Negatives. Was kann es darum bedeuten, daß wir alles wahrhaft Große und Wesentliche in die Vergangenheit verlegen? Homer und Christus sind nicht wieder erreicht, geschweige denn übertroffen worden; es gibt nichts Schöneres als das Hohelied; Gotik und Renaissance stehn vor der Neuzeit wie ein Gebirgsland vor dem Eingang einer Ebene; wo sind heute große Herrschergestalten?! Wie kurzatmig erscheint selbst die Tat Napoleons neben der der Pharaonen, das Werk Kants neben dem Buddhas, das Goethes neben dem Homers! Aber schließlich leben wir und müssen für etwas leben: welchen Schluß haben wir also daraus zu ziehen? Keinen anderen, als daß-» Hier brach Arnheim jedoch ab und versicherte, daß er zaudere, es auszusprechen: denn es bliebe nur der Schluß übrig, daß alles, was man wichtig nehme und für groß halte, nichts mit dem zu tun habe, was die innerste Kraft unseres Lebens sei.
«Und diese wäre?» fragte Sektionschef Tuzzi; dagegen, daß man das meiste viel zu wichtig nehme, hatte er wenig einzuwenden.
«Kein Mensch kann das heute sagen» erwiderte Arnheim. «Die Zivilisationsfrage ist nur mit dem Herzen zu lösen. Durch das Auftreten einer neuen Person. Durch das innere Gesicht und den reinen Willen. Der Verstand hat nichts anderes zuwege gebracht, als die große Vergangenheit bis zum Liberalismus abzuschwächen. Aber vielleicht sehen wir nicht weit genug und rechnen mit zu kleinen Maßen; jeder Augenblick kann der einer Weltwende sein!»
Diotima hatte einwenden wollen, daß dann für die Parallelaktion überhaupt nichts mehr übrig bleibe. Aber merkwürdigerweise wurde sie von Arnheims dunklen Gesichten hingerissen. Vielleicht war ein Rest von
«lästigen Lernaufgaben» in ihr zurückgeblieben und beschwerte sie, wenn sie immer wieder die neuesten Bücher lesen und über die neuesten Bilder reden mußte; der Pessimismus der Kunst gegenüber befreite sie von vielen Schönheiten, die ihr im Grunde gar nicht gefallen hatten; jener gegenüber der Wissenschaft erleichterte ihre Angst vor der Zivilisation, dem Übermaß des Wissenswürdigen und Einflußreichen. So war Arnheims hoffnungsloses Urteil über die Zeit für sie eine Wohltat, die sie mit einemmal spürte. Und angenehm fuhr ihr der Gedanke durchs Herz, daß Arnheims Melancholie irgendwie mit ihr zusammenhänge.
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Weitere Entwicklung. Sektionschef Tuzzi beschließt,sich über die Person Arnheims Klarheit zu verschaffen Diotima hatte recht geraten. Seit dem Augenblick, wo Arnheim bemerkt hatte, daß der Busen dieser wundervollen Frau, die seine Bücher über die Seele gelesen hatte, von einer Macht gehoben und bewegt wurde, die man nicht mißverstehen konnte, war er einer Verzagtheit verfallen, die ihm sonst fremd war. Um es kurz und nach seiner eigenen Erkenntnis auszudrücken, es war die Verzagtheit des Moralisten, dem auf einmal und unerwartet der Himmel auf Erden begegnet, und will man ihm das nachempfinden, so braucht man sich bloß vorzustellen, wie es wäre, wenn rings um uns nichts als diese stille blaue Pfütze mit schwimmenden weichen, weißen Federballen läge.
An sich betrachtet, ist der moralische Mensch lächerlich und unangenehm, wie der Geruch jener ergebenen armen Leute lehrt, die nichts ihr eigen nennen als ihre Moral; die Moral braucht große Aufgaben, von denen sie ihre Bedeutung empfängt, und darum hatte Arnheim die Ergänzung seiner zur Moral neigenden Natur immer im Weltgeschehen gesucht, in der Weltgeschichte, in der ideologischen Durchdringung seiner Tätigkeit. Das war seine Lieblingsvorstellung, Gedanken in Machtsphären zu tragen und Geschäfte nur in Zusammenhang mit geistigen Fragen zu behandeln. Er nahm gern Vergleiche für sich aus der Geschichte, um sie mit neuem Leben zu füllen; die Rolle der Finanz in der Gegenwart schien ihm jener der katholischen Kirche ähnlich zu sein, als einer aus dem Hintergrund wirkenden, im Verkehr mit den herrschenden Gewalten unnachgiebig-nachgiebigen Macht, und er betrachtete sich zuweilen in seiner Tätigkeit wie einen Kardinal. Aber diesmal war er doch eigentlich mehr aus Laune gereist; und wenn er auch ganz absichtslos selbst eine Reise aus Laune nicht unternahm, so konnte er sich doch nicht entsinnen, wie der Plan dazu, übrigens ein bedeutsamer Plan, ursprünglich in ihm entstanden sei. Es waltete etwas von unvorhergesehener Eingebung und plötzlichem Entschluß über seiner Fahrt, und es war wahrscheinlich dieser kleine Umstand von Freiheit, der es bewirkte, daß eine Urlaubsreise nach Bombay schwerlich einen exotischeren Eindruck auf ihn gemacht haben würde, als es die abseitige deutsche Großstadt tat, in die er geraten war. Der in Preußen völlig unmögliche Gedanke, daß er eingeladen wurde, um in der Parallelaktion eine Rolle zu spielen, hatte das übrige dazu getan und stimmte ihn phantasievoll unlogisch wie ein Traum, dessen Widersinn seiner praktischen Klugheit nicht entging, ohne daß diese jedoch imstande gewesen wäre, den Reiz des Märchenhaften zu durchbrechen. Er hätte den Zweck seines Kommens wahrscheinlich viel einfacher und auf geraden Wegen auch erreichen können, aber er betrachtete es wie einen Erholungsurlaub von der Vernunft, immer wieder hieher zurückzukehren, und wurde von seinem Geschäftsgeist für solchen Märchenwandel dadurch bestraft, daß er den schwärzen Sittenpunkt, den er sich selbst hätte geben müssen, als graue Färbung ins Allgemeine verrieb.
Zu einer so weitgehenden Betrachtung in Dunkel wie jenesmal in Gegenwart Tuzzis kam es allerdings kein zweites Mal; schon deshalb nicht, weil sich Sektionschef Tuzzi gewöhnlich nur flüchtig zeigte, und Arnheim seine Worte auf die verschiedensten Personen verteilen mußte, die er in diesem schönen Land erstaunlich aufnahmefähig fand. Er nannte in Gegenwart Sr. Erlaucht Kritik unfruchtbar und die Jetztzeit entgöttert, wobei er nochmals zu verstehen gab, daß der Mensch aus solcher negativen Existenz nur durch das Herz erlöst werden könne, und für Diotima die Behauptung anschloß, einzig der kulturvolle Süden Deutschlands könnte noch imstande sein, das deutsche Wesen und so vielleicht auch die Welt von den Ausschreitungen des Rationalismus und Rechentriebs zu befreien. Er sprach, umgeben von Damen, über die notwendige Organisierung der inneren Zartheit, um die Menschheit vor Wettrüsten und Seelenlosigkeit zu retten. Er erläuterte einem Kreis von schaffenden Männern das Hölderlin-Wort, daß es in Deutschland keine Menschen mehr gebe, sondern nur noch Berufe. «Und niemand kann in seinem Beruf ohne Gefühl für eine höhere Einheit etwas leisten; am wenigsten der Finanzmann!» schloß er diese Ausführung.
Man hörte ihm gerne zu, weil es schön war, daß ein Mann, der so viele Gedanken hatte, auch Geld besaß; und der Umstand, daß jeder, der ihn sprach, mit dem Eindruck davonging, ein Unternehmen wie die Parallelaktion sei eine höchst verdächtige, mit den gefährlichsten geistigen Widersprüchen behaftete Angelegenheit, bestärkte alle in dem Eindruck, daß niemand anderer sich so gut dazu eignen würde wie er, 105
die Führung in diesem Abenteuer zu übernehmen.
Allein Sektionschef Tuzzi wäre nicht in aller Stille einer der führenden Diplomaten seines Landes gewesen, wenn er von der gründlichen Anwesenheit Arnheims in seinem Hause nichts bemerkt hätte; er konnte bloß in keiner Weise klug daraus werden. Aber er zeigte es nicht, weil ein Diplomat niemals seine Gedanken zeigt. Dieser Fremde war ihm im höchsten Grade unangenehm, persönlich, aber sozusagen auch grundsätzlich; und daß er offenkundig den Salon seiner Frau zum Operationsfeld für irgendwelche geheime Absichten erwählt hatte, empfand Tuzzi als eine Herausforderung. Er glaubte nicht einen Augenblick den Versicherungen Diotimas, daß der Nabob die Kaiserstadt an der Donau nur darum so oft aufsuche, weil sich sein Geist inmitten ihrer alten Kultur am wohlsten fühle, stand jedoch zunächst vor einer Aufgabe, für deren Lösung ihm jeder Anhaltspunkt fehlte, denn ein solcher Mensch war ihm in seinen amtlichen Beziehungen noch nicht vorgekommen.
Und seit ihm Diotima ihren Plan auseinandergesetzt hatte, Arnheim eine führende Stellung in der Parallelaktion einzuräumen, und sich über den Widerstand Sr. Erlaucht beklagte, war Tuzzi ernstlich betroffen. Er hielt weder von der Parallelaktion noch vom Grafen Leinsdorf etwas, aber er hatte den Einfall seiner Frau politisch so überraschend taktlos gefunden, daß ihm in diesem Augenblick zumute war, es stürze die langjährige männliche Erziehungsarbeit, die er sich schmeicheln durfte geleistet zu haben, wie ein Kartenhaus zusammen. Sogar dieses Gleichnis hatte Sektionschef Tuzzi in seinem Inneren gebraucht, obwohl er sich sonst niemals Gleichnisse gestattete, weil sie zu literarisch sind und nach schlechter gesellschaftlicher Haltung riechen; diesmal aber war ihm ganz erschüttert dabei zumute.
Diotima verbesserte allerdings in der Folge ihre Stellung wieder durch ihren Eigensinn. Sie war sanft ausfällig geworden und hatte von einer neuen Art Menschen erzählt, welche die geistige Verantwortung für den Weidauf nicht mehr untätig den Berufslenkern überlassen könne. Dann hatte sie vom Takt der Frau gesprochen, der zuweilen eine Sehergabe sein könne und den Blick möglicherweise in weitere Fernen lenke als die tägliche Berufsarbeit. Schließlich sagte sie, Arnheim sei ein Europäer, ein in ganz Europa bekannter Geist, die Leitung der Staatsgeschäfte in Europa geschehe zu wenig europäisch und viel zu ungeistig, und die Welt werde nicht Frieden finden, ehe ein weltösterreichischer Geist sie so durchwehe, wie die alte österreichische Kultur sich um die verschiedensprachigen Stämme auf dem Boden der Monarchie schlinge.
- Sie hatte noch nie sich so entschieden der Überlegenheit ihres Mannes entgegenzusetzen gewagt, aber Sektionschef Tuzzi wurde dadurch vorübergehend wieder beruhigt, denn er hatte die Bestrebungen seiner Gattin nie für wichtiger als Schneiderfragen angesehn, war glücklich, wenn andere sie bewunderten, und betrachtete nun auch diese Angelegenheit milder und ungefähr so, wie wenn eine farbenfreudige Frau einmal ein zu buntes Band ausgewählt hätte. Er beschränkte sich darauf, ihr mit ernster Höflichkeit die Gründe zu wiederholen, die es in der Männerwelt ausgeschlossen erscheinen ließen, einem Preußen vor aller Augen die Entscheidung österreichischer Angelegenheiten anzuvertraun, räumte aber im übrigen ein, daß es Vorteile bieten möge, sich mit einem Mann in so eigenartiger Stellung zu befreunden, und versicherte Diotima, daß sie seine Bedenken mißdeuten würde, wenn sie aus ihnen schließen wollte, daß es ihm nicht angenehm sei, Arnheim so oft wie möglich in ihrer Gesellschaft zu sehn. Er hoffte bei sich, daß sich auf diesem Wege die Gelegenheit, dem Fremden eine Falle zu stellen, schon finden werde.
Erst als Tuzzi mitansehen mußte, wie Arnheim überall Erfolg hatte, kam er wieder darauf zurück, daß Diotima sich allzu engagiert mit diesem Manne zeige, aber er erfuhr nun abermals, daß sie seinen Willen nicht wie sonst achtete, ihm widersprach und seine Besorgnisse für Hirngespinste erklärte. Er beschloß, als Mann nicht gegen die Dialektik einer Frau zu streiten, sondern die Stunde abzuwarten, wo seine Voraussicht von selbst triumphieren werde; da ereignete es sich jedoch, daß er einen gewaltigen Antrieb erhielt. Denn eines Nachts beunruhigte ihn etwas, das ihm wie ein unendlich fernes Weinen vorkam; es störte ihn anfangs kaum, er begriff es einfach nicht, aber von Zeit zu Zeit verringerte sich die seelische Entfernung um einen Sprung, und mit einemmal war die bedrohliche Unruhe dicht an seinen Ohren, und er fuhr so jäh aus dem Schlaf, daß er sich im Bett aufsetzte. Diotima lag zur Seite gewandt und gab kein Zeichen, aber er fühlte an irgendetwas, daß sie wache. Er rief sie leise beim Namen, wiederholte diese Frage und versuchte mit zärtlichen Fingern ihre weiße Schulter zu sich zu drehn. Aber wie er drehte, und ihr Gesicht im Dunkel über der Schulter aufging, sah es ihn böse an, drückte Trotz aus und hatte geweint.
Leider hatte sein fester Schlaf Tuzzi inzwischen wieder halb überwältigt, zog ihn eigensinnig von hinten zurück zu den Polstern, und Diotimas Gesicht schwebte nur noch wie eine schmerzende helle Verzerrung 106
vor ihm, die er in keiner Weise mehr begriff. «Was ist denn?» brummte er im leisen Baß des Einschlafens und erhielt eine klare, gereizte, unangenehme Antwort ins Ohr geprägt, die in seine Schlaftrunkenheit fiel und darin liegen blieb wie eine blinkende Münze im Wasser. «Du schläfst so unruhig, daß niemand neben dir schlafen kann!» hatte Diotima hart und deutlich gesagt; sein Ohr hatte es aufgenommen, aber damit war Tuzzi vom Wachen auch schon abgeschieden, ohne auf den Vorwurf weiter eingehen zu können.
Er fühlte bloß, daß ihm schweres Unrecht geschehen sei. Ruhig zu schlafen, gehörte nach seiner Ansicht zu den Haupttugenden eines Diplomaten, denn es war eine Bedingung jedes Erfolgs. Man durfte ihn da nicht antasten, und er empfand sich durch Diotimas Bemerkung ernstlich in Frage gestellt. Er begriff, daß Veränderungen mit ihr vorgegangen seien. Es fiel ihm zwar nicht einmal im Schlaf ein, seine Frau greifbarer Untreue zu verdächtigen, dennoch stand es keinen Augenblick in Zweifel für ihn, daß das persönliche Unbehagen, das ihm zugefügt worden, mit Arnheim zusammenhängen müsse. Er schlief sozusagen zornig bis zum Morgen durch und wachte mit dem festen Entschluß auf, um diese störende Person Klarheit zu schaffen.
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Das Haus Fischel
Direktor Fischel von der Lloyd-Bank war jener Bankdirektor, oder richtiger gesagt Bankprokurist mit dem Titel Direktor, der eine Einladung des Grafen Leinsdorf aus zunächst unbegreiflichen Gründen zu beantworten vergessen hatte und danach nicht wieder eingeladen wurde. Und auch jene erste Aufforderung hatte er nur den Beziehungen seiner Gattin Klementine verdankt. Klementine Fischel stammte aus einer alten Beamtenfamilie, ihr Vater war Präsident des Obersten Rechnungshofes gewesen, ihr Großvater Kameral-rat, und drei ihrer Brüder nahmen hohe Stellungen in verschiedenen Ministerien ein. Sie hatte vor vierundzwanzig Jahren Leo aus zwei Gründen geheiratet; erstens weil hohe Beamtenfamilien manchmal mehr Kinder als Vermögen besitzen, zweitens aber auch aus Romantik, weil ihr im Gegensatz zu der peinlich sparsamen Begrenztheit ihres Elternhauses das Bankwesen als ein freigeistiger, zeitgemäßer Beruf erschienen war und ein gebildeter Mensch im neunzehnten Jahrhundert den Wert eines anderen Menschen nicht danach beurteilt, ob er Jude oder Katholik ist; ja, wie es damals war, empfand sie nahezu etwas besonders Gebildetes dabei, sich über das naive antisemitische Vorurteil des gewöhnlichen Volks hinwegzusetzen.
Die Arme mußte später erleben, daß in ganz Europa ein Geist des Nationalismus emporkam und mit ihm auch eine Welle der Judenangriffe hochstieg, die ihren Mann sozusagen in ihren Armen aus einem geachteten Freigeist in den Ätzgeist eines bodenfremden Abstämmlings verwandelte. Anfangs hatte sie sich dagegen mit dem ganzen Ingrimm eines «groß denkenden Herzens» aufgelehnt, aber mit den Jahren wurde sie von der naiv grausamen, immer weiter um sich greifenden Feindseligkeit zermürbt und von dem allgemeinen Vorurteil eingeschüchtert. Ja, sie mußte es sogar erleben, daß sie vor sich selbst bei den Gegensätzen, die sich zwischen ihr und ihrem Mann allmählich immer heftiger auftaten, - als er aus Gründen, über die er niemals richtig Auskunft geben wollte, über die Stufe eines Prokuristen nicht wegkam und alle Aussicht verlor, jemals wirklicher Bankdirektor zu werden - manches, was sie verletzte, achselzuckend damit erklärte, daß Leos Charakter eben doch dem ihren fremd sei, wenn sie auch gegen Außenstehende die Grundsätze ihrer Jugend niemals preisgab.
Diese Gegensätze bestanden freilich im Grunde aus nichts anderem als dem Mangel an Übereinstimmung; wie in vielen Ehen ein sozusagen natürliches Unglück an die Oberfläche kommt, sobald sie aufhören, verblendet glücklich zu sein. Seit die Laufbahn Leos zögernd auf dem Posten eines Börsendisponenten stecken geblieben war, vermochte Klementine nicht mehr, gewisse seiner Eigenheiten damit zu entschuldigen, daß er eben nicht in einem spiegelstillen alten Ministerialbüro, sondern am «sausenden Webstuhl der Zeit» sitze, und wer weiß, ob sie ihn nicht gerade wegen dieses Goethezitats geheiratet hatte?!
Sein ausrasierter Backenbart, der sie seinerzeit gemeinsam mit dem auf der Mitte der Nase thronenden Kneifer an einen englischen Lord mit Favorits erinnert hatte, mahnte sie jetzt an einen Börsenmakler, und einzelne Angewohnheiten in Gebärde und Redeweise begannen ihr geradezu unerträglich zu werden.
Klementine versuchte anfangs, ihren Gatten zu verbessern, aber sie stieß dabei auf außergewöhnliche 107
Schwierigkeiten, denn es zeigte sich, daß nirgends in der Welt ein Maß dafür vorhanden ist, ob ein Backenbart rechtmäßig an einen Lord oder an einen Makler erinnert und ein Kneifer einen Platz auf der Nase hat, der zusammen mit einer Handbewegung Enthusiasmus oder Zynismus ausdrückt. Außerdem war aber Leo Fischel auch gar nicht der Mann, der sich hätte verbessern lassen. Er erklärte die Bemängelungen, die das christlichgermanische Schönheitsideal eines Ministerialrats aus ihm machen wollten, für gesellschaftliche Faxen und lehnte ihre Erörterung als eines vernünftigen Mannes unwürdig ab, denn je mehr seine Gattin an Einzelheiten Anstoß nahm, desto mehr betonte er die großen Richtlinien der Vernunft.
Dadurch verwandelte sich das Haus Fischel allmählich in den Kampfplatz zweier Weltanschauungen.
Der Lloyd-Bank-Direktor Fischel philosophierte gern, aber nur zehn Minuten täglich. Er liebte es, das menschliche Dasein als vernünftig begründet zu erkennen, glaubte an seine geistige Rentabilität, die er sich gemäß der wohl-gegliederten Ordnung einer Großbank vorstellte, und nahm täglich mit Gefallen zur Kenntnis, was er von neuen Fortschritten in der Zeitung las. Dieser Glaube an die unerschütterlichen Richtlinien der Vernunft und des Fortschritts hatte es ihm lange Zeit ermöglicht, über die Ausstellungen seiner Frau mit einem Achselzucken oder einer schneidenden Antwort hinwegzugehn. Aber da es das Unglück gewollt hatte, daß sich im Verlauf dieser Ehe die Zeitstimmung von den alten, Leo Fischel günstigen Grundsätzen des Liberalismus, den großen Richtbildern der Freigeistigkeit, der Menschenwürde und des Freihandels abwandte, und Vernunft und Fortschritt in der abendländischen Welt durch Rassentheorien und Straßenschlag-worte verdrängt wurden, so blieb auch er nicht unberührt davon. Er hatte diese Entwicklung anfangs schlechtweg geleugnet, genau so wie Graf Leinsdorf gewisse «unliebsame Erscheinungen öffentlicher Natur» zu leugnen pflegte; er wartete darauf, daß sie von selbst verschwinden würden, und dieses Warten ist der erste, kaum noch fühlbare Grad der Tortur des Ärgers, die das Leben über Menschen mit aufrechter Gesinnung verhängt. Der zweite Grad heißt gewöhnlich, und hieß darum auch bei Fischel so, das «Gift». Das Gift ist das tropfenweise Auftreten neuer Anschauungen in Moral, Kunst, Politik, Familie, Zeitungen, Büchern und Verkehr, das bereits von einem ohnmächtigen Gefühl der Unwiderruflichkeit begleitet wird und von empörter Leugnung, die eine gewisse Anerkennung des Vorhandenseins nicht vermeiden kann. Direktor Fischel blieb aber auch der dritte und letzte Grad nicht erspart, wo die einzelnen Schauer und Strähnen des Neuen zu einem dauernden Regen zusammengeronnen sind, und mit der Zeit wird das zu einer der entsetzlichsten Martern, die ein Mensch erleben kann, der täglich nur zehn Minuten Zeit für Philosophie hat.
Leo lernte kennen, in wieviel Dingen der Mensch verschiedene Meinungen haben kann. Der Trieb, recht zu haben, ein Bedürfnis, das fast gleichbedeutend mit Menschenwürde ist, begann im Hause Fischel Ausschreitungen zu feiern. Dieser Trieb hat in Jahrtausenden Tausende bewundernswerter Philosophien, Kunstwerke, Bücher, Taten und Parteigängerschaften hervorgebracht, und wenn dieser bewundernswerte, aber auch fanatische und ungeheure, mit der menschlichen Natur geborene Trieb sich mit zehn Minuten Lebensphilosophie oder Aussprache über die grundsätzlichen Fragen des Hauswesens begnügen muß, so ist es unvermeidlich, daß er wie ein Tropfen glühenden Bleis in ungezählte Spitzen und Zacken zerplatzt, die auf das schmerzhafteste verwunden können. Er zersprang an der Frage, ob ein Hausmädchen zu entlassen sei oder nicht, und ob Zahnstocher auf den Tisch gehören oder nicht; aber woran immer er zersprang, besaß er die Fähigkeit, sich sofort zu zwei, an Einzelheiten unerschöpflich reichen, Weltanschauungen zu ergänzen.
Das ging bei Tage an, denn da war Direktor Fischel in seinem Büro, in der Nacht aber war er Mensch, und das verschlimmerte ungemein das Verhältnis zwischen ihm und Klementine. Im Grunde kann sich ein Mensch bei der heutigen Kompliziertheit aller Dinge doch nur auf einem Gebiet voll auskennen, und das waren bei ihm Lombarden und Effekten, weshalb er nachts zu einer gewissen Nachgiebigkeit neigte.
Klementine dagegen blieb auch dann spitz und unnachgiebig, denn sie war in der pflichtbewußten, beständigen Atmosphäre eines Beamtenhauses aufgewachsen, und dazu duldete ihr Standesbewußtsein nicht getrennte Schlafräume, um die ohnehin unzureichende Wohnung nicht noch mehr zu verkleinern.
Gemeinsame Schlafräume aber bringen einen Mann, wenn sie verfinstert sind, in die Lage eines Schauspielers, der vor einem unsichtbaren Parkett die dankbare, aber schon sehr abgespielte Rolle eines Helden darstellen muß, der einen fauchenden Löwen vorzaubert. Seit Jahren hatte sich Leos dunkler Zuschauerraum dabei weder den leisesten Applaus noch das geringste Zeichen von Ablehnung entschlüpfen lassen, und man darf sagen, daß das die stärksten Nerven erschüttern konnte. Am Morgen, 108
beim Frühstück, das nach ehrbarer Überlieferung gemeinsam eingenommen wurde, war Klementine steif wie eine gefrorene Leiche und Leo zuckend von Empfindlichkeit. Selbst ihre Tochter Gerda merkte jedesmal etwas davon und malte sich voll Grauen und bitterem Widerwillen das Eheleben als einen Katzenkampf in nächtlicher Dunkelheit aus.
Gerda war dreiundzwanzig Jahre alt und bildete das bevorzugte Kampf objekt zwischen ihren beiden Erzeugern. Leo Fischel fand, daß es für sie an der Zeit wäre, ihn an eine günstige Heirat denken zu lassen.
Gerda dagegen sagte: «Du bist altmodisch, lieber Papa» und hatte ihre Freunde in einem Schwärm christlichgermanischer Altersgenossen gewählt, die nicht die geringste Aussicht auf Versorgung boten, dafür aber das Kapital verachteten und lehrten, daß noch nie ein Jude die Fähigkeit bewiesen habe, ein großes Menschheitssymbol aufzustellen. Leo Fischel nannte sie antisemitische Lümmel und wollte ihnen das Haus verbieten, aber Gerda sagte: «Das verstehst du nicht, Papa, das ist doch bloß symbolisch», und Gerda war nervös und blutarm und regte sich gleich so sehr auf, wenn man nicht vorsichtig mit ihr umging.
So duldete Fischel diesen Verkehr, wie einst Odysseus die Freier der Penelope in seinem Hause hatte dulden müssen, denn Gerda war der Lichtstrahl in seinem Leben; aber er duldete nicht schweigend, denn das lag nicht in seiner Natur. Er glaubte selbst zu wissen, was Moral und große Ideen seien, und er sagte es bei jeder Gelegenheit, um auf Gerda einen günstigen Einfluß zu nehmen. Und Gerda antwortete jedesmal:
«Ja, du hättest unbedingt recht, Papa, wenn man diese Sache nicht von Grund aus anders ansehen müßte, als du es noch tust!» Und was tat Klementine, wenn Gerda so sprach? Nichts! Sie schwieg mit einem ergebenen Gesicht dazu, aber Leo konnte sicher sein, daß sie hinter seinem Rücken Gerdas Willen unterstützen würde, als ob sie wüßte, was Symbole seien! Leo Fischel hatte stets jede Ursache zu der Annahme gehabt, daß sein guter jüdischer Kopf dem seiner Gattin überlegen sei, und nichts empörte ihn so sehr wie die Beobachtung, daß sie aus Gerdas Verrücktheit Nutzen zog. Warum sollte ausgerechnet er plötzlich nicht mehr imstande sein, modern zu denken? Das war ein System! Er erinnerte sich dann der Nacht. Das war schon nicht mehr Ehrabschneidung; das war die Ehre mit der Wurzel abgraben! In der Nacht hat der Mensch nur ein Nachthemd an, und darunter kommt gleich der Charakter. Keine Fachkenntnisse und -klugheit schützen ihn. Man setzt seine ganze Person ein. Nichts sonst. Was sollte es also heißen, daß Klementine, wenn von christlichgermanischer Auffassung die Rede war, ein Gesicht machte, als ob er ein Wilder wäre?
Nun ist der Mensch ein Wesen, das Verdächtigungen so wenig verträgt wie ein Seidenpapier den Regen.
Seit Klementine Leo nicht mehr schön fand, fand sie ihn unerträglich, und seit Leo sich von Klementine angezweifelt fühlte, erspähte er bei jedem Anlaß eine Verschwörung in seinem Haus. Dabei waren Klementine und Leo, wie alle Welt, der das durch Sitte und Literatur eingeredet wird, in dem Vorurteil befangen, daß sie durch ihre Leidenschaften, Charaktere, Schicksale und Handlungen voneinander abhingen. In Wahrheit besteht aber natürlich das Dasein mehr als zur Hälfte nicht aus Handlungen, sondern aus Abhandlungen, deren Meinung man in sich aufnimmt, aus Dafürhalten mit entgegensprechendem Dagegenhalten und aus der aufgestapelten Unpersönlichkeit dessen, was man gehört hat und weiß. Das Schicksal dieser beiden Gatten hing zum größern Teil von einer trüben, zähen, ungeordneten Schichtung von Gedanken ab, die gar nicht ihrer, sondern der öffentlichen Meinung angehörten und sich mit dieser verändert hatten, ohne daß sie sich davor bewahren konnten. Neben dieser Abhängigkeit war die persönliche von einander nur ein winziger Teil, ein irrsinnig überschätzter Rückstand. Und während sie sich einredeten, ein Privatleben zu haben, und gegenseitig ihren Charakter und Willen in Frage stellten, lag die verzweifelte Schwierigkeit in der Unwirklichkeit dieses Streites, die sie durch alle möglichen Verdrießlichkeiten verdeckten.
Es war das Unglück Leo Fischeis, daß er weder Karten spielte, noch Vergnügen daran fand, hübsche Mädchen auszuführen, sondern, ermüdet von seinem Dienst, an einem ausgeprägten Familiensinn litt, wogegen seine Gattin, die nichts zu tun hatte, als Tag und Nacht den Schoß dieser Familie zu bilden, durch keinerlei romantische Vorstellungen davon mehr beirrt wurde. Es befiel Leo Fischel manchmal ein Erstickungsgefühl, das, nirgends greifbar, von allen Seiten auf ihn eindrang. Er war eine tüchtige kleine Zelle im sozialen Körper, die brav ihre Pflicht tat, aber von überall vergiftete Säfte erhielt. Und obgleich das weit über seinen Bedarf an Philosophie hinausging, so begann er, von seiner Lebensgefährtin im Stich gelassen, als alternder Mensch, der keinen Grund einsah, von der vernünftigen Mode seiner Jugend abzulassen, die tiefe Nichtigkeit des seelischen Lebens zu ahnen, seine Gestaltlosigkeit, die ewig die 109
Gestalten wechselt, die langsame, aber ruhelose Umwälzung, die immer alles mit sich dreht.
An einem solchen Morgen, wo sein Denken durch Familienfragen beansprucht war, hatte Fischel vergessen, die Zuschrift Sr. Erlaucht zu beantworten, und an vielen folgenden Morgen bekam er Schilderungen von den Vorgängen im Kreise der Sektionschefsgattin Tuzzi, die es sehr bedauerlich erscheinen ließen, daß eine solche Gelegenheit für Gerda, in die beste Gesellschaft zu kommen, nicht wahrgenommen worden sei.
Fischel selbst hatte kein ganz reines Gewissen, da ja doch sein eigener Generaldirektor und der Gouverneur der Staatsbank hingingen, aber bekanntlich weist man Vorwürfe umso heftiger zurück, je stärker man selbst zwischen Schuld und Unschuld gespannt ist. Aber jedesmal, wenn Fischel sich mit der Überlegenheit des schaffenden Mannes über diese patriotische Angelegenheit lustig zu machen suchte, wurde ihm erklärt, daß ein auf der Zeithöhe stehender Finanzmann wie Paul Arnheim eben schon anders denke. Es war zum Staunen, wie viel Klementine und auch Gerda — die ansonsten den Wünschen ihrer Mutter natürlich widersprach - von diesem Manne in Erfahrung gebracht hatten, und da man auch auf der Börse mancherlei Verwunderliches von ihm redete, so fühlte sich Fischel in die Verteidigung gedrängt, denn er konnte einfach nicht mit und vermochte auch nicht, von einem Mann mit solchen Geschäftsverbindungen zu behaupten, daß man ihn nicht ernst nehmen dürfe.
Wenn Fischel sich aber in die Verteidigung gedrängt fühlte, so nahm das sachgemäß die Form der Kontermine an, das heißt, er schwieg so undurchsichtig wie möglich zu allen Anspielungen, die sich auf das Haus Tuzzi, Arnheim, die Parallelaktion und sein eigenes Versagen bezogen, zog Erkundigungen über den Aufenthalt Arnheims ein und wartete heimlich auf ein Ereignis, das die innere Hohlheit von alledem mit einem Schlage offenbaren und den hohen Familienkurs dieser Angelegenheit zerschmettern sollte.
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Sektionschef Tuzzi stellt eine Lücke im Betrieb seines Ministeriums fest
Sektionschef Tuzzi hatte nach seinem Entschluß, Klarheit um die Person Dr. Arnheims zu schaffen, bald die Genugtuung, im Aufbau des seine Sorge bildenden Ministeriums des Äußern und des Kaiserlichen Hauses eine wesentliche Lücke zu entdecken: es war auf Personen wie Arnheim nicht eingerichtet. Er selbst las von schöngeistigen Büchern außer Memoirenwerken nur die Bibel, Homer und Rosegger und darauf tat er sich etwas zugute, weil es ihn vor Zersplitterung bewahrte; aber daß auch im ganzen Auswärtigen Amt kein Mann zu finden war, der ein Buch von Arnheim gelesen hatte, erkannte er als einen Fehler.
Sektionschef Tuzzi besaß das Recht, die übrigen leitenden Beamten zu sich rufen lassen zu können, aber am Morgen nach jener von Tränen beunruhigten Nacht hatte er sich zum Chef des Pressedepartements hinbegeben, geleitet von einem Gefühl, daß man nicht gut dem Anlaß, der ihn eine Aussprache suchen hieß, schon volle Amtswürde zubilligen könne. Der Chef des Pressedepartements bewunderte Sektionschef Tuzzi wegen der Fülle persönlicher Einzelheiten, die dieser von Arnheim wußte, gab zu, für seine Person den Namen auch schon oft gehört zu haben, verwahrte sich aber gleich gegen die Vermutung, daß der Mann aktenmäßig in seinem Departement vorkomme, da er seines Erinnerns niemals den Gegenstand einer amtlichen Relation gebildet habe und die Bearbeitung des Zeitungsmaterials sich begreiflicherweise nicht auf die Lebensäußerungen von Privatpersonen erstreckte. Tuzzi räumte ein, daß etwas anderes keinesfalls zu erwarten wäre, machte aber die Bemerkung, daß die Grenze zwischen amtlicher und privater Bedeutung von Personen und Erscheinungen heute nicht immer klar zu bestimmen sei, was der Chef des Pressedepartements sehr scharf gesehen fand, worauf sich die beiden Sektionschefs in der Auffassung einigten, einen sehr interessanten Mangel des Systems vor sich zu haben.
Es war offenbar ein Vormittag, an dem Europa ein wenig Ruhe hatte, denn die” beiden Sektionschefs ließen den Kanzleidirektor kommen und ein Faszikel anlegen, das mit Arnheim, Dr. Paul, zu überschreiben war, wenn es auch vorläufig noch leer blieb. Nach dem Kanzleidirektor kamen die Leiter des Aktenarchivs und des Archivs für Zeitungsausschnitte an die Reihe, die sofort aus dem Kopf und strahlend vor Tüchtigkeit zu sagen wußten, daß in ihren Registern ein Arnheim nicht vorkomme. Endlich ließ man noch die Amtsjournalisten holen, die täglich die Blätter zu bearbeiten und den Chefs die Auszüge vorzulegen hatten, und sie alle machten ein bedeutsames Gesicht, als sie nach Arnheim gefragt wurden, und versicherten, daß er in ihren Blättern sehr oft und mit günstigster Betonung genannt werde, vermochten jedoch nichts über 110
den Inhalt seiner Schriften mitzuteilen, weil seine Tätigkeit, wie sie sofort zu sagen wußten, nicht in den Aufgabenkreis der amtlichen Berichterstattung einbezogen sei. Das tadellose Funktionieren der Maschinerie des Auswärtigen Amtes erwies sich, sowie man nur auf den Knopf drückte, und alle Beamten verließen das Zimmer mit dem Gefühl, ihre Verläßlichkeit in gutem Licht gezeigt zu haben. «Es ist genau so, wie ich es Ihnen gesagt habe, » der Chef des Pressedepartements wandte sich befriedigt an Tuzzi «kein Mensch weiß etwas. »
Die beiden Sektionschefs hatten die Berichte mit würdigem Lächeln angehört, saßen - von der Umgebung gleichsam für die Ewigkeit präpariert, wie die Fliege im Bernstein - in prächtigen Lederstühlen, auf dem weichen roten Teppich, hinter den dunkelroten hohen Fenstervorhängen des weißgoldenen Zimmers, das noch aus Maria Theresias Zeiten stammte, und erkannten, daß die Lücke im System, die sie nun wenigstens entdeckt hatten, schwer zu schließen sein würde. «Im Departement» rühmte dessen Chef «wird jede öffentliche Äußerung bearbeitet; aber irgendwelche Ufer muß man dem Begriff der Öffentlichkeit lassen.
Ich kann mich verbürgen, daß jeder Zwischenruf, den ein Abgeordneter in irgend einem Landtag im laufenden Jahr gemacht hat, binnen zehn Minuten in unseren Archiven zu finden ist, und jeder Zwischenruf der letzten zehn Jahre, sofern er sich auf die Außenpolitik bezieht, in längstens einer halben Stunde. Das gilt auch von jedem politischen Zeitungsartikel; meine Herren arbeiten gewissenhaft. Aber das sind greifbare, sozusagen verantwortliche Äußerungen, die in Zusammenhang mit festen Verhältnissen, Mächten und Begriffen stehn. Und wenn ich mich rein fachlich frage, unter welchem Stichwort der Beamte, der die Auszüge oder den Katalog macht, einen Essay von jemand eintragen soll, der nur für seine Person… also wen soll ich da nennen?»
Tuzzi nannte hilfreich den Namen eines der jüngsten Schriftsteller, die bei Diotima verkehrten.
Der Chef des Pressedepartements blickte schwerhörig und beunruhigt zu ihm auf. «Also sagen wir den; aber wo ist die Grenze zu ziehen zwischen dem, was man beachtet, und dem, was man übergeht? Es hat sogar auch schon politische Gedichte gegeben. Soll man da jeden Verslmacher - ? Oder soll man vielleicht nur Burgtheaterautoren -?»
Die beiden Herren lachten.
«Wie will man überhaupt genau herausziehn, was solche Leute meinen, und wenn sie der Schiller und Goethe wären?! Einen höheren Sinn hat es natürlich immer, aber so für praktische Zwecke widersprechen sie sich bei jedem zweiten Wort. »
Es war den beiden Herrn inzwischen klar geworden, daß sie Gefahr liefen, sich um etwas «Unmögliches»
zu bemühn, das Wort auch mit jenem Geschmack von gesellschaftlicher Lächerlichkeit genommen, für den Diplomaten ein so feines Empfinden haben. «Man kann dem Ministerium nicht einen ganzen Stab von Buch-und Theaterkritikern angliedern, » stellte Tuzzi lächelnd fest «aber andererseits, wenn man einmal darauf aufmerksam wird, ist nicht zu leugnen, daß solche Leute auf die Bildung der in der Welt herrschenden Anschauungen nicht ohne Einfluß sind und auf diesem Wege auch in die Politik wirken. »
«In keinem Auswärtigen Amt der Welt macht man das» kam ihm der Pressechef zu Hilfe.
«Gewiß. Aber steter Tropfen höhlt den Stein. » Tuzzi fand, daß dieses Zitat sehr gut eine gewisse Gefahr ausdrücke. «Irgend etwas Organisatorisches sollte man vielleicht doch versuchen?»
«Ich weiß nicht, ich habe Widerstände» meinte der andere Sektionschef.
«Ich natürlich auch!» fügte Tuzzi hinzu. Er hatte gegen Ende dieser Unterredung ein peinliches Empfinden wie bei belegter Zunge und vermochte nicht recht zu unterscheiden, ob es Unsinn sei, wovon er geredet habe, oder ob es sich nicht doch noch als eine Folge des Scharfsinns herausstellen werde, für den er berühmt war. Auch der Chef des Pressedepartements vermochte das nicht zu trennen, und deshalb versicherten die beiden Herren einander, daß sie über diese Frage später noch einmal sprechen wollten.
Der Chef des Pressedepartements gab den Auftrag, die gesamten Werke Arnheims für die Amtsbibliothek zu bestellen, damit die Sache doch auch einen gewissen Abschluß habe, und Sektionschef Tuzzi begab sich in eine politische Abteilung, wo er ersuchte, die Botschaft in Berlin mit einem eingehenden Bericht über die Person Arnheims zu betrauen. Es war dies das einzige, was ihm im Augenblick zu tun übrig blieb, und ehe dieser Bericht eintraf, hatte er nur seine Frau, um sich über Arnheim zu unterrichten, was ihm gänzlich unangenehm geworden war. Er erinnerte sich an den Ausspruch Voltaires, daß die Menschen die Worte nur anwenden, um ihre Gedanken zu verbergen, und der Gedanken sich nur bedienen, um ihre Ungerechtigkeiten zu begründen. Gewiß, das war immer Diplomatie gewesen. Aber daß ein Mensch soviel 111
sprach und schrieb wie Arnheim, um seine wahren Absichten hinter Worten zu verbergen, das beunruhigte ihn als etwas Neues, hinter das er kommen mußte.
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Man führt Moosbrugger in ein neues Gefängnis
Der Prostituiertenmörder Christian Moosbrugger war, wenige Tage nachdem in den Zeitungen die Berichte über die gegen ihn geführte Verhandlung zu erscheinen aufgehört hatten, vergessen worden, und die Erregung der Öffentlichkeit hatte sich anderen Gegenständen zugewandt. Nur ein Kreis von Sachverständigen beschäftigte sich noch weiter mit ihm. Sein Verteidiger hatte die Nichtigkeitsbeschwerde angemeldet, eine neue Überprüfung seines Geisteszustandes verlangt und sonst noch einiges getan: die Hinrichtung war auf unbestimmte Zeit verschoben worden, und man führte Moosbrugger in ein anderes Gefängnis.
Die Vorsicht, die dabei angewandt wurde, schmeichelte ihm; geladene Gewehre, viele Personen, Eisenschellen an Arm und Bein: man erwies ihm Aufmerksamkeit, man hatte Furcht vor ihm, und Moosbrugger liebte das. Als er in den Zellenwagen stieg, blickte er nach Bewunderung aus und warf ein Auge in den erstaunten Blick der Vorübergehenden. Kalter Wind, der die Straße herabblies, spielte in seinen Locken, die Luft zehrte an ihm. Zwei Sekunden lang; dann schob ein Justizsoldat an seinem Hintern, um ihn in den Wagen zu bringen.
Moosbrugger war eitel; er liebte es nicht, so geschoben zu werden; er fürchtete, daß ihn die Wache stoßen, anschreien oder über ihn lachen könnte; der gefesselte Riese wagte keinen seiner Führer anzusehen und rutschte freiwillig bis an die Vorderwand des Wagens.
Er fürchtete sich aber nicht vor dem Tod. Man muß im Leben vieles aushalten, das bestimmt weher tut als das Aufhängen, und ob man ein paar Jahre mehr oder weniger lebt, darauf kommt es schon gar nicht an. Der passive Stolz eines Mannes, der viel eingesperrt worden ist, verbot ihm, sich vor der Strafe zu fürchten; aber er hing auch sonst nicht am Leben. Was hätte er daran lieben sollen? Doch nicht den Frühlingswind oder die weiten Landstraßen oder die Sonne? Das macht nur müde, heiß und staubig. Niemand liebt das, der es wirklich kennt. «Erzählen können, » dachte Moosbrugger «gestern habe ich dort an der Ecke in dem Wirtshaus einen ausgezeichneten Schweinsbraten gegessen!» Das war schon mehr. Aber auch darauf konnte man verzichten. Was ihn gefreut hätte, wäre eine Befriedigung seines Ehrgeizes gewesen, der immer nur dummen Beleidigungen begegnet war. Ein wirres Geholper kam aus den Rädern durch die Bank in seinen Körper; hinter den Gitterstäben in der Türe liefen die Pflastersteine zurück, Lastfuhrwerke blieben zurück, zuweilen torkelten Männer, Frauen oder Kinder quer durch die Stäbe, von weit hinten schob sich ein Fiaker heran, wuchs, kam näher, begann Leben zu sprühen wie ein Schmiedeblock Funken, die Pferdeköpfe schienen die Türe durchstoßen zu wollen, dann lief das Geklapper der Hufe und der weiche Laut der Gummireifen hinter der Wand vorbei. Moosbrugger drehte den Kopf langsam zurück und sah wieder die Decke an, wo sie vor ihm an die Seitenwand stieß. Der Lärm draußen rauschte, schmetterte; war wie ein Tuch gespannt, über das hie und da der Schatten irgendeines Vorgangs huschte. Moosbrugger empfand diese Fahrt als Abwechslung, ohne auf ihren Inhalt viel zu achten. Zwischen zwei dunklen, ruhenden Gefängniszeiten schoß eine Viertelstunde undurchsichtig weiß schäumender Zeit. So hatte er auch seine Freiheit immer empfunden. Nicht eigens schön. «Die Geschichte mit der letzten Mahlzeit, »
dachte er «dem Gefängnisgeistlichen, den Henkern und der Viertelstunde, bis alles aus ist, wird nicht viel anders sein; sie wird auch auf ihren Rädern vorwärts tanzen, man wird fortwährend zu tun haben wie jetzt, um bei den Stößen nicht von der Bank zu rutschen, und wird nicht viel sehen und hören, weil lauter Leute um einen herumspringen. Es wird schon das Gescheiteste sein, wenn man endlich von allem Ruhe hat!»
Die Überlegenheit eines Mannes, der sich von dem Wunsch zu leben befreit hat, ist sehr groß. Moosbrugger erinnerte sich an den Kommissär, der ihn als erster bei der Polizei einvernommen hatte. Das war ein feiner Mann gewesen, der leise sprach. «Schaun Sie, Herr Moosbrugger, » hatte er gesagt «ich bitte Sie einfach inständig: gönnen Sie mir doch den Erfolg!» Und Moosbrugger hatte erwidert: «Gut, wenn Sie den Erfolg haben wollen, so machen wir jetzt Protokoll. » Der Richter hatte das später nicht glauben wollen, aber der Kommissär hatte es vor Gericht bestätigt. «Wenn Sie schon nicht aus eigenem Ihr Gewissen erleichtern 112
wollen, so schenken Sie mir doch die persönliche Genugtuung, daß Sie es mir zuliebe tun»: Das hatte der Kommissär vor dem ganzen Gericht wiederholt, sogar der Vorsitzende hatte freundlich geschmunzelt, und Moosbrugger hatte sich erhoben. «Meine volle Hochachtung vor dieser Aussage des Herrn Polizeikommissärs!» hatte er laut verkündet und mit einer eleganten Verbeugung hinzugefügt: «Obwohl der Herr Kommissär mich mit den Worten entlassen haben: <Wir sehen uns wohl nie wieder>, so habe ich doch die Ehre und das Vergnügen, den Herrn Kommissär heute wiederzusehn. »
Das Lächeln des Einverständnisses mit sich selbst verklärte Moosbruggers Gesicht, und er vergaß die Soldaten, die ihm gegenüber saßen und geradeso wie er von den Stößen des Wagens hin und her geschleudert wurden.
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Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär
Clarisse sagte zu Ulrich: «Man muß für Moosbrugger etwas tun, dieser Mörder ist musikalisch!»
Ulrich hatte endlich an einem freien Nachmittag den Besuch nachgeholt, der durch seine Verhaftung so folgenschwer verhindert worden war.
Clarisse hielt den Rand seines Rocks in Brusthöhe gefaßt; Walter stand mit einem nicht ganz aufrichtigen Gesicht daneben.
«Wie meinst du das: musikalisch?» fragte Ulrich lächelnd.
Clarisse machte ein lustig beschämtes Gesicht. Unwillkürlich. Als drängte Scham bei allen Zügen heraus, und sie müßte das Gesicht lustig spannen, um sie zurück zu halten. Sie ließ ihn los. «Nun eben so» sagte sie.
«Du bist doch jetzt ein einflußreicher Mann geworden!» Es war nicht immer klug aus ihr zu werden.
Der Winter hatte schon einmal begonnen und dann wieder aufgehört. Hier, außer der Stadt, gab es noch Schnee; weiße Felder und dazwischen wie dunkles Wasser die schwarze Erde. Die Sonne übergoß alles gleichmäßig. Clarisse hatte eine orangefarbene Jacke an und eine blaue Wollmütze. Sie gingen zu dritt spazieren, und Ulrich mußte ihr inmitten der wüst aufgebrochenen Natur die Schriften Arnheims erklären.
Es war darin von algebraischen Reihen die Rede und von Benzolringen, von der materialistischen Geschichtsauffassung und der universalistischen, von Brückenträgern, der Entwicklung der Musik, dem Geist des Kraftwagens, Hata 606, der Relativitätstheorie, der Bohrschen Atomistik, dem autogenen Schweißverfahren, der Flora des Himalaja, der Psychoanalyse, der Individualpsychologie, der Ex-perimentalpsychologie, der physiologischen Psychologie, der Sozialpsychologie und allen anderen Errungenschaften, die eine an ihnen reich gewordene Zeit verhindern, gute, ganze und einheitliche Menschen hervorzubringen. Aber alles das kam in einer sehr beruhigenden Weise in den Schriften Arnheims vor, denn er versicherte, daß alles, was man nicht verstehe, nur eine Ausschreitung unfruchtbarer Verstandeskräfte bedeute, während das Wahre immer das Einfache, die menschliche Würde und der Instinkt für übermenschliche Wahrheiten sei, den jeder erwerben könne, wenn er einfach lebe und mit den Sternen im Bunde sei. «Viele behaupten heute etwas Ähnliches, » erläuterte Ulrich «aber Arnheim glaubt man es, weil man sich ihn als einen großen, reichen Mann vorstellen darf, der bestimmt alles genau kennt, wovon er spricht, selbst am Himalaja war, Kraftwagen besitzt und Benzolringe trägt, so viele er will!»
Clarisse wollte wissen, wie Benzolringe aussehen; eine unklare Erinnerung an Karneolringe leitete sie.
«Du bist trotzdem reizend, Clarisse!» meinte Ulrich.
« Gott sei Dank, braucht sie nicht jeden chemischen Unsinn zu verstehn!» verteidigte sie Walter; dann aber begann er die Schriften Arnheims zu verteidigen, die er gelesen hatte. Er wolle nicht sagen, daß Arnheim das Beste sei, was man sich vorzustellen vermöge, aber immerhin sei er das Beste, was die Gegenwart hervorgebracht habe; das sei neuer Geist! Zwar einwandfreie Wissenschaft, aber zugleich auch über das Wissen hinaus! So ging der Spaziergang vorbei. Das Endergebnis für alle waren nasse Füße, ein gereiztes Gehirn, als ob die dünnen, in der Wintersonne glänzenden nackten Baumäste als Splitter in der Netzhaut stecken geblieben wären, der gemeine Wunsch nach heißem Kaffee und das Gefühl menschlicher Verlorenheit.
Verdampfender Schnee stieg von den Schuhen auf, Clarisse freute sich, weil die Stube schmutzig wurde, 113
und Walter hielt die weiblich kräftigen Lippen die ganze Zeit über geschürzt, weil er Streit suchte. Ulrich erzählte von der Parallelaktion. Bei Arnheim kamen sie wieder in Streit.
«Ich werde dir sagen, was ich gegen ihn habe» wiederholte Ulrich. «Der wissenschaftliche Mensch ist heute eine ganz unvermeidliche Sache; man kann nicht nicht wissen wollen! Und zu keiner Zeit ist der Unterschied zwischen der Erfahrung eines Fachmanns und der eines Laien so groß gewesen wie in der jetzigen. An dem Können eines Masseurs oder eines Klavierspielers merkt es jeder; man schickt heute kein Pferd mehr ohne besondere Vorbereitung auf die Rennbahn. Bloß in den Fragen des Menschseins glaubt sich noch jeder zur Entscheidung berufen, und ein altes Vorurteil behauptet, daß man als Mensch geboren wird und stirbt! Weiß ich aber, daß die Frauen vor fünftausend Jahren wörtlich die gleichen Briefe an ihre Liebhaber geschrieben haben wie heute, so kann ich doch keinen solchen Brief mehr lesen, ohne mich zu fragen, ob es nicht einmal anders werden sollte!»
Clarisse zeigte sich zum Einverständnis geneigt. Walter dagegen lächelte wie ein Fakir, der mit keiner Wimper zucken will, wenn man ihm eine Hutnadel durch die Wangen stößt.
«Das heißt also nichts anderes, als daß du dich bis auf weiteres weigerst, ein Mensch zu sein!» warf er ein.
«Ungefähr. Es haftet ein unangenehmes Gefühl von Dilettantismus daran!»
«Aber ich will dir noch etwas ganz anderes zugeben» fuhr Ulrich nach einiger Überlegung fort. «Die Fachleute werden niemals fertig. Nicht nur sind sie heute unfertig; sondern sie vermögen sich die Vollendung ihrer Tätigkeit überhaupt nicht auszudenken. Vielleicht nicht einmal zu wünschen. Kann man sich zum Beispiel vorstellen, daß der Mensch noch eine Seele haben wird, sobald er sie biologisch und psychologisch völlig zu begreifen und behandeln gelernt hat? Trotzdem streben wir diesen Zustand an! Das ist es. Das Wissen ist ein Verhalten, eine Leidenschaft. Im Grunde ein unerlaubtes Verhalten; denn wie die Trunksucht, die Geschlechtssucht und die Gewaltsucht, so bildet auch der Zwang, wissen zu müssen, einen Charakter aus, der nicht im Gleichgewicht ist. Es ist gar nicht richtig, daß der Forscher der Wahrheit nachstellt, sie stellt ihm nach. Er erleidet sie. Das Wahre ist wahr, und die Tatsache ist wirklich, ohne sich um ihn zu kümmern: er hat bloß die Leidenschaft dafür, die Trunksucht am Tatsächlichen, die seinen Charakter zeichnet, und schert sich den Teufel darum, ob ein Ganzes, Menschliches, Vollkommenes oder was überhaupt aus seinen Feststellungen wird. Das ist ein widerspruchsvolles, ein leidendes und dabei ungeheuer tatkräftiges Wesen!»
«Und?» fragte Walter.
«Was: und?»
«Du willst doch nicht behaupten, daß man es dabei bewenden lassen kann?!»
«Ich möchte es dabei bewenden lassen» sagte Ulrich ruhig. «Unsere Anschauung von unserer Umgebung, aber auch von uns selbst, ändert sich mit jedem Tag. Wir leben in einer Durchgangszeit. Vielleicht dauert sie, wenn wir unsere tiefsten Aufgaben nicht besser anpacken als bisher, bis zum Ende des Planeten.
Trotzdem soll man, wenn man ins Dunkel gestellt ist, nicht wie ein Kind aus Angst zu singen beginnen. Ein solcher Gesang aus Angst ist es aber, wenn man so tut, als wüßte man, wie man sich hienieden zu benehmen hat; da kannst du grundstürzend brüllen, es ist doch nur Angst! Übrigens bin ich überzeugt: Wir galoppieren!
Wir sind noch weit von den Zielen entfernt, sie rücken nicht näher, wir sehen sie überhaupt nicht, wir werden uns noch oft verreiten und die Pferde wechseln müssen; aber eines Tags — übermorgen oder in zweitausend Jahren - wird der Horizont zu fließen beginnen und uns brausend entgegenstürzen!»
Es war dämmerig geworden. «Niemand kann mir ins Gesicht sehn» dachte Ulrich. «Ich weiß nicht einmal selbst, ob ich lüge. » Er sprach, wie man in einem Augenblick, der seiner selbst nicht gewiß ist, das Ergebnis jahrzehntelanger Gewißheit zusammenfaßt. Er erinnerte sich daran, daß doch dieser Jugendtraum längst hohl geworden war, den er Walter vorhielt. Er wollte nicht mehr weiter reden.
«Und wir sollen» erwiderte Walter mit Schärfe «auf jeden Sinn des Lebens verzichten?!»
Ulrich fragte ihn, wozu er eigentlich einen Sinn brauche? Es ginge doch auch so, meinte er.
Clarisse kicherte. Sie meinte es nicht bös, die Frage war ihr so spaßhaft vorgekommen.
Walter zündete Licht an, denn es schien ihm nicht nötig zu sein, daß Ulrich vor Clarisse den Vorteil des dunklen Mannes ausnütze. Ärgerliche Blendung überschüttete die drei.
Ulrich erläuterte verstockt: «Was man im Leben braucht, ist bloß die Überzeugung, daß das Geschäft besser geht als das des Nachbarn. Das heißt: deine Bilder, meine Mathematik, irgendjemandes Kinder und Frau; alles das, was einem Menschen versichert, daß er zwar in keiner Weise etwas Ungewöhnliches ist, aber in 114
dieser Weise, keinerweise etwas Ungewöhnliches zu sein, doch nicht so leicht seinesgleichen hat!»
Walter hatte sich noch nicht wieder hingesetzt. Unruhe war in ihm. Triumph. Er rief aus: «Weißt du, was du da sagst? Fortwursteln! Du bist einfach ein Österreicher. Du lehrst die österreichische Staatsphilosophie des Fortwurstelns!»
«Das ist vielleicht nicht so übel, wie du denkst» gab Ulrich zur Antwort. «Man kann aus einem leidenschaftlichen Bedürfnis nach Schärfe und Genauigkeit oder Schönheit dahin kommen, daß einem Fortwursteln besser gefällt als alle Anstrengungen in neuem Geiste! Ich wünsche dir dazu Glück, daß du Österreichs Weltsendung entdeckt hast. »
Walter wollte erwidern. Aber es zeigte sich, daß das Gefühl, das ihn in die Höhe getrieben hatte, nicht nur Triumph war, sondern - wie sagt man es? - auch der Wunsch, einen Augenblick hinauszugehen. Er schwankte zwischen den zwei Wünschen. Aber beides ließ sich nicht vereinen, und sein Blick glitt von Ulrichs Augen ab auf den Weg zur Türe.
Als sie allein waren, sagte Clarisse: «Dieser Mörder ist musikalisch. Das heißt -» sie hielt ein, dann fuhr sie geheimnisvoll fort: «Man kann gar nichts sagen, aber du mußt etwas für ihn tun. »
«Was soll ich denn tun?»
«Ihn befrein. »
«Du träumst wohl?»
«Du meinst doch alles gar nicht so, wie du es zu Walter sagst?!» fragte Clarisse, und ihre Augen schienen ihn zu einer Antwort zu drängen, deren Inhalt er nicht erraten konnte.
«Ich weiß nicht, was du willst?» sagte er.
Clarisse sah ihm eigensinnig auf die Lippen; dann wiederholte sie: «Du solltest trotzdem das tun, was ich gesagt habe; du würdest verwandelt werden. »
Ulrich betrachtete sie. Er begriff nicht recht. Er mußte etwas überhört haben; einen Vergleich oder irgendein Wiewenn, das ihrer Rede Sinn gab. Es klang sehr sonderbar, sie ohne diesen Sinn so natürlich sprechen zu hören, als handelte es sich um eine gewöhnliche Erfahrung, die sie gemacht habe.
Aber da kehrte Walter zurück. «Ich kann dir ja zugeben -» begann er. Die Unterbrechung hatte das Gespräch entschärft.
Er saß wieder auf seinem Stühlchen am Klavier und sah befriedigt seine Schuhe an, an denen Erde haftete.
Er dachte: «Warum haftet an Ulrichs Schuh keine Erde? Sie ist die letzte Rettung des europäischen Menschen. »
Ulrich aber sah die Beine über Walters Schuhen an; sie staken in schwarzen Strümpfen aus Baumwolle und hatten die unschöne Form weicher Mädchenbeine. «Man muß es schätzen, wenn ein Mann heute noch das Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein» sagte Walter.
«Das gibt es nicht mehr» meinte Ulrich. «Du brauchst bloß in eine Zeitung hineinzusehen. Sie ist von einer unermeßlichen Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so viel Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal; man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit. »
«Sehr richtig» sagte Walter sofort. «Es gibt eben keine ganze Bildung mehr im Goetheschen Sinn. Aber darum gibt es heute auch zu jedem Gedanken einen Gegengedanken und zu jeder Neigung gleich die entgegengesetzte. Jede Tat und ihr Gegenteil finden heute im Intellekt die scharfsinnigsten Gründe, mit denen man sie sowohl verteidigen wie verurteilen kann. Ich begreife nicht, wie du das in Schutz nehmen magst!»
Ulrich zuckte die Achseln.
«Man muß sich ganz zurückziehn» sagte Walter leise.
«Es geht doch auch so» erwiderte ihm der Freund. «Vielleicht sind wir auf dem Weg zum Ameisenstaat oder irgend einer anderen unchristlichen Aufteilung der Leistungen. » Ulrich bemerkte bei sich, daß man ebensogut übereinstimmen könne wie sich streiten. In der Höflichkeit lag die Verachtung so klar wie ein Leckerbissen in Aspik. Er wußte, daß auch seine letzten Worte Walter ärgern mußten, aber er begann sich danach zu sehnen, einmal mit einem Menschen zu sprechen, mit dem er ganz übereinstimmen könnte.
Solche Gespräche hatte es zwischen Walter und ihm einst gegeben. Da werden die Worte von einer geheimen Kraft aus der Brust geholt, und keines verfehlt sein Ziel. Wenn man dagegen mit Abneigung 115
spricht, steigen sie wie Nebel von einer Eisfläche auf. Er sah Walter ohne Groll an. Er war sicher, daß auch der das Gefühl hatte, sich durch dieses Gespräch, je weiter es gehe, desto mehr in seiner inneren Meinung zu verunstalten, aber die Schuld daran ihm beimaß. «Alles, was man denkt, ist entweder Zuneigung oder Abneigung!» dachte Ulrich. Das kam ihm in diesem Augenblick so lebhaft als richtig vor, daß er es wie einen körperlichen Zwang empfand, ähnlich dem berührenden Schwanken eng aneinandergeschlossener Menschen. Er sah sich nach Clarisse um.
Aber Clarisse hörte scheinbar schon seit längerem nicht mehr zu; sie hatte irgendwann die Zeitung aufgenommen, die vor ihr auf dem Tisch gelegen war; dann hatte sie in sich geforscht, warum ihr das ein so tiefes Vergnügen mache. Sie fühlte die unermeßliche Undurchsichtigkeit, von der Ulrich gesprochen hatte, vor den Augen und die Zeitung zwischen den Händen. Die Arme entfalteten die Dunkelheit und öffneten sich selbst. Die Arme bildeten mit dem Stamm des Leibes zwei Kreuzbalken, und dazwischen hing die Zeitung. Das war das Vergnügen, aber die Worte, mit denen es zu beschreiben ist, kamen nicht in Clarisse vor. Sie wußte bloß, daß sie auf die Zeitung sah, ohne zu lesen, und daß ihr vorkam, in Ulrich stecke etwas barbarisch Geheimnisvolles, eine ihr selbst verwandte Kraft, ohne daß ihr etwas Genaueres darüber einfiel.
Ihre Lippen hatten sich zwar geöffnet, als ob sie lächeln würde, aber es geschah ohne Bewußtsein, nur in lose erstarrter Spannung.
Walter fuhr leise fort: «Du hast recht, wenn du sagst, daß heute nichts mehr ernst, vernünftig oder auch nur durchschaubar ist; aber warum willst du nicht verstehen, daß gerade die steigende Vernünftigkeit, die das Ganze durchseucht, schuld daran ist. In alle Gehirne hat sich das Verlangen gelegt, immer vernünftiger zu werden, mehr denn je das Leben zu rationalisieren und zu spezialisieren, und zugleich das Unvermögen, sich denken zu können, was aus uns werden soll, wenn wir alles erkennen, zerteilen, typisieren, in Maschinen verwandeln und normen. Es kann so nicht weitergehn. »
«Mein Gott, » antwortete Ulrich gleichmütig «der Christ der Mönchszeiten hat gläubig sein müssen, obwohl er sich nur einen Himmel denken konnte, der mit seinen Wolken und Harfen etwas langweilig war; und wir fürchten uns vor dem Himmel der Vernunft, der uns an die Lineale, geraden Bänke und entsetzlichen Kreidefiguren der Schulzeit erinnert. »
«Ich habe das Gefühl, daß eine zügellose Ausschreitung der Phantastik die Folge sein wird» fügte Walter nachdenklich hinzu. Es war eine kleine Feigheit und List in dieser Rede. Er dachte an das geheimnisvolle Widervernünftige in Clarisse, und während er von der Vernunft sprach, die es zu Ausschreitungen treibe, dachte er an Ulrich. Die beiden anderen nahmen es nicht wahr, und das gab ihm den Schmerz und den Triumph des Unverstandenen. Er würde Ulrich am liebsten gebeten haben, solange er in der Stadt weile, sein Haus nicht mehr zu betreten, wenn es nur, ohne einen Aufstand bei Clarisse zu erregen, möglich gewesen wäre.
So sahen die beiden Männer Clarisse schweigend zu.
Clarisse bemerkte plötzlich, daß sie nicht mehr stritten, rieb sich die Augen und blinzelte Ulrich und Walter freundlich an, die, von gelbem Licht bestrahlt, wie in einem Glasschrank vor den abendblauen Fensterscheiben saßen.
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Soliman und Arnheim
Der Mädchenmörder Christian Moosbrugger besaß aber noch eine zweite Freundin. Die Frage seiner Schuld oder seines Leidens hatte vor einigen Wochen ihr Herz so lebhaft ergriffen wie das vieler anderer, und sie hatte eine Auffassung des Falls, die von der gerichtlichen etwas abwich. Der Name Christian Moosbrugger gefiel ihr wohl, und sie stellte sich darunter einen einsamen, hochgewachsenen Mann vor, der an einer moosüberwachsenen Mühle saß und dem Donnern des Wassers lauschte. Sie war fest überzeugt, daß sich auf eine ganz unerwartete Weise die Beschuldigungen aufklären würden, die man gegen ihn erhob.
Wenn sie in der Küche oder im Speisezimmer mit ihrer Näharbeit saß, kam es vor, daß Moosbrugger, nachdem er seine Ketten abgeschüttelt hatte, neben sie trat, und dann spannen sich ganz wilde Phantasien an. Es war in ihnen keineswegs ausgeschlossen, daß Christian, wenn er sie, Rachel, rechtzeitig kennen gelernt hätte, seine Laufbahn als Mädchenmörder aufgegeben und sich als ein Räuberhauptmann von 116
ungeheurer Zukunft entpuppt haben würde.
Dieser arme Mann in seinem Kerker ahnte das Herz nicht, das, über Diotimas auszubessernde Wäsche gebeugt, für ihn klopfte. Es war gar nicht weit von der Wohnung des Sektionschefs Tuzzi zum Landesgericht. Von einem Dach zum anderen würde ein Adler nur wenige Flügelschläge gebraucht haben; aber der modernen Seele, die Ozeane und Kontinente spielend überbrückt, ist nichts so unmöglich, wie die Verbindung zu den Seelen zu finden, die um die nächste Ecke wohnen.
So hatten sich die magnetischen Ströme wieder aufgelöst, und Rachel liebte seit einiger Zeit die Parallelaktion statt Moosbrugger. Selbst wenn in den Zimmern drinnen die Dinge nicht ganz so in Gang kamen, wie sie sollten, ging in den Vorzimmern ungemein viel vor sich. Rachel, die früher immer Muße gefunden hatte, die Zeitungen zu lesen, die von der Herrschaft in die Küche gelangten, kam nicht mehr dazu, seit sie von früh bis spät als kleine Schildwache vor der Parallelaktion stand. Sie liebte Diotima, Sektionschef Tuzzi, Se. Erlaucht Graf Leinsdorf, den Nabob, und seit sie bemerkt hatte, daß er eine Rolle in diesem Hause zu spielen beginne, auch Ulrich; so liebt ein Hund die Freunde seines Hauses mit einem Gefühl und doch verschiedenen Gerüchen, die aufregende Abwechslung bedeuten. Aber Rachel war klug.
An Ulrich zum Beispiel bemerkte sie recht wohl, daß er immer ein wenig in Gegensatz zu den anderen stand, und ihre Phantasie hatte begonnen, ihm eine besondere und noch nicht aufgeklärte Rolle in der Parallelaktion zuzuschreiben. Er sah sie immer freundlich an, und die kleine Rachel nahm wahr, daß er sie besonders lange dann betrachtete, wenn er glaubte, daß sie es nicht sehe. Sie hielt es für gewiß, daß er etwas von ihr wünsche; mochte es nur kommen; ihr weißes Fellchen zog sich erwartungsvoll zusammen, und aus ihren schönen schwarzen Augen schoß hie und da eine ganz kleine goldene Spitze zu ihm hinüber! Ulrich fühlte das Knistern dieser kleinen Person, ohne sich darüber Rechenschaft geben zu können, während sie um die statiösen Möbel und Besucher herumstrich, und es bot ihm einige Zerstreuung.
Er verdankte seinen Platz in Racheis Aufmerksamkeit nicht zum geringsten geheimnisvollen Vorzimmergesprächen, durch die Arnheims beherrschende Stellung ins Wanken geraten war; denn dieser strahlende Mann hatte, ohne es zu wissen, außer ihm und Tuzzi noch einen dritten Feind in seinem kleinen Diener Soliman. Dieser Mohrenknabe war die funkelnde Schließe in dem Zaubergürtel, den die Parallelaktion um Rachel gelegt hatte. Ein komischer Kleiner, der hinter seinem Herrn aus dem Märchenland in die Straße gekommen war, wo Rachel diente, war er von ihr einfach als der unmittelbar für sie bestimmte Teil des Märchens in Besitz genommen worden; so war es sozial vorgesehen; der Nabob war die Sonne und gehörte Diotima, Soliman gehörte Rachel und war ein in der Sonne leuchtender, entzückend bunter Scherben, den sie für sich aufhob. Aber das war nicht ganz des Knaben Meinung. Er stand, trotz seiner körperlichen Kleinheit, schon zwischen dem sechzehnten und dem siebzehnten Jahr und war ein Wesen voll Romantik, Bosheit und persönlichen Ansprüchen. Arnheim hatte ihn einst im Süden Italiens aus einer Truppe von Tänzern herausgeholt und zu sich genommen; der sonderbar zappelige Kleine, mit der Melancholie seines Affenblicks, hatte ihm ans Herz gegriffen, und der reiche Mann beschloß, ihm ein höheres Leben zu eröffnen. Es war dies eine Sehnsucht nach inniger, treuer Gesellschaft, wie sie den Einsamen nicht selten als Schwäche anwandelte, die er aber gewöhnlich hinter vermehrter Tätigkeit verbarg, und er hatte Soliman bis zu dessen vierzehntem Jahr ungefähr so unachtsam als gleichgestellt behandelt, wie man früher in reichen Häusern die Milchgeschwister der eigenen Kinder aufzog, die an allen Spielen und Vergnügungen teilhaben dürfen, ehe der Augenblick kommt, wo man herauskehren muß, daß die Milch einer Mutterbrust mit Geringerem säugt als die der Ammenbrüst. Soliman hatte Tag und Nacht, am Schreibtisch oder während stundenlanger Gespräche mit berühmten Besuchern zu Füßen, hinter dem Rücken oder auf den Knien seines Herrn gekauert. Er hatte Scott, Shakespeare und Dumas gelesen, wenn gerade Scott, Shakespeare und Dumas auf den Tischen herumlagen, und hatte am Handwörterbuch der Geisteswissenschaften buchstabieren gelernt. Er aß die Bonbons seines Herrn und begann frühzeitig, wenn es niemand sah, auch seine Zigaretten zu rauchen. Ein eigener Lehrer kam und gab ihm - etwas unregelmäßig wegen der vielen Reisen - Elementarunterricht. Bei alledem hatte sich Soliman fürchterlich gelangweilt und nichts so sehr geliebt wie die Aufgaben eines Kammerdieners, an denen er gleichfalls teilhaben durfte, denn das war eine wirkliche und erwachsene Tätigkeit, die seinem Tatendrang schmeichelte. Aber eines Tags, und es war noch nicht lange her, hatte ihn sein Herr zu sich rufen lassen und ihm freundlich erklärt, daß er nicht ganz das gehalten habe, was er sich von ihm versprochen hätte, daß er nun kein Kind mehr sei und daß Arnheim, der Herr, die Verantwortung dafür trage, daß aus Soliman, dem 117
kleinen Diener, ein ordentlicher Mensch werde; weshalb er beschlossen habe, ihn von nun an genau als das zu behandeln, was er einst sein müsse, so daß er sich noch rechtzeitig daran gewöhnen könne. Viele erfolgreiche Männer - fügte Arnheim hinzu - hätten als Stiefelputzer und Tellerwäscher angefangen, worin gerade ihre Kraft gelegen habe, denn das Wichtigste sei, daß man von allem Anfang an alles ganz tue.
Diese Stunde, wo er von einem unbestimmten Luxusgeschöpf zum Diener mit freier Station und kleinem Salär befördert worden war, richtete in Solimans Herzen eine Verwüstung an, von der Arnheim nichts ahnte.
Soliman hatte die Eröffnungen, die ihm Arnheim machte, überhaupt nicht verstanden, wohl aber hatte er sie mit dem Gefühl erraten und haßte seinen Herrn seit der Veränderung, die mit ihm vollzogen worden war. Er verzichtete auch weiterhin keineswegs auf Bücher, Bonbons und Zigaretten, aber während er sich früher bloß genommen hatte, was ihn freute, bestahl er Arnheim nun mit vollem Bewußtsein und konnte sich an diesem Rachegefühl so wenig genugtun, daß er manchmal auch einfach Dinge zerbrach, versteckte oder wegwarf, die zur Verwunderung Arnheims, der sich dunkel an sie zu erinnern glaubte, nie wieder zum Vorschein kamen. Während sich Soliman derart wie ein Kobold rächte, nahm er sich aber in seinen dienstlichen Obliegenheiten und im gefälligen Auftreten ungemein zusammen. Er war nach wie vor eine Sensation bei allen Köchinnen, Stubenmädchen, Hotelangestellten und weiblichen Besuchern, wurde von ihren Blicken und ihrem Lächeln verwöhnt, von Gassenbuben spöttisch begafft und blieb es gewohnt, sich als eine fesselnde und wichtige Persönlichkeit zu fühlen, auch wenn er unterdrückt wurde. Selbst sein Herr schenkte ihm noch zuweilen einen zufriedenen und geschmeichelten Blick oder ein freundliches und weises Wort, man lobte ihn allgemein als anstelligen, gefälligen Jungen, und wenn es sich gerade so traf, daß Soliman kurz vorher etwas besonders Verwerfliches auf sein Gewissen geladen hatte, so genoß er dienstwillig grinsend seine Überlegenheit wie eine verschluckte Kugel glühend kalten Eises.
Das Vertrauen dieses Jungen hatte Rachel in dem Augenblick gewonnen, wo sie ihm mitteilte, daß in ihrem Hause vielleicht ein Krieg vorbereitet werde, und seither mußte sie die schändlichsten Eröffnungen über ihren Abgott Arnheim von ihm entgegennehmen. Trotz all seiner Blasiertheit sah Solimans Phantasie aus wie ein Nadelkissen voll Schwertern und Dolchen, und in allem, was er Rachel von Arnheim erzählte, donnerte es von Roßhufen, und es schwankten Fackeln und Strickleitern. Er vertraute ihr an, daß er gar nicht Soliman heiße, und nannte ihr einen langen, sonderbar klingenden Namen, den er so schnell aussprach, daß sie sich ihn niemals merken konnte. Später fügte er das Geheimnis hinzu, daß er der Sohn eines Negerfürsten und seinem Vater, der tausende Krieger, Rinder, Sklaven und Edelsteine besitze, als Kind gestohlen worden sei; Arnheim habe ihn gekauft, um ihn dereinst dem Fürsten furchtbar teuer wieder zu verkaufen, aber er wolle fliehen und habe es bisher bloß deshalb nicht tun können, weil sein Vater so weit weg wohne.
Rachel war nicht so dumm, diesen Geschichten zu glauben; aber sie glaubte ihnen, weil ihr in der Parallelaktion kein Maß des Unglaublichen groß genug war. Sie würde auch gerne Soliman verboten haben, so von Arnheim zu sprechen; aber sie mußte es sich an einem mit Grauen vermengten Mißtrauen gegen seine Vermessenheit genug sein lassen, denn irgendwie fühlte sie die Behauptung, daß seinem Herrn nicht zu trauen sei, trotz aller Zweifel als eine ungeheure, herannahende, spannende Verwicklung in der Parallelaktion.
Es waren Gewitterwolken, hinter denen der hochgewachsene Mann in der moosbewachsenen Mühle verschwand, und ein fahles Licht sammelte sich in den faltigen Grimassen von Solimans kleinem Affengesicht.
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Lebhafte Arbeit in den Ausschüssen der Parallelaktion Clarisse schreibt an Se. Erlaucht und schlägt ein Nietzsche-Jahr vor
Zu dieser Zeit mußte Ulrich zwei-bis dreimal in jeder Woche Se. Erlaucht besuchen. Er fand ein hohes, schlankes, schon als Raum entzückendes Zimmer für sich bereit. Am Fenster stand ein großer Maria-Theresia-Schreibtisch. An der Wand hing ein dunkles Bild, mit verschlossen leuchtenden roten, blauen und gelben Flecken darin, das irgendwelche Reiter darstellte, die anderen, gestürzten Reitern Lanzen in die Weichteile bohrten; und an der gegenüberliegenden Wand befand sich eine vereinsamte 118
Dame, deren Weichteile sorgfältig durch ein goldgesticktes Wespenkorsett geschützt waren. Es war nicht einzusehen, warum man sie ganz allein an diese Wand verbannt hatte, denn sie hatte offenbar der Familie Leinsdorf angehört, und ihr junges gepudertes Gesicht sah dem des Grafen so ähnlich wie eine Fußstapfe in trockenem Schnee einer Fußstapfe in nasser Lehmerde. Ulrich hatte übrigens wenig Gelegenheit, das Gesicht des Grafen Leinsdorf zu betrachten. Der äußere Verlauf der Parallelaktion hatte seit der letzten Sitzung einen solchen Aufschwung genommen, daß Se. Erlaucht niemals dazukam, sich den großen Gedanken zu widmen, sondern seine Zeit mit dem Durchlesen von Eingaben, mit Besuchern, Unterredungen und Ausfahrten verbringen mußte. So hatte er schon eine Aussprache mit dem Ministerpräsidenten, eine Unterredung mit dem Erzbischof, eine Besprechung in der Hofkanzlei gehabt und einigemale im Herrenhaus mit den Mitgliedern des Hochadels und der Nobelbourgeoisie Fühlung genommen. Ulrich war diesen Erörterungen nicht zugezogen worden und erfuhr nur soviel, daß man auf allen Seiten mit starken politischen Widerständen der Gegenseite rechne, weshalb alle diese Stellen erklärten, die Parallelaktion desto kräftiger unterstützen zu können, je weniger sie darin genannt würden, und sich vorläufig nur durch Beobachter in den Ausschüssen vertreten ließen.
Erfreulicherweise machten diese Ausschüsse von Woche zu Woche große Fortschritte. Sie hatten, wie es in der gründenden Sitzung beschlossen worden war, die Welt nach den großen Gesichtspunkten der Religion, des Unterrichts, des Handels, der Landwirtschaft und so weiter eingeteilt, in jedem Ausschuß saß schon ein Vertreter des entsprechenden Ministeriums, und alle Ausschüsse widmeten sich bereits ihrer Aufgabe, daß jeder Ausschuß im Einvernehmen mit allen anderen Ausschüssen auf die Vertreter der ressortzuständigen Körperschaften und Volksteile warte, um deren Wünsche, Anregungen und Bitten zu erfassen und dem Hauptausschuß zuzuleiten. Auf diese Weise hoffte man, ihm die «hauptsächlichsten» moralischen Kräfte des Landes geordnet und zusammengefaßt zuströmen zu lassen, und hatte schon die Genugtuung, daß dieser schriftliche Verkehr anwuchs. Die Zuschriften der Ausschüsse an den Hauptausschuß konnten sich bereits nach kurzer Zeit auf andere Zuschriften berufen, die dem Hauptausschuß bereits geschickt worden waren, und begannen mit einem Satz zu beginnen, der von einem zum ändern Mal wichtiger wurde und mit den Worten anfing: «Unter Bezugnahme auf dies-stellige Zahl Nummer soundsoviel, beziehungsweise Nummer soundso, gebrochen durch römisch… », worauf wieder eine Zahl folgte; und alle diese Zahlen wurden mit jeder Zuschrift größer. Das hatte schon etwas von gesundem Wachstum an sich, und dazu kam, daß auch die Gesandtschaften auf halbamtlichem Wege über den Eindruck zu berichten begannen, den die Kraftäußerung des österreichischen Patriotismus auf das Ausland mache; daß bereits die fremden Gesandten vorsichtig Gelegenheit suchten, um sich Auskunft zu holen; daß aufmerksam gewordene Volksabgeordnete sich nach den Absichten erkundigten; und die private Tatkraft sich in den Anfragen von Geschäftshäusern zu äußern begann, die sich die Freiheit nahmen, Anregungen zu unterbreiten, oder um einen festen Anhaltspunkt für die Verbindung ihrer Firma mit dem Patriotismus ersuchten. Ein Apparat war da, und weil er da war, mußte er arbeiten, und weil er arbeitete, begann er zu laufen, und wenn ein Automobil in einem weiten Feld zu laufen beginnt, und es säße selbst niemand am Steuer, so wird es doch einen bestimmten, sogar sehr eindrucksvollen und besonderen Weg zurücklegen.
Auf diese Weise entstand also ein mächtiger Vortrieb, und Graf Leinsdorf bekam ihn zu fühlen. Er setzte seinen Kneifer auf und las alle Zuschriften mit großem Ernst vom Anfang bis zum Ende. Dies waren nicht mehr die Vorschläge und Wünsche unbekannter leidenschaftlicher Personen, die ihn anfangs überschwemmt hatten, ehe die Angelegenheit in eine geregelte Bahn gebracht worden war, und selbst wenn diese Eingaben oder Anfragen aus dem Schoß des Volkes kamen, so waren sie von den Vorständen alpiner Genossenschaften unterzeichnet, von Freidenkerbünden, Jungfrauenkongregationen, gewerblichen Vereinen, Geselligkeitsbünden, Bürgerklubs und anderen jener groben Grüppchen, die dem Übergang vom Individualismus zum Kollektivismus vorauslaufen wie Kehrichthäufchen einem wirbelnden Wind. Und wenn Se. Erlaucht auch nicht mit allem einverstanden war, was von ihm verlangt wurde, so stellte er doch im ganzen einen wesentlichen Fortschritt fest. Er setzte seinen Kneifer ab, reichte die Zuschrift dem Ministerialrat oder Sekretär zurück, der sie ihm übergeben hatte, und nickte befriedigt, ohne ein Wort zu äußern; er hatte das Gefühl, daß die Parallelaktion auf einem guten und ordentlichen Wege sei, und der wahre Weg werde sich schon finden.
Der Ministerialrat, der die Zuschrift wieder übernahm, legte sie gewöhnlich auf einen Stapel anderer Zuschriften, und wenn die letzte oben lag, las er in den Augen Sr. Erlaucht. Dann pflegte der Mund Sr.
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Erlaucht zu sprechen: «Das ist alles ausgezeichnet, aber man kann nicht ja und nicht nein sagen, solange wir über den Mittelpunkt unserer Ziele nichts Grundsätzliches wissen. » Das aber war es, was der Ministerialrat schon bei jeder vorangegangenen Zuschrift in den Augen Sr. Erlaucht gelesen hatte, und es bildete genau auch seine eigene Meinung, und er hielt einen goldgefaßten Taschenbleistift in der Hand, mit dem er schon an das Ende einer jeden Zuschrift die Zauberformel «Ass. » geschrieben hatte. Diese Zauberformel Ass., die in den kakanischen Ämtern in Gebrauch war, hieß «Asserviert», auf deutsch soviel wie «Zu späterer Entscheidung aufgehoben», und war ein Vorbild der Umsicht, die nichts verloren gehen läßt und nichts übereilt. Asserviert wurde zum Beispiel die Bitte des kleinen Beamten um eine außergewöhnliche Wöchnerinnenbeihilfe so lange, bis das Kind erwachsen und selbständig erwerbsfähig war, aus keinem anderen Grunde als dem, daß die Materie bis dahin vielleicht gesetzlich geregelt sein konnte und das Herz der Vorgesetzten vorher die Bitte nicht abschlagen wollte; asserviert wurde aber auch die Eingabe einer einflußreichen Person oder Amtsstelle, die man durch Ablehnung nicht kränken durfte, obgleich man wußte, daß eine andere einflußreiche Stelle gegen ihre Eingabe war, und grundsätzlich wurde alles, was zum erstenmal an ein Amt herantrat, solange asserviert, bis ihm ein ähnlicher Fall voranging.
Aber es wäre ganz falsch, sich über diese Gewohnheit der Ämter lustig zu machen, denn außerhalb der Büros wird noch viel mehr asserviert. Wie wenig will es sogar bedeuten, daß in den Thronschwüren der Könige noch immer das Versprechen vorkommt, die Türken oder die Heiden zu bekriegen, wenn man bedenkt, daß in der Geschichte der Menschheit noch nie ein Satz ganz durchstrichen oder ganz zu Ende geschrieben worden ist, woraus zuweilen jenes verwirrende Tempo des Fortschritts entsteht, das täuschend einem geflügelten Ochsen gleicht. Dabei geht in den Ämtern doch wenigstens einiges verloren, in der Welt aber nichts. So ist Asservation eine der Grundformeln unseres Lebensgebäudes. Wenn Sr. Erlaucht aber etwas besonders dringend erschien, so mußte er eine andere Methode wählen. Er schickte dann die Anregung zunächst zum Hof, an seinen Freund Graf Stallburg, mit der Anfrage, ob man sie als «vorläufig definitiv», wie er das nannte, in Aussicht nehmen dürfe. Nach einiger Zeit kam dann jedesmal die Antwort zurück, daß in diesem Punkte eine Allerhöchste Willensmeinung derzeit nicht übermittelt werden könne, vielmehr es erwünscht erscheine, sich zunächst die öffentliche Meinung selbst bilden zu lassen, und je nach der Aufnahme, die der Vorschlag in ihr finde, und sonstigen sich herausstellen sollenden Erfordernissen ihn später wieder in Erwägung zu ziehn. Der Akt, zu dem die Anregung damit geworden war, ging dann an die ressortzuständige Ministerialstelle und kam von dort mit dem Vermerk zurück, daß man sich hieramts zur alleinigen Entscheidung nicht für zuständig erachte, und wenn das geschehen war, merkte sich Graf Leinsdorf vor, in einer der nächsten Sitzungen des Hauptausschusses zu beantragen, daß ein interministerieller Unterausschuß zum Studium der Angelegenheit eingesetzt werde.
Unerbittlich entschieden war er nur in dem einen Fall, wo ein Schriftstück einlief, das weder die Unterschrift eines Vereinsvorstandes noch einer staatlich anerkannten kirchlichen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Korporation trug. Ein solcher Brief kam in diesen Tagen von Clarisse, worin sie sich auf Ulrich berief und vorschlug, ein österreichisches Nietzsche-Jahr zu veranstalten, wobei man gleichzeitig für den Frauenmörder Moosbrugger etwas tun müsse; als Frau fühle sie sich berufen, das vorzuschlagen, schrieb sie, und dann wegen der bedeutungsvollen Übereinstimmung, die darin bestehe, daß Nietzsche geisteskrank gewesen sei und Moosbrugger es auch sei. Ulrich konnte seinen Ärger kaum unter einem Scherz verbergen, als Graf Leinsdorf ihm diesen Brief zeigte, den er schon an der eigenartig unreifen, aber von dicken Balkenstrichen und Unterstreichungen durchkreuzten Schrift erkannte. Jedoch Graf Leinsdorf, als er seine Verlegenheit wahrzunehmen glaubte, sagte ernst und gütig: «Das ist nicht uninteressant. Es ist, ich möchte sagen, feurig und tatkräftig; aber wir müssen leider alle solche Einzelvorschläge ad acta legen, sonst kommen wir zu keinem Ziel. Vielleicht übergeben Sie diesen Brief, da Sie die Dame, die ihn schreibt, doch persönlich zu kennen scheinen, Ihrer Frau Kusine?»
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Großer Aufschwung. Diotima macht sonderbare Erfahrungen mit dem Wesen großer Ideen Ulrich steckte den Brief zu sich, um ihn verschwinden zu lassen, aber es wäre auch gar nicht leicht gewesen, mit Diotima darüber zu sprechen, denn diese fühlte sich, seit der Artikel über das österreichische Jahr 120
erschienen war, von einem ganz ungeordneten Aufschwung erfaßt. Nicht nur übergab ihr Ulrich, wenn möglich ungelesen, alle Akten, die er von Graf Leinsdorf erhielt, sondern auch die Post brachte täglich Stöße von Zuschriften und Zeitungsausschnitten, die Buchhändler schickten ihr gewaltige Mengen von Büchern zur Ansicht, der Verkehr in ihrem Hause schwoll an, wie die See schwillt, wenn Wind und Mond vereint an ihr saugen, auch das Telefon kam keinen Augenblick zur Ruhe, und wenn die kleine Rachel nicht mit dem Eifer eines Erzengels am Apparat amtiert und die meisten Auskünfte selbst erteilt hätte, weil sie einsah, daß man ihre Herrin nicht unausgesetzt bemühen könne, so wäre Diotima unter der Last der Anforderungen zusammengebrochen.
Dieser Nervenzusammenbruch, der niemals eintrat und immer zitternd in ihrem Körper pochte, schenkte Diotima aber nun ein Glück, das sie noch nicht gekannt hatte. Es war ein Schaudern, ein Überrieseltwerden von Bedeutsamkeit, ein Knistern wie das des Drucks in einem Stein, der im Scheitel des Weltgebäudes sitzt, ein Prickeln wie das Gefühl des Nichts, wenn man auf einer weithin alles überragenden Bergspitze steht.
Mit einem Wort, es war das Gefühl der Position, das der Tochter eines bescheidenen Mittelschullehrers und jungen Gattin eines bürgerlichen Vizekonsuls, die sie ungeachtet ihres Aufstiegs in den frischesten Teilen ihres Wesens bisher doch wohl geblieben war, mit einemmal zu Bewußtsein kam. - Ein solches Gefühl der Position gehört zu den unbemerkten, aber grundwichtigen Zuständen des Daseins so wie das Nichtbemerken der Erddrehung oder des persönlichen Anteils, den wir zu unseren Wahrnehmungen beisteuern. Der Mensch trägt den größten Teil seiner Eitelkeit, da man ihn gelehrt hat, daß er ihn nicht im Herzen tragen dürfe, unter den Füßen, indem er auf dem Boden eines großen „Vaterlandes, einer Religion oder einer Einkommensteuersrufe wandelt, und in Ermangelung solcher Position genügt ihm sogar, was jeder haben kann, sich auf der augenblicklich höchsten Spitze der aus dem Nichts aufgestiegenen Zeitsäule zu befinden, das heißt gerade jetzt zu leben, wo alle Früheren zu Staub geworden sind und keine Späteren noch da sind. Steigt diese Eitelkeit aber, die gewöhnlich unbewußt ist, aus irgendwelchen Ursachen mit einemmal von den Füßen in den Kopf, so kann das eine gelinde Verrücktheit erzeugen, ähnlich der jener Jungfrauen, die glauben, mit der Weltkugel schwanger zu gehn. Sogar Sektionschef Tuzzi erwies Diotima jetzt die Ehre, sich bei ihr nach den Vorgängen zu erkundigen und sie manchmal zu bitten, diesen und jenen kleinen Auftrag zu übernehmen, wobei das Lächeln, mit dem er sonst über ihren Salon zu sprechen pflegte, einem würdigen Ernst gewichen war. Man wußte noch immer nicht, wie weit an Allerhöchster Stelle etwa der Plan genehm sein würde, sich an die Spitze einer internationalen pazifistischen Kundgebung gestellt zu sehen, aber er knüpfte an diese Möglichkeit wiederholt die besorgte Bitte, daß sich Diotima auf außenpolitischem Gebiet nicht in das Geringste einlassen möge, ohne ihn vorher um Rat zu fragen. Er gab sogar auf der Stelle den Ratschlag, daß man, wenn ernstlich irgendwann die Anregung einer internationalen Friedensaktion auftauchen sollte, sofort dafür Sorge tragen müßte, daß nicht politische Verwicklungen aus ihr entstünden. Man brauche eine so schöne Idee keinesfalls abzulehnen, erklärte er seiner Gattin, selbst dann nicht, wenn die Möglichkeit bestehen sollte, sie zu verwirklichen, aber es sei unbedingt nötig, sich von Anfang an alle Durchführungsund Rückzugsmöglichkeiten offenzuhalten. Er legte Diotima sodann die Unterschiede zwischen einer Abrüstung, einer Friedenskonferenz, einer Herrscherzusammenkunft bis hinab zu jener schon erwähnten Stiftung zur Ausstattung des Haager Friedenspalastes mit Wandgemälden heimischer Künstler dar und hatte noch nie so sachlich mit seiner Ehefrau gesprochen. Er kehrte sogar zuweilen, mit der Ledermappe im Arm, noch einmal ins Schlafzimmer zurück, um seine Darlegungen zu ergänzen, etwa wenn er beizufügen vergessen hatte, daß er persönlich alles, was mit dem Namen Weltösterreich zusammenhänge, selbstverständlich nur in Verbindung mit einem pazifistischen oder humanitären Unternehmen für möglich halte, wenn man nicht für gefährlich unberechenbar gelten solle, oder ähnliches.
Diotima antwortete mit geduldigem Lächeln: «Ich werde mich bemühen, deinen Wünschen Rechnung zu tragen, aber du darfst dir von der Bedeutung der Außenpolitik für uns keine übertriebenen Vorstellungen machen. Es ist ein geradezu erlösender Aufschwung im Innern da und kommt aus der anonymen Tiefe des Volks; du weißt nicht, von wieviel Bitten und Vorschlägen ich täglich überschwemmt werde. »
Sie war bewundernswert; denn sie hatte, ohne es sich merken zu lassen, mit gewaltigen Schwierigkeiten zu kämpfen. In den Beratungen des großen, nach den Gesichtspunkten der Religion, der Gerechtigkeit, der Landwirtschaft, des Unterrichts und so weiter aufgebauten Zentralausschusses begegneten alle höheren Anregungen jener eisigen und ängstlichen Zurückhaltung, welche Diotima gar wohl von ihrem Mann 121
kannte, als er noch nicht so aufmerksam geworden war; und sie fühlte sich manchmal ganz mutlos vor Ungeduld und konnte sich nicht verhehlen, daß dieser Widerstand der trägen Welt schwer zu brechen sein werde. So klar für sie selbst das österreichische Jahr als weltösterreichisches Jahr dastand und die österreichischen Nationen als das Vorbild der Nationen der Welt darstellen sollte, wozu eigentlich nichts anderes nötig war, wie zu beweisen, daß der Geist in Österreich seine wahre Heimat habe, so deutlich zeigte es sich, daß dies für die Köpfe der Schwerfälligen noch eines besonderen Inhalts bedurfte und durch einen Einfall ergänzt werden mußte, der durch seine mehr sinnfällige als allgemeine Natur dem Verständnis entgegenkam. Und Diotima studierte stundenlang in vielen Büchern, um eine Idee zu finden, die das leiste, und natürlich sollte es in besonderer Weise auch eine symbolisch österreichische Idee sein; aber Diotima machte sonderbare Erfahrungen mit dem Wesen großer Ideen.
Es zeigte sich, daß sie in einer großen Zeit lebte, denn die Zeit war voll von großen Ideen; aber man sollte nicht glauben, wie schwierig es ist, das Größte und Wichtigste davon zu verwirklichen, sobald alle Bedingungen dafür gegeben sind, bis auf die eine, was man dafür halten soll! Jedesmal, wenn Diotima sich beinahe schon für eine solche Idee entschieden hatte, mußte sie bemerken, daß es auch etwas Großes wäre, das Gegenteil davon zu verwirklichen. So ist es nun einmal, und sie konnte nichts dafür. Ideale haben merkwürdige Eigenschaften und darunter auch die, daß sie in ihren Widersinn umschlagen, wenn man sie genau befolgen will. Da waren zum Beispiel Tolstoi und die Berta Suttner - zwei Schriftsteller, von deren Ideen man damals ungefähr gleichviel hörte -, aber wie kann sich, dachte Diotima, die Menschheit ohne Gewalt auch nur Brathühner verschaffen? Und was fängt man mit den Soldaten an, wenn man, wie jene es verlangten, nicht töten soll? Sie werden erwerbslos, die Armen, und die Verbrecher haben goldene Zeiten.
Solche Anträge lagen aber vor, und man hörte, daß schon Unterschriften gesammelt würden. Diotima hätte sich ein Leben ohne ewige Wahrheiten niemals vorzustellen vermocht, aber nun bemerkte sie zu ihrer Verwunderung, daß es jede ewige Wahrheit doppelt und mehrfach gibt. Darum hat der vernünftige Mensch, und das war in diesem Fall Sektionschef Tuzzi, der dadurch sogar eine gewisse Ehrenrettung erfuhr, ein tief eingewurzeltes Mißtrauen gegen ewige Wahrheiten; er wird zwar niemals bestreiten, daß sie unentbehrlich seien, aber er ist überzeugt, daß Menschen, die sie wörtlich nehmen, verrückt sind. Nach seiner Einsicht
-die er seiner Gattin hilfreich darbot —, enthalten die menschlichen Ideale ein Unmaß der Forderung, das ins Verderben führen muß, wenn man es nicht schon von vornherein nicht ganz ernst nimmt. Als den besten Beweis dafür führte Tuzzi an, daß solche Worte wie Ideal und ewige Wahrheit in Büros, wo es sich um ernste Dinge handelt, überhaupt nicht vorkommen; einem Referenten, der es sich einfallen ließe, sie in einem Akt anzuwenden, würde augenblicklich nahegelegt werden, sich zur Erlangung eines Erholungsurlaubes amtsärztlich untersuchen zu lassen. Aber Diotima, wenn sie ihm auch wehmütig zuhörte, schöpfte aus solchen Stunden der Schwäche am Ende doch wieder neue Kraft, sich in ihre Studien zu stürzen.
Sogar Graf Leinsdorf war überrascht von ihrer geistigen Energie, als er endlich die Zeit fand, zu einer Rücksprache zu erscheinen. Se. Erlaucht wollte eine aus der Mitte des Volkes aufsteigende Kundgebung.
Er wünschte aufrichtig, den Volkswillen zu erkunden und durch vorsichtig von oben kommende Einflußnahme zu läutern, denn er wollte ihn dereinst Sr. Majestät nicht als eine Gabe des Byzantinismus, sondern als Zeichen der Selbstbesinnung der im Strudel der Demokratie treibenden Völker unterbreiten.
Diotima wußte, daß Se. Erlaucht noch immer an dem Gedanken «Friedenskaiser» festhielt und an einer glanzvollen Kundgebung des wahren Österreich, wenn er auch den Vorschlag Weltösterreich nicht grundsätzlich ablehnte, sofern nur darin das Gefühl einer um ihren Patriarchen gescharten Völkerfamilie richtig zum Ausdruck komme. Von dieser Familie nahm Se. Erlaucht allerdings unter der Hand und stillschweigend Preußen aus, obgleich er gegen die Person des Dr. Arnheim nichts einzuwenden fand und sie sogar ausdrücklich als eine interessante Person bezeichnet hatte. «Wir wollen ja sicher nichts im verbrauchten Sinn Patriotisches haben, » mahnte er «wir müssen die Nation, die Welt aufrütteln. Ich finde die Idee, ein österreichisches Jahr zu machen, recht schön und habe ja eigentlich selbst zu den Journalisten gesagt, daß man die Phantasie des Publikums auf ein solches Ziel lenken müsse. Aber haben Sie sich schon einmal überlegt, meine Liebe, wenn es bei diesem österreichischen Jahr bleibt, was wir in diesem Jahr machen sollen? Sehen Sie, das ist es! Das muß man auch wissen. Man muß da ein bißchen von oben nachhelfen, sonst gewinnen die unreifen Elemente die Oberhand. Und ich finde absolut nicht Zeit, mir etwas einfallen zu lassen!»
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Diotima fand Se. Erlaucht sorgenvoll und erwiderte lebhaft: «Die Aktion muß in einem großen Zeichen gipfeln oder gar nicht! Das ist gewiß. Sie muß das Herz der Welt ergreifen, erfordert aber auch eine von oben kommende Einflußnahme. Das ist nicht zu bestreiten. Das österreichische Jahr ist ein ausgezeichneter Vorschlag, aber meiner Meinung nach wäre ein Weltjahr noch schöner; ein weltösterreichisches Jahr, wo der europäische Geist in Österreich seine wahre Heimat erblicken könnte!»
«Vorsichtig! Vorsichtig!» warnte Graf Leinsdorf, der von der geistigen Kühnheit seiner Freundin schon oft erschreckt worden war. «Ihre Ideen sind vielleicht immer ein klein wenig zu groß, Diotima! Sie haben das ja schon einmal gesagt, aber man kann nicht vorsichtig genug sein! Was haben Sie sich also ausgedacht, das wir in diesem Weltjahr tun sollen?»
Mit dieser Frage hatte Graf Leinsdorf aber, von jener Geradheit geleitet, die sein Denken so charaktervoll machte, genau den schmerzhaftesten Punkt in Diotima berührt. «Erlaucht, » sagte sie nach einigem Zögern
«das ist die schwierigste Frage der Welt, auf die Sie eine Antwort von mir wollen. Ich beabsichtige, so bald als möglich einen Kreis der bedeutendsten Männer einzuladen, Dichter und Denker, und ich will die Anregungen dieser Versammlung abwarten, ehe ich etwas sage. »
«So ist es recht!» rief Se. Erlaucht aus, sofort für das Abwarten gewonnen. «So ist es recht! Man kann nicht vorsichtig genug sein! Wenn Sie wüßten, was ich jetzt alle Tage zu hören bekomme!»
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Die Parallelaktion erregt Bedenken. In der Geschichte der Menschheit gibt es aber kein freiwilliges Zurück Einmal hatte Se. Erlaucht auch Zeit, mit Ulrich eingehender zu sprechen. «Mir ist dieser Doktor Arnheim nicht sehr angenehm» vertraute er ihm an. «Gewiß, ein überaus geistvoller Mann, man kann sich über Ihre Kusine nicht wundern; aber schließlich ein Preuße. Er schaut so zu. Wissen Sie, wie ich ein kleiner Bub war, im Jahr fünfundsechzig, da hat mein seliger Vater auf Schloß Chrudim einen Jagdgast gehabt, der hat auch immer so zugeschaut, und ein Jahr danach hat sich herausgestellt, daß kein Mensch wußte, wer ihn eigentlich bei uns eingeführt hatte, und daß er ein preußischer Generalstabsmajor gewesen ist! Ich will damit selbstverständlich gar nichts gesagt haben, aber es ist mir nicht angenehm, daß der Arnheim alles von uns weiß. »
«Erlaucht, » sagte Ulrich «ich bin froh, daß Sie mir Gelegenheit geben, mich auszusprechen. Es ist Zeit, daß etwas geschieht; ich mache Erfahrungen, die mich nachdenklich stimmen und für einen ausländischen Beobachter nicht geeignet sind. Die Parallelaktion sollte doch alle Leute glücklich erregen, das beabsichtigen Erlaucht doch auch?»
«Na, ja, natürlich!»
«Aber das Gegenteil gelingt!» rief Ulrich aus. «Ich habe den Eindruck, daß sie alle gebildeten Leute auffallend bedenklich und traurig macht!»
Se. Erlaucht schüttelte den Kopf und drehte einen Daumen um den anderen, wie er es immer tat, wenn sich sein Gemüt nachdenklich verfinsterte. In der Tat hatte auch er schon Erfahrungen gemacht, die ähnlich denen waren, die ihm Ulrich nun berichtete.
«Seit es bekanntgeworden ist, daß ich mit der Parallelaktion etwas zu tun habe, » erzählte dieser «vergehen nicht drei Minuten, wenn ich mit jemand zusammenkomme, der mit mir ein wenig allgemeiner sprechen will, ohne daß er mir sagt: «Was wollen Sie eigentlich mit der Parallelaktion erreichen? Es gibt ja heute doch keine großen Leistungen und keine großen Männer mehr!»
«Ja, damit meinen sie bloß sich selber nicht!» warf Se. Erlaucht ein. «Ich kenne das, ich bekomme es auch zu hören. Die Großindustriellen schimpfen auf die Politik, die ihnen nicht genug Schutzzölle abwirft, und die Politiker schimpfen auf die Industrie, die zu wenig Wahlgelder hergibt. »
«Sehr richtig!» nahm Ulrich seine Darlegung wieder auf. «Ganz bestimmt glauben die Chirurgen, daß die Chirurgie seit den Tagen Billroths Fortschritte gemacht hat; sie sagen bloß, daß die übrige Medizin und die ganze Naturforschung der Chirurgie zu wenig nützt. Ich möchte sogar behaupten, wenn Erlaucht es mir gestatten, daß auch die Theologen überzeugt sind, die Theologie sei heute irgendwie weiter als zu Christi Zeit - »
Graf Leinsdorf hob in nachsichtiger Abwehr die Hand.
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«Also ich bitte um Entschuldigung, wenn ich etwas Unpassendes gesagt habe, es hätte auch gar nicht sein müssen; denn das, worauf ich hinaus will, scheint etwas ganz Allgemeines zu bedeuten. Die Chirurgen, habe ich gesagt, behaupten, daß die Naturforschung nicht ganz das hält, was man von ihr verlangen müßte.
Spricht man dagegen mit einem Naturforscher über die Gegenwart, so klagt er darüber, daß er im allgemeinen gern seinen Blick ein bißchen erheben möchte, sich aber im Theater langweilt und keinen Roman findet, der ihn unterhält und anregt. Spricht man mit einem Dichter, so sagt dieser, es gibt keinen Glauben. Und spricht man, da ich die Theologen jetzt auslassen will, mit einem Maler, so kann man ziemlich sicher sein, er wird behaupten, daß die Maler in einer Zeit mit so miserabler Dichtung und Philosophie nicht ihr Bestes geben können. Die Reihenfolge, in der das einer auf den anderen schiebt, ist natürlich nicht immer die gleiche, aber jedesmal hat es etwas vom Schwarzen Peter, wenn Erlaucht das kennen oder vom Gevatter, leih mir die Scher an sich; und die Regel, die dem zugrunde liegt, oder das Gesetz kann ich nicht herausbringen! Ich fürchte, man muß sagen, daß ein jeder Mensch im besonderen und mit sich gerade noch zufrieden ist, aber im allgemeinen ist ihm aus irgend einem universalen Grund in seiner Haut nicht wohl, und es scheint, daß die Parallelaktion dazu bestimmt ist, das an den Tag zu bringen.
»
«Du lieber Gott, » antwortete Se. Erlaucht auf diese Ausführungen, ohne daß recht klar wurde, was er damit meine, «nichts als Undankbarkeit!»
«Ich habe übrigens» fuhr Ulrich fort «schon zwei Mappen voll schriftlicher Anträge allgemeiner Natur, die Ewr. Erlaucht zurückzustellen ich noch nicht Gelegenheit fand. Ich habe eine davon mit der Überschrift
<Zurück zu… !> versehen. Merkwürdig viel Menschen teilen uns nämlich mit, daß die Welt in früheren Zeiten auf einem besseren Punkt gewesen sei als jetzt, zu dem sie die Parallelaktion bloß zurückzuführen brauchte. Wenn ich von dem selbstverständlichen Verlangen Zurück zum Glauben absehe, so ist noch ein Zurück zum Barock, zur Gotik, zum Naturzustand, zu Goethe vertreten, zum deutschen Recht, zur Sittenreinheit und etliches andere. »
«Hm ja; aber vielleicht ist ein wahrer Gedanke darunter, und man sollte ihn nicht entmutigen?» meinte Graf Leinsdorf.
«Das wäre möglich; aber wie soll man antworten? Ihr Geschätztes vom Soundsovielten reiflich erwogen, halten wir derzeit den Zeitpunkt noch nicht geeignet… ? Oder: Mit Interesse gelesen, bitten wir Sie um detaillierte Bekanntgabe Ihrer Wünsche für Wiedereinrichtung der Welt in Barock, Gotik, und so weiter?»
Ulrich lächelte, aber Graf Leinsdorf fand, daß er in diesem Augenblick ein wenig zu heiter sei, und drehte abwehrend, mit gesammelter Kraft einen Daumen um den anderen. Sein Gesicht mit dem Knebelbart erinnerte, in der Härte, die es annahm, an die Zeit Wallensteins, und dann tat er eine Äußerung, die sehr bemerkenswert war. «Lieber Doktor, » sagte er «in der Geschichte der Menschheit gibt es kein freiwilliges Zurück!»
Diese Äußerung überraschte vor allen Dingen Graf Leinsdorf selbst, denn er hatte eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen. Er war konservativ, ärgerte sich über Ulrich und hatte bemerken wollen, daß das Bürgertum den universalen Geist der katholischen Kirche verschmäht habe und nun an den Folgen leide.
Auch wäre es nahegelegen, die Zeiten des absoluten Zentralismus zu preisen, wo die Welt noch von verantwortungsbewußten Personen nach einheitlichen Gesichtspunkten geleitet worden ist. Aber mit einemmal war ihm, während er noch nach Worten suchte, eingefallen, daß er wirklich unangenehm überrascht sein würde, wenn er eines Morgens ohne warmes Bad und Eisenbahn aufwachen müßte und statt der Morgenblätter bloß ein kaiserlicher Ausrufer durch die Straßen ritte. Graf Leinsdorf dachte also «Was einmal war, wird niemals wieder in der gleichen Weise sein», und während er das dachte, war er sehr erstaunt. Denn angenommen, daß es in der Geschichte kein freiwilliges Zurück gebe, so glich die Menschheit einem Mann, den ein unheimlicher Wandertrieb vorwärtsführt, für den es keine Rückkehr gibt und kein Erreichen, und das war ein sehr bemerkenswerter Zustand.
Nun besaß zwar Se. Erlaucht eine außerordentliche Fähigkeit, zwei Gedanken, die einander widersprachen, mit glücklicher Hand so auseinander zu halten, daß sie in seinem Bewußtsein nicht zusammentrafen, aber diesen Gedanken, der gegen alle seine Grundsätze gerichtet war, hätte er ablehnen müssen. Allein er hatte eine gewisse Neigung für Ulrich gefaßt, und soweit ihm seine Pflichten Zeit ließen, bereitete es ihm großes Vergnügen, diesem geistig regsamen und ihm so gut empfohlenen Mann, der bloß als Bürgerlicher ein wenig abseits von den wirklich großen Fragen stand, politische Gegenstände streng logisch zu erklären.
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Wenn man aber einmal mit Logik beginnt, wo ein Gedanke von selbst aus dem vorangehenden folgt, weiß man zum Schluß nie, wie das endet. Graf Leinsdorf nahm darum seine Äußerung nicht zurück, sondern sah Ulrich bloß eindringlich schweigend an.
Ulrich nahm noch eine zweite Mappe zur Hand und benützte die Pause, um beide Mappen Sr. Erlaucht zu übergeben. «Der zweiten habe ich die Überschrift <Vorwärts zu… !> geben müssen» begann er zu erläutern, aber Se. Erlaucht fuhr auf und fand, daß seine Zeit schon abgelaufen sei. Er bat dringend, die Fortsetzung für ein andermal zu lassen, wenn mehr Zeit zum Nachdenken bleibe. «Ihre Kusine wird übrigens eine Gesellschaft der bedeutendsten Köpfe für diese Zwecke einladen» erzählte er, schon im Stehen. «Gehen Sie hin; gehen Sie, bitte, gewiß hin; ich weiß nicht, ob es mir selbst erlaubt sein wird, dabei zu sein!»
Ulrich packte die Mappen ein, und Graf Leinsdorf kehrte sich im Dunkel des Türrahmens noch einmal um.
«Ein großer Versuch macht natürlich alle Leute verzagt; aber wir werden sie schon aufrütteln!» Sein Pflichtgefühl ließ es nicht zu, Ulrich ohne Trost zurückzulassen.
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Moosbrugger denkt nach