nach

Admonter Weise… Zahl der Begleiter… Art der Beleuchtung… Brenndauer… Sargholz…

Pflanzenschmuck… Name, Geburt, Geschlecht, Beruf… Ablehnung jeder unvorhergesehenen Haftung.

Ulrich hatte keine Ahnung, woher die teilweise altertümelnden Bezeichnungen kamen; er fragte, der Geschäftsführer blickte ihn erstaunt an, und auch er hatte keine Ahnung. Er stand vor Ulrich wie ein Reflexbogen des Menschheitsgehirns, durch den Reiz und Handlung verbunden waren, ohne daß ein Bewußtsein entstand. Jahrhundertealte Geschichte war diesem Trauergeschäftsmann anvertraut, er durfte mit ihr als Warenbezeichnung schalten, hatte das Gefühl, daß Ulrich eine falsche Schraube gelüftet habe, und bemühte sich, sie rasch mit einer Bemerkung zu schließen, die zur Effektuierung der Lieferung 376

zurückführen sollte. Er erklärte, alle diese Unterscheidungen seien leider im Einheitsvertrag des Reichsvereins der Leichenbestat-tungsunternehmer vorgeschrieben, aber es hätte weiter auch keine Bedeutung, wenn man sich nicht an sie halte, und das täte ohnehin niemand, und wenn Ulrich unterschriebe

- die gnädige Frau Schwester habe das gestern ohne den Herrn Bruder nicht tun wollen —, so solle das einfach bedeuten, daß der Herr mit dem von seinem Vater gegebenen Auftrag einverstanden sei, und er werde an der erstklassigen Durchführung schon nichts auszusetzen finden.

Während Ulrich unterschrieb, fragte er den Mann, ob er hier in der Stadt schon eine der elektrisch betriebenen Wurstmaschinen gesehen habe, die auf dem Gehäuse den heiligen Lukas als Patron der Fleischhauerinnung zeigten; er selbst habe sie einmal in Brüssel gesehn - aber er kam nicht mehr dazu, die Antwort abzuwarten, denn schon stand an der Stelle dieses Manns ein anderer da, der von ihm etwas wünschte, und war ein Journalist, der für das Provinzhauptblatt Auskünfte zum Nekrolog wollte. Ulrich gab sie und verabschiedete den Bestatter, aber sowie er auf die Frage nach dem Wichtigsten in seines Vaters Leben zu antworten begann, wußte er schon nicht, was wichtig sei und was nicht, und sein Besucher mußte ihm zu Hilfe kommen.

Erst da ging es, angefaßt mit den Fragezangen einer beruflich auf das Wissenswerte geschulten Neugier, vorwärts, und Ulrich bekam ein Gefühl, als wohne er der Erschaffung der Welt bei. Der Journalist, ein junger Mann, fragte, ob der Tod des alten Herrn nach langem Leiden oder unerwartet gekommen sei, und als Ulrich zur Antwort gab, daß sein Vater bis zur letzten Woche seine Vorlesungen abgehalten habe, formte er daraus: in voller Arbeitsrüstigkeit und Frische. Dann flogen von dem Leben des alten Herrn die Späne davon bis auf ein paar Rippen und Knoten: Geboren in Protiwin im Jahre 1844, die und die Schulen besucht, ernannt zum…, ernannt am…; mit fünf Ernennungen und Auszeichnungen war das Wesentliche fast schon erschöpft. Eine Heirat dazwischen. Ein paar Bücher. Einmal beinahe Justizminister geworden; es scheiterte am Widerspruch von irgendeiner Seite. Der Journalist schrieb, Ulrich begutachtete es, es stimmte.

Der Journalist war zufrieden, er hatte die nötige Zeilenzahl. Ulrich staunte über das kleine Häufchen Asche, das von einem Leben übrigbleibt. Der Journalist hatte für alle Auskünfte, die er empfing, sechsund achtspännige Formeln bereit gehabt: großer Gelehrter, geöffneter Weltsinn, vorsichtigschöpferischer Politiker, universale Begabung und so weiter; es mußte schon geraume Zeit niemand gestorben sein, die Worte waren lange nicht benutzt und hungrig nach Anwendung gewesen. Ulrich überlegte; er hätte gerne über seinen Vater noch etwas Gutes gesagt, aber das Sichere hatte der Chronist, der jetzt sein Schreibzeug einpackte, schon erfragt, und der Rest war, als ob man den Inhalt eines Glases Wasser ohne das Glas in die Hand nehmen wollte.

Das Kommen und Gehn hatte inzwischen nachgelassen, denn von Agathe waren am vergangenen Tag alle Leute an ihren Bruder gewiesen worden und dieser Überschuß war nun vorbeigeströmt, und Ulrich blieb allein zurück, als sich der Reporter empfahl. Er war durch irgendetwas in eine erbitterte Stimmung geraten.

Hatte sein Vater nicht recht gehabt, daß er die Säcke des Wissens schleppte und den Körnerhaufen des Wissens ein wenig umgrub und darüber hinaus sich einfach jenem Leben unterwarf, von dem er glaubte, daß es das mächtige sei!? Er dachte an seine Arbeit, die unberührt im Schreibtisch lag. Wahrscheinlich würde man von ihm nicht einmal sagen können wie von seinem Vater, daß er ein Umschaufler gewesen sei!

Ulrich trat in das kleine Zimmer, worin der Tote aufgebahrt lag. Diese starre, geradwandige Zelle inmitten der unruhigen Betriebsamkeit, die ihr entsprang, war phantastisch unheimlich; steif wie ein Holzstückchen schwamm der Tote zwischen den Fluten der Geschäftigkeit, aber für Augenblicke konnte sich das Bild verkehren, dann erschien das Lebendige starr, und er schien in einer unheimlich ruhigen Bewegung zu gleiten. «Was kümmern den Reisenden» sagte er dann «die Städte, die an den Anlegestellen zurückbleiben: ich habe hier gewohnt und mich betragen, wie man es verlangte, aber nun fahre ich wieder!»… Die Unsicherheit des Menschen, der zwischen den anderen etwas anderes will als sie, drückte Ulrichs Herz: er sah seinem Vater ins Gesicht. Vielleicht war alles, was er für seine persönliche Besonderheit hielt, nichts als ein von diesem Gesicht abhängiger Widerspruch, irgendwann kindisch erworben? Er suchte nach einem Spiegel, aber es war keiner da, und nichts als dieses blinde Gesicht warf Licht zurück. Er forschte darin nach Ähnlichkeiten. Vielleicht waren sie da. Vielleicht war alles darin, die Rasse, die Gebundenheit, das Nichtpersönliche, der Strom des Erbgangs, in dem man nur eine Kräuselung ist, die Einschränkung, Entmutigung, das ewige Wiederholen und im Kreis Gehen des Geistes, das er im tiefsten Lebenswillen haßte!

377

Von dieser Entmutigung plötzlich angewandelt, überlegte er, ob er nicht seine Koffer packen und schon vor dem Begräbnis abreisen solle. Wenn er wirklich noch etwas im Leben bestellen könnte, was hatte er dann noch hier zu tun! Als er aber durch die Türe trat, stieß er im Nebenzimmer mit seiner Schwester zusammen, die ihn zu suchen kam.

4

Ich hatt’ einen Kameraden

Zum erstenmal sah sie Ulrich als Frau gekleidet und hatte nach dem gestrigen Eindruck geradezu den, daß sie verkleidet sei. Durch die offene Tür fiel künstliches Licht in das zittrige Grau des frühen Vormittags, und die schwarze Erscheinung mit dem blonden Haar schien in einer Grotte aus Luft zu stehn, durch die strahlender Glanz floß. Agathes Haar lag enger am Kopf und ihr Gesicht wirkte dadurch weiblicher als am Tag zuvor, die zarte, frauenhafte Brust bettete sich in das Schwarz der strengen Kleidung mit jenem vollkommensten Gleichgewicht zwischen Nachgiebigkeit und Widerstand, das der federleichten Härte einer Perle eigen ist, und vor die schlanken, hohen, den seinen ähnlichen Beine, die er gestern gesehen hatte, hatten sich Röcke gesenkt. Und weil die Erscheinung ihm heute im Ganzen unähnlicher war, bemerkte er die Ähnlichkeit des Gesichts. Es war ihm zumute, er wäre es selbst, der da zur Tür eingetreten sei und auf ihn zuschreite: nur schöner als er und in einen Glanz versenkt, in dem er sich niemals sah. Zum erstenmal erfaßte ihn da der Gedanke, daß seine Schwester eine traumhafte Wiederholung und Veränderung seiner selbst sei; aber da dieser Eindruck nur einen Augenblick dauerte, vergaß er ihn wieder.

Agathe war gekommen, um ihren Bruder schleunig an Pflichten zu erinnern, die sie selbst beinahe verschlafen hätte: sie hielt das Testament in Händen und machte ihn auf Bestimmungen aufmerksam, deren Zeit drängte. Vor allen war darunter eine etwas krause Verfügung über die Orden des alten Herrn zu berücksichtigen, von der auch der Diener Franz wußte, und Agathe hatte diese Stelle im Letzten Willen eifrig, wenn auch etwas pietätlos rot angestrichen. Der Tote wollte mit ihnen begraben sein, von denen er nicht wenig besaß, aber da er nicht aus Eitelkeit mit ihnen begraben werden wollte, war dem eine lange und tiefsinnige Begründung beigegeben, von der seine Tochter nur den Anfang gelesen hatte, ihrem Bruder es überlassend, ihr den Rest zu erklären.

«Wie soll ich es dir erklären?!» sagte Ulrich, nachdem er sich unterrichtet hatte. «Papa möchte mit den Orden begraben werden, weil er die individualistische Staatstheorie für falsch hält! Er empfiehlt uns die universalistische. Der Mensch empfange erst aus der schöpferischen Gemeinschaft des Staats einen überpersönlichen Zweck, seine Güte und Gerechtigkeit; allein sei er nichts, und darum bedeute der Monarch ein geistiges Symbol: und kurz und gut, der Mensch muß sich bei seinem Tod sozusagen in seine Orden einwickeln, wie man einen gestorbenen Seemann in die Flagge gewickelt ins Meer versenkt!»

«Aber ich habe doch gelesen, daß die Orden zurückgegeben werden müssen?» fragte Agathe.

«Die Orden müssen von den Erben der kaiserlichen Kabinettskanzlei zurückgestellt werden. Darum hat sich Papa Duplikate angeschafft. Aber die beim Juwelier gekauften scheinen ihm wohl doch nicht die rechten Orden zu sein, und er will, daß wir den Umtausch auf seiner Brust erst vollziehen, wenn der Sarg geschlossen wird: das ist die Schwierigkeit! Wer weiß, vielleicht ist das ein stummer Protest gegen die Vorschrift, den er nicht anders aussprechen wollte. »

«Aber bis dahin werden hundert Leute hier sein, und wir werden es vergessen!» befürchtete Agathe.

«Wir können es ebensogut gleich tun!»

«Wir haben jetzt keine Zeit; du mußt das Nächste lesen, was er über Professor Schwung schreibt: Professor Schwung kann jeden Augenblick kommen, ich habe ihn schon gestern den ganzen Tag erwartet!»

«Also tun wir es, nachdem Schwung da war. »

«Es ist so unangenehm, » wandte Agathe ein «ihm nicht seinen Wunsch zu erfüllen. »

«Er weiß es ja nicht mehr. »

Sie sah ihn zweifelnd an. «Bist du dessen sicher?»

«Oh?» rief Ulrich lachend aus «du hältst es vielleicht nicht

für sicher?!»

«Ich bin in nichts sicher» antwortete Agathe.

«Und wenn es nicht sicher wäre: er war ja doch nie mit uns zufrieden!»

378

«Das ist richtig» meinte Agathe. «Wir wollen es also später tun. Aber sag mir jetzt eines» fügte sie hinzu:

«Kümmerst du dich nie um das, was man von dir verlangt?»

Ulrich zögerte. «Sie läßt in einem guten Geschäft arbeiten» dachte er. «Ich hätte mir keine unnützen Sorgen zu machen brauchen, daß sie kleinstädtisch sein könnte!» Aber weil mit diesen Worten irgendwie der ganze gestrige Abend verbunden war, wünschte er eine Antwort zu geben, die wohl bestehen bleiben und ihr dienen sollte; wußte aber nicht, wie es anzufangen sei, damit sie ihn keinesfalls falsch verstehe, und sagte schließlich unerwünscht jugendlich: «Nicht nur der Vater ist tot, auch die Zeremonien, die ihn umgeben, sind ja tot. Sein Testament ist tot. Die Leute, die hier erscheinen, sind tot. Ich will damit nichts Böses sagen; weiß Gott, wie dankbar man vielleicht den Wesen sein muß, die zur Festigkeit der Erde beitragen: aber all das gehört zum Kalk des Lebens, nicht zum Meer!» Er gewahrte einen unschlüssigen Blick seiner Schwester und wurde inne, wie unverständlich er daherrede. «Die Tugenden der Gesellschaft sind Laster für den Heiligen» ergänzte er lachend.

Er legte ihr etwas gönnerhaft oder übermütig die Arme auf die Schultern; rein aus Verlegenheit. Aber Agathe trat ernst zurück und ging nicht darauf ein. «Hast du das erfunden?» fragte sie.

«Nein, ein Mann, den ich liebe, hat das gesagt. »

Sie hatte etwas von dem Unmut eines Kindes, das sich mit Nachdenken plagen muß, als sie Ulrichs Antworten in den Satz zusammenfaßte: «Du würdest also einen, der aus Gewohnheit ehrlich ist, kaum gut nennen? Aber einen Dieb, der zum erstenmal stiehlt, während ihm fast das Herz aus der Brust springt, nennst du gut?!»

Ulrich staunte über diese etwas sonderbaren Worte und wurde dadurch ernster. «Ich weiß es wirklich nicht»

sagte er kurz. «Ich selbst mache mir unter Umständen allerdings nicht viel daraus, ob etwas für recht oder unrecht gilt, aber ich kann dir keine Regel angeben, nach der man sich dabei zu richten vermöchte. »

Agathe löste den suchenden Blick langsam von ihm los und nahm das Testament wieder auf: «Wir müssen weiterlesen, hier ist noch etwas angestrichen!» ermahnte sie sich selbst.

Der alte Herr hatte, ehe er sich endgültig zu Bett legte, eine Reihe von Briefen verfaßt und gab in seinem Vermächtnis Aufklärungen zu ihrem Verständnis und über ihre Absendung. Was davon besonders angestrichen war, bezog sich auf Professor Schwung, und Professor Schwung war jener alte Kollege, der das letzte Lebensjahr des Vaters der beiden Geschwister durch den Kampf um den Paragraphen der verminderten Zurechnungsfähigkeit gallig verbittert hatte, nachdem sie ein Lebensalter lang Freunde gewesen waren. Ulrich erkannte sofort die wohlbekannten langen Auseinandersetzungen über Vorstellung und Wille, Schärfe des Rechts und Unbestimmtheit der Natur, von denen ihm sein Vater vor dem Abscheiden noch einmal eine zusammenfassende Darstellung gab, und nichts schien diesen in seinen letzten Tagen so sehr beschäftigt zu haben wie die Denunziation der Sozialen Schule, der er sich angeschlossen hatte, als Ausfluß preußischen Geistes. Er hatte soeben eine Broschüre auszuarbeiten begonnen, die den Titel führen sollte: «Staat und Recht oder Konsequenz und Denunziation», als er sich schwach werden fühlte und erbittert das Schlachtfeld im Alleinbesitz seines Gegners sah. In feierlichen Worten, wie sie nur die Nähe des Todes und der Kampf um das heilige Gut der Reputation eingeben, verpflichtete er seine Kinder, sein Werk nicht verfallen zu lassen, und namentlich seinen Sohn, die Beziehungen zu maßgebenden Kreisen, die er dank der nimmermüden Ermahnungen seines Vaters gewonnen habe, zu nutzen, um die Hoffnungen des Professors Schwung auf Verwirklichung seiner Bestrebungen gründlich zunichte zu machen.

Wenn man solches geschrieben hat, so schließt es nicht aus, daß man nach getanem oder vielmehr vorgesehenem Werk das Bedürfnis fühlt, einem gewesenen Freund seine von niederer Eitelkeit eingegebenen Irrtümer zu vergeben. Sobald man sehr leidet und schon bei lebendigem Leib das sachte Ausdennähtengehn der irdischen Hülle empfindet, ist man geneigt, zu verzeihn und um Verzeihung zu bitten; wenn es einem wieder besser geht, so nimmt man es aber zurück, denn der gesunde Körper hat von Natur etwas Unversöhnliches: beides mußte offenbar der alte Herr in den Wechselfällen des Befindens vor dem Tode kennen gelernt haben, und eines hatte ihm so berechtigt erscheinen müssen wie das andere. Ein solcher Zustand ist aber für einen angesehenen Juristen unerträglich, und so hatte er mit geschulter Logik ein Mittel erfunden, seinen Willen so zu hinterlassen, daß er ohne nachträgliche Gegeneinflüsterungen des Gemüts als letzter Wille ungemindert zur Geltung kommen könne: er schrieb einen Verzeihungsbrief und unterschrieb ihn nicht, noch versah er ihn mit einem Datum, sondern trug Ulrich auf, das Datum seiner 379

Todesstunde einzusetzen und die Unterschrift gemeinsam mit der Schwester als Willenszeugen zu setzen, wie es bei einem mündlichen Vermächtnis geschehen kann, das zu unterschreiben der Sterbende nicht die Kraft hat. Er war eigentlich, ohne es wahrhaben zu wollen, ein stiller Kauz, dieser kleine Alte, der sich den Rangordnungen des Daseins unterworfen hatte und sie als ihr eifriger Diener verteidigte, aber in sich allerhand Auflehnungen barg, für die er auf dem von ihm gewählten Lebensweg keinen Ausdruck finden konnte. Ulrich mußte an die Todesanzeige denken, die er empfangen hatte und die wahrscheinlich in der gleichen Verfassung angeordnet worden war, ja beinahe sah er eine Verwandtschaft mit sich selbst darin, diesmal aber nicht zornmütig, sondern mitleidig, wenigstens in dem Sinn, daß er angesichts dieses Ausdruckshungers den Haß auf den Sohn verstand, der sich das Leben durch ungebührliche Freiheiten erleichtert hatte. Denn so erscheinen die Lebenslösungen der Söhne immer den Vätern, und Ulrich wandelte ein Gefühl der Pietät an, indem er an das Ungelöste dachte, das in ihm selbst stak. Aber er fand nicht mehr die Zeit, dem eine gerechte und auch für Agathe verständliche Form zu geben, und hatte eben erst damit begonnen, als die Dämmerung des Raums mit großem Schwung einen Menschen ins Zimmer trug. Dieser schritt, von seiner eigenen Bewegung hereingeschleudert, bis in den Kerzenglanz und hob dort mit einer weiten Bewegung die Hand vor die Augen, einen Schritt von dem Katafalk entfernt, ehe der überrannte väterliche Diener mit der Anmeldung nachhasten konnte. «Verehrter Freund!» rief der Besucher mit getragener Stimme aus, und der kleine Alte lag mit zusammengekniffenen Kiefern vor seinem Feinde Schwung.

«Junge Freunde: die Majestät des Sternenhimmels über uns, die Majestät des Sittengesetzes in uns!» fuhr dieser fort und blickte umflorten Auges auf den Fakultätsgenossen. «In dieser kaltgewordenen Brust hat die Majestät des Sittengesetzes gelebt!» Dann erst wendete er seinen Körper um und schüttelte den Geschwistern die Hände.

Aber Ulrich benutzte diese erste Gelegenheit, um sich seines Auftrags zu entledigen. «Herr Hofrat und mein Vater sind leider in der letzten Zeit Gegner gewesen?» fühlte er vor.

Es machte den Eindruck, daß sich der Weißbart erst besinnen müsse, ehe er verstehe.

«Meinungsverschiedenheiten und nicht der Rede wert!» erwiderte er großmütig, den Toten innig betrachtend. Als aber Ulrich höflich beharrte und durchblicken ließ, daß es sich um einen Letzten Willen handle, wurde die Lage in dem Zimmer plötzlich gespannt wie in einer Spelunke, wenn das ganze Lokal weiß: jetzt hat einer unter dem Tisch das Messer gezogen, und im nächsten Augenblick wird es losgehn.

Der Alte hatte es also richtig verstanden, seinem Kollegen Schwung noch im Abscheiden eine Unannehmlichkeit zu bereiten! Eine solche alte Feindschaft war natürlich längst kein Gefühl mehr, sondern eine Denkgewohnheit; wenn nicht irgend etwas die Affekte der Feindseligkeit gerade neu aufreizte, so waren sie gar nicht mehr da, und es hatte sich der gesammelte Inhalt zahlloser vergangener unliebsamer Vorgänge in die Form eines geringschätzigen Urteils über einander geballt, das so unabhängig vom Kommen und Gehen der Gefühle war wie eine vorurteilslose Wahrheit. Professor Schwung empfand das genau ebenso, wie es sein jetzt toter Angreifer empfunden hatte; es erschien ihm vollkommen kindisch und überflüssig zu verzeihen, denn die eine nachgiebige Regung vor dem Ende, noch dazu bloß ein Gefühl und kein wissenschaftlicher Widerruf, hatte natürlich gar keine Beweiskraft gegenüber den Erfahrungen eines jahrelangen Streites und sollte, wie Schwung es ansah, ganz schamlos bloß dazu dienen, ihn bei der Ausnutzung des Sieges ins Unrecht zu setzen. Ganz etwas anderes war es natürlich, daß Professor Schwung das Bedürfnis hatte, von seinem toten Freund Abschied zu nehmen. Mein Gott, man kannte sich schon, seit man Dozent und noch unverheiratet war! Erinnerst du dich, wie wir im Burggarten der Abendsonne zutranken und über Hegel disputierten? Wieviel Sonnen mögen seither untergegangen sein, aber ich erinnere mich besonders an diese! Und erinnerst du dich an unseren ersten wissenschaftlichen Streit, der uns beinahe schon damals zu Feinden gemacht hätte? Wie schön war das! Nun bist du tot, und ich stehe zu meiner Freude noch, wenn auch an deiner Bahre! Von solcher Art sind, wie man weiß, die Gefühle bejahrter Leute beim Absterben gleichaltriger. Es bricht, wenn man in die Eisjahre kommt, die Poesie durch.

Viele Menschen, die seit ihrem siebzehnten Jahr kein Gedicht mehr gemacht haben, verfassen plötzlich eines im siebenundsiebzigsten Jahr, wenn sie ihr Testament schreiben. Wie beim Jüngsten Gericht die Toten einzeln aufgerufen werden - obschon sie am Grund der Zeit samt ihren Jahrhunderten ruhen wie die Ladung in untergegangenen Schiffen! — werden im Testament die Dinge mit Namen aufgerufen und erhalten ihre im Gebrauch verlorengegangene Persönlichkeit wieder zurück. «Der Buchara-Teppich mit 380

dem Loch von einer Zigarre, der in meinem Arbeitszimmer liegt» heißt es in solchen letzten Manuskripten, oder «der Regenschirm mit dem Nashorngriff, den ich im Mai 1887 bei Sonnenschein & Winter erworben habe»; sogar die Aktienpakete werden einzeln bei ihren Nummern angesprochen und genannt.

Und es ist nicht Zufall, daß zugleich mit diesem letzten Aufleuchten jedes einzelnen Gegenstandes auch das Verlangen erwacht, eine Moral, eine Mahnung, einen Segen, ein Gesetz daran zu knüpfen, die dieses ungeahnt Viele, rings um den Untergang noch einmal Auftauchende mit einer kräftigen Formel besprechen sollen. Zugleich mit der Poesie der Testamentszeit erwacht darum auch die Philosophie, und es ist begreiflichermaßen meistens eine alte und verstaubte Philosophie, die man wieder hervorholt, nachdem man sie vor fünfzig Jahren vergessen hat. Ulrich verstand auf einmal, daß keiner von diesen beiden Alten hatte nachgeben können. «Möge das Leben machen, was es will, wenn nur die Grundsätze unangefochten bleiben!» ist ein sehr vernünftiges Bedürfnis, wenn man weiß, daß man in wenigen Monaten oder Jahren von seinen Grundsätzen überlebt werden wird. Und es war deutlich zu sehen, wie in dem alten Hofrat die beiden Antriebe noch immer miteinander kämpften: sein Romantizismus, seine Jugend, seine Poesie forderten eine große, schöne Gebärde und ein edles Wort; seine Philosophie dagegen verlangte, daß er die Unberührbarkeit des Gesetzes der Vernunft durch jähe Gefühlseinfälle und vorübergehende Gemütsschwächen zum Ausdruck bringe, wie ihm solche sein toter Feind als Falle gelegt hatte. Schon seit zwei Tagen hatte sich Schwung vorgestellt: der ist nun tot, und der Schwungischen Auffassung der verminderten Zurechnungsfähigkeit steht kein Hindernis mehr im Wege; also war sein Gefühl in breiten Wogen zu dem alten Freund geströmt, und wie einen sorgsam ausgearbeiteten Mobilmachungsplan, der bloß noch des Signals zur Durchführung bedarf, hatte er sich die Abschiedsszene ausgedacht. Aber in diese war Essig gefallen und wirkte klärend. Schwung hatte mit mächtiger Bewegung begonnen, aber nun geschah ihm, wie wenn einer mitten in einem Gedicht vernünftig wird und die letzten Zeilen fallen ihm nicht mehr ein. So befanden sie sich voreinander, ein weißer Stoppelbart und weiße Bartstoppeln, beide die Kiefer unerbittlich festgeklemmt.

«Was wird er also tun?» fragte sich Ulrich, der gespannt den Auftritt beobachtete. Schließlich setzte sich in Hofrat Schwung die frohe Gewißheit, daß nun der § 318 des Strafgesetzbuches nach seinen Vorschlägen zur Annähme kommen werde, gegen den Ärger durch, und da er von den bösen Gedanken befreit war, hätte er am liebsten zu singen begonnen: «Ich halt’ einen Kameraden… », um seinem nunmehr guten und einzigen Gefühl Ausdruck zu geben. Und da er das nicht konnte, wandte er sich an Ulrich und sagte:

«Glauben Sie mir, junger Sohn meines Freundes, es ist die sittliche Krisis, welche führt; der soziale Verfall folgt nach!» Dann wandte er sich an Agathe und fuhr fort: «Es war das Große an Ihrem Herrn Vater, daß er jederzeit bereit war, einer idealistischen Auffassung in den Grundlagen des Rechts zum Durchbruch zu verhelfen. » Dann ergriff er eine Hand Agathes und eine Hand Ulrichs, schüttelte sie und rief aus: «Ihr Vater hat kleinen Meinungsverschiedenheiten, wie sie bei langem Zusammenwirken manchmal unvermeidlich sind, viel zu großes Gewicht beigelegt. Ich war immer überzeugt, daß er das tun mußte, um sich in seinem empfindlichen Rechtssinn keinem Vorwurf auszusetzen. Es werden morgen viele Professoren von ihm Abschied nehmen, aber es wird keiner darunter sein wie er!»

So endete dieser Auftritt versöhnlich, und Schwung hatte noch im Abgehn Ulrich bekräftigt, er möge auf die Freunde seines Vaters rechnen, falls er sich noch zur akademischen Laufbahn entschließen sollte.

Agathe hatte mit weiten Augen zugehört und die unheimliche Endform betrachtet, die das Leben dem Menschen gibt. «Wie ein Wald von Gipsbäumen ist das gewesen!» sagte sie nachträglich zu ihrem Bruder.

Ulrich lächelte und erwiderte: «Ich fühle mich so sentimental wie ein Hund bei Mondschein!»

5

Sie tun Unrecht

«Erinnerst du dich, » fragte ihn Agathe nach einer Weile «wie du einmal, als ich noch recht klein war, beim Spielen mit anderen Buben bis an die Hüften ins Wasser gefallen warst und es hast verbergen wollen, und bist bei Tisch gesessen mit deiner trockenen Oberhälfte, aber am Klappern der Zähne ist die untere Hälfte entdeckt worden?»

Wenn Ulrich als Knabe aus dem Institut auf Ferien nach Hause gekommen - was für längere Zeit eigentlich 381

nur jenes eine Mal geschehen war -, und als der kleine eingeschrumpfte Leichnam für die beiden noch ein fast allmächtiger Mann war, hatte es sich nicht selten ereignet, daß Ulrich eine Verfehlung nicht einbekennen wollte und sich sträubte sie zu bereun, obgleich er sie nicht zu leugnen vermochte. Auf diese Weise hatte er sich auch damals ein tüchtiges Fieber geholt und mußte schleunigst zu Bett gebracht werden:

«Und hast nur Suppe zu essen bekommen!» sagte nun Agathe.

«Richtig!» bestätigte ihr Bruder lächelnd. Die Erinnerung daran, daß er gestraft worden sei, etwas, das ihn gar nichts mehr anging, kam ihm in diesem Augenblick nicht anders vor, als sähe er seine kleinen Kinderschuhe am Boden stehn, die ihn auch nichts mehr angingen.

«Du hättest schon wegen deines Fiebers nichts als Suppe essen dürfen, » wiederholte Agathe «und trotzdem ist es dir auch noch strafweise verordnet worden!»

«Richtig!» bestätigte Ulrich noch einmal. «Aber das ist natürlich nicht aus Gehässigkeit geschehen, sondern in Erfüllung einer sogenannten Pflicht. » Er wußte nicht, wohinaus seine Schwester wollte. Er selbst sah noch die Kinderschuhe. Sah sie nicht; sah sie bloß, als würde er sie sehn. Fühlte ebenso die Beleidigungen, denen er entwachsen war. Dachte: «In diesem <Nichtmehrangehn> drückt es sich irgendwie aus, daß man in keiner Zeit des Lebens ganz in sich selbst darin ist!»

«Aber du hättest ja ohnehin nichts als Suppe essen dürfen!!» wiederholte Agathe noch einmal und fügte hinzu: «Ich glaube, daß ich mein ganzes Leben lang Angst davor gehabt habe, daß ich vielleicht der einzige Mensch sei, der das nicht zu verstehen vermag!»

Können die Erinnerungen zweier Menschen, die von einer ihnen beiden bekannten Vergangenheit reden, nicht nur einander ergänzen, sondern auch, ehe sie noch ausgesprochen sind, schon verschmelzen? In diesem Augenblick geschah etwas Ähnliches! Ein gemeinsamer Zustand überraschte, ja verwirrte die Geschwister wie Hände, die unter Mänteln an Stellen hervorkommen, wo man sie nie erwartete, und einander unvermutet anfassen. Jeder wußte plötzlich von der Vergangenheit mehr, als er zu wissen vermeint hatte, und Ulrich fühlte wieder das Fieberlicht, das einstmals vom Boden die Wände hinangekrochen war, ähnlich wie es in diesem Zimmer, wo sie jetzt standen, das Gleißen der Kerzen tat; dann war der Vater gekommen, hatte den Lichtkegel der Tischlampe durchwatet und sich an sein Bett gesetzt. «War dein Bewußtsein von der Tragweite der Tat wesentlich beeinträchtigt, so dürfte sie wohl in milderem Lichte erscheinen, aber dann hast du dir das vorher einzugestehen!» Vielleicht waren das Worte aus dem Testament oder den Briefen über den §318, die sich seinem Gedächtnis unterschoben. Er besaß sonst weder Gedächtnis für Einzelheiten, noch für Wortlaut; es hatte darum etwas ganz Ungewöhnliches an sich, daß plötzlich ganze Satzgruppen in seiner Erinnerung vor ihm standen, und es verband sich mit seiner Schwester, die vor ihm stand, als sei es ihre Nähe, die diese Veränderung in ihm hervorrufe. «Hast du die Kraft besessen, unabhängig von jeder dich zwingenden Notwendigkeit dich aus dir selbst für eine Schlechtigkeit zu bestimmen, so mußt du auch einsehen, daß du schuldhaft gehandelt hast!» fuhr er fort und behauptete: «Er muß auch zu dir so gesprochen haben!»

«Vielleicht nicht ganz so» änderte es Agathe ab. «Mir hat er gewöhnlich <in meiner inneren Anlage bedingte Entschuldigungen> zugebilligt. Er hat mir immer vorgehalten, daß ein Wollen ein mit dem Denken verknüpftes, kein instinktmäßiges Handeln sei. »

«Es ist der Wille, » zitierte Ulrich «der sich bei fortschreitender Verstandes-und Vernunftentwicklung das Begehren, beziehungsweise den Trieb, in Gestalt der Überlegung und des darauf folgenden Entschlusses unterwerfen muß!»

«Ist das wahr?» fragte seine Schwester.

«Warum fragst du?»

«Wahrscheinlich weil ich dumm bin. »

«Du bist nicht dumm!»

«Ich habe immer schwer gelernt und nie recht verstanden. »

«Das beweist wenig. »

«Dann bin ich eben wahrscheinlich schlecht, weil ich das, was ich verstehe, nicht in mich aufnehme. »

Sie standen an die Pfosten der Türe gelehnt, die ins Nebenzimmer führte und bei Professor Schwungs Abgang offen geblieben war, einander nahe gegenüber; Tages-und Kerzenlicht spielte auf ihren Gesichtern, und ihre Stimmen verschränkten sich in einander wie bei einem Responsorium. Ulrich betete weiter seine Sätze vor, und Agathes Lippen folgten gelassen. Die alte Qual der Ermahnungen, die darin bestand, daß in 382

das zarte, verständnislose Gehirn der Kindheit eine harte und ihm fremde Ordnung gepreßt wurde, bereitete ihnen Vergnügen, und sie spielten damit.

Und mit einemmal rief, ohne durch das Vorangegangene unmittelbar dazu aufgefordert zu sein, Agathe aus:

«Denk dir das nun einfach auf alles ausgedehnt, so ist es Gottlieb Hagauer!» Und sie begann ihren Mann wie ein Schulkind nachzuäffen: «Weißt du wirklich nicht, daß das Lamium album die weiße Taubnessel ist?» «Und wie sollten wir anders vorwärts kommen, wenn nicht den gleichen mühevollen Gang der Induktion, der das Menschengeschlecht in vieltausendjähriger, mühevoller Arbeit, voll von Irrtümern, schrittweise zum heutigen Stande der Erkenntnis gebracht hat, an der Hand eines treuen Führers zurücklegend?!» «Kannst du denn nicht einsehen, liebe Agathe, daß das Denken auch eine moralische Aufgabe ist? Sich konzentrieren bedeutet eine stete Überwindung der eigenen Bequemlichkeit. » «Und geistige Zucht bedeutet jene Disziplinierung des Geistes, vermöge welcher der Mensch immer mehr in den Stand gesetzt wird, längere Gedankenreihen unter beständigem Zweifel gegen die eigenen Einfalle vernunftgemäß, das heißt durch einwandfreie Syllogismen, durch Schlußketten und Kettenschlüsse, durch Induktionen oder Schlüsse aus dem Zeichen, durchzuarbeiten und das schließlich gewonnene Urteil so lange der Verifikation zu unterziehn, bis alle Gedanken aneinander angepaßt sind!» — Ulrich staunte über diese Gedächtnisleistung seiner Schwester. Es schien Agathe unbändiges Vergnügen zu bereiten, diese Schulmeistersätze, die sie sich, Gott weiß wo, vielleicht aus einem Buch, angeeignet haben mochte, von sich zu geben und tadellos aufzusagen. Sie behauptete, so spräche Hagauer.

Ulrich glaubte es nicht. «Wie könntest du dir solche langen, verwickelten Sätze denn bloß aus Gesprächen gemerkt haben!?»

«Sie haben sich mir eingeprägt» erwiderte Agathe. «Ich bin so. »

«Weißt du denn überhaupt, » fragte Ulrich erstaunt «was ein Schluß aus dem Zeichen oder eine Verifikation ist?>.

«Keine Ahnung!» räumte Agathe lachend ein. «Vielleicht hat er es auch bloß irgendwo gelesen. Aber er spricht so. Und ich habe es nach seinem Mund auswendig gelernt wie eine Reihe sinnloser Worte. Ich glaube, aus Zorn, eben weil er so redet. Du bist anders als ich: in mir bleiben die Dinge liegen, weil ich nichts mit ihnen anzufangen weiß, - das ist mein gutes Gedächtnis. Ich habe, weil ich dumm bin, ein schrecklich gutes Gedächtnis!» Sie tat, als läge darin eine traurige Wahrheit, die sie abschütteln müsse, um in ihrem Übermut fortzufahren: «Das geht bei Hagauer ja selbst beim Tennis so vor sich: <Wenn ich beim Erlernen des Tennisspiels zum erstenmal meinem Schläger absichtlich eine bestimmte Stellung gebe, um dem Ball, von dessen Flug ich bis dahin befriedigt war, nunmehr eine bestimmte Richtung zu verleihen, greife ich in den Verlauf der Erscheinung ein: ich experimentiere !>»

«Spielt er gut Tennis?»

«Ich schlage ihn sechs zu null. »

Sie lachten.

«Weißt du, » sagte Ulrich «daß Hagauer mit alledem, was du ihn sagen läßt, der Sache nach ganz recht hat?!

Es ist nur komisch. »

«Das kann schon sein, daß er recht hat, » erwiderte Agathe «ich verstehe es ja nicht. Aber einmal, weißt du, hat ein Bub aus seiner Schule eine Stelle aus Shakespeare wörtlich so übersetzt:

<Feige sterben oftmal vor ihrem Tod;

Die Tapfern kosten niemals vom Tode außer einmal.

Von all den Wundern, die ich noch habe gehört,

Es scheint für mich sehr seltsam, daß Menschen sollten

fürchten, Sehend, daß Tod, ein notwendiges Ende,

Wird kommen, wann er will kommen. >

Und er verbesserte das, ich habe das Heft selbst gesehn: <Der Feige stirbt schon vielmal, eh’ er stirbt!

Die Tapfern kosten einmal nur den Tod.

Von allen Wundern, die ich je gehört,

Scheint mir das größte… > Und so weiter nach der Ratsche der Schlegel-Übersetzung!

Und noch so eine Stelle weiß ich! Im Pindar, glaube ich, heißt es: <Das Gesetz der Natur, der König aller Sterblichen und Unsterblichen, herrscht, das Gewaltsamste billigend, mit allmächtiger Hand!> Und er gab dem die <letzte Feile>: <Das Gesetz der Natur, das über alle Sterblichen und Unsterblichen herrscht, waltet 383

mit allmächtiger Hand, auch das Gewaltsame billigend. >»

«Und es war doch schön, » - fragte sie - «daß der Kleine in seiner Schule, mit dem er nicht zufrieden war, die Worte so wörtlich und schaurig übersetzt hat, wie er sie da liegen fand wie einen Haufen auseinandergefallener Steine?» Und sie wiederholte: «Feige sterben oftmal vor ihrem Tod - Die Tapfern niemals kosten vom Tode außer einmal - Von all den Wundern, die ich noch habe gehört - es scheint für mich sehr seltsam, daß Menschen sollten fürchten - sehend, daß Tod, ein notwendiges Ende - wird kommen, wann er will kommen… !!!»

Sie hatte die Hand um den Türpfosten geschlungen wie um den Stamm eines Baums und rief diese rohbehauenen Verse so wild und schön heraus, wie sie waren, ohne sich davon stören zu lassen, daß ein eingeschrumpfter Unglücklicher unter dem Blick ihrer, den Stolz der Jugend widerspiegelnden Augen lag.

Ulrich starrte mit gerunzelter Stirn seine Schwester an. «Ein Mensch, der ein altes Gedicht nicht glättet, sondern in seiner Verwitterung halb zerstörten Sinnes beläßt, ist der gleiche wie jener, der einer alten Statue, der die Nase fehlt, niemals eine aus neuem Marmor aufsetzen wird» dachte er. «Das könnte man Stilgefühl nennen, aber das ist es nicht. Und auch der Mensch ist es nicht, dessen Einbildung so lebhaft ist, daß ihn das Fehlende nicht stört. Sondern es ist eher der Mensch, der auf Vollständigkeit überhaupt keinen Wert legt und darum auch von seinen Empfindungen nicht verlangen wird, daß sie <ganz> seien. Sie wird geküßt haben, » schloß er daraus mit einer plötzlichen Wendung «ohne gleich am ganzen Leib einzustürzen!» Es schien ihm in diesem Augenblick, daß er von seiner Schwester nichts zu kennen brauchte als diese leidenschaftlichen Verse, um zu wissen, daß sie nie «ganz in etwas darin», daß auch sie ein Mensch des

«leidenschaftlichen Stückwerks» sei so wie er. Er vergaß darüber sogar die andere, nach Maß und Beherrschung verlangende Hälfte seines Wesens. Er hätte seiner Schwester jetzt mit Sicherheit sagen können, daß keine ihrer Handlungen zu ihrer nächsten Umgebung passe, sondern alle von einer höchst fragwürdigen weitesten Umgebung abhängig seien, ja geradezu von einer, die nirgends anfängt und nirgends begrenzt ist, und die widerspruchsvollen Eindrücke des ersten Abends würden damit eine günstige Erklärung gefunden haben. Aber die Zurückhaltung, an die er sich gewöhnt hatte, war doch noch stärker, und er wartete neugierig, ja sogar nicht ohne Zweifel ab, wie Agathe von dem hohen Ast herunterkommen werde, auf den sie sich begeben hatte. Noch stand sie ja, den Arm am Türpfosten hochgehoben, da, und ein kleiner Augenblick zuviel mochte schon den ganzen Vorgang verderben. Er verabscheute die Frauen, die sich so betragen, als ob sie von einem Maler oder Regisseur in die Welt gesetzt worden wären, oder die nach einer Erregung wie der Agathes in ein kunstvolles Piano ausklingen. «Vielleicht könnte sie sich»

überlegte er «von ihrem Gipfel der Begeisterung plötzlich mit dem etwas blöden, nachtwandlerischen Ausdruck herabgleiten lassen, wie ihn ein aufgewachtes Medium hat; es wird ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, und auch das wird etwas peinlich sein!» Aber Agathe schien das selbst zu wissen oder hatte in dem Blick ihres Bruders die auf sie lauernde Gefahr erraten: sie sprang lustig aus ihrer Höhe hinab auf beide Füße und streckte Ulrich die Zunge heraus!

Dann aber wurde sie ernst und schweigsam, sagte kein Wort mehr und ging die Orden holen. So machten sich die Geschwister also daran, dem letzten Willen ihres Vaters entgegen zu handeln.

Agathe führte es aus. An Ulrich zeigte sich eine Scheu, den hilflos daliegenden Alten zu berühren, aber Agathe hatte eine Art, Unrecht zu tun, die den Gedanken an Unrecht nicht aufkommen ließ. Die Bewegungen ihres Blicks und ihrer Hände ähnelten dabei denen einer Frau, die einen Kranken versorgt, und zuweilen hatten sie auch das urwüchsig Rührende junger Tiere, die in ihrem Spiel einhalten, um sich zu vergewissern, ob ihnen der Herr zusehe. Dieser nahm die abgelösten Orden in Empfang und reichte die Ersatzstücke. Er fühlte sich an den Dieb erinnert, dem das Herz aus der Brust springt. Und wenn er dabei den Eindruck hatte, daß die Sterne und Kreuze in der Hand seiner Schwester lebhafter leuchteten als in der seinen, ja geradeswegs zu Zauberdingen würden, so konnte das in dem schwarzgrünen, von vielen Reflexen großer Blattpflanzen erfüllten Zimmer wirklich so sein, es mochte aber auch davon herrühren, daß er den zögernd führenden Willen seiner Schwester spürte, der den seinen jugendlich ergriff; und da keine Absicht darin zu erkennen war, entstand in diesen Augenblicken einer mit nichts vermischten Berührung wieder ein beinahe ausdehnungsloses und darum ganz unbeschaffen starkes Gefühl von ihrer beider Dasein.

Da unterbrach sich Agathe und war fertig. Nur irgend etwas war noch nicht geschehen, und nach einer kleinen Weile des Nachdenkens sagte sie lächelnd: «Wollen wir nicht jeder etwas Schönes auf einen Zettel schreiben und ihm das in die Tasche stecken?» Diesmal wußte Ulrich gleich, was sie meinte, denn solcher 384

gemeinsamen Erinnerungen gab es nicht viele, und es fiel ihm ein, wie sie in einem bestimmten Alter eine große Vorliebe für traurige Verse und Geschichten besessen hatten, in denen jemand starb und von allen vergessen wurde. Es war vielleicht die Verlassenheit ihrer Kindheit, die das bewirkte, und oft dachten sie sich auch gemeinsam eine Geschichte aus; Agathe aber neigte schon damals dazu, solche Geschichten auch auszuführen, während Ulrich bloß in den männlicheren Unternehmungen führte, die verwegen und herzlos waren. Darum ging der Beschluß, den sie einmal faßten, daß sich jeder einen Fingernagel abschneiden solle, um ihn im Garten zu begraben, von Agathe aus, und sie tat auch noch von ihrem blonden Haar ein kleines Bündel zu den Nägeln. Ulrich erklärte stolz, daß in hundert Jahren vielleicht jemand daraufstoßen und sich 54

verwundert fragen werde, wer das wohl gewesen sein möge, und er war dabei von der Absicht beeinflußt, auf die Nachwelt zu kommen; der kleinen Agathe dagegen kam es mehr auf das Vergraben als solches an, sie hatte das Gefühl, einen Teil von sich zu verstecken und dauernd der Aufsicht einer Welt zu entziehen, von deren pädagogischen Forderungen sie sich eingeschüchtert fühlte, ohne viel von ihnen zu halten. Und weil damals gerade das kleine Wohnhaus für die Dienstleute am Rand des Gartens erbaut wurde, verabredeten sie, etwas Ungewöhnliches zu tun. Sie wollten wundervolle Verse auf zwei Zettel schreiben und hinzusetzen, wer sie seien, und das sollte in das Haus eingemauert werden: aber als sie die Verse zu schreiben begannen, die so besonders schön sein sollten, fielen ihnen keine ein, einen Tag um den ändern, und die Mauern wuchsen schon aus der Baugrube hinaus. Da schrieb Agathe schließlich, als die Stunde drängte, einen Satz aus dem Rechenbuch hin, und Ulrich schrieb: «Ich bin -», und dann folgte sein Name.

Trotzdem bekamen sie furchtbares Herzklopfen, als sie sich im Garten an die zwei Maurer heranschlichen, die dort bauten, und Agathe warf einfach ihren Zettel in die Grube, worin sie standen, und lief davon. Aber Ulrich, der sich als der Größere und als Mann natürlich noch mehr davor fürchtete, daß ihn die Maurer anhalten und erstaunt fragen könnten, was er wolle, vermochte vor Erregung überhaupt weder Arm noch Bein zu rühren, so daß Agathe, mutiger geworden, weil ihr nichts geschehen war, schließlich zurückkehrte und auch seinen Zettel an sich nahm. Sie ging jetzt als arglose Spaziergängerin damit vor, besichtigte am äußersten Ende einer soeben gelegten Reihe einen Ziegel, lüpfte ihn und hatte Ulrichs Namen schon in die Mauer geschoben, ehe sie einer wegweisen konnte, während ihr Ulrich selbst zögernd folgte und im Augenblick der Tat fühlte, wie sich die Beklemmung, die ihn schrecklich einzwängte, in ein Rad mit scharfen Messern verwandelte, die sich so rasch in seiner Brust drehten, daß im nächsten Augenblick eine spritzende Sonne daraus wurde, wie man sie beim Feuerwerk abbrennt. — Daran hatte Agathe also angeknüpft, und Ulrich gab die längste Weile keine Antwort und lächelte nur abwehrend, denn ein solches Spiel mit dem Toten zu wiederholen, kam ihm doch unerlaubt vor.

Da hatte sich Agathe aber schon gebückt und ein seidenes, breites Strumpfband, das sie zur Entlastung des Gürtels trug, vom Bein gestreift, hob die Prunkdecke und schob es dem Vater in die Tasche.

Ulrich? Er traute zuerst seinen Augen nicht bei dieser wieder ins Leben zurückgekehrten Erinnerung. Dann wäre er beinahe hinzu gesprungen und hätte es verhindert; einfach weil es so ganz gegen alle Ordnung war.

Dann aber fing er in den Augen seiner Schwester einen Blitz von reiner Taufrische des frühen Morgens auf, in die noch keine Trübe des Tagwerks gefallen ist, und das hielt ihn zurück. «Was treibst du da?!» sagte er, leise abmahnend. Er wußte nicht, ob sie den Toten versöhnen wolle, weil ihm Unrecht geschehen sei, oder ob sie ihm etwas Gutes mitgeben wolle, weil er selbst so viel Unrecht getan habe: er hätte fragen können, aber die barbarische Vorstellung, dem frostigen Toten ein Strumpfband mitzugeben, das von dem Bein seiner Tochter warm war, schloß ihm von innen die Kehle und richtete in seinem Gehirn allerhand Unordnung an.

6

Der alte Herr bekommt endlich Ruhe

Die kurze Zeit, die noch bis zum Begräbnis zur Verfügung stand, war von unzähligen ungewohnten kleinen Aufgaben ausgefüllt worden und hatte sich rasch entwickelt, und schließlich war aus den Besuchern, deren Kommen wie ein schwarzer Faden durch alle Stunden lief, in der letzten halben Stunde vor der Abfahrt des Toten ein schwarzes Fest geworden. Die Begräbnisgeschäftsleute hatten noch mehr als vorher gehämmert 385

und gescharrt - mit dem gleichen Ernst wie ein Chirurg, dem man sein Leben anvertraut hat und fortab nichts mehr dreinreden darf - und hatten durch die unberührte Alltäglichkeit der übrigen Hausteile einen Steg der feierlichen Gefühle gelegt, der vom Tor über die Treppe in das Aufbahrungszimmer führte. Die Blumen und Blattpflanzen, schwarzen Tuch-und Kreppbehänge, silbernen Leuchter und zitternden kleinen Goldzungen der Flammen, welche die Besucher empfingen, kannten ihre Aufgabe besser als Ulrich und Agathe, die im Namen des Hauses jeden begrüßen mußten, der dem Toten die letzte Ehre zu erweisen kam, und die von den wenigsten wußten, wer sie seien, wenn sie nicht der alte Diener ihres Vaters in unauffälliger Weise auf besonders hochstehende Gäste aufmerksam machte. Und alle, die erschienen, glitten an sie heran, glitten ab und warfen irgendwo im Raum einzeln oder in kleinen Gruppen Anker, regungslos die Geschwister beobachtend. Steif wuchs diesen die Miene ernsten Ansichhaltens über das Gesicht, bis endlich der Schirrmeister oder Inhaber der Leichenbeför-derungsunternehmung - jener Mann, der Ulrich mit seinen Vordrucken aufgewartet hatte und in dieser letzten halben Stunde wenigstens zwanzigmal die Treppe hinab-und hinangelaufen war - seitlich an Ulrich heransprengte und ihm mit behutsam zur Schau getragener Wichtigkeit wie ein Adjutant bei der Parade seinem General die Meldung überbrachte, daß alles bereit sei.

Weil der Zug feierlich durch die Stadt geführt werden sollte, wurden erst später die Wagen bestiegen, und Ulrich mußte als Erster den übrigen voranschreiten, zur Seite des kaiserlich und königlichen Statthalters, der zu Ehren des letzten Schlafes eines Herrenhausmitgliedes persönlich erschienen war, und auf der anderen Seite Ulrichs ging ein ebenso hoher Herr, Ältester einer dreigliedrigen Abordnung des Herrenhauses; dahinter kamen die zwei anderen Standesherrn, dann Rektor und Senat der Universität, und erst hinter diesen, aber vor dem unabsehbaren Strom der Zylinder mannigfaltiger, an Würde langsam von vorn nach hinten verlierender öffentlicher Personen, schritt Agathe, von schwarzen Frauen eingesäumt und den Punkt bezeichnend, wo zwischen den Spitzen der Behörden das zugemessene private Leid seinen Platz hatte; denn die regellose Teilnahme der «nichts als mit-Fühlenden» begann erst hinter den in amtlicher Eigenschaft Erschienenen, und es war sogar möglich, daß sie aus nichts als dem alten Dienerehepaar bestand, das einsam hinter dem Zuge dahinschritt. So war dieser vornehmlich ein Zug von Männern, und zu seiten Agathens schritt nicht Ulrich, sondern ihr Ehemann Professor Hagauer, dessen rotapfeliges Gesicht mit der borstigen Raupe über dem Mund ihr inzwischen fremd geworden war und vor dem dichten, schwarzen Schleier, der ihr gestattete, ihn verborgen zu beobachten, dunkelblau aussah. Ulrich selbst, der in den vielen vorangegangenen Stunden immer mit seiner Schwester beisammen gewesen war, hatte mit einemmal das Gefühl, daß die uralte Begräbnisordnung, die noch aus der Gründungszeit der Universität stammte, sie ihm entrissen habe, und entbehrte sie, ohne daß er sich auch nur nach ihr umwenden durfte; er dachte sich einen Scherz aus, mit dem er sie begrüßen werde, wenn sie sich wiedersähen, aber seine Gedanken wurden durch den Statthalter ihrer Freiheit beraubt, der schweigend und herrscherhaft an seiner Seite schritt, aber doch zeitweilig ein leises Wort an ihn richtete, das er auffangen mußte, wie ihm denn überhaupt von allen diesen Exzellenzen bis zu den Magnifizenzen und Spektabilitäten Aufmerksamkeit erwiesen worden war, denn er galt als der Schatten des Grafen Leinsdorf und das Mißtrauen, das man dessen vaterländischer Aktion allmählich überall entgegenbrachte, verlieh ihm Ansehen.

. An den Straßenrändern und hinter den Fenstern hatten sich überdies Neugierige gestaut, und obgleich er wußte, daß in einer Stunde, einfach wie bei einer Theateraufführung, alles vorbei sein werde, fühlte er doch an diesem Tag die Vorgänge besonders lebhaft mit, und die allgemeine Teilnahme an seinem. Schicksal lag ihm wie ein schwer verbrämter Mantel auf den Schultern. Zum erstenmal empfand er die gerade Haltung der Überlieferung. Die dem Zug wie eine Welle voranlaufende Ergriffenheit der Menschenmasse an den Rändern, welche plauderte, verstummte und wieder aufatmete, der Zauber der Geistlichkeit, das dumpfe aufs Holz Poltern der Erdschollen, dessen Nahen man ahnte, das gestaute Schweigen des Zugs, das griff an die Wirbel des Leibs wie in ein urhaftes Musikinstrument, und Ulrich empfand mit Staunen ein unbeschreibliches Wiedertönen in sich, in dessen Schwingung sich sein Körper aufrichtete, als würde er von der Getragenheit, die ihn umgab, ganz wirklich getragen. Und wie er nun einmal an diesem Tag den anderen näher war, stellte er sich gleich dazu vor, wie anders das noch wäre, wenn er in diesem Augenblick, dem ursprünglichen Sinn des halbvergessen von der Gegenwart übernommenen Gepränges gemäß, wirklich als der Erbe einer großen Macht einherschritte. Das Traurige verschwand bei diesem Gedanken, und der Tod wurde aus einer schrecklichen Privatangelegenheit zu einem Übergang, der sich in öffentlicher 386

Feier vollzog; nicht mehr klaffte jenes grauenvoll angestarrte Loch, das jeder Mensch, an dessen Dasein man gewöhnt ist, in den ersten Tagen nach seinem Verschwinden hinterläßt, sondern schon schritt der Nachfolger an Stelle des Verstorbenen, die Menge atmete ihm zu, das Totenfest war zugleich eine Mannbarkeitsfeier für den, der nun das Schwert übernahm und zum erstenmal ohne Vordermann und allein seinem eigenen Ende zuschritt. «Ich hätte» dachte Ulrich unwillkürlich «meinem Vater die Augen schließen müssen! Nicht seinet-oder meinetwegen, sondern - » er wußte diesen Gedanken nicht zu Ende zu führen; aber daß weder er seinen Vater gemocht hatte, noch dieser ihn, kam ihm angesichts dieser Ordnung als eine kleinliche Überschätzung der persönlichen Wichtigkeit vor, und überhaupt schmeckte vor dem Tode das persönliche Denken schal nach Nichtssagendheit, während alles, was an dem Augenblick bedeutend war, von dem Riesenleib auszugehen schien, den der langsam durch die Menschengasse dahinwandernde Zug bildete, mochte er auch von Müßiggang, Neugierde und gedankenlosem Mittun durchsetzt sein.

Jedoch, die Musik spielte weiter, es war ein leichter, klarer, herrlicher Tag, und Ulrichs Gefühle schwankten hin und her wie der Himmel, der in einer Prozession über dem Allerheiligsten getragen wird.

Zuweilen sah Ulrich in die Spiegelscheiben des vor ihm fahrenden Leichenwagens und sah seinen Kopf mit Hut und Schultern darin, und von Zeit zu Zeit bemerkte er am Boden des Gefährts neben dem wappengeschmückten Sarg wieder die kleinen alten Wachsschuppen von früheren Begräbnissen, die man nicht ordentlich weggeputzt hatte, und sein Vater tat ihm dann einfach und ohne alle Gedanken leid wie ein Hund, der auf der Straße überfahren worden ist. Sein Blick wurde dann feucht, und wenn er über das viele Schwarz hinweg zu den Zuschauern an den Straßenrändern kam, sahen sie aus wie benetzte bunte Blumen, und die Vorstellung, daß er, Ulrich, alles das jetzt sehe und nicht der, der alle Tage hier gelebt hatte und noch dazu das Feierliche viel mehr liebte als er, war so sonderbar, daß es ihm schier unmöglich vorkam, daß sein Vater nicht dabei sein durfte, wie er aus einer Welt schied, die er im allgemeinen gut befunden hatte. Es rührte innig, aber es entging Ulrich darüber nicht, daß der Agent oder Unternehmer der Leichenbestattung, der den katholischen Zug zum Friedhof führte und in Ordnung hielt, ein großer, kräftiger Jude von einigen dreißig Jahren war: er wurde von einem langen blonden Schnurrbart geziert, trug Papiere in der Tasche wie ein Reisebegleiter, eilte vor und zurück und fingerte da am Riemenwerk eines Pferdes etwas zurecht oder flüsterte dort den Musikanten etwas zu. Das erinnerte Ulrich des weiteren daran, daß der Leichnam seines Vaters am letzten Tag nicht im Haus gewesen und erst kurz vor dem Begräbnis dahin zurückgebracht worden war, gemäß einer vom freien Geist der Forschung eingegebenen letztwilligen Bestimmung, die ihn der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatte, und es war zweifellos anzunehmen, daß man den alten Herrn nach diesem anatomischen Eingriff nur flüchtig wieder zusammengenäht haben werde; da rollte also hinter den Glasscheiben, die Ulrichs Bild zurückwarfen, ein unordentlich vernähtes Ding als Mittelpunkt der großen, schönen, feierlichen Einbildung mit. «Ohne oder mit seinen Orden?!» fragte sich Ulrich betreten; er hatte nicht mehr daran gedacht und wußte nicht, ob man seinen Vater in der Anatomie wieder angezogen habe, ehe der geschlossene Sarg ins Haus zurückkam. Auch über das Schicksal von Agathes Strumpfband bestand Unsicherheit; man konnte es gefunden haben, und er vermochte sich die Witze der Studenten auszumalen. Alles das war überaus peinlich, und so lösten die Einwände der Gegenwart sein Empfinden wieder in viele Einzelheiten auf, nachdem es sich einen Augenblick lang fast zu der glatten Schale eines lebenden Traums gerundet hatte.

Er fühlte nur noch das Absurde, wirr sich Wiegende der menschlichen Ordnung und seiner selbst. «Ich bin nun ganz allein in der Welt -» dachte er «ein Ankertau ist zerrissen - ich steige auf!» In diese Erinnerung an den Eindruck, den er als ersten bei der Botschaft vom Tode seines Vaters empfangen hatte, kleidete sich jetzt wieder sein Gefühl, indes er zwischen den Menschenmauern weiterschritt.

7

Ein Brief von Ciarisse trifft ein

Ulrich hatte keinem seiner Bekannten seine Adresse hinterlassen, aber Ciarisse wußte sie von Walter, dem sie so vertraut war wie seine eigene Kinderzeit.

Sie schrieb:

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«Mein Liebling — mein Feigling — mein Ling!

Weißt du, was ein Ling ist? Ich kann es nicht herausbekommen. Walter ist vielleicht ein Schwächling. (Die Silbe «ling» war überall dick unterstrichen. )

Glaubst du, daß ich betrunken zu dir gekommen bin?! Ich kann mich nicht betrinken! (Männer betrinken sich eher als ich. Eine Merkwürdigkeit. )

Aber ich weiß nicht, was ich zu dir gesprochen habe; ich kann mich nicht erinnern. Ich fürchte, daß du dir einbildest, ich habe Dinge gesagt, die ich nicht gesagt habe. Ich habe sie nicht gesagt.

Aber das soll ein Brief werden - gleich! Vorher: du kennst, wie sich die Träume öffnen. Du weißt, wenn du träumst, manchmal: da warst du schon, mit dem Menschen hast du

Schon einmal gesprochen oder - - Es ist, als ob du dein

Gedächtnis wiederfändest.

Ich habe im Wachen, daß ich gewacht habe!

(Ich habe Schlaffreunde. )

Weißt du überhaupt noch, wer Moosbrugger ist? Ich muß dir etwas erzählen:

Auf einmal war sein Name wieder da. Die drei musikalischen Silben.

Aber Musik ist Schwindel. Ich meine, wenn sie allein ist. Musik allein ist Ästhetentum oder so etwas; Lebensschwäche. Wenn sich Musik aber mit dem Gesicht verbindet, dann schwanken die Mauern, und aus dem Grab der Gegenwart steht das Leben der Kommenden auf. Ich habe die drei musikalischen Silben nicht bloß gehört, ich habe sie auch gesehen. Sie sind in der Erinnerung aufgetaucht. Auf einmal weißt du: da, wo sie auftauchen, ist noch etwas anderes! Ich habe ja einmal deinem Grafen einen Brief über Moosbrugger geschrieben: wie man so etwas vergessen kann! Ich hör-sehe nun eine Welt, in der die Dinge stehen und die Menschen gehen, so wie du sie immer kennst, aber tönend-sichtbar. Das kann ich nicht deutlich beschreiben, denn es sind davon erst drei Silben aufgetaucht. Verstehst du das? Es ist vielleicht noch zu früh, davon zu reden.

Ich habe zu Walter gesagt: <Ich will Moosbrugger kennenlernen!)

Walter hat gefragt: <Wer ist denn Moosbrugger?>

Ich habe geantwortet: <Ulos Freund, der Mörder. »

Wir haben Zeitung gelesen; es war morgens, und Walter sollte schon ins Büro gehn. Erinnerst du dich, daß wir einmal alle drei Zeitung gelesen haben? (Du hast ein schwaches Gedächtnis, du wirst dich nicht erinnern!) Ich hatte also den Teil der Zeitung, den mir Walter gegeben hatte, auseinandergefaltet — ein Arm links, ein Arm rechts: plötzlich fühle ich hartes Holz, bin ans Kreuz genagelt. Ich frage Walter: <Ist nicht erst gestern etwas von einem Eisenbahnunglück bei Budweis in der Zeitung gestanden?>

<Ja> antwortete er. <Warum fragst du? Ein kleines Unglück, ein Toter oder zwei. »

Nach einer Weile sagte ich: <Weil in Amerika auch ein Unglück geschehen ist. Wo liegt Pennsylvanien?> Er weiß es nicht. <In Amerika» sagt er.

Ich sage: <Nie lassen die Führer ihre Lokomotiven mit Absicht zusammenstoßen!»

Er sieht mich an. Es war zu erkennen, daß er mich nicht versteht. <Natürlich nicht» meint er.

Ich frage, wann Siegmund zu uns kommt. Er weiß es nicht sicher.

Und nun siehst du: Natürlich lassen die Maschinenführer nicht ihre Züge aus böser Absicht zusammenstoßen; aber warum tun sie es sonst? Ich werde es dir sagen: In dem ungeheuren Netz von Schienen, Weichen und Signalen, das sich um den ganzen Erdball zieht, verlieren wir alle die Kraft des Gewissens. Denn wenn wir die Stärke hätten, uns noch einmal zu prüfen und noch einmal unsere Aufgabe zu beachten, so würden wir immer das Nötige tun und das Unglück vermeiden. Das Unglück ist unser Stehenbleiben beim vorletzten Schritt!

Natürlich darf man nicht erwarten, daß das Walter gleich klar werde. Ich glaube, daß ich diese ungeheure Kraft des Gewissens erreichen kann, und ich habe die Augen schließen müssen, damit Walter nicht den Blitz darin bemerkt.

Aus allen diesen Gründen halte ich es für meine Pflicht, Moosbrugger kennen zu lernen.

Du weißt, mein Bruder Siegmund ist Arzt. Er wird mir helfen.

Ich habe auf ihn gewartet. Am Sonntag ist er zu uns gekommen. Wenn er jemand vorgestellt wird, sagt er:

<Aber ich bin weder —, noch musikalisch. » So ist sein Witz. Denn weil er Siegmund heißt, will er weder für einen Juden noch für musikalisch gehalten werden. Er ist im Wagner-Rausch gezeugt worden. Es ist 388

unmöglich, ihn zu einer vernünftigen Antwort zu bewegen. Solange ich auf ihn einredete, hat er nur Unsinn gebrummt. Er hat mit einem Stein nach einem Vogel geworfen und mit dem Stock durch den Schnee gestochert. Auch wollte er einen Weg ausschaufeln; er kommt oft zu uns arbeiten, wie er sagt, weil er nicht gerne zu Hause ist bei seiner Frau und den Kindern. Es ist zu verwundern, daß du ihn nie getroffen hast.

<Ihr habt die Fleurs du mal und einen Gemüsegarten!» sagt er. Ich habe ihn an den Ohren gezogen und in die Rippen gepufft, ohne daß es geholfen hat. Dann sind wir ins Haus zu Walter, der natürlich am Klavier gesessen ist, und Siegmund hat den Rock unter den Arm geklemmt und die Hände hoch hinauf voll Schmutz gehabt.

<Siegmund, > habe ich zu ihm vor Walter gesagt <wann verstehst du ein Musikstück? !> Er hat gegrinst und zur Antwort gegeben: <Gar niemals. > <Wenn du es selbst innerlich machst> habe ich gesagt. <Wann verstehst du einen Menschen? Du mußt ihn mitmachen. > Mitmachen! Das ist ein großes Geheimnis, Ulrich! Du mußt sein wie er: aber nicht du in ihn hinein, sondern er in dich hinaus! Wir erlösen hinaus: Das ist die starke Form! Wir lassen uns auf die Handlungen der Menschen ein, aber wir füllen sie aus und steigen darüber

hinaus.

Entschuldige, daß ich so viel davon schreibe. Aber die Züge stoßen zusammen, weil das Gewissen nicht den letzten Schritt tut. Die Welten tauchen nicht auf, wenn man sie nicht zieht. Ein andermal mehr davon.

Der geniale Mensch hat die Pflicht anzugreifen! Er hat die unheimliche Kraft dazu! Aber Siegmund, der Feigling, hat nach der Uhr gesehn und ans Abendbrot erinnert, weil er nach Hause müsse. Weißt du, Siegmund hält sich immer in der Mitte zwischen der Blasiertheit eines erfahrenen Arztes, der nicht sehr günstig von dem Können seines Berufs denkt, und der Blasiertheit des zeitgemäßen Menschen, der jenseits der geistigen Überlieferung bereits wieder zur Hygiene der Einfachheit und der Gartenarbeit gekommen ist.

Aber Walter hat ausgerufen: <Um Gottes willen nur, warum redet ihr solche Sachen?! Was wollt ihr denn eigentlich von diesem Moosbrugger!> Und das hat geholfen.

Denn nun sagte Siegmund: <Entweder ist er geisteskrank oder ein Verbrecher, das ist ja richtig. Aber wenn sich Ciarisse nun einmal einbildet, daß sie ihn bessern kann? Ich bin Arzt und muß dem Spitalsgeistlichen auch erlauben, daß er sich das einbildet! Erlösen sagt sie? Nun, warum soll sie ihn dann nicht wenigstens sehn?!>

Er hat sich die Hosen abgebürstet, Ruhe posiert und die Hände gewaschen; beim Abendbrot haben wir dann alles

verabredet.

Wir sind auch schon bei Dr. Friedenthal gewesen; das ist der Assistent, den er kennt. Siegmund hat gerade heraus gesagt, daß er die Verantwortung übernehme, mich unter irgendeinem falschen Titel einzuführen, ich sei Schriftstellerin und möchte den Mann sehen.

Aber das war ein Fehler, denn so offen gefragt, konnte der andere nur nein sagen. <Wenn Sie die Selma Lagerlöf wären, ich würde entzückt von Ihrem Besuch sein, was ich natürlich auch so bin, aber hier werden leider nur wissenschaftliche Interessen anerkannt !>

Es war ganz hübsch, für eine Schriftstellerin zu gelten. Ich habe ihn fest angeschaut und gesagt: <Ich bin in diesem Fall mehr als die Lagerlöf, weil ich es nicht zu Studienzwecken will!»

Er hat mich angesehn und dann gesagt: <Das einzige wäre, wenn Sie mit einer Empfehlung Ihrer Gesandtschaft an den Chef der Klinik herkämen.> - Er hat mich für eine ausländische Schriftstellerin gehalten und nicht verstanden, daß ich Siegmunds Schwester bin.

Wir haben uns schließlich so geeinigt, daß ich nicht den kranken, sondern den gefangenen Moosbrugger sehen werde. Siegmund beschafft mir die Empfehlung eines Wohlfahrtvereins und eine Erlaubnis des Landesgerichts. Nachher hat Siegmund mir erzählt, daß Dr. Friedenthal Psychiatrie für eine halb künstlerische Wissenschaft hält, und hat ihn einen Dämonenzirkus-Direktor genannt. Aber mir würde das gefallen.

Das Schönste war, daß die Klinik in einem alten Kloster untergebracht ist. Wir haben am Gang warten müssen, und der Hörsaal ist in einer Kapelle. Er hat große Kirchenfenster, und ich habe über den Hof hineinsehen können. Die Kranken haben weiße Kleider an und sitzen beim Professor am Katheder. Und der Professor neigt sich ganz freundschaftlich über ihren Sessel. Ich habe mir gedacht: jetzt wird man vielleicht Moosbrugger bringen. Ich hatte das Gefühl, daß ich dann durch das hohe Glasfenster in den Saal fliegen 389

will. Du wirst sagen, ich kann nicht fliegen: also durch das Fenster gesprungen? Aber gesprungen wäre ich ganz gewiß nicht, denn das fühlte ich nicht.

Ich hoffe, du kommst bald zurück. Nie kann man die Dinge ausdrücken. Am allerwenigsten brieflich. »

Darunter stand mächtig unterstrichen: «Clarisse».

8

Familie zu zweien

Ulrich sagt: «Wenn zwei Männer oder Frauen miteinander durch längere Zeit einen Raum teilen müssen auf der Reise, im Schlafwagen oder überfüllten Gasthof -, so freunden sie sich nicht selten wunderlich an.

Jeder hat eine andere Art, sich den Mund auszuspülen oder sich beim Abziehn der Schuhe zu bücken oder das Bein zu krümmen, wenn er sich ins Bett legt. Die Wäsche und Kleidung, im ganzen gleich, zeigt im einzelnen unzählige kleine Verschiedenheiten, die sich vor dem Auge auftun. Es ist - wahrscheinlich durch den übermäßig gespannten Individualismus der heutigen Lebensart - anfangs ein Widerstand da, der einem leichten Abscheu gleicht und ein Zunahekommen, eine Verletzung der eigenen Persönlichkeit abwehrt, so lange, bis er überwunden ist, und dann bildet sich eine Gemeinschaft heraus, die einen ungewöhnlichen Ursprung zeigt wie eine Narbe. Viele Menschen geben sich nach dieser Wandlung fröhlicher, als sie sonst sind; die meisten harmloser; viele gesprächiger; fast alle freundlicher. Die Persönlichkeit ist verändert, man kann fast sagen, unter der Haut gegen eine weniger eigentümliche umgetauscht: an die Stelle des Ich ist der erste, deutlich als unbehaglich und eine Verminderung empfundene, aber doch unwiderstehliche Ansatz eines Wir getreten. »

Agathe antwortet: «Diese Abneigung bei nahem Beisammensein gibt es besonders zwischen Frauen. Ich habe mich nie an Frauen gewöhnen können. »

«Es gibt sie auch zwischen Mann und Frau» meint Ulrich. «Sie wird dort bloß von den Verpflichtungen des Liebeshandels überdeckt, die sofort die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Aber gar nicht selten wachen die Verflochtenen aus diesem plötzlich auf und sehen dann - je nach ihrer Art mit Staunen, Ironie oder Fluchtdrang — ein völlig fremdes Wesen sich an ihrer Seite breitmachen; ja manchen Menschen geht es noch nach vielen Jahren so. Dann können sie nicht sagen, was das Natürlichere ist: ihre Verbindung mit anderen oder das verletzte Zurückschnellen ihres Ich aus dieser Verbindung in die Einbildung seiner Einzigkeit, - liegt doch beides in unserer Natur. Und beides verwirrt sich im Begriff der Familie! Das Leben in der Familie ist nicht das volle Leben; junge Menschen fühlen sich beraubt, vermindert, nicht bei sich selbst, wenn sie im Kreis der Familie sind. Sieh dir alte, unverheiratete Töchter an: sie sind von der Familie ausgesogen und ihres Blutes beraubt worden; es sind ganz sonderbare Zwitter zwischen Ich und Wir aus ihnen entstanden. »

Ulrich hat den Brief Clarissens als eine Störung empfunden. Die sprunghaften Ausbrüche darin beunruhigen ihn weit weniger als die ruhige und fast vernünftig aussehende Arbeit, die sie tief im Innern für einen offenbar verrückten Plan leistet. Er hat sich gesagt, daß er nach seiner Rückkehr wohl mit Walter darüber werde sprechen müssen, und seither redet er mit Willen von anderem.

Agathe, ausgestreckt auf dem Diwan, hat ein Knie hochgezogen und geht lebhaft auf ihn ein: «Mit dem, was du sagst, erklärst du doch selbst, warum ich wieder heiraten mußte!» sagte sie.

«Und doch ist auch etwas an dem sogenannten <heiligen Gefühl der Familie> daran, an diesem Aufgehn ineinander, dem einander Dienen, der selbstlosen Bewegung in geschlossenem Kreis» - fährt Ulrich fort, ohne sich darum zu kümmern, und Agathe wundert sich darüber, daß sich seine Worte so oft von ihr wieder entfernen, wenn sie schon ganz nahe gewesen sind. «Gewöhnlich ist dieses kollektive Ich ja nur ein Kollektivegoist, und dann ist starker Familiensinn das Unausstehlichste, was man sich vorzustellen vermag; ich kann mir dieses Unbedingt-füreinander-Einspringen, dieses Gemeinsam-Kämpfen und -Wundentragen aber auch als ein urangenehmes, tief in der Menschenzeit ruhendes, ja schon in der Tierherde ausgeprägtes Gefühl denken» - hört sie ihn sprechen; und sie vermag sich nicht viel dabei zu denken. Sie vermag es auch nicht beim nächsten Satz: «Dieser Zustand entartet eben leicht, wie es alle alten Zustände tun, deren Ursprung sich verloren hat. » Und erst, als er mit den Worten Schließt: «Und man muß wahrscheinlich verlangen, daß die Einzelnen schon etwas besonders Ordentliches seien, wenn das Ganze, das sie bilden, 390

nicht ein sinnloses Zerrbild werden soll!» fühlt sie sich wieder gut in seiner Nähe aufgehoben und möchte, während sie ihn ansieht, ihren Augen nicht gestatten, sich zu schließen, damit er nicht inzwischen verschwinde, weil es so wunderlich ist, daß er da sitzt und Dinge spricht, die in der Höhe verlorengehn und mit einem Mal wieder herabfallen wie ein Gummiball, der sich zwischen Ästen verfangen hat.

Die Geschwister hatten sich am Spätnachmittag im Empfangszimmer getroffen, man schrieb schon manchen Tag seit dem Begräbnis.

Dieser Salon von länglicher Form war nicht nur im Geschmack, sondern auch noch mit dem echten Hausrat des bürgerlichen Empire eingerichtet; zwischen den Fenstern hingen die hohen Rechtecke der von glatten Goldrahmen umschlossenen Spiegel, und die maßvoll steifen Stühle standen an die Wände gerückt, so daß der leere Fußboden das Zimmer mit dem gedunkelten Glanz seiner Quadrate überschwemmt zu haben und ein seichtes Becken zu füllen schien, in das man zögernd den Fuß setzte. Am Rande dieser stilvollen Unwirtlichkeit des Salons - denn das Arbeitszimmer, worin er sich am ersten Morgen niedergelassen hatte, war Ulrich überlassen geblieben - ungefähr dort, wo in einer ausgebrochenen Ecknische wie ein strenger Pfeiler der Ofen stand und eine Vase am Haupt trug (und genau in der Mittellinie seiner Vorderseite auf einem in Hüfthöhe rundum laufenden Bord einen einzelnen Leuchter), hatte sich Agathe eine höchstpersönliche Halbinsel geschaffen. Sie hatte eine Ottomane hinstellen lassen und ihr einen Teppich zu Füßen gelegt, dessen altes Rotblau gemeinsam mit dem türkischen Muster der Liegestatt, das sich in sinnloser Unendlichkeit wiederholte, eine üppige Herausforderung des zarten Grau und vernünftig-schwebenden Lineaments darstellte, die in diesem Raum kraft Urväterwillens zu Hause waren.

Des weiteren beleidigte sie diesen zuchtvollen und vornehmen Willen durch eine grüne, großblättrige Pflanze von Mannshöhe, die sie von der Trauerausschmückung des Hauses zurückbehalten und samt dem Kübel sich als «Wald» zu Häupten gestellt hatte, - an die andere Seite als die große helle Stehlampe, die es ihr erleichtern sollte, im Liegen zu lesen, und die in der klassizistischen Landschaft des Zimmers wie ein Scheinwerfer oder ein Antennenmast wirkte. Dieser Salon mit seiner in Felder geteilten Decke, den Wandpilastern und Pfeilerschränkchen hatte sich seit hundert Jahren wenig verändert, weil er selten benutzt wurde und niemals recht in das Leben seiner späteren Besitzer einbezogen worden war; vielleicht mochten zur Zeit der Voreltern die Wände noch mit zarten Stoffen bespannt gewesen sein, statt des hellen Anstrichs, den sie jetzt trugen, und die Bezüge der Stühle konnten etwas anders ausgesehen haben, aber so, wie er sich jetzt darbot, kannte Agathe diesen Salon seit ihrer Kindheit und wußte nicht einmal, ob es ihre Urgroßeltern waren, die sich so eingerichtet hätten, oder fremde Leute, denn sie war in diesem Hause aufgewachsen und das einzig Besondre, was sie wußte, bestand in der Erinnerung, daß sie diesen Raum immer mit jener Scheu betreten habe, die man Kindern vor etwas einimpft, das sie leicht zerstören oder beschmutzen könnten. Nun aber hatte sie das letzte Symbol der Vergangenheit, die Trauerkleidung, abgelegt und wieder ihren Pyjama angezogen, lag auf dem rebellisch eingedrungenen Diwan und las schon seit dem frühen Vormittag gute und schlechte Bücher, die sie zusammengerafft hatte, worin sie sich zeitweilig unterbrach, um zu essen oder einzuschlafen; und als der so verbrachte Tag sich neigte, blickte sie durch das dunkelnde Zimmer zu den hellen Vorhängen, die sich, schon ganz in Zwielicht getaucht, wie Segel an den Fenstern bauschten, und fühlte sich dabei, als reise sie in dem harten Strahlenkranz ihrer Lampe durch den steif-zarten Raum und habe soeben angehalten. So war sie von ihrem Bruder gefunden worden, der mit einem Blick ihr beleuchtetes Etablissement erfaßte; denn auch er kannte diesen Salon und wußte ihr sogar zu erzählen, daß der ursprüngliche Besitzer des Hauses ein reicher Kaufmann gewesen sein solle, dem es später nicht wohl ging, wodurch sich ihr Urgroßvater, der kaiserlicher Notar war, bequem in die Lage versetzt gesehen hätte, das hübsche Anwesen zu erwerben. Auch sonst wußte Ulrich allerhand von diesem Salon, den er sich gründlich angesehen hatte, und besonderen Eindruck machte auf seine Schwester die Erklärung, daß man in ihrer Urgroßväterzeit eine solche steife Einrichtung geradezu als besonders natürlich empfunden habe; das fiel ihr nicht leicht zu verstehen, denn ihr kam sie wie die Ausgeburt einer Geometriestunde vor, und es brauchte eine Weile, ehe in ihr die Vorstellungsweise einer Zeit dämmerte, die von den aufdringlichen Formen des Barock so übersättigt war, daß ihr eigenes symmetrisches und etwas steifes Gehaben von der zarten Einbildung verhüllt wurde, im Sinn einer reinen, schnörkelfreien und als vernünftig gedachten Natur zu handeln. Als sie sich aber endlich diesen Wandel der Begriffe mit allen Einzelheiten, die Ulrich dazugab, vergegenwärtigt hatte, kam es ihr hübsch vor, viel zu wissen, was sie bisher, als gesamte Erfahrung ihres Lebens, verachtet hatte; und als ihr Bruder erfahren wollte, was sie lese, warf sie sich schnell mit dem 391

Körper über den Vorrat ihrer Bücher, wenngleich sie kühn behauptete, daß sie schlechte Lesebeschäftigung genau so gern hätte wie gute.

Ulrich hatte vormittags gearbeitet und war dann aus dem Haus gegangen. Seine Hoffnung auf Sammlung hatte sich bis zu diesem Tag nicht erfüllt, und die förderliche Wirkung, die von der Unterbrechung des gewohnten Lebens zu erwarten gewesen wäre, war durch die Ablenkungen aufgewogen worden, welche die neuen Verhältnisse im Gefolge hatten. Erst nach dem Begräbnis trat darin eine Veränderung ein, als die Beziehungen zur Außenwelt, die sich so lebhaft angelassen hatten, wie mit einem Schlag abrissen. Die Geschwister, die ja nur in einer Art Vertretung ihres Vaters durch einige Tage den Mittelpunkt einer allgemeinen Teilnahme gebildet und die mannigfaltigen Verbindungen gefühlt hatten, die sich an ihre Stellung knüpften, kannten in dieser Stadt außer Walters altem Vater keinen, den sie hätten besuchen mögen, und in Berücksichtigung der Trauer wurden sie auch von niemand eingeladen, und bloß Professor Schwung war nicht nur zum Begräbnis, sondern auch noch am nächsten Tag erschienen, um sich zu erkundigen, ob sein toter Freund nicht ein Manuskript über die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit hinterlassen habe, dessen posthume Veröffentlichung man erwarten dürfe. Dieser unvermittelte Übergang von einer Bewegtheit, die unaufhörlich Blasen geworfen hatte, zu der auf sie folgenden bleiernen Stille übte nun einen geradezu körperlichen Stoß aus. Es kam hinzu, daß sie noch immer in ihren alten Kinderzimmern schliefen, denn Gastzimmer hatte das Gebäude keine, oben in der Mansarde auf Notbetten und umgeben von dem dürftigen Um und An der Kindheit, das etwas von dem Einrichtungsmangel einer Tobsuchtszelle hat und sich mit dem ehrlosen Glanz des Wachstuchs auf den Tischen oder dem Linoleumbelag am Fußboden, in dessen Öde einst der Steinbaukasten die fixen Ideen seiner Architektur spie, bis an die Träume drängt. Diese Erinnerungen, die so sinnlos und unendlich waren wie das Leben, auf das sie hatten vorbereiten sollen, ließen es den Geschwistern angenehm erscheinen, daß sich ihre Schlafräume, nur durch eine Kleiderund Gerümpelkammer getrennt, wenigstens nebeneinander befanden; und weil das Badezimmer ein Stockwerk tiefer lag, waren sie auch nach dem Erwachen aufeinander angewiesen, begegneten einander vom Morgen an in der Leere der Treppen und des Hauses, mußten aufeinander Rücksicht nehmen und hatten gemeinsam alle die Fragen zu beantworten, die das fremde Wirtschaftswesen stellte, das ihnen mit einemmal anvertraut war. Auf diese Weise empfanden sie natürlich auch die Komik, von der dieser so innige wie unvorhergesehene Zusammenschluß nicht frei war: sie glich der abenteuerlichen Komik eines Schiffbruchs, der sie auf die einsame Insel ihrer Kindheit zurückgeworfen hatte, und beides führte dazu, daß sie gleich nach den ersten Tagen, auf deren Verlauf sie keinen Einfluß gehabt hatten, nach Selbständigkeit trachteten, aber jeder von ihnen tat es mehr aus Rücksicht auf den anderen als auf sich selbst.

Darum war Ulrich schon aufgestanden, ehe sich Agathe im Salon ihre Halbinsel baute, und hatte sich leise in das Arbeitszimmer geschlichen, wo er seine unterbrochene mathematische Untersuchung aufnahm, allerdings mehr zum Zeitvertreib als in der Absicht auf Gelingen. Aber zu seiner nicht geringen Überraschung brachte er darauf in den wenigen Stunden eines Vormittags alles, was er monatelang hatte unberührt liegen lassen, bis auf unbedeutende Einzelheiten zu Ende. Es war ihm beim Zustandekommen dieser unerwarteten Lösung einer jener außer der Regel liegenden Gedanken zu Hilfe gekommen, von denen man nicht sowohl sagen könnte, daß sie erst dann entstehen, wenn man sie nicht mehr erwartet, als vielmehr, daß ihr überraschendes Aufleuchten an das der Geliebten erinnert, die längst schon zwischen den anderen Freundinnen da war, ehe der bestürzte Freier zu verstehen aufhört, daß er ihr andere hat gleichstellen können. Es ist an solchen Einfallen nicht nur der Verstand, sondern immer auch irgend eine Bedingung der Leidenschaft beteiligt, und Ulrich war es zu Mute, als hätte er in diesem Augenblick fertig und frei werden müssen, ja er kam sich, weil weder ein Grund noch ein Zweck zu erkennen war, geradezu vor der Zeit fertig geworden vor, und es stieß nun die übrig gebliebene Energie ins Träumerische hinaus. Er erblickte die Möglichkeit, daß man den Gedanken, der seine Aufgabe gelöst hatte, auch auf weitaus größere Fragen anwenden könne, entwarf spielerisch die erste Phantasie einer solchen Systematik und fühlte sich in diesen Augenblicken glücklicher Entspannung sogar von der Einflüsterung Professor Schwungs versucht, doch noch zu seinem Beruf zurückzukehren und den Weg zu suchen, der zu Geltung und Einfluß führt. Als er sich aber nach wenigen Minuten dieses intellektuellen Behagens nüchtern vergegenwärtigt hatte, welche Folgen es haben würde, wenn er seinem Ehrgeiz nachgäbe und jetzt noch als Nachzügler den akademischen Weg einschlüge, begegnete es ihm zum erstenmal, daß er sich für ein Unternehmen zu alt fühlte, und seit 392

seiner Knabenzeit hatte er diesen halb unpersönlichen Begriff der Jahre nicht als etwas empfunden, das einen selbständigen Gehalt habe, und ebensowenig bisher den Gedanken gekannt: du vermagst etwas nicht mehr zu tun!

Als das Ulrich nun nachträglich seiner Schwester am Spätnachmittag erzählte, gebrauchte er von ungefähr das Wort Schicksal, das ihre Anteilnahme erregte. Sie wollte wissen, was «Schicksal» ist.

«Ein Mittelding zwischen <Meine Zahnschmerzen> und <König Lears Töchter!» erwiderte Ulrich. «Ich gehöre nicht zu den Menschen, die mit diesem Wort gern umgehn. »

Aber für junge Menschen gehört es zum Gesang des Lebens; sie möchten ein Schicksal haben und wissen nicht, was es ist.

Ulrich entgegnete ihr: «In späteren, besser unterrichteten Zeiten wird das Wort Schicksal wahrscheinlich einen statistischen Inhalt gewinnen. »

Agathe war siebenundzwanzig. Jung genug, noch einige von den hohlen Empfindungsformen bewahrt zu haben, die man zuerst ausbildet; alt genug, schon den anderen Inhalt zu ahnen, den die Wirklichkeit einfüllt.

Sie erwiderte: «Altwerden ist wohl selbst schon ein Schicksal!» und war sehr unzufrieden mit dieser Antwort, in der sich ihre jugendliche Schwermut auf eine Weise ausdrückte, die ihr nichtssagend vorkam.

Aber ihr Bruder achtete nicht darauf und gab ein Beispiel: «Als ich Mathematiker wurde, » erzählte er

«wünschte ich mir wissenschaftlichen Erfolg und setzte alle Kraft für ihn ein, wenn ich das auch nur für eine Vorstufe zu etwas anderem ansah. Und meine ersten Arbeiten haben auch wirklich -natürlich unvollkommen, wie es Anfänge immer sind — Gedanken enthalten, die damals neu waren und entweder unbemerkt blieben oder sogar auf Widerstand stießen, obwohl ich mit allem übrigen gut aufgenommen wurde. Nun könnte man es ja vielleicht Schicksal nennen, daß ich bald die Geduld verlor, hinter diesen Keil weiter noch meine volle Kraft zu setzen. »

«Keil?» unterbrach ihn Agathe, als bereite die Aussprache dieses männlich-werktätigen Wortes unbedingt Unannehmlichkeiten. «Warum nennst du es Keil?»

«Weil es nur das war, was ich zuerst machen wollte: ich wollte es wie einen Keil vorantreiben und verlor dann eben die Geduld. Und heute, als ich vielleicht meine letzte Arbeit abschloß, die noch in jene Zeit zurückreicht, ist es mir klar geworden, daß ich mich wahrscheinlich nicht ganz ohne Grund als den Führer einer Bewegung ansehen dürfte, wenn ich damals etwas mehr Glück gehabt oder etwas mehr Beständigkeit bewiesen hätte. »

«Du könntest es ja noch nachholen!» meinte Agathe nun wieder. «Ein Mann wird doch nicht so leicht für etwas zu alt wie eine Frau. »

«Nein, » erwiderte Ulrich «ich will es nicht nachholen! Denn es ist erstaunlich, aber wahr, daß sich damit sachlich - am Gang der Dinge, an der Entwicklung der Wissenschaft selbst - gar nichts geändert hätte. Ich mag meiner Zeit etwa um zehn Jahre vorausgewesen sein; aber etwas langsamer und auf anderen Wegen sind andere Leute auch ohne mich dahin gekommen, wohin ich sie höchstens etwas rascher geführt hätte, während es schon fraglich wäre, ob eine solche Veränderung meines Lebens genügt haben möchte, mich selbst inzwischen mit neuem Vorsprung über das Ziel hinauszureißen. Da hast du also ein Stück von dem, was man persönliches Schicksal nennt, aber es kommt auf etwas auffallend Unpersönliches hinaus. »

«Überhaupt» - fuhr er fort — «widerfährt es mir, je älter ich werde, desto öfter, daß ich etwas gehaßt habe, das später und auf Umwegen trotzdem in der gleichen Richtung wie mein eigener Weg verläuft, so daß ich ihm die Daseinsberechtigung mit einem Mal nicht mehr absprechen kann; oder es geschieht, daß sich die Schäden an Ideen oder Geschehnissen zeigen, für die ich mich ereifert habe. Über größere Strecken scheint es also ganz gleichgültig zu sein, ob man sich erregt und in welchem Sinn man seine Erregung eingesetzt hat. Es kommt alles ans gleiche Ziel, und es dient alles einer Entwicklung, die undurchsichtig und unfehlbar ist. »

«Früher hat man das den unerforschlichen Ratschlüssen Gottes zugeschrieben» antwortete Agathe stirnrunzelnd und hatte den Ton eines, der von Selbsterlebtem spricht, und nicht gerade respektvoll.

Ulrich erinnerte sich, daß sie in einem Kloster erzogen worden war. Sie lag in ihren langen, unten zugebundenen Hosen auf dem Diwan, an dessen Fußende er saß, und die Stehlampe bestrahlte sie gemeinsam, so daß am Fußboden ein großes Blatt aus Licht entstand, auf dem sie sich im Dunkel befanden.

«Heute macht das Schicksal eher den Eindruck der übergeordneten Bewegung einer Masse» meinte er;

«man steckt darin und wird mitgewälzt. » Er erinnerte sich, schon einmal auf den Gedanken gekommen zu 393

sein, es käme heute jede Wahrheit in ihre Halbheiten geteilt auf die Welt, und trotzdem könnte sich auf diese windige und bewegliche Weise eine größere Gesamtleistung ergeben, als wenn jeder ernst und einsam nach ganzer Pflicht strebe. Er hatte diesen ihm wie ein Haken im Selbstgefühl sitzenden Gedanken, der dennoch nicht ohne die Möglichkeit der Größe war, sogar schon einmal mit dem Schluß vorgetragen, den er nicht ernst meinte, daß man also tun könne, was man wolle! Denn nichts lag ihm so fern wie dieser Schluß, und gerade jetzt, wo ihn sein Schicksal abgesetzt zu haben schien und ihm nichts übrig ließ zu tun, in diesem für seinen Ehrgeiz gefährlichen Augenblick, wo er sonderbar angetrieben auch noch das Letzte abgeschlossen hatte, was ihn mit seinen älteren Zeiten verband, diese nachzüglerische Arbeit, gerade in diesem Augenblick also, wo er persönlich ganz blank war, fühlte er statt eines Ablassens von sich die neue Spannung, die seit seiner Abreise entstanden war. Sie hatte keinen Namen; man mochte einstweilen ebensogut sagen, ein junger, ihm verwandter Mensch suche seinen Rat, wie man auch etwas anderes sagen konnte: Aber er sah erstaunlich scharf die strahlende Matte aus hellem Gold auf dem Schwarzgrün des Zimmers, mit den zarten Würfeln von Agathes Narrenanzug darauf, und sich selbst und den überdeutlich umsäumten, aus dem Dunkel genommenen Zufall ihres Beisammenseins.

«Wie hast du das gesagt?» fragte Agathe. «Was man heute noch persönliches Schicksal nennt, wird verdrängt von kollektiven und schließlich statistisch erfaßbaren Vorgängen» wiederholte Ulrich.

Agathe dachte nach, dann mußte sie lachen. «Ich verstehe das natürlich nicht, aber wäre es denn nicht wunderbar, wenn man von der Statistik aufgelöst würde; die Liebe bringt das ja doch längst nicht mehr zustande!» meinte sie. Und das verleitete Ulrich, seiner Schwester plötzlich zu erzählen, was ihm nach Beendigung seiner Arbeit widerfahren sei, als er von Hause fort in den Mittelpunkt der Stadt gegangen war, um die ihm übriggebliebene Bestimmungs-losigkeit mit etwas auszufüllen. Er hatte nicht davon sprechen wollen, weil es ihm als eine zu persönliche Angelegenheit vorkam. Denn jedesmal, wenn ihn seine Reisen in Städte führten, mit denen er durch keinerlei Geschäft verknüpft war, liebte er sehr das daraus entstehende besondere Gefühl der Einsamkeit, und selten war es so stark gewesen wie dieses Mal. Er hatte die Farben der Straßenbahn, der Wagen, Auslagen, Tore, die Formen der Kirchtürme, Gesichter und Hausfronten gesehn, und ob sie auch die allgemeine europäische Ähnlichkeit zeigten, flog doch der Blick über sie hin wie ein Insekt, das sich über ein Feld mit fremden Lockfarben verirrt hat und sich nicht niederlassen kann, obschon es das tun möchte. Dieses Gehn ohne Ziel und deutliche Bestimmung in einer lebhaft mit sich selbst beschäftigten Stadt, diese gesteigerte Anspannung des Erlebens bei gesteigerter Fremdheit, die noch durch die Überzeugung verstärkt wird, daß es auf einen nicht ankomme, sondern nur auf diese Summen von Gesichtern, diese vom Körper gerissenen, untereinander zu Armeen von Armen, Beinen oder Zähnen zusammengefaßten Bewegungen, denen die Zukunft gehört, vermag das Gefühl zu wecken, daß man sich als noch ganz und geschlossen für sich wandelnder Mensch schon geradezu unsozial und verbrecherisch vorkommt; aber wenn man dem dann noch weiter nachgibt, kann unversehens auch eine so törichte leibliche Annehmlichkeit und Verantwortungslosigkeit daraus entstehn, als gehöre der Körper nicht mehr einer Welt an, wo das sinnliche Ich in kleine Nervenstränge und -gefäße eingeschlossen ist, sondern einer von unwacher Süße durchfluteten. Mit diesen Worten beschrieb Ulrich seiner Schwester, was vielleicht die Folge eines Zustands ohne Ziel und Ehrgeiz war oder die Folge herabgeminderter Persönlichkeitseinbildung, vielleicht aber auch nichts anderes als der «Urmythos der Götter», jenes

«Doppelgesicht der Natur», jenes «gebende» und «nehmende Sehen», wohinter er nachgerade drein war wie ein Jäger. Er wartete nun neugierig, ob Agathe ein Zeichen des Einverständnisses geben oder zeigen werde, daß sie auch solche Eindrücke kenne, und als es nicht geschah, erklärte er es noch einmal:

«Es ist wie eine leichte Bewußtseinsspaltung. Man fühlt sich umarmt, umschlossen und bis ans Herz von einer willenlos angenehmen Unselbständigkeit durchdrungen; aber anderseits bleibt man wach und der Geschmackskritik fähig und sogar bereit, mit diesen Dingen und Menschen, die voll ungelüfteter Anmaßung sind, Streit anzubinden. Es ist so, als gäbe es zwei verhältnismäßig selbständige Lebensschichten in uns, die sich sonst tief im Gleichgewicht halten. Und da wir doch von Schicksal gesprochen haben, es ist auch so, als hätte man zwei Schicksale: ein regsam-unwichtiges, das sich vollzieht, und ein reglos-wichtiges, das man nie erfährt. »

Da sagte unvermittelt Agathe, die lange Zeit, ohne sich zu rühren, zugehört hatte: «Das ist, wie wenn man Hagauer küßt!»

Sie hatte sich auf den Ellbogen gestützt und lachte; die Beine ruhten noch immer lang ausgestreckt auf 394

ihrem Lager. Und sie fügte hinzu: «Natürlich, so schön, wie du es beschreibst, ist es nicht gewesen!» Und Ulrich lachte mit. Es war nicht recht klar, weshalb sie lachten. Irgendwie war dieses Lachen aus der Luft oder aus dem Haus über beide gekommen oder aus den Spuren des Staunens und Unbehagens, welche die feierlichen, das Jenseits nutzlos berührenden Vorgänge der letzten Tage in ihnen hinterlassen hatten, oder aus dem ungewöhnlichen Gefallen, das sie an ihrem Gespräch fanden; denn jeder aufs äußerste ausgebildete menschliche Brauch trägt den Keim des Wechsels schon in sich, und jede, das Gewöhnliche überschreitende Erregung beschlägt sich bald mit einem Hauch von Trauer, Absurdität und Übersättigung.

Auf solche Art und auf solchem Umweg waren sie dann schließlich und gleichsam zur Erholung in das harmlosere Gespräch über Ich und Wir und Familie und zu der zwischen Spott und Staunen schwankenden Entdeckung gekommen, daß sie beide eine Familie bildeten Und während Ulrich von dem Verlangen nach Gemeinschaft spricht-nun wieder mit dem Eifer eines Mannes, der sich eine gegen seine Natur gerichtete Pein zufügt; nur weiß er nicht, ob sie sich gegen seine wahre oder seine angenommene Natur richtet - hört Agathe an, wie seine Worte ihr nahe kommen und sich wieder entfernen, und er bemerkt, daß er lange Zeit in ihrer Erscheinung, die sich doch in dem hellen Licht und ihrer launischen Kleidung sehr schutzlos vor ihm befindet, nach etwas gesucht hat, das ihn abstoßen könnte, wie es leider seine Gewohnheit ist, aber nichts gefunden hat, und er dankt dafür mit einer reinen und einfachen Zuneigung, die er sonst nie empfindet. Und er ist sehr entzückt von der Unterhaltung. Als sie aber geendet hat, fragt Agathe unbefangen: «Und bist du nun eigentlich für das, was du Familie nennst, oder bist du dagegen?»

Ulrich erwidert, daß es darauf gar nicht ankäme, denn er hätte doch eigentlich von einer Unschlüssigkeit der Welt gesprochen und nicht von der Unentschlossenheit seiner Einzelperson.

Agathe denkt darüber nach.

Schließlich sagt sie aber unvermittelt: «Das kann ich doch nicht beurteilen! Aber ich möchte wohl einmal ganz eins und einverstanden mit mir sein und auch…: nun eben, irgendwie so leben! Möchtest du es denn nicht auch einmal versuchen ?»

9

Agathe, wenn sie nicht mit Ulrich sprechen kann

In dem Augenblick, wo Agathe den Zug bestiegen hatte und die unerwartete Reise zu ihrem Vater antrat, war etwas geschehn, das mit einem überraschenden Zerreißen alle Ähnlichkeit hatte, und die beiden Stücke, in die der Augenblick der Abreise zerbarst, schnellten so weit auseinander, als hätten sie niemals zusammengehört. Ihr Gatte hatte sie zur Bahn gebracht, er hatte den Hut gelüftet und hielt ihn, den steifen, runden, schwarzen, zusehends kleiner werdenden Hut, wie es sich beim Abschied gehört, schräg vor sich in die Luft, während sie davonfuhr, was Agathe vorkam, als rollte die Bahnhofshalle ebenso schnell zurück wie der Zug vorwärts. In diesem Augenblick, obwohl sie soeben noch geglaubt hatte, daß sie nicht länger fortbleiben werde, als es die Umstände unbedingt erforderten, - nahm sie sich vor, nicht mehr zurückzukehren, und ihr Bewußtsein wurde unruhig wie ein Herz, das sich auf einmal einer Gefahr entronnen sieht, von der es nichts gewußt hat. Wenn sich Agathe das nachträglich überlegte, war sie mitnichten völlig zufrieden damit. Sie mißbilligte an ihrem Verhalten, daß sie durch seine Form an eine wunderliche Krankheit erinnert wurde, der sie als Kind verfallen war, bald nachdem sie angefangen hatte, in die Schule zu gehn. Länger als ein Jahr hatte sie damals an einem nicht unbeträchtlichen Fieber gelitten, das weder stieg, noch wich, und war zu einer Zartheit abgemagert, welche die Besorgnis der Ärzte erregte, die davon keine Ursache finden konnten. Diese Erkrankung war auch später niemals aufgeklärt worden.

Nun hatte es wohl Agathe gefallen, wie die großen Ärzte der Universität, die würdevoll und voll Weisheit zum ersten Mal ins Zimmer traten, von Woche zu Woche etwas von ihrer Zuversicht verloren; und obgleich sie folgsam jede Medizin einnahm, die ihr verschrieben wurde, und sogar wirklich gern gesund geworden wäre, weil man es von ihr verlangte, freute sie sich doch darüber, daß die Ärzte es mit ihren Verordnungen nicht zuwege brachten, und fühlte sich in einem überirdischen oder zumindest außergewöhnlichen Zustand, während von ihr immer weniger übrig blieb. Sie war stolz darauf, daß die Ordnung der Großen keine Macht über sie hatte, solange sie krank war, und wußte nicht, wie ihr kleiner Körper das zustande brachte. Aber am Ende genas er freiwillig und auf eine scheinbar ebenso ungewöhnliche Weise.

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Sie wußte heute kaum mehr davon, als ihr die Dienstleute später erzählt hatten, die behaupteten, sie sei von einer Bettlerin verhext worden, die oft ins Haus gekommen, aber einmal grob von der Schwelle gewiesen worden wäre; und Agathe hatte niemals herausbekommen, wie viel Wahrheit an dieser Geschichte war, denn die Hausleute ergingen sich zwar gern in Andeutungen, ließen sich aber niemals auf Erklärungen ein und zeigten Furcht vor einem strengen Verbot, das Agathens Vater erlassen haben sollte. Sie selbst bewahrte aus dieser Zeit nur ein einziges, allerdings lebhaftes, Gedächtnisbild, worin sie ihren Vater vor sich sah, wie er in flammendem Zorn auf ein verdächtig aussehendes Weib losschlug und mehrmals mit der flachen Hand dessen Wange rührte; sie hatte den kleinen, sonst qualvoll rechtlichen Verstandesmann nur dieses eine Mal in ihrem Leben derart verändert und von Sinnen wahrgenommen; aber soweit sie sich erinnerte, war das nicht vor, sondern erst während ihrer Krankheit geschehn, denn sie glaubte zu wissen, daß sie dabei im Bett gelegen und dieses Bett sich statt in ihrem Kinderzimmer ein Stockwerk tiefer «bei den Erwachsenen» befunden habe, in einem der Wohnräume, in den das Gesinde die Bettlerin nicht hätte einlassen dürfen, auch wenn sie in den Wirtschafts-und Treppenräumen keine Fremde war. Ja, es kam Agathe vor, daß dieses Ereignis eher in das Ende ihrer Krankheit gefallen sein müsse, und daß sie wenige Tage danach plötzlich gesund geworden und von jener merkwürdigen Ungeduld aus dem Bett gehoben worden sei, mit der diese Erkrankung so unerwartet abschloß, wie sie begonnen hatte.

Freilich wußte sie von allen diesen Erinnerungen nicht, ob sie von der Wirklichkeit herrührten oder eine Erdichtung des Fiebers seien. «Wahrscheinlich wird daran bloß merkwürdig sein, » - dachte sie unmutig

«daß sich diese Bilder in mir so zwischen Wahrheit und Einbildung erhalten konnten, ohne daß ich daran etwas Ungewöhnliches gefunden habe!» - Die Stöße des Taxis, das durch schlecht gepflasterte Gassen fuhr, verhinderten ein Gespräch. Ulrich hatte vorgeschlagen, das trockene Winterwetter zu einem Ausflug zu benutzen, und auch ein Ziel gewußt, das eigentlich keines war, wohl aber ein Vorstoß in halberinnerte Landschaftsbilder hinein. Nun befanden sie sich in einem Wagen, der sie an den Rand der Stadt bringen sollte. - «Gewiß wird nur das daran merkwürdig sein!» wiederholte Agathe bei sich, was sie soeben gedacht hatte. In ähnlicher Art hatte sie ja auch in der Schule gelernt, so daß sie niemals wußte, ob sie dumm oder klug, willig oder unwillig sei: die Antworten, die man von ihr verlangte, prägten sich ihr mit Leichtigkeit ein, ohne daß sich ihr aber der Zweck dieser Lernfragen eröffnet hätte, gegen den sie sich von einer tiefen inneren Gleichgültigkeit geschützt fühlte. Sie war nach ihrer Erkrankung genau so gern wieder in die Schule gegangen wie vorher, und weil einer der Ärzte auf den Rat verfallen war, daß es von Vorteil sein könnte, sie der Einsamkeit des väterlichen Hauses zu entziehn und mit Gleichaltrigen zusammenzubringen, hatte man sie in ein geistliches Institut getan; sie galt auch dort für heiter und lenksam und besuchte später das Gymnasium. Wenn man ihr sagte, etwas sei nötig oder wahr, so richtete sie sich danach und nahm alles, was man von ihr forderte, willig hin, weil es ihr so am mindesten anstrengend vorkam, und es wäre ihr unsinnig erschienen, etwas gegen feste Einrichtungen zu unternehmen, die mit ihr keinen Zusammenhang hatten und offenbar zu einer Welt gehörten, die nach dem Willen von Vätern und Lehrpersonen aufgebaut war. Sie glaubte aber kein Wort von dem, was sie lernte, und weil sie trotz ihres scheinbar willigen Betragens keineswegs eine Musterschülerin war und dort, wo ihre Wünsche ihren Überzeugungen widersprachen, in gelassener Weise das tat, was sie wollte, genoß sie die Achtung ihrer Mitschülerinnen, ja sogar jene bewundernde Neigung, die in der Schule findet, wer es sich bequem zu machen versteht. Es konnte sogar sein, daß sie sich schon ihre seltsame Kinderkrankheit so eingerichtet hatte, denn sie war eigentlich mit dieser einzigen Ausnahme immer gesund und wenig nervös gewesen. «Also einfach ein träger und wertloser Charakter!» stellte sie unsicher fest. Sie erinnerte sich, wieviel lebhafter als sie selbst ihre Freundinnen oft gegen die starre Internatszucht gemeutert und mit welchen Grundsätzen der Empörung sie ihre Vorstöße gegen die Ordnung ausgestattet hatten; soweit sie jedoch in die Lage gekommen war, es zu beobachten, waren gerade jene, die sich gegen Einzelheiten am leidenschaftlichsten aufgelehnt hatten, später mit dem Ganzen des Lebens auf das Beste ausgekommen, und es hatten sich aus diesen Mädchen gut gebettete Frauen entwickelt, die ihre Kinder nicht viel anders erzogen, als es ihnen selbst widerfahren war. Sie war darum trotz ihrer Unzufriedenheit mit sich auch nicht überzeugt, daß es besser sei, ein tätiger und guter Charakter zu sein.

Agathe verabscheute die weibliche Emanzipation geradeso, wie sie das weibliche Brutbedürfnis mißachtete, das sich das Nest vom Mann liefern läßt. Sie erinnerte sich gern an die Zeit, wo sie ihren Busen zum erstenmal das Kleid spannen gefühlt und ihre brennenden Lippen durch die kühlende Luft der Straßen 396

getragen hatte. Aber die entwickelte erotische Geschäftigkeit der Frau, die aus der Verhüllung der Mädchenzeit hervorkommt wie ein rundes Knie aus rosa Tüll, hatte zeit ihres Lebens Verachtung in ihr erregt. Wenn sie sich fragte, wovon sie eigentlich überzeugt wäre, so antwortete ihr ein Gefühl, daß sie ausersehen sei, etwas Ungewöhnliches und Andersgeartetes zu erleben; schon damals, als sie noch so gut wie nichts von der Welt wußte und das wenige, das man sie gelehrt hatte, nicht glaubte. Und es war ihr immer als eine geheimnisvolle, diesem Eindruck entsprechende Aktivität erschienen, einstweilen, wenn es sein müßte, alles mit sich geschehen zu lassen, ohne es gleich zu überschätzen.

Agathe sah von der Seite Ulrich an, der ernst und steif im Wagen schaukelte; sie entsann sich, wie schwer er am ersten Abend begriffen hatte, daß sie ihrem Gatten nicht schon in der Brautnacht davongelaufen sei, obwohl sie ihn nicht mochte. Sie hatte furchtbare Ehrerbietung vor ihrem großen Bruder empfunden, solange sie auf sein Kommen wartete, aber nun lächelte sie und rief sich heimlich den Eindruck zurück, den ihr die dicken Lippen Hagauers in den ersten Monaten gemacht hatten, wenn sie sich unter den Bartborsten verliebt rundeten: das ganze Gesicht zog sich dann in dickfelligen Falten den Mundwinkeln entgegen, und sie fühlte gleich einer Sättigung: o wie häßlich ist dieser Mensch! Auch seine sanfte Lehrereitelkeit und

-güte hatte sie ertragen wie eine bloß körperliche Übelkeit, die mehr außen ist als innen. Sie hatte ihn, nachdem die erste Überraschung vorbei war, hie und da mit anderen betrogen: «Wenn man es so nennen will, » dachte sie «daß einem Geschöpf ohne Erfahrung, dessen Sinne schweigen, die Bemühungen eines Manns, der nicht der eigene ist, im ersten Augenblick wie Donnerschläge vorkommen, die an die Tür prallen!» Denn sie hatte wenig Begabung zur Untreue bewiesen: Liebhaber kamen ihr, sobald sie sie erst kennen gelernt hatte, nicht bezwingender vor als Gatten, und es dünkte sie bald, daß sie ebensogut die Tanzmasken eines Negerstamms ernstnehmen könnte wie die Liebeslarven, die der europäische Mann anlegt. Nicht, daß sie niemals darüber von Sinnen gekommen wäre: aber es ging schon bei den ersten Wiederholungsversuchen verloren! Die ausgeführte Vorstellungswelt und Theatralik der Liebe ließ sie unberauscht. Diese hauptsächlich vom Mann ausgebauten Regievorschriften der Seele, die alle darauf hinauslaufen, daß das harte Leben hie und da eine schwache Stunde haben soll, - mit irgendeiner Unterart des Schwachwerdens: dem Versinken, dem Ersterben, dem Genommenwerden, dem sich Geben, dem Erliegen, dem Verrücktwerden und so weiter - kamen ihr schmieren-haft übertrieben vor, da sie sich in keiner Stunde anders empfand als schwach, in einer von der Stärke der Männer so vortrefflich erbauten Welt.

Die Philosophie, die Agathe auf solche Weise erwarb, war einfach die des weiblichen Menschen, der sich nichts vormachen läßt und unwillkürlich beobachtet, was ihm der männliche Mensch vorzumachen trachtet.

Ja, es war überhaupt keine Philosophie, sondern nur eine trotzig verhehlte Enttäuschung; immer noch mit der verhaltenen Bereitschaft zu einer unbekannten Auflösung vermengt, die vielleicht sogar in dem Maße zunahm, als sich die äußere Auflehnung verminderte. Da Agathe belesen war, aber vermöge ihrer Natur nicht geneigt, sich auf Theorien einzulassen, hatte sie oft Gelegenheit, wenn sie ihre eigenen Erlebnisse mit den Idealen der Bücher und des Theaters verglich, sich darüber zu wundern, daß weder ihre Verführer sie gefesselt hatten wie die Falle ein Wild, was dem donjuanischen Selbstbildnis entsprochen hätte, dessen Haltung sich damals ein Mann zu geben pflegte, wenn er gemeinsam mit einer Frau ausrutschte, noch daß sich ihr Zusammenleben mit ihrem Gatten strind-bergisch zu einem Kampf der Geschlechter gestaltete, worin die gefangene Frau, wie es die Nebenmode war, ihren herrisch-unbehilflichen Gebieter mit den Mitteln der List und Schwäche zu Tode peinigte. Ihr Verhältnis zu Hagauer war vielmehr, im Gegensatz zu ihren tieferen Gefühlen für ihn, immer ganz gut geblieben. Ulrich hatte am ersten Abend große Worte wie Schreck, Schock und Vergewaltigung dafür gebraucht, die ganz und gar nicht zutrafen. Sie bedauere, dachte Agathe noch bei der Erinnerung daran widerspenstig, nicht als ein Engel aufwarten zu können, es sei vielmehr alles in dieser Ehe sehr natürlich vor sich gegangen. Ihr Vater hatte des Mannes Bewerbung mit vernünftigen Gründen gestützt, sie selbst hatte beschlossen, sich wieder zu verheiraten: gut, man tut es; man muß mit sich geschehen lassen, was dazu gehört; es ist weder besonders schön, noch übermäßig unangenehm! Es tat ihr sogar jetzt noch leid, Hagauer bewußt zu kränken, wo sie das unbedingt tun wollte!

Liebe hatte sie sich nicht gewünscht; sie hatte sich gedacht, es werde irgendwie gehen, er war ja ein guter Mensch.

Freilich war er wohl mehr einer jener Menschen, die immer gut handeln; in ihnen selbst ist keine Güte, dachte Agathe. Es scheint, daß die Güte in dem Maß, wie sie zu gutem Willen oder Taten wird, aus dem 397

Menschen verschwindet! Wie hatte Ulrich gesagt? Ein Bach, der Fabriken treibt, verliert sein Gefälle. Auch, auch das hatte er gesagt, aber nicht war es das, was sie suchte. Jetzt hatte sie’s: «Es scheint, daß eigentlich nur Menschen, die nicht viel Gutes tun, imstande sind, sich ihre ganze Güte zu bewahren»! Aber in dem Augenblick, wo sie diesen Satz hatte, einleuchtend so, wie ihn Ulrich gesprochen haben mußte, kam er ihr durchaus unsinnig vor. Man konnte ihn nicht aus dem vergessenen Zusammenhang des Gesprächs allein herausnehmen. Sie versuchte die Worte anders zu stellen und tauschte sie gegen ähnliche um; aber da zeigte sich nun doch, daß der erste Satz der richtige war, denn die anderen waren wie in den Wind gesprochen und es blieb gar nichts von ihnen zurück. Also hatte es Ulrich so gesagt, aber: «Wie kann man Menschen, die sich schlecht betragen, gut nennen?» dachte sie. «Das ist doch wirklich ein Unsinn!» und wußte: während er sie ausgesprochen hatte, war diese Behauptung, ohne daß sie dabei mehr Inhalt gehabt hätte, wunderbar gewesen! Wunderbar war kein Wort dafür: es war ihr beinahe übel vor Glück geworden, als sie diesen Satz hörte! Solche Sätze erklärten ihr ganzes Leben. Dieser Satz zum Beispiel war während ihres letzten großen Gesprächs gefallen, nach dem Begräbnis und als Professor Hagauer schon wieder abgereist war; und plötzlich war ihr bewußt geworden, wie nachlässig sie immer gehandelt habe, und so auch damals, als sie sich einfach gedacht hatte, es werde «schon irgendwie» mit Hagauer gehn, weil er ein «guter Mensch» sei!

Solche Bemerkungen machte Ulrich oft, die sie für Augenblicke ganz mit Glück oder Unglück er-f füllten, obwohl man sich diese Augenblicke nicht «aufheben» konnte. Wann, fragte sich Agathe, hatte er zum t Beispiel gesagt, daß er unter Umständen einen Dieb lieben könnte, einen Menschen, der gewohnheitsmäßig ehrlich sei, aber niemals? Sie konnte sich im Augenblick nicht darauf besinnen, aber das Köstliche war, daß sie sehr bald inne wurde, gar nicht er, sondern sie selbst habe das behauptet. Überhaupt hatte sie sich schon vieles von dem, was er sagte, selbst gedacht; bloß ohne Worte, denn so bestimmte Behauptungen hätte sie, auf sich allein angewiesen, wie sie früher war, niemals aufgestellt! Agathe, die sich zwischen den Sprüngen und Stößen des Wagens, der über holprige Vorstadtstraßen fuhr und die beiden des Sprechens Ohnmächtigen in ein Netz mechanischer Erschütterungen hüllte, bisher sehr wohlgefühlt hatte, hatte auch den Namen ihres Gatten inmitten ihrer Gedanken ohne ein anderes Gefühl gebraucht, und lediglich als eine Zeit-und Inhaltsbestimmung für diese; aber nun fuhr, ohne daß ein besonderer Anlaß dazu vorhanden gewesen wäre, langsam ein unendlicher Schreck durch sie: Hagauer war ja doch leibhaftig bei ihr gewesen!

Die gerechte Art, in der sie bisher an ihn gedacht hatte, verschwand, und ihre Kehle zog sich bitter zusammen.

Er war am Morgen des Begräbnisses gekommen, hatte trotz seiner Verspätung liebevoll dringlich noch den Schwiegervater zu sehen gewünscht, war zur Anatomie gegangen, hatte das Schließen des Sargs verzögert, war in einer taktvollen, ehrlichen, knapp bemessenen Weise sehr ergriffen gewesen. Nach dem Begräbnis hatte Agathe Erschöpfung vorgeschützt, und Ulrich hatte mit seinem Schwager außer Haus speisen müssen.

Wie er nachher erzählte, hatte ihn Hagauers dauernde Gegenwart so rasend gemacht, wie ein zu enger Halskragen, und er hatte schon deshalb alles getan, um ihn so rasch wie möglich fortzubringen. Hagauer hatte die Absicht gehabt, zu einem Erziehungstag in die Hauptstadt zu reisen, dort noch einen Tag Vorsprachen im Ministerium und Besichtigungen zu widmen, und davor hatte er zwei Tage angesetzt, sie als aufmerksamer Gatte bei seiner Frau zu verbringen und sich um ihr Erbteil zu kümmern; der Verabredung mit seiner Schwester gemäß hatte Ulrich aber eine Geschichte erfunden, die es ihm unmöglich erscheinen ließ, Hagauer im Wohnhaus aufzunehmen, und hatte ihm angekündigt, daß eine Unterkunft im ersten Hotel der Stadt für ihn vorgemerkt sei. Hagauer hatte, wie erwartet, gezögert; das Hotel wäre unbequem, teuer und anstandshalber von ihm selbst zu bezahlen gewesen; andererseits ließen sich vielleicht auch zwei Tage den Vorsprachen und Besichtigungen in der Hauptstadt widmen, und wenn man in der Nacht reiste, ersparte man eine Nächtigung. Also hatte Hagauer Bedauern heuchelnd zu verstehen gegeben, daß es ihm sehr schwer falle, von Ulrichs Vorsorge Gebrauch zu machen, und schließlich seinen kaum noch abzuändernden Beschluß eröffnet, schon am Abend zu reisen. So waren nur noch die Erbfragen zu ordnen verblieben, und da lächelte nun Agathe wieder, denn auf ihren Wunsch hatte Ulrich ihrem Mann erzählt, daß das Testament erst in einigen Tagen eröffnet werden dürfe. Es sei ja Agathe da, wurde ihm gesagt, um seine Rechte zu wahren, er werde auch eine rechtsförmliche Verständigung erhalten, und was außerdem Möbel, Erinnerungsstücke und dergleichen angehe, erhebe Ulrich als Junggeselle keinerlei Anspruch, den er nicht den Wünschen seiner Schwester unterzuordnen bereit wäre.

Schließlich hatte er Hagauer noch gefragt, ob er einverstanden wäre, falls sie das Haus, das doch niemand 398

nütze, verkaufen wollten, unverbindlich natürlich, weil ja noch keiner von ihnen das Testament gesehen habe, und Hagauer hatte erklärt, unverbindlich natürlich, daß er im Augenblick keinen Einwand dagegen wüßte, aber sich für den Fall der wirklichen Ausführung seine Stellungnahme natürlich noch vorbehalten müsse. Das alles hatte Agathe ihrem Bruder vorgeschlagen, und er hatte es nachgesagt, weil er sich nichts dabei dachte und Hagauer loswerden wollte. Plötzlich fühlte sich Agathe aber von neuem elend, denn nachdem sie dies so glücklich geordnet hatten, war doch ihr Gatte in Gesellschaft ihres Bruders noch zu ihr gekommen, um von ihr Abschied zu nehmen. Agathe hatte sich dabei so unfreundlich wie möglich benommen und hatte erklärt, daß es sich durchaus nicht sagen lasse, wann sie zurückkehren werde. Sie hatte, wie sie ihn kannte, sogleich wahrnehmen können, daß er darauf nicht gefaßt gewesen war und es übelnahm, daß er nun mit seinem Beschluß, sogleich weiterzureisen, als der Lieblose dastehe; er ärgerte sich noch nachträglich plötzlich über das Ansinnen, daß er im Gasthof hätte wohnen sollen, und über den kühlen Empfang, den er gefunden hatte, aber da er ein Mann des Planmäßigen war, sagte er nichts, beschloß, seiner Frau erst später alles auszustellen, und küßte sie, nachdem er seinen Hut genommen hatte, vorschriftsmäßig auf die Lippen. Und dieser Kuß, dem Ulrich zugesehen hatte, schien Agathe nun zu vernichten. «Wie hat es geschehen können, » fragte sie sich bestürzt «daß ich so lange an der Seite dieses Mannes ausgeharrt habe? Aber habe ich denn nicht mein ganzes Leben widerstandslos hingenommen?!»

Sie warf sich leidenschaftlich vor: «Wenn ich auch nur ein wenig wert wäre, hätte es niemals mit mir so weit kommen können!»

Agathe wandte ihr Gesicht von Ulrich ab, den sie bisher betrachtet hatte, und sah zum Fenster hinaus.

Niedere Vorstadthäuser, gefrorene Straße, eingemummte Menschen: es waren die Eindrücke einer häßlichen Öde, die vorüberrollten, und sie hielten ihr die Einöde des Lebens vor, in die sie sich durch ihre Nachlässigkeit geraten fühlte. Sie saß jetzt nicht mehr aufrecht, sondern hatte sich in die nach Alter riechenden Polster der Droschke etwas hinabgleiten lassen, um bequemer durch das Fenster sehen zu können, und änderte diese unschöne Haltung nicht mehr, in der sie von den Stößen des Wagens grob am Bauch gepackt und geschüttelt wurde. Dieser Körper verursachte ihr ein unheimliches Gefühl, wie er gleich einem Fetzen gebeutelt wurde, denn er war das einzige, was sie besaß. Manchmal, wenn sie als Pensionsmädchen des Morgens im Halbdunkel erwacht war, hatte sie den Eindruck gehabt, sie treibe in ihrem Körper wie zwischen den Planken eines Kahns der Zukunft entgegen. Jetzt war sie ungefähr doppelt so alt wie damals. Und es war im Wagen ebenso halbdunkel wie damals. Aber sie konnte sich noch immer nicht ihr Leben vorstellen und hatte keinen Begriff, wie es sein müßte. Männer waren eine Ergänzung und Vervollständigung des eigenen Körpers, aber kein seelischer Inhalt; man nahm sie, wie sie einen nahmen.

Ihr Körper sagte ihr, daß er schon in wenigen Jahren beginnen werde, seine Schönheit zu verlieren: also die Gefühle zu verlieren, die sich, unmittelbar aus seiner Selbstgewißheit kommend, nur zu einem geringen Teil durch Worte oder Gedanken ausdrücken ließen. Dann wär alles vorbei, ohne daß etwas dagewesen wäre. Es fiel ihr ein, daß Ulrich in ähnlicher Weise von der Nutzlosigkeit seines Sports gesprochen habe, und während sie ihr Gesicht zwang, abgewandt am Fenster zu bleiben, nahm sie sich vor, ihn auszufragen.

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Weiterer Verlauf des Ausflugs auf die Schwedenschanze Die Moral des nächsten Schritts Die Geschwister hatten bei den letzten niederen und schon ganz dörflichen Häusern an der Stadtgrenze den Wagen verlassen und wanderten auf einer zerfurchten, breiten, lang ansteigenden Landstraße, deren gefrorene Radspuren unter ihren Füßen zu Staub zerfielen, bergan. Ihr Schuhwerk hatte sich bald mit dem elenden Grau dieses Kutscher-und Bauernparketts bedeckt, das sich von ihrer eleganten städtischen Kleidung widerspruchsvoll abhob, und obwohl es nicht kalt war, blies ihnen von oben ein sehr scharfer Wind entgegen, worin ihre Wangen zu glühen begannen, so daß eine gläserne Sprödigkeit den Mund am Sprechen verhinderte.

Die Erinnerung an Hagauer drängte Agathe, sich ihrem Bruder zu erklären. Sie war überzeugt, daß ihm diese Mißheirat in jeder Weise unverständlich sein müsse, sogar nach den einfachsten gesellschaftlichen Ansprüchen; doch konnte sie sich, obwohl in ihrem Innern die Worte schon 88

bereit waren, nicht entschließen, den Widerstand der Steigung, der Kälte und der gegen ihr Gesicht 399

prallenden Luft zu überwinden. Ulrich schritt vor ihr, in einer breiten Schleifspur, die sie als Pfad benutzten; sie sah seine breiten, schlanken Schultern und zögerte. Sie hatte ihn sich immer hart, unnachgiebig und etwas abenteuerlich vorgestellt, vielleicht nur nach den Tadelworten, die sie von ihrem Vater und gelegentlich auch von Hagauer über ihn hörte, und hatte sich für ihre eigene Nachgiebigkeit im Leben vor diesem der Familie entfremdeten und entsprungenen Bruder geschämt. «Er hat recht gehabt, sich um mich nicht zu kümmern!» dachte sie, und ihre Bestürzung darüber, daß sie so oft in unangemessenen Lagen ausgeharrt habe, wiederholte sich. In Wahrheit war aber die gleiche, stürmische, widerspruchsvolle Leidenschaft in ihr, die sie zwischen den Türpfosten der Todeskammer ihres Vaters jene wilden Verse hatte ausrufen lassen. Sie schob sich an Ulrich heran, geriet dadurch außer Atem, und plötzlich erklangen hervorgestoßene Fragen, wie sie diese zweckdienliche Straße wahrscheinlich noch nie gehört hatte, und der Wind wurde von Worten zerrissen, die in allen Brüdern dieses bäurischen Hügelwinds noch nicht erklungen waren.

«Du erinnerst dich doch —» rief sie aus und nannte einige berühmte Beispiele der Literatur: «Du hast mir nicht gesagt, ob du einen Dieb entschuldigen kannst; aber diese Mörder würdest du doch gut finden?!»

«Natürlich!» schrie Ulrich zurück. «Das heißt - nein, warte doch: vielleicht sind das nur Menschen von guter Anlage, wertvolle Menschen. Das bleibt ihnen auch später als Verbrecher. Aber gut bleiben sie nicht!»

«Aber warum liebst du sie dann noch nach ihrer Untat?! Doch gewiß nicht nur wegen ihrer früheren guten Anlage, sondern deshalb, weil sie dir noch immer gefallen!»

«So ist es ja immer» sagte Ulrich. «Der Mensch gibt der Tat den Charakter, und nicht umgekehrt geschieht es! Wir trennen Gut und Bös, aber in uns wissen wir, daß sie ein Ganzes sind!»

Agathe war noch über das Rot der Kälte errötet, als sich ihr für die Leidenschaft ihrer Fragen, die sich in den Worten zugleich ausdrückte und verbarg, nur eine Anknüpfung an Bücher dargeboten hatte. Der Mißbrauch, der mit «Bildungsfragen» getrieben zu werden pflegt, ist so arg, daß das Gefühl entstehen konnte, sie seien nicht am Platz, wo der Wind bläst und Bäume stehn, als ob menschliche Bildung nicht die Zusammenfassung aller Naturgebilde wäre! Aber sie hatte sich tapfer bekämpft, ihren Arm in den ihres Bruders gelegt und erwiderte nun, nahe bei seinem Ohr, so daß sie nicht mehr schreien mußte, und mit einem eigentümlichen, im Gesicht zitternden Übermut: «Darum wohl vernichten wir die bösen Menschen, setzen ihnen aber doch freundlich eine Henkersmahlzeit vor!»

Ulrich, der ein wenig von der Leidenschaft an seiner Seite ahnte, beugte sich zu seiner Schwester hinab und sagte ihr, immerhin laut genug, ins Ohr: «Das glaubt jeder leicht von sich, daß er nichts Böses tun könne, weil er doch ein guter Mensch sei!»

Über diesen Worten waren sie oben angelangt, wo die Landstraße nicht mehr anstieg, sondern durch die Wellen einer ausgebreiteten, baumlosen Hochfläche schnitt. Der Wind hatte sich plötzlich gelegt, und es war nicht mehr kalt, aber in der angenehmen Stille verstummte das Gespräch wie abgeschnitten und ließ sich nicht mehr fortsetzen.

«Wie bist du bloß mitten im Wind auf Dostojewski und Beyle verfallen?» fragte Ulrich eine Zeit später.

«Wenn uns jemand beobachtet hätte: wir müßten ihm wie Narren vorgekommen sein!»

Agathe lachte auf. «Er hätte von uns so wenig verstanden wie vom Schreien der Vögel!… Übrigens hast du mir erst unlängst von Moosbrugger erzählt. »

Sie schritten aus.

Nach einer Weile sagte Agathe: «Ich mag ihn aber nicht!»

«Ich habe ihn eben auch schon fast vergessen» antwortete Ulrich.

Nachdem sie eine Weile wieder schweigend gegangen waren, blieb Agathe stehn. «Wie ist das?» fragte sie.

«Du hast doch sicher viel Unverantwortliches getan? Ich erinnere mich zum Beispiel, daß du einmal mit einem Schuß im Spital lagst. Du überlegst sicher auch nicht alles und jedes rechtzeitig… ?»

«Du stellst aber heute Fragen!» meinte Ulrich. «Was soll ich dir nun wohl darauf antworten?!»

«Bereust du nie, was du tust?» fragte Agathe rasch. «Ich habe den Eindruck, daß du nie etwas bereust.

Etwas Ähnliches hast du auch einmal selbst gesagt. »

«Gott im Himmel, » gab nun Ulrich zur Antwort, der wieder ausschritt «in jedem Minus steckt ein Plus.

Vielleicht habe ich so etwas gesagt, aber man braucht das doch nicht allzu wörtlich zu nehmen. »

«In allem Minus ein Plus?»

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«In allem Schlechten etwas Gutes. Oder wenigstens in vielem Schlechtem. Gewöhnlich steckt in einer menschlichen Minusvariante eine nicht erkannte Plusvariante: das habe ich wahrscheinlich sagen wollen.

Und wenn du etwas bereust, so kannst du doch gerade darin die Kraft finden, etwas so Gutes zu tun, wie du es sonst nie zustandebrächtest. Nie ist das, was man tut, entscheidend, sondern immer erst das, was man danach tut!»

«Und wenn du jemand einmal getötet hast, was kannst du danach tun?!»

Ulrich zuckte die Achseln. Er hatte Lust, rein aus Folgerichtigkeit zu antworten: «Ich könnte ja vielleicht dadurch befähigt werden, ein Gedicht zu schreiben, das Tausenden das innere Leben gibt, oder auch eine große Erfindung zu machen!» Aber er hielt an sich. «Nie würde das geschehn!» fiel ihm ein. «Nur ein Geisteskranker könnte es sich einbilden. Oder ein achtzehnjähriger Ästhet. Das sind, weiß Gott warum, Gedanken, die den Gesetzen der Natur widersprechen. Übrigens -» verbesserte er sich «beim Urmenschen ist es doch so gewesen; er hat getötet, weil das Menschenopfer ein großes religiöses Gedicht war!»

Er sprach nicht das eine und nicht das andere aus, aber Agathe fuhr fort: «Ich mag dir ja dumme Einwände machen, aber ich habe mir, als ich dich zum ersten Mal sagen hörte, es käme nicht auf den Schritt an, den man unternehme, sondern immer erst auf den nächsten, vorgestellt: Wenn dann ein Mensch innerlich fliegen, sozusagen moralisch fliegen und mit großer Geschwindigkeit fortwährend in neue Verbesserungen kommen könnte, dann würde er keine Reue kennen! Ich habe dich ungeheuer beneidet!»

«Das ist sinnlos» entgegnete Ulrich mit Nachdruck. «Ich habe gesagt, es käme nicht auf einen Fehltritt an, sondern auf den nächsten Schritt nach diesem. Aber worauf kommt es nach dem nächsten Schritt an? Doch offenbar auf den dann folgenden? Und nach dem nten auf den n plus ersten Schritt?! Ein solcher Mensch müßte ohne Ende und Entscheidung, ja geradezu ohne Wirklichkeit leben. Und doch ist es so, daß es immer nur auf den nächsten Schritt ankommt. Die Wahrheit ist, daß wir keine Methode besitzen, mit dieser ruhelosen Reihe richtig umzugehn. Meine Liebe, » schloß er unvermittelt «ich bereue manchmal mein ganzes Leben!»

« Gerade das triffst du doch nicht!» meinte seine Schwester.

«Warum denn nicht gar? Warum denn nun das nicht?!»

«Ich» erwiderte Agathe «habe nie etwas getan und darum immer dazu Zeit gehabt, meine wenigen Unternehmungen zu bereun. Ich bin überzeugt, daß du das nicht kennst: einen so unbeleuchteten Zustand!

Da kommen die Schatten, und was war, hat Macht über mich. Es ist mit den kleinsten Einzelheiten gegenwärtig, und ich kann nichts vergessen und nichts begreifen. Es ist ein unangenehmer Zustand… »

Sie sagte das ohne Bewegung, sehr bescheiden. Ulrich kannte es wirklich nicht, dieses Zurückströmen des Lebens, da das seine immer auf Ausdehnung eingerichtet gewesen war, und es erinnerte ihn bloß daran, daß seine Schwester sich schon manchmal in auffälliger Weise über sich selbst beklagt hatte. Aber er verabsäumte es, eine Frage zu stellen, denn sie waren mittlerweile auf einen Hügel gelangt, den er sich als das Ziel ihrer Wanderung vorgenommen hatte, und schritten seinem Rand zu. Das war eine mächtige Bodenerhebung, welche die Sage mit einer Schwedenbelagerung im Dreißigjährigen Krieg verknüpfte, weil sie wie eine Schanze aussah, wenn sie auch viel zu groß dafür war, ein grünes Bollwerk der Natur, ohne Busch und Baum, das auf der Seite, die es der Stadt zuwandte, in einer hohen hellen Felswand abbrach.

Eine tiefe, leere Hügelwelt umgab diesen Platz; kein Dorf, noch Haus war zu sehen, nur Wolkenschatten und graue Weidewiesen. Ulrich wurde wieder von diesem Ort gepackt, den er aus jugendlicher Erinnerung kannte: Noch immer lag weit vorne in der Tiefe die Stadt, ängstlich um ein paar Kirchen gedrängt, die darin wie Hennen mit ihren Jungen aussahen, so daß man unwillkürlich den Wunsch empfand, mit einem Sprung sie zu erreichen und zwischen sie hineinzusetzen oder sie mit dem Griff einer Riesenhand in die Finger zu bekommen. «Es muß ein herrliches Gefühl in diesen schwedischen Abenteurern gewesen sein, wenn sie nach wochenlangem Traben an einem solchen Ort anlangten und aus dem Sattel zum ersten Mal ihre Beute erblickten!» sagte er, nachdem er seiner Schwester die Bedeutung des Ortes erläutert hatte. «Die Schwere des Lebens - dieser heimlich auf uns lastende Mißmut, daß wir alle sterben müssen, daß alles so kurz ist und wahrscheinlich so vergeblich! - hebt sich eigentlich nur in solchen Augenblicken von uns!»

«In welchen Augenblicken, sagst du?!» fragte Agathe.

Ulrich wußte nicht, was er antworten solle. Er wollte überhaupt nicht antworten. Er erinnerte sich, daß er als junger Mensch jedesmal an dieser Stelle das Bedürfnis empfunden hatte, die Zähne zusammenzubeißen und zu schweigen. Schließlich erwiderte er: «In den abenteuerlichen Augenblicken, wo das Geschehen mit 401

uns durchgeht: recht eigentlich also in den sinnlosen!» Er fühlte dabei den Kopf wie eine taube Nuß am Halse, und alte Sprüche darin, wie: «Gevatter Tod» oder «Ich hab mein Sach auf nichts gestellt»; und zugleich das verklungene Fortissimo der Jahre, wo sich die Grenze zwischen Lebenserwartung und Leben noch nicht gehoben hat. Er dachte: «Welche Erlebnisse habe ich seither gehabt, die eindeutig und glücklich gewesen wären? Keine. »

Agathe entgegnete: «Ich habe immer ohne Sinn gehandelt, das macht nur unglücklich. »

Sie war ganz nahe an den Rand vorgegangen; die Worte ihres Bruders drangen taub an ihr Ohr, sie verstand sie nicht und sah eine ernste, kahle Landschaft vor sich, deren Traurigkeit mit ihrer eigenen übereinstimmte.

Als sie sich umwandte, sagte sie: «Es ist eine Umgebung, sich zu töten» und lächelte; «die Leere meines Kopfes würde unendlich sanft in die Leere dieses Anblicks aufgelöst werden!» Sie machte einige Schritte zu Ulrich zurück. «Durch mein ganzes Leben» fuhr sie fort «hat man mir vorgeworfen, daß ich keinen Willen habe, nichts liebe, nichts verehre, mit einem Wort, daß ich kein zum Leben entschlossener Mensch sei. Papa hat es mir vorgehalten, Hagauer hat es an mir getadelt: Nun sag mir du, um Gotteswillen, sag mir endlich, in welchen Augenblicken erscheint uns etwas im Leben notwendig?!»

«Wenn man sich im Bett umdreht!» erklärte Ulrich unwirsch.

«Was heißt das?!»

«Verzeih» bat er «das gewöhnliche Beispiel. Aber es ist wirklich so: Man ist unzufrieden mit seiner Lage; man denkt . unaufhörlich daran, sie zu ändern, und faßt einen Vorsatz nach dem ändern, ohne ihn auszuführen; endlich gibt man es auf: und mit einemmal hat man sich umgedreht! Eigentlich müßte man sagen, man ist umgedreht worden. Nach keinem anderen Muster handelt man sowohl in der Leidenschaft als auch in den lang geplanten Entschlüssen. » Er sah sie nicht an dabei, er antwortete sich selbst. Er fühlte noch immer: «Hier bin ich gestanden und habe etwas gewollt, das niemals befriedigt worden ist. »

Agathe lächelte auch jetzt, aber es zog über ihren Mund wie eine schmerzliche Bewegung. Sie kehrte wieder an ihren Platz zurück und sah stumm in die abenteuerliche Ferne hinaus. Dunkel hob sich ihr Pelzmantel gegen den Himmel ab, und ihre schlanke Gestalt bildete einen eindringlichen Gegensatz zu der breiten Stille der Landschaft und der darüberfliegenden Wolkenschatten. Ulrich hatte bei diesem Anblick ein unbeschreiblich starkes Gefühl des Geschehens. Er schämte sich beinahe, in Gesellschaft einer Frau dazustehn, statt an der Seite eines gesattelten Pferdes. Und obzwar ihm die ruhige Bildwirkung, die in diesem Augenblick von seiner Schwester ausging, als die Ursache deutlich bewußt war, hatte er den Eindruck, es geschehe etwas nicht mit ihm, sondern irgendwo in der Welt und er versäume es. Er nannte sich lächerlich. Und doch war etwas Richtiges an seiner unüberlegt ausgesprochenen Behauptung gewesen, daß er sein Leben bereue. Er sehnte sich manchmal danach, in Geschehnisse verwickelt zu sein wie in einen Ringkampf, und seien es sinnlose oder verbrecherische, nur gültig sollten sie sein. Endgültig, ohne das dauernd Vorläufige, das sie haben, wenn der Mensch seinen Erlebnissen überlegen bleibt. «Also in sich selbst endend-gültige» überlegte Ulrich, der jetzt ernsthaft nach einem Ausdruck suchte, und unversehens schweifte dieser Gedanke nicht mehr zu eingebildeten Geschehnissen, sondern endete bei dem Anblick, den Agathe selbst, und nichts als Spiegel ihrer selbst, in diesen Augenblicken darbot. So standen die Geschwister geraume Zeit von einander getrennt und jeder für sich, und ein mit Widersprüchen ausgefülltes Zaudern gestattete ihnen keine Veränderung. Das Merkwürdigste war aber wohl, daß Ulrich bei dieser Gelegenheit an nichts so wenig dachte wie daran, daß zu dieser Zeit doch schon etwas geschehen war, da er seinem ahnungslosen Schwager in Agathens Auftrag und im Wunsche, ihn abzuschütteln, die Lüge aufgebunden hatte, es wäre ein verschlossenes Testament vorhanden, das erst in einigen Tagen geöffnet werden dürfe, und ihm ebenso wider besseres Wissen versichert hatte, Agathe werde seine Ansprüche wahren, was Hagauer später Vorschubleistung nannte.

Irgendwie kamen sie doch von dieser Stelle, wo jeder in sich versunken gewesen war, gemeinsam weiter, ohne daß sie sich ausgesprochen hätten. Der Wind war von neuem aufgefrischt, und weil Agathe Müdigkeit zeigte, schlug Ulrich vor, ein Schäferhaus aufzusuchen, von dessen Nähe er wußte. Es war eine Steinhütte, die sie bald fanden, sie mußten den Kopf neigen, als sie eintraten, und das Weib des Schäfers starrte ihnen in abwehrender Verlegenheit entgegen. In der deutsch-slawischen Mischsprache, die dortzulande verstanden und dunkel von ihm noch erinnert wurde, bat Ulrich um die Erlaubnis, daß sie sich wärmen und im Schutz des Hauses ihren Mundvorrat verzehren dürften, und unterstützte das so freiwillig mit einem Stück Geld, daß die unfreiwillige Wirtin entsetzt darüber zu jammern begann, daß sie in ihrer abstoßenden 402

Armut «so schöne Gäste» nicht besser aufnehmen könne. Sie wischte den fettigen Tisch, der am Fenster der Hütte stand, fachte ein Reisigfeuer im Herd an und stellte Ziegenmilch darüber. Agathe hatte sich aber gleich am Tisch vorbei ans Fenster gezwängt und allen diesen Umständen keine Beachtung geschenkt, so als verstünde es sich von selbst, daß man irgendwo Obdach finde, und sei gleichgültig, wo. Sie sah durch das trübe, kleine Quadrat der vier Scheiben in die Gegend hinaus, die sich landeinwärts hinter der

«Schanze» befand und ohne den weiten Auslauf des Blicks, den diese gewährte, eher an die Empfindung eines Schwimmers erinnerte, den grüne Wasserkämme umgeben. Der Tag neigte sich zwar noch nicht dem Ende zu, aber er hatte seine Höhe überschritten und schon an Licht verloren. Agathe fragte plötzlich:

«Warum sprichst du nie ernst mit mir?!»

Wie hätte Ulrich richtiger darauf antworten können als durch ein flüchtiges Aufblicken, das Unschuld und Überraschung darstellen sollte?! Er war damit beschäftigt, Schinken, Wurst und Eier auf einem Blatt Papier zwischen sich und seiner Schwester auszubreiten.

Agathe fuhr aber fort: «Wenn man unversehens an deinen Körper stößt, tut man sich weh und erschrickt über den gewaltigen Unterschied. Wenn ich dich aber etwas Entscheidendes fragen will, löst du dich in Luft auf!» Sie rührte den Mundvorrat nicht an, den er ihr hinschob, ja sie hatte sich in ihrer Abneigung, den Tag jetzt mit einem ländlichen Festmahl zu beschließen, so aufgerichtet, daß sie nicht einmal den Tisch berührte.

Und nun wiederholte sich etwas, das dem Anstieg auf der Landstraße ähnlich war. Ulrich schob die Becher mit Ziegenmilch zur Seite, die soeben vom Herd auf den Tisch gelangt waren und auf die solchen Genusses unkundigen Nasen einen sehr unangenehmen Geruch eindringen ließen; und der nüchterne leichte Ekel, den er dabei fühlte,. wirkte so aufräumend, wie es manchmal eine plötzliche Bitternis tut. «Ich habe immer ernst zu dir gesprochen» entgegnete er. «Wenn es dir nicht gefällt, so kann ich nichts dafür; denn was dir an meinen Antworten nicht gefällt, ist dann die Moral unserer Zeit. » Es wurde ihm in diesem Augenblick klar, daß er seiner Schwester so vollständig, als es nur möglich sei, alles erklären wolle, was sie wissen müsse, um sich selbst, und ein wenig auch ihren Bruder zu verstehn.

Und mit der Entschlossenheit eines Mannes, der jede Unterbrechung für überflüssig erachtet, begann er einen längeren Vortrag:

«Die Moral unserer Zeit ist, was immer sonst geredet werden möge, die der Leistung. Fünf mehr oder weniger betrügerische Konkurse sind gut, wenn auf den fünften eine Zeit des Segens und des Segenspendens folgt. Der Erfolg kann alles vergessen machen. Wenn man bis zu dem Punkt gelangt, wo man Wahlgelder spendet und Bilder kauft, erwirbt man auch die staatliche Nachsicht. Es gibt dabei ungeschriebene Regeln: spendet einer für Kirchenzwecke, Wohltätigkeitswerke und politische Parteien, so braucht es höchstens ein Zehntel von dem zu sein, was er aufwenden müßte, wenn er sich einfallen ließe, seinen guten Willen durch Kunstförderung zu beweisen. Auch gibt es noch Grenzen für den Erfolg: noch kann man nicht auf jedem Weg jedes erreichen; einige Grundsätze der Krone, des Adels und der Gesellschaft haben auf den <Emporkömmling> eine gewisse Bremswirkung. Andererseits bekennt sich aber der Staat für seine überpersönliche Person selbst auf das nackteste zu dem Grundsatz, daß man rauben, morden und betrügen dürfe, so daraus Macht, Zivilisation und Glanz entstehe. Ich behaupte natürlich nicht, daß alles das auch theoretisch anerkannt werde, es ist theoretisch vielmehr ganz unklar. Aber ich habe dir damit die allergewöhnlichsten Tatsachen mitgeteilt. Die moralische Argumentation ist daneben nur ein Mittel zum Zweck mehr, ein Kampfmittel, von dem man ungefähr ebenso Gebrauch macht wie von der Lüge. So sieht die von Männern geschaffene Welt aus, und ich würde eine Frau sein wollen, wenn nicht -

die Frauen die Männer liebten!

Als gut gilt heute, was uns die Illusion gibt, daß es uns zu etwas bringen werde: Diese Überzeugung ist aber genau das, was du den fliegenden Menschen ohne Reue genannt hast und ich als ein Problem bezeichnet habe, für dessen Lösung uns die Methode fehlt. Als wissenschaftlich erzogener Mensch habe ich in jeder Lage das Gefühl, daß meine Kenntnisse unfertig und bloß ein Wegweiser sind, und daß ich vielleicht schon morgen eine neue Erfahrung besitzen werde, die mich anders denken läßt als heute; anderseits wird auch ein ganz von seinem Gefühl ergriffener Mensch, <ein Mensch im Aufstieg>, wie du ihn dir ausgemalt hast, jede seiner Handlungen als eine Stufe empfinden, über die er zur nächsten emporgehoben wird. Da ist also etwas in unserem Geist und in unserer Seele, eine <Moral des nächsten Schritts>, aber ist das bloß die Moral der fünf Konkurse, reicht die Unternehmermoral unserer Zeit so weit ins Innere, oder ist das nur der Schein einer Übereinstimmung, oder ist die Moral der Karrieremacher die vor der Zeit zur Welt 403

gekommene Spottgeburt tieferer Erscheinungen? Ich könnte dir im Augenblick darauf keine Antwort geben!»

Die kleine Atempause, die Ulrich in seinen Erklärungen eintreten ließ, war durchaus nur rednerisch, denn er beabsichtigte, seine Ansichten noch weiter zu entwickeln. Aber Agathe, die bisher in der ihr manchmal eigentümlichen lebendig-leblosen Art zugehört hatte, brachte das Gespräch durch die einfache Bemerkung planwidrig vorwärts, daß ihr diese Antwort gleichgültig wäre, denn sie wolle nur wissen, wie es Ulrich in Person halte, und alles, was man denken könne, aufzufassen, sei sie außerstande. «Wenn du von mir aber in irgend einer Form verlangen solltest, daß ich etwas leiste, so werde ich lieber keinerlei Moral haben» fügte sie hinzu.

«Gott sei Dank!» rief Ulrich aus. «Ich freue mich ja jedesmal, wenn ich deine Jugend, Schönheit und Kraft ansehe, und dann von dir höre, daß du gar keine Energie hast! Unser Zeitalter trieft ohnehin von Tatkraft. Es will nicht mehr Gedanken, sondern nur noch Taten sehn. Diese furchtbare Tatkraft rührt nur davon her, daß man nichts zu tun hat. Innerlich meine ich. Aber schließlich wiederholt jeder Mensch auch äußerlich sein Leben lang bloß ein und dieselbe Tat: er kommt in einen Beruf hinein und darin vorwärts. Ich glaube, hier sind wir wieder bei der Frage, die du mir vorhin unter freiem Himmel gestellt hast. Es ist so einfach, Tatkraft zu haben, und so schwierig, einen Tatsinn zu suchen! Das begreifen heute die wenigsten. Darum sehen die Tatmenschen wie Kegelspieler aus, die mit den Gebärden eines Napoleon imstande sind, neun hölzerne Dinger umzuwerfen. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn sie am Ende gewalttätig übereinander herfielen, bloß wegen der ihnen über den Kopf wachsenden Unbegreiflichkeit, daß alle Taten nicht genügen!… » Er hatte lebhaft begonnen, war aber wieder nachdenklich geworden und schwieg sogar eine Weile. Schließlich blickte er bloß lächelnd auf und begnügte sich zu sagen: «Du erklärst, wenn ich von dir eine moralische Anstrengung verlangen sollte, so werdest du mich enttäuschen. Ich erkläre dir, wenn du von mir moralische Ratschläge verlangen solltest, so werde ich dich enttäuschen. Ich meine, wir haben nichts Bestimmtes voneinander zu fordern; wir alle zusammen, meine ich: In Wahrheit hätten wir nicht Taten von einander zu fordern, sondern ihre Voraussetzungen erst zu schaffen; so ist mein Gefühl!»

«Wie sollte man das denn tun?!» meinte Agathe. Sie bemerkte wohl, daß Ulrich von der großen allgemeinen Rede, womit er begonnen hatte, abgekommen und in etwas ihn persönlicher Angehendes geraten war, aber für ihren Geschmack war auch dieses zu allgemein. Sie hatte, wie man weiß, ein Vorurteil gegen allgemeine Untersuchungen und hielt jede Anstrengung, die sozusagen über ihre Haut hinausging, ziemlich für aussichtslos; mit Sicherheit tat sie es, insofern sie sich selbst bemühen sollte, aber mit Wahrscheinlichkeit dehnte sie es auch auf die allgemeinen Behauptungen anderer aus. Dennoch verstand sie Ulrich recht gut. Es fiel ihr auf, daß ihr Bruder, während er seinen Kopf gesenkt hielt und leise gegen die Tatkraft sprach, mit der Klinge des Taschenmessers, das er, ohne davon zu wissen, nicht aus den Fingern ließ, Schnitte und Striche in die Tischplatte kerbte, und es waren an seiner Hand alle Sehnen gespannt. Die gedankenlose, aber beinahe leidenschaftliche Bewegung dieser Hand, und daß er von Agathe so aufrichtig gesagt hatte, sie sei jung und schön, das war ein sinnloser Zwie-gesang über dem Orchester der anderen Worte, dem sie auch gar keinen Sinn verlieh, außer daß sie hier saß und zusah.

«Was man tun sollte?» erwiderte Ulrich in der gleichen Weise wie bisher. «Ich habe bei unsrer Kusine einmal Graf Leinsdorf den Vorschlag gemacht, daß er ein Weltsekretariat der Genauigkeit und Seele gründen solle, damit auch die Leute, die nicht in die Kirche gehn, wüßten, was sie zu tun haben. Natürlich habe ich das nur zum Spaß gesagt, denn wir haben zwar seit langer Zeit für die Wahrheit die Wissenschaft geschaffen, aber wenn man für das, was übrig bleibt, etwas Ähnliches verlangen wollte, müßte man sich heute beinahe noch einer Torheit schämen. Und doch würde uns alles, was wir zwei bisher gesprochen haben, zu diesem Sekretariat führen!» Er hatte seine Rede aufgegeben und lehnte sich aufgerichtet gegen seine Bank zurück. «Ich löse mich wohl wieder auf, wenn ich hinzufüge: aber wie würde das heute ausfallen!?» fragte er. Da Agathe nicht antwortete, wurde es still. Ulrich sagte nach einer Weile:

«Übrigens glaube ich manchmal selbst, daß ich diese Überzeugung nicht aushaken kann! Als ich dich vorhin stehen sah, » fuhr er halblaut fort «dort auf der Schanze, ich weiß nicht warum, hatte ich ein wildes Bedürfnis, plötzlich etwas zu tun. Ich habe ja früher manchmal wirklich etwas Unüberlegtes getan; der Zauber besteht darin: wenn es geschehen war, so war, neben mir, noch etwas da. Manchmal kann ich mir denken, daß ein Mensch sogar durch ein Verbrechen glücklich wird, weil es ihm einen gewissen Ballast gibt, und dadurch vielleicht eine stetigere Fahrt. »

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Auch diesmal antwortete seine Schwester nicht gleich. Er betrachtete sie ruhig, vielleicht sogar forschend, aber ohne daß sich das Erlebnis, von dem er sprach, wiederholte, ja eigentlich ohne daß er überhaupt etwas dachte. Nach einer kleinen Weile fragte sie ihn: «Würdest du mir böse sein, wenn ich ein Verbrechen beginge?»

«Was soll ich nun wohl darauf antworten?!» meinte Ulrich, der sich wieder über sein Messer gebeugt hatte.

«Gibt es keine Entscheidung?» «Nein, es gibt heute keine wirkliche Entscheidung. » Danach sagte Agathe: «Ich möchte Hagauer umbringen. »

Ulrich zwang sich, nicht aufzublicken. Die Worte waren leicht und leise durch sein Ohr gegangen, aber als sie vorbei waren, ließen sie im Gedächtnis etwas zurück wie eine breite Radspur. Er hatte die Betonung sofort vergessen, er hätte das Gesicht sehen müssen, um zu wissen, wie die Worte zu verstehen seien, aber er wollte dem auch nicht einmal so viel Wichtigkeit beimessen. «Schön, » sagte er «warum solltest du es auch nicht tun! Wen gäbe es heute überhaupt, der so etwas nicht schon gewünscht hätte?! Tu’s doch, wenn du wirklich kannst! Es ist gerade so, als ob du gesagt hättest: ich möchte ihn für seine Fehler lieben!» Nun erst richtete er sich wieder auf und sah seiner Schwester ins Gesicht. Es war verstockt und überraschend aufgeregt. Den Blick auf ihrem Gesicht lassend, erklärte er langsam: «Da, siehst du, stimmt etwas nicht; an dieser Grenze zwischen dem, was in uns vorgeht, und dem, was außen vorgeht, fehlt heute irgendeine Vermittlung, das gestaltet sich nur mit ungeheuren Verlusten ineinander um: Fast könnte man sagen, unsere bösen Wünsche seien die Schattenseite des Lebens, das wir wirklich führen, und das Leben, das wir wirklich führen, sei die Schattenseite unserer guten Wünsche. Stell dir bloß vor, du tätest es wirklich: es wäre gar nicht das, was du gemeint hast, und du würdest zumindest furchtbar enttäuscht sein… »

«Ich könnte vielleicht plötzlich ein anderer Mensch sein: das hast du doch selbst zugegeben!» unterbrach ihn Agathe.

Als Ulrich in diesem Augenblick zur Seite schaute, sah er sich daran erinnert, daß sie nicht allein waren, sondern zwei Menschen ihrem Gespräch zuhorchten. Die alte Häuslerin - sie mochte übrigens kaum mehr als vierzig Jahre zählen und wurde bloß durch ihre Lumpen und die Spuren ihres demütigen Lebens älter gemacht - hatte sich freundlich neben dem Herd niedergelassen, und neben sie hatte sich der Schäfer gesetzt, der während des Gesprächs in seiner Hütte eingekehrt war, ohne daß die so lebhaft mit sich selbst beschäftigten Gäste ihn bemerkt hatten. Diese beiden Alten ließen ihre Hände auf den Knien ruhn und hörten, wie’s schien, geschmeichelt und staunend der Unterhaltung zu, die ihre Hütte erfüllte, sehr befriedigt von einem solchen Gespräch, wenn sie es auch nicht mit einem einzigen Wort verstanden. Sie sahen, daß die Milch nicht getrunken, die Wurst nicht gegessen wurde, es war ein Schauspiel, und wer weiß, ein erhebendes. Sie flüsterten nicht einmal miteinander. Ulrichs Blick tauchte in ihre geöffneten Augen, und aus Verlegenheit lächelte er ihnen zu, was von den beiden nur die Frau erwiderte, während der Mann in ehrerbietigem Abstand ernst verharrte.

«Wir müssen essen!» sagte Ulrich in englischer Sprache zu seiner Schwester. «Man wundert sich über uns!»

Gehorsam rührte sie ein wenig an Brot und Fleisch, und er selbst aß entschlossen und trank sogar ein wenig von der Milch. Dabei sagte Agathe aber laut und unbefangen: «Die Vorstellung, ihm ernsthaft weh zu tun, ist mir unangenehm, wenn ich mich richtig befrage. Ich möchte ihn also vielleicht nicht umbringen. Aber auslöschen möchte ich ihn! In kleine Stücke zerreißen, sie in einem Mörser zerstampfen und den Staub ins Wasser schütten: das möchte ich! Ganz und gar alles Gewesene vernichten!»

«Weißt du, es ist etwas komisch, was wir da reden» bemerkte Ulrich.

Agathe schwieg eine Weile. Dann sagte sie aber: «Du hast mir doch am ersten Tag versprochen, daß du mir gegen Hagauer beistehen wirst!»

«Natürlich werde ich das tun. Aber doch nicht so. » Wieder schwieg Agathe. Dann sagte sie plötzlich:

«Wenn du ein Auto kaufen oder mieten möchtest, könnten wir über Iglau zu mir fahren und auf der weiteren Strecke, ich glaube über Tabor, zurück. Kein Mensch käme auf den Einfall, daß wir nachts dort waren. »

«Und die Hausangestellten? Zum Glück kann ich überhaupt nicht einen Wagen bedienen!» Ulrich lachte, aber dann schüttelte er unwillig den Kopf: «Das sind so Ideen von

heute!»

«Ja, das sagst du» meinte Agathe. Sie schob nachdenklich mit dem Fingernagel ein Stück Speck hin und her, 405

und es sah aus, als ob dieser Fingernagel das ganz allein täte, der einen kleinen öligen Fleck davon bekommen hatte. «Aber du sagst doch auch: die Tugenden der Gesellschaft sind Laster für den Heiligen!»

«Nur habe ich nicht gesagt, daß die Laster der Gesellschaft für den Heiligen Tugenden sind!» stellte Ulrich richtig. Er lachte, fing Agathens Hand und putzte sie mit seinem Taschentuch.

«Du nimmst eben immer alles wieder zurück!» schalt Agathe und lächelte unzufrieden, während ihr das Blut ins Gesicht stieg, denn sie suchte ihren Finger zu befreien.

Die beiden Alten am Herd, die noch immer genau so zusahen wie bisher, lächelten jetzt als Echo über das ganze Gesicht.

«Wenn du so mit mir hin und her redest, » stieß Agathe leise hervor «ist mir, als sähe ich mich in den Scherben eines Spiegels: man erblickt sich bei dir nie in ganzer Figur!»

«Nein, » erwiderte Ulrich, der ihre Hand nicht losließ «man erblickt sich heute nicht in ganzer Figur, und man bewegt sich nie in ganzer Figur: das ist es eben!»

Agathe gab nach und ließ plötzlich von ihrem Arm ab. «Ich bin gewiß das Gegenteil von heilig» erklärte sie leise. «Ärger als eine Bezahlte bin ich vielleicht in meiner Gleichgültigkeit gewesen. Ich bin gewiß auch nicht unternehmungssüchtig und werde vielleicht niemand umbringen können. Aber wie du das von dem Heiligen zum erstenmal gesagt hast, es ist schon recht eine Weile her, da habe ich etwas <in ganzer Figur> gesehn… !» Sie senkte den Kopf, um nachzudenken oder sich nicht ins Gesicht schaun zu lassen. «Ich habe einen Heiligen gesehn, der ist vielleicht auf einem Brunnen gestanden. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe vielleicht gar nichts gesehn, aber ich habe etwas gefühlt, das man so ausdrücken müßte. Das Wasser ist geflossen, und was der Heilige tat, kam auch über den Rand geflossen, als wäre er ein nach allen Richtungen sacht überströmendes Brunnenbecken. So, denke ich, müßte man sein, dann täte man immer recht, und es wäre doch völlig gleichgültig, was man täte. »

«Agathe sieht sich in heiliger Überfülle und zitternd ob ihrer Sünden in der Welt stehn und bemerkt ungläubig, daß sich ihr die Schlangen und Nashorne, Berge und Schluchten still und noch viel kleiner, als sie es selbst ist, zu Füßen legen. Aber was ist dann mit Hagauer?» neckte Ulrich leise.

«Das ist es eben. Der kann nicht dabei sein. Der muß fort. »

«Ich werde dir auch etwas erzählen» sagte ihr Bruder. «Jedesmal wenn ich an etwas Gemeinsamem, irgendeiner rechten Menschenangelegenheit habe teilnehmen müssen, ist es mir ergangen wie einem Mann, der vor dem letzten Akt aus dem Theater tritt, um einen Augenblick Luft zu schöpfen, die große dunkle Leere mit den vielen Sternen sieht und Hut, Rock, Aufführung zurückläßt, um davonzugehn. »

Agathe sah ihn forschend an. Das paßte als Antwort und paßte nicht.

Ulrich sah auch in ihr Gesicht. «Dich plagt auch oft eine Abneigung, zu der es die Neigung noch nicht gibt»

sagte er und dachte: «Ist sie mir wirklich ähnlich?» Wieder kam ihm vor: vielleicht so wie ein Pastell einem Holzschnitt. Er hielt sich für den Festeren. Und sie war schöner als er. So angenehm schön. Er griff jetzt vom Finger nach ihrer ganzen Hand; es war eine warme, lange Hand voll Leben, und bisher hatte er sie nur zur Begrüßung in der seinen gehalten. Seine junge Schwester war aufgeregt, und wenn ihr auch nicht gerade Tränen in den Augen standen, so war doch feuchte Luft darin. «In wenigen Tagen wirst du auch von mir fortgehn, » sagte sie «und wie soll ich dann mit allem fertig werden?!»

«Wir können ja zusammenbleiben, du kannst mir nachkommen. »

«Wie stellst du dir das vor?» fragte Agathe und hatte ihre kleine Denkfalte auf der Stirn.

«Nun, noch gar nicht stell ich es mir vor; es ist mir doch soeben erst eingefallen. » Er stand auf und gab den Schäfersleuten noch ein Stück Geld, «für den zerschnittenen Tisch. » Agathe sah durch eine Wolke die Bauern grinsen, nicken und irgend etwas Freudiges in kurzen, unverständlichen Worten beteuern. Als sie an ihnen vorbeikam, fühlte sie die vier gastfreundlichen Augen nackt und gerührt auf ihrem Gesicht und begriff, daß sie für ein Liebespaar gehalten worden seien, das sich gezankt und wieder versöhnt hatte. «Sie haben uns für ein Liebespaar gehalten!» sagte sie. Übermütig schob sie ihren Arm in den ihres Bruders, und ihre ganze Freude kam zum Ausbruch. «Du solltest mir einen Kuß geben!» verlangte sie und preßte lachend Ulrichs Arm an ihren Körper, als sie auf der Schwelle der Hütte standen und die niedere Tür sich in das Dunkel des Abends öffnete.

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406

Heilige Gespräche. Beginn

Während des Restes von Ulrichs Aufenthalt war von Hagauer wenig mehr die Rede, aber auch auf den Einfall, daß sie ihrem Zusammentreffen Dauer geben und ein gemeinsames Leben aufnehmen wollten, kamen die Geschwister lange nicht zurück. Trotzdem schwelte das Feuer, das in dem ungezügelten Verlangen Agathes, ihren Mann zu beseitigen, als Stichflamme ausgebrochen war, unter der Asche weiter.

Es breitete sich in Gesprächen aus, die zu keinem Ende kamen, und doch von neuem aufschlugen; vielleicht sollte man sagen: Agathes Gemüt suchte nach einer anderen Möglichkeit, frei zu brennen.

Gewöhnlich stellte sie im Beginn solcher Gespräche eine bestimmte und persönliche Frage, deren innere Form «darf ich oder darf ich nicht?» war. Die Gesetzlosigkeit ihres Wesens hatte bis dahin die traurige und ermüdete Gestalt der Überzeugung gehabt: «Ich darf alles, aber ich will ohnehin nicht», und so machten die Fragen seiner jungen Schwester nicht unberechtigterweise zuweilen auf Ulrich einen ähnlichen Eindruck, wie es die Fragen eines Kindes tun, die so warm sind wie die kleinen Hände dieses hilflosen Wesens.

Seine eigenen Antworten hatten eine andere, für ihn aber nicht weniger bezeichnende Art: er gab allemal gern etwas von der Ausbeute seines Lebens und Nachdenkens darauf zum besten, und wie es seiner Gewohnheit entsprach, drückte er sich in einer ebenso offenen wie geistig unternehmenden Art aus. Er kam immer bald auf «die Moral der Geschichte» zu sprechen, von der seine Schwester erzählte, faßte in Formeln zusammen, nahm sich gern selbst zum Vergleich und berichtete auf diese Weise Agathe viel von sich, namentlich aus seinem bewegteren, früheren Leben. Agathe erzählte ihm nichts von sich, aber sie bewunderte an ihm die Fähigkeit, so von seinem Leben sprechen zu können, und daß er alle ihre Anregungen in moralische Betrachtung zog, war ihr gerade recht. Denn Moral ist nichts anderes als eine Ordnung der Seele und der Dinge, beide umfassend, und so ist es nicht sonderbar, daß junge Menschen, deren Lebenswille noch allseitig unabgestumpft ist, viel von ihr reden. Eher war bei einem Mann von Ulrichs Alter und Erfahrung eine Erklärung nötig; denn Männer sprechen von Moral nur beruflich, wenn es zu ihrer Amtssprache gehört, sonst aber ist das Wort bei ihnen schon von den Tätigkeiten des Lebens eingeschluckt worden und kommt nicht mehr frei. Wenn Ulrich von Moral sprach, bedeutete es darum eine tiefe Unordnung, die Agathe gleichgestimmt anzog. Sie schämte sich jetzt ihres etwas einfältigen Bekenntnisses, daß sie «ganz einverstanden mit sich selbst» leben wolle, denn sie hörte ja, welche verwickelten Bedingungen sich davorstellten, und doch wünschte sie ungeduldig, daß ihr Bruder rascher zu einem Ergebnis käme, denn oft schien ihr, daß sich alles, was er sage, gerade dahin bewege, ja sogar jedesmal gegen Ende immer genauer, und erst mit dem letzten Schritt vor der Schwelle haltmache, wo er das Unternehmen jedesmal aufgab.

Der Ort dieser Wendung und dieser letzten Schritte, dessen lähmende Wirkung auch Ulrich nicht entging, läßt sich aber am allgemeinsten dadurch bezeichnen, daß jeder Satz der europäischen Moral auf einen solchen Punkt führt, wo es nicht weitergeht; so daß ein Mensch, der von sich Rechenschaft gibt, zuerst die Gebärden eines Watens im Seichten hat, solange er feste Überzeugungen unter sich fühlt, plötzlich aber die des schrecklichen Ertrinkens, wenn er etwas weiter geht, als versänke der Boden des Lebens vom Seichten unmittelbar in eine ganz unsichere Tiefe. Das drückte sich auch äußerlich an den Geschwistern in einer bestimmten Weise aus: Ulrich konnte ruhig und erklärend über alles sprechen, was er zunächst vorbrachte, solange er mit Verstand daran teilnahm, und einen ähnlichen Eifer fühlte Agathe im Zuhören; aber dann, wenn sie aufhörten und schwiegen, kam eine viel aufgeregtere Spannung in ihre Gesichter. Und so geschah es einmal, daß sie über die Grenze hinausgeführt wurden, an der sie bis dahin unbewußt eingehalten hatten.

Ulrich hatte behauptet: «Das einzige gründliche Kennzeichen unserer Moral ist es, daß sich ihre Gebote widersprechen. Der moralischeste von allen Sätzen ist der: die Ausnahme bestätigt die Regel!»

Wahrscheinlich hatte ihn dazu bloß die Abneigung gegen ein moralisches Verfahren bewogen, das sich unbeugsam gibt und in der Ausführung jeder Beugung nachgeben muß, wodurch es sich gerade im Gegensatz zu einem genauen Vorgehen befindet, das zuerst auf die Erfahrung achtet und das Gesetz aus ihrer Beobachtung gewinnt. Er kannte natürlich den Unterschied, der zwischen Natur-und Sittengesetzen so gemacht wird, daß man die einen der sittenlosen Natur ablese, die anderen aber der weniger hartnäckigen Menschennatur auferlegen müsse; doch war er der Meinung, daß irgendetwas an dieser Trennung heute nicht mehr stimme, und hatte gerade sagen wollen, daß sich die Moral dabei in einem um hundert Jahre 407

verspäteten Denkzustand befinde, weshalb sie den veränderten Bedürfnissen so schwer anzupassen sei. Ehe er jedoch in seiner Erklärung so weit gekommen war, unterbrach ihn Agathe mit einer Antwort, die sehr einfach erschien, ihn aber im Augenblick verblüffte.

«Ist Gutsein denn nicht gut?» fragte sie ihren Bruder und hatte etwas Ähnliches in den Augen wie damals, als sie mit den Orden etwas tat, das wahrscheinlich nicht nach jedermanns Urteil gut gewesen wäre.

«Du hast recht» erwiderte er belebt. «Man muß wahrhaftig erst einen solchen Satz bilden, wenn man den ursprünglichen Sinn wieder fühlen will! Aber Kinder lieben das Gutsein noch wie Leckerei — »

«Übrigens auch das Bösesein» ergänzte Agathe.

«Aber gehört Gutsein zu den Leidenschaften Erwachsener?» fragte Ulrich. «Es gehört zu ihren Grundsätzen! Sie sind nicht gut, das käme ihnen kindisch vor, sondern handeln gut; ein guter Mensch ist einer, der gute Grundsätze hat und gute Werke tut: es ist ein offenes Geheimnis, daß er dabei der größte Ekel sein kann!»

«Siehe Hagauer» ergänzte Agathe.

«Es steckt eine paradoxe Sinnlosigkeit in diesen guten Menschen» meinte Ulrich. «Sie machen aus einem Zustand eine Forderung, aus einer Gnade eine Norm, aus einem Sein ein Ziel! In dieser Familie der Guten gibt es lebenslang nur Reste zu essen, und dazu geht das Gerücht um, daß einmal ein Festtag gewesen sei, von dem sie herrühren! Gewiß, von Zeit zu Zeit werden ein paar Tugenden von neuem Mode, aber sobald das geschehen ist, verlieren sie auch schon wieder die Frische. »

«Du hast einmal gesagt, daß die gleiche Handlung gut oder bös sein kann, je nach dem Zusammenhang?»

fragte nun Agathe.

Ulrich stimmte zu. Das war seine Theorie, daß die moralischen Werte nicht absolute Größen, sondern Funktionsbegriffe seien. Wenn wir aber moralisieren und verallgemeinern, so lösen wir sie aus ihrem natürlichen Ganzen: «Und wahrscheinlich ist schon das die Stelle, wo etwas auf dem Weg zur Tugend nicht in Ordnung ist» sagte er.

«Wie könnten auch sonst moralische Menschen so langweilig sein, » ergänzte Agathe «während doch ihre Absicht, gut zu sein, das Entzückendste, Schwierigste und Kurzweiligste sein müßte, was man sich nur vorstellen kann!»

Ihr Bruder schwankte; aber plötzlich ließ er sich die Behauptung entschlüpfen, durch die er und sie bald in ungewöhnliche Beziehungen gerieten. «Unsere Moral» erklärte er «ist die Auskristallisation einer inneren Bewegung, die von ihr völlig verschieden ist! Von allem, was wir sagen, stimmt überhaupt nichts! Nimm irgendeinen Satz, mir ist gerade der eingefallen: <In einem Gefängnis soll Reue herrschen!> Es ist ein Satz, den man mit bestem Gewissen sagen kann; aber niemand nimmt ihn wörtlich, denn sonst käme man zum Höllenfeuer für die Eingekerkerten! Wie nimmt man ihn also dann? Sicher wissen wenige, was Reue ist, aber jeder sagt, wo sie herrschen soll. Oder denk bloß, etwas erhebt dich: woher ist denn das in die Moral geflogen? Wann sind wir so mit dem Gesicht im Staub gelegen, daß es uns beseligte, erhoben zu werden?

Oder nimm es wörtlich, daß dich ein Gedanke ergreift: im Augenblick, wo du diese Begegnung so körperlich spürtest, wärst du schon in den Grenzen des Irrenreichs! Und so will jedes Wort wörtlich genommen werden, sonst verwest es zur Lüge, aber man darf keines wörtlich nehmen, sonst wird die Welt ein Tollhaus! Irgendein großer Rausch steigt als dunkle Erinnerung daraus auf, und man kommt zuweilen auf den Gedanken, daß alles, was wir erleben, losgerissene und zerstörte Teile eines alten Ganzen sind, die man einmal falsch ergänzt hat. »

Das Gespräch, worin diese Bemerkung fiel, fand im Bibliotheks-und Arbeitszimmer statt, und während Ulrich vor einigen Werken saß, die er auf die Reise mitgenommen hatte, durchstöberte seine Schwester den juridischen und philosophischen Büchernachlaß, dessen Miterbin sie geworden war, und holte sich daraus zum Teil die Anregung zu ihren Fragen. Seit ihrem Ausflug hatten die Geschwister das Haus selten verlassen. Sie beschäftigten sich auf diese Weise. Zuweilen gingen sie im Garten spazieren, von dessen nacktem Gesträuch der Winter die Blätter geschält hatte, so daß überall darunter die von der Nässe aufgedunsene Erde zutage trat. Dieser Anblick war quälend. Die Luft war blaß wie etwas, das lange in Wasser gelegen hat. Der Garten war nicht groß. Die Wege liefen nach kurzem in sich selbst zurück. Der Zustand, in den die beiden auf diesen Wegen gerieten, trieb im Kreis, wie es eine Strömung vor einer Sperre tut, an der sie hochsteigt. Wenn sie ins Haus zurückkehrten, waren die Wohnzimmer dunkel und geschützt, und die Fenster glichen tiefen Lichtschächten, durch die der Tag so zart und starr hereinkam, als bestünde er 408

aus dünnem Elfenbein. Agathe war jetzt, nach dem letzten, lebhaften Ausruf Ulrichs, von der Bücherleiter, auf der sie gesessen hatte, herabgestiegen und hatte ihren Arm um seine Schulter gelegt, ohne zu antworten.

Das war eine ungewohnte Zärtlichkeit, denn außer den beiden Küssen, dem am Abend ihrer ersten Begegnung und dem vor wenigen Tagen, als sie den Heimweg aus der Schäferhütte antraten, hatte sich die natürliche geschwisterliche Sprödigkeit noch nicht zu mehr als Worten oder kleinen Freundlichkeiten gelöst, und auch jene beiden Male war die Wirkung der vertraulichen Berührung durch die des Unerwarteten wie des Übermütigen verdeckt worden. Diesmal aber dachte Ulrich gleich an das Strumpfband, das seine Schwester warm statt vieler Worte dem Toten mitgegeben hatte. Und es fuhr ihm auch durch den Kopf: «Es ist doch sicher, daß sie einen Liebhaber besitzt; aber sie scheint sich nicht viel aus ihm zu machen, denn sonst hielte sie sich nicht mit solcher Ruhe hier auf!» Es machte sich geltend, daß sie eine Frau war, die unabhängig von ihm ein Leben als Frau geführt habe und es auch weiter führen werde.

Seine Schulter empfand schon an der ruhenden Gewichtsverteilung die Schönheit ihres Arms, und an der Seite, die seiner Schwester zugewandt war, fühlte er schattenhaft die Nähe ihrer blonden Achselhöhle und den Umriß ihres Busens. Um aber nicht so dazusitzen und widerstandslos der stillen Umarmung preisgegeben zu sein, umfaßte er mit seiner Hand die nahe dem Hals ruhenden Finger der ihren und übertönte mit dieser Berührung die andere. «Weißt du, es ist etwas kindisch, was wir da reden» sagte er nicht ohne Mißmut. «Die Welt ist voll tätiger Entscheidung, und wir sitzen da und reden in fauler Üppigkeit von der Süßigkeit des Gutseins und den theoretischen Töpfen, in die man sie füllen könnte!»

Agathe befreite ihre Finger, ließ aber die Hand wieder auf ihren Platz zurückkehren. «Was liest du da eigentlich all die Tage?» fragte sie.

«Du weißt es doch, » erwiderte er «siehst mir ja oft genug hinter dem Rücken ins Buch!»

«Aber ich werde nicht recht klug daraus. »

Er konnte sich nicht entschließen, darüber Rede zu stehn. Agathe, die nun einen Stuhl herangezogen hatte, kauerte hinter ihm und hatte ihr Gesicht einfach friedlich in sein Haar gelegt, als schliefe sie darin. Ulrich wurde davon wunderlich an den Augenblick erinnert, wo sein Feind Arnheim den Arm um ihn geschlungen hatte und die ungeregelt strömende Berührung eines anderen Wesens wie durch eine Bresche in ihn eingedrungen war. Aber diesmal drängte seine eigene Natur nicht die fremde zurück, sondern es drängte ihr etwas entgegen, das unter dem Geröll von Mißtrauen und Abneigungen begraben gewesen war, mit dem sich das Herz eines Menschen füllt, der längere Zeit gelebt hat. Agathes Verhältnis zu ihm, das zwischen Schwester und Frau, Fremder und Freundin schwebte und mit keiner von allen gleichzusetzen war, bestand auch nicht, worüber er schon oft nachgedacht hatte, in einer Übereinstimmung der Gedanken oder Gefühle, die besonders weit gegangen wäre; aber es war, wie er in diesem Augenblick fast verwundert bemerkte, völlig eins mit der in verhältnismäßig wenigen Tagen aus unzähligen Eindrücken, die sich in Kürze nicht wiederholen ließen, entstandenen Tatsache geworden, daß Agathes Mund ohne jeden anderen Anspruch auf seinem Haar ruhte und daß das Haar warm und feucht von ihrem Atem wurde. Das war so geistig wie körperlich; denn, als Agathe ihre Frage wiederholte, überkam Ulrich ein Ernst, wie er ihn seit gläubigen Jugendtagen nicht mehr gefühlt hatte, und ehe sich diese Wolke schwerelosen Ernstes wieder verflüchtigte, die vom Raum hinter seinem Rücken bis zum Buch, worauf seine Gedanken ruhten, durch den ganzen Körper reichte, hatte er eine Antwort gegeben, die ihn mehr durch ihren völlig ironielosen Ton als den Inhalt überraschte: er sagte: «Ich unterrichte mich über die Wege des heiligen Lebens. »

Er hatte sich erhoben; aber nicht, um sich von seiner Schwester zu entfernen, indem er sich einige Schritte vor ihr aufstellte, sondern um sie von dort sehen zu können. «Du brauchst nicht zu lachen» sagte er. «Ich bin nicht fromm; ich sehe mir den heiligen Weg mit der Frage an, ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!»

«Ich habe nur gelacht, » erwiderte Agathe <weil ich so neugierig bin, was du sagen wirst. Die Bücher, die du mitgebracht hast, sind mir unbekannt, aber es kommt mir vor, daß sie mir nicht ganz unverständlich sind.

»

«Du kennst das?» fragte ihr Bruder, bereits davon überzeugt, daß sie es kenne: «Man kann mitten in der heftigsten Bewegung sein, aber plötzlich fällt das Auge auf das Spiel irgendeines Dings, das Gott und die Welt verlassen haben, und man kann sich nicht mehr von ihm losreißen?! Mit einemmal wird man von seinem kleinwenigen Sein wie eine Feder getragen, die aller Schwere und Kräfte bar im Wind fliegt?!»

«Bis auf die heftige Bewegung, die du so stark betonst, glaube ich es zu erkennen» meinte Agathe und 409

mußte nun wieder über die gewalttätige Verlegenheit lächeln, die sich im Gesicht ihres Bruders abmalte und gar nicht zu seinen zarten Worten paßte. «Man vergißt manchmal das Sehen und Hören, und das Sprechen vergeht einem ganz. Und doch fühlt man gerade in solchen Minuten, daß man für einen Augenblick zu sich gekommen ist. »

«Ich würde sagen, » fuhr Ulrich lebhaft fort «es ist dem ähnlich, daß man auf eine große spiegelnde Wasserfläche hinausschaut: das Auge glaubt Dunkel zu erblicken, so hell ist alles, und jenseits am Ufer scheinen die Dinge nicht auf der Erde zu stehn, sondern schweben in der Luft mit einer zarten Überdeutlichkeit, die beinahe schmerzt und verwirrt. Es ist ebensowohl eine Steigerung wie ein Verlieren in diesem Eindruck. Man ist mit allem verbunden und kann an nichts heran. Du stehst hüben und die Welt drüben, überichhaft und übergegenständlich, aber beide fast schmerzhaft deutlich, und was die sonst Vermengten trennt und verbindet, ist ein dunkles Blinken, ein Überströmen und Auslöschen, ein Aus-und Einschwingen. Ihr schwimmt wie der Fisch im Wasser oder der Vogel in der Luft, aber es ist kein Ufer da und kein Ast und nichts als dieses Schwimmen!» Ulrich dichtete wohl; doch das Feuer und die Festigkeit seiner Sprache hoben sich von ihrem zarten und schwebenden Inhalt metallen ab. Er schien eine Vorsicht abgeworfen zu haben, die ihn sonst beherrschte, und Agathe sah ihn erstaunt an, aber auch mit unruhiger Freude.

«Und du meinst» fragte sie: «dahinter sei etwas? Mehr als eine <Anwandlung> oder wie solche abscheulich beschwichtigende Worte heißen?»

«Und ob ich das meine!» Er setzte sich nun wieder an seinen früheren Platz und blätterte in den Büchern, die dort lagen, während Agathe aufstand, um ihm Raum zu lassen. Dann schlug er eine der Schriften mit den Worten auf: «Die Heiligen beschreiben es so» und las vor: «Während dieser Tage war ich überaus unruhig. Bald saß ich ein wenig, bald wandelte ich hin und wieder durchs Haus. Es war wie eine Pein und dennoch mehr eine Süßigkeit als eine Pein zu nennen, denn es war kein Verdruß dabei, sondern eine seltsame, ganz übernatürliche Annehmlichkeit. Ich hatte alle meine Vermögen überstiegen bis an die dunkle Kraft. Da hörte ich ohne Laut, da sah ich ohne Licht. Dann wurde mein Herz grundlos, mein Geist formlos und meine Natur wesenlos. » Es kam ihnen beiden vor, daß diese Worte Ähnlichkeit mit der Unruhe hätten, von der sie selbst durch Haus und Garten getrieben wurden, und zumal Agathe fühlte sich davon überrascht, daß auch die Heiligen ihr Herz grundlos und ihren Geist formlos nennten; aber Ulrich schien bald wieder von seiner Ironie befangen worden zu sein.

Er erklärte: «Die Heiligen sagen: einst war ich eingeschlossen, dann wurde ich aus mir herausgezogen und ohne Erkennen in Gott versenkt. Die Kaiser auf der Jagd, von denen wir aus unseren Lesebüchern gehört haben, beschreiben es anders: sie erzählen, daß ihnen ein Hirsch mit einem Kreuz im Geweih erschienen sei, so daß ihnen der Mordspeer entsank; und dann ließen sie an der Stelle eine Kapelle errichten, damit sie doch auch wieder weiter jagen konnten. Und die reichen, klugen Damen, mit denen ich verkehre, werden dir, wenn du sie so etwas fragen solltest, sofort zur Antwort geben, der letzte, der solche Erlebnisse gemalt habe, sei van Gogh gewesen. Vielleicht werden sie auch statt von einem Maler von den Gedichten Rilkes sprechen; doch im allgemeinen ziehen sie van Gogh vor, der eine ausgezeichnete Kapitalsanlage darstellt und sich die Ohren abgeschnitten hat, weil ihm sein Malen nicht genug tat neben der Inbrunst der Dinge.

Die Mehrheit unseres Volkes dagegen wird sagen, Ohrenabschneiden sei kein deutscher Gefühlsausdruck, sondern die unverkennbare Leere des Hochblicks sei einer, die man auf Berggipfeln erlebt. Für sie sind Einsamkeit, Blümelein und rauschende Wässerchen der Inbegriff menschlicher Erhebung: Und auch noch in diesem Edelochsentum des ungekochten Naturgenusses liegt die mißverstandene letzte Auswirkung eines geheimnisvollen zweiten Lebens, und alles in allem muß es dieses also doch wohl geben oder gegeben haben!»

«Dann solltest du lieber nicht darüber spotten» wandte Agathe ein, finster vor Wißbegierde und strahlend vor Ungeduld.

«Ich spotte nur, weil ich es liebe» entgegnete Ulrich kurz.

12

Heilige Gespräche. Wechselvoller Fortgang.

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Es lag in der Folge immer eine große Anzahl von Büchern auf dem Tisch, die er teils von zu Hause mitgebracht, teils nachher gekauft hatte, und er sprach bald frei, bald schlug er zum Beweis, oder weil er einen Ausspruch wörtlich wiedergeben wollte, in ihnen eine der vielen Stellen auf, die er durch eingesteckte Zettel gekennzeichnet hatte. Es waren zumeist Lebensbeschreibungen und persönliche Äußerungen von Mystikern, was er vor sich hatte, oder wissenschaftliche Arbeiten über sie, und gewöhnlich zweigte er mit den Worten «Laß uns einmal so nüchtern wie möglich nachsehn, was hier vor sich geht» das Gespräch davon ab. Das war eine vorsichtige Haltung, die er freiwillig nicht so leicht aufgab, und so sagte er denn auch einmal: «Wenn du diese Beschreibungen ganz durchlesen könntest, die Männer und Frauen vergangener Jahrhunderte vom Zustand ihrer Gottesergriffenheit hinterlassen haben, so würdest du finden, daß zwischen allen Buchstaben Wahrheit und Wirklichkeit ist, und doch würden die aus diesen Buchstaben gebildeten Behauptungen deinem Gegenwartswillen aufs äußerste widerstreben. » Und er fuhr fort: «Sie sprechen von einem überflutenden Glanz. Von einer unendlichen Weite, einem unendlichen Lichtreichtum. Von einer schwebenden <Einheit> aller Dinge und Seelenkräfte. Von einem wunderbaren und unbeschreiblichen Aufschwung des Herzens. Von Erkenntnissen, die so schnell sind, daß alles zugleich ist, und wie Feuertropfen sind, die in die Welt fallen. Und anderseits sprechen sie von einem Vergessen und Nichtmehrverstehn, ja auch von einem Untergehn der Dinge. Sie sprechen von einer ungeheuren Ruhe, die den Leidenschaften entrückt ist. Einem Stummwerden. Einem Verschwinden der Gedanken und Absichten. Einer Blindheit, in der sie klar sehen, einer Klarheit, in der sie tot und übernatürlich lebendig sind. Sie nennen es ein <Entwerden> und behaupten doch, in vollerer Weise zu leben als je: Sind das nicht, wenn auch von der Schwierigkeit des Ausdrucks flimmernd verhüllt, dieselben Empfindungen, die man noch heute hat, wenn zufällig das Herz - <gierig und gesättigt>, wie sie sagen! —

in jene utopischen Regionen gerät, die sich irgend-und nirgendwo zwischen einer unendlichen Zärtlichkeit und einer unendlichen Einsamkeit befinden?!»

In die kleine Überlegungspause, die Ulrich machte, mischte sich die Stimme Agathes: «Es ist das, was du einmal zwei Schichten genannt hast, die in uns übereinander liegen. »

«Ich - wann?»

«Du bist ohne Ziel in die Stadt gegangen, und es war dir, als ob du in ihr aufgelöst würdest, aber zugleich hast du sie nicht mögen; und ich habe dir gesagt, daß es mir oft so ergeht. »

«O ja! Du hast sogar darauf <Hagauer> gesagt!» rief Ulrich aus. «Und wir haben gelacht: jetzt erinnere ich mich wohl. Aber das haben wir nicht ganz wirklich gemeint. Ich habe dir ja auch sonst schon vom gebenden und vom nehmenden Sehen, vom männlichen und weiblichen Prinzip, vom Hermaphroditismus der Urphantasie und Ähnlichem erzählt: ich kann viel davon reden! Als wäre mein Mund so fern von mir wie der Mond, der auch immer zur Stelle ist, wenn man in der Nacht einen Vertrauten zum Schwätzen braucht!

Aber was diese Frommen von den Abenteuern ihrer Seele erzählen, » fuhr er fort, wobei sich in die Bitterkeit seiner Worte wieder Sachlichkeit und auch Bewunderung mischte, «das ist zuweilen mit der Kraft und rücksichtslosen Überzeugung einer Stendhalschen Untersuchung geschrieben. Allerdings nur, » -

schränkte er das ein - «solange sie rein bei den Erscheinungen bleiben und nicht sich ihr Urteil dareinmengt, das von der schmeichelhaften Überzeugung verfälscht wird, sie wären von Gott ausersehen worden, ihn unmittelbar zu erleben. Denn von diesem Augenblick an erzählen sie uns natürlich nicht mehr ihre schwer beschreiblichen Wahrnehmungen, in denen es keine Haupt-und keine Tätigkeitsworte gibt, sondern sprechen in Sätzen mit Subjekt und Objekt, weil sie an ihre Seele und an Gott wie an zwei Türpfosten glauben, zwischen denen sich das Wunderbare öffnen wird. Und so kommen sie zu diesen Aussagen, daß ihnen die Seele aus dem Leib gezogen und in den Herrn versenkt werde, oder daß der Herr in sie eindringe wie ein Liebhaber; sie werden von Gott gefangen, verschlungen, geblendet, geraubt, vergewaltigt, oder ihre Seele weitet sich zu ihm, dringt in ihn ein, kostet von ihm, umfaßt ihn mit Liebe und hört ihn sprechen. Das irdische Vorbild ist dabei ja unverkennbar; und diese Beschreibungen gleichen jetzt nicht mehr ungeheuren Entdeckungen, sondern bloß noch den etwas gleichförmigen Bildern, mit denen ein Liebespoet seinen Gegenstand ausschmückt, über den es nur eine Meinung geben darf: mich wenigstens, der ich zur Zurückhaltung erzogen bin, spannen diese Berichte auf die Folter, weil die Auserwählten gerade in dem Augenblick, wo sie versichern, daß Gott zu ihnen gesprochen habe oder daß sie die Reden der Bäume und Tiere verstanden hätten, es unterlassen, mir noch zu sagen, was ihnen mitgeteilt worden sei; und tun sie es einmal, so kommen bloß persönliche Angelegenheiten heraus oder bekannte kirchliche Nachrichten. Es ist 411

ewig schade, daß keine exakten Forscher Gesichte haben!» schloß er seine lange Erwiderung.

«Meinst du, daß sie es könnten?» versuchte ihn Agathe. Ulrich zögerte einen Augenblick. Dann antwortete er wie ein Bekenner:

«Ich weiß es nicht; vielleicht könnte es mir geschehen!» Als er seine Worte hörte, lächelte er, um sie wieder einzuschränken.

Auch Agathe lächelte; sie schien nun die Antwort zu haben, nach der es sie gelüstete, und ihr Gesicht spiegelte den kleinen Augenblick ratloser Enttäuschung wider, der auf das plötzliche Aufhören einer Spannung folgt. So erhob sie vielleicht nur deshalb Widerspruch, weil sie ihren Bruder von neuem antreiben wollte. «Du weißt, » erklärte sie «daß ich in einem sehr frommen Institut erzogen worden bin: die Folge davon ist, daß sich in mir eine Lust an der Karikatur meldet und einfach schändlich wird, sobald jemand von frommen Idealen spricht. Unsere Erzieherinnen haben ein Habit getragen, dessen zwei Farben ein Kreuz bildeten, und das erinnerte doch gewiß an einen der höchsten Gedanken, den wir auf diese Weise den ganzen Tag vor Augen haben sollten; aber wir haben keine Sekunde lang an ihn gedacht und nannten unsere Mütter bloß die Kreuzspinnen wegen ihres Aussehens und ihrer seidenweichen Reden. So war mir auch, während du vorgelesen hast, bald zum Weinen, bald zum Lachen zumute. »

«Weißt du, was das beweist?» rief Ulrich aus. «Doch nichts anderes, als daß die Kraft zum Guten, die auf irgendeine Weise wohl in uns vorhanden ist, sogleich die Wände durchfrißt, wenn man sie in eine feste Form einschließt, und durch das Loch sofort zum Bösen flieht! Das erinnert mich an die Zeit, wo ich Offizier war und mit meinen Kameraden Thron und Altar stützte: kein zweitesmal in meinem Leben habe ich so frei über diese beiden sprechen hören wie in unserem Kreis! Die Gefühle vertragen es nicht, angebunden zu werden, besonders aber gewisse Gefühle nicht. Ich bin überzeugt, daß eure braven Erzieherinnen selbst geglaubt haben, was sie euch predigten: aber Glaube darf nicht eine Stunde alt sein!

Das ist es!»

Agathe begriff es selbst, obwohl sich Ulrich in Eile nicht zu seiner Zufriedenheit ausgedrückt hatte, daß der Glaube jener Nonnen, der ihr die Lust am Glauben genommen hatte, bloß etwas «Eingemachtes» gewesen sei. Zwar sozusagen in seiner eigenen Natur eingelegt und keiner Glaubenseigenschaft verlustig, aber trotzdem nicht frisch, ja in einer unnachweisbaren Art geradezu in einen anderen Zustand getreten als den ursprünglichen, der dem entlaufenen und widerspenstigen Zögling der Heiligkeit in diesem Augenblick wohl als Ahnung vorschwebte.

Es gehörte das mit allem anderen, was sie schon über Moral gesprochen hatten, zu den ergreifenden Zweifeln, die ihr Bruder in sie gesenkt hatte, und zu dem Zustand einer inneren Wiedererweckung, den sie seither fühlte, ohne sich über ihn klar geworden zu sein. Denn der Zustand der Indifferenz, den sie geflissentlich zur Schau trug und in sich begünstigte, hatte nicht immer ihr Leben beherrscht. Es hatte sich einmal etwas begeben, wobei dieses Bedürfnis nach Selbstbestrafung unmittelbar aus einer tiefen Niedergeschlagenheit hervorgegangen war, die sie als Unwürdige erscheinen ließ, weil sie es sich nicht vergönnt glaubte, hohen Empfindungen Treue zu halten, und sie verachtete sich seither wegen ihrer Herzensträgheit.

Diese Begebenheit lag zwischen ihrem Leben als Mädchen im Hause ihres Vaters und der unverständlichen Heirat mit Hagauer und war so schmal begrenzt, daß es selbst der Teilnahme Ulrichs bisher entgangen war, nach ihr zu fragen. Was da geschah, ist bald erzählt: Agathe hatte mit achtzehn Jahren einen Mann geheiratet, der nur um wenig älter war als sie selbst, und auf einer Reise, die mit ihrer Hochzeit begann und mit seinem Tode endete, wurde er ihr, ehe sie auch nur ihren zukünftigen Wohnsitz gewählt hatten, binnen einigen Wochen durch eine Krankheit wieder entrissen, die ihn unterwegs angesteckt hatte. Die Ärzte nannten das Typhus, und Agathe sprach es ihnen nach und fand darin einen Schein von Ordnung, denn das war nun die zum Weltgebrauch platt geschliffene Seite des Geschehnisses; aber auf der unabgeschliffenen war dieses anders: Agathe hatte bis dahin neben ihrem Vater gelebt, den alle Welt achtete, so daß sie zweifelnd annahm, sie tue Unrecht, wenn sie ihn nicht liebe, und das ungewisse Harren im Institut auf sich selbst hatte durch das Mißtrauen, das es in ihr erweckte, ihre Beziehung zur Welt auch nicht gefestigt; später dagegen, als sie mit plötzlich erwachter Lebendigkeit und in gemeinsamer Anstrengung mit dem Jugendgespielen in wenigen Monaten alle Hindernisse überwand, die einer Heirat aus ihrer beider Jugend erwuchsen, obwohl die Familien der Liebesleute gegen einander nichts einzuwenden hatten, war sie mit einemmal nicht mehr vereinsamt gewesen und gerade dadurch sie selbst. Das ließ sich nun also wohl Liebe nennen; aber es gibt Verliebte, die in die Liebe wie in die Sonne blicken, sie werden bloß blind, und es gibt 412

Verliebte, die das Leben zum ersten Mal staunend erblicken, wenn es von der Liebe beleuchtet wird: zu diesen gehörte Agathe und hatte noch gar nicht gewußt, ob sie ihren Gefährten oder etwas anderes liebe, als schon das kam, was in der Sprache unbeschienener Welt Infektionskrankheit hieß. Es war ein urplötzlich hereinbrechender Sturm von Grauen aus den fremden Gebieten des Lebens, ein Wehren, Flackern und Verlöschtwerden, die Heimsuchung zweier sich aneinander klammernder Menschen und der Untergang einer arglosen Welt in Erbrechen, Kot und Angst.

Agathe hatte dieses Geschehnis, das ihre Gefühle vernichtete, niemals anerkannt. Verwirrt von Verzweiflung, hatte sie vor dem Bett des Sterbenden auf den Knien gelegen und sich eingeredet, daß sie die Kraft wieder heraufzubeschwören vermöchte, mit der sie als Kind ihre eigene Krankheit überwunden habe; als der Verfall trotzdem fortschritt und schon das Bewußtsein geschwunden war, hatte sie, in den Zimmern eines fremden Hotels, unfähig zu verstehen, in das verlassene Gesicht gestarrt, hatte den Sterbenden ohne Achtung der Gefahr mit den Armen umfaßt gehalten und ohne Achtung der Wirklichkeit, für die eine empörte Pflegerin sorgte, nichts getan als ihm stundenlang ins ertaubende Ohr gemurmelt: «du darfst nicht, du darfst nicht, du darfst nicht!» Als alles vorbei war, war sie aber erstaunt aufgestanden, und ohne etwas Besonderes zu glauben und zu denken, bloß aus der Traumfähigkeit und Eigenwilligkeit einer einsamen Natur behandelte sie von dem Augenblick dieses leeren Staunens an das Geschehene innerlich so, wie wenn es nicht endgültig wäre. Einen Ansatz zu Ähnlichem zeigt ja wohl jeder Mensch schon, wenn er eine Unglücksbotschaft nicht glauben will oder Unwiderrufliches tröstlich färbt; das Besondere im Verhalten Agathens war aber die Stärke und Ausdehnung dieser Rückwirkung, ja eigentlich ihre plötzlich ausbrechende Mißachtung der Welt. Neues nahm sie seitdem geflissentlich nur noch so auf, als ob es weniger das Gegenwärtige als etwas höchst Ungewisses wäre, ein Verhalten, das ihr durch das Mißtrauen, das sie der Wirklichkeit seit je entgegengebracht hatte, sehr erleichtert wurde; das Gewesene dagegen war unter dem erlittenen Stoß erstarrt und wurde viel langsamer von der Zeit abgetragen, als es sonst mit Erinnerungen geschieht. Das hatte aber nichts von dem Schwalch der Träume, den Einseitigkeiten und schiefen Verhältnissen an sich, die den Arzt herbeirufen; Agathe lebte im Gegenteil äußerlich durchaus klar, anspruchslos tugendhaft und bloß ein wenig gelangweilt weiter, in einer leichten Gehobenheit des Lebensunwillens, die nun wirklich dem Fieber ähnlich war, woran sie als Kind so merkwürdig freiwillig gelitten hatte. Und daß in ihrem Gedächtnis, das ohnehin niemals seine Eindrücke leicht in Allgemeines auflöste, nun das Gewesene und Fürchterliche Stunde um Stunde gegenwärtig blieb wie ein Leichnam, der in ein weißes Tuch gehüllt ist, das beseligte sie trotz aller Qual, die mit solcher Genauigkeit der Erinnerung verbunden war, denn es wirkte ebenso wie eine geheimnisvoll verspätete Andeutung, daß noch nicht alles vorbei sei, und bewahrte ihr im Verfall des Gemüts eine Ungewisse, aber edelmütige Spannung. In Wahrheit lief freilich alles das nur darauf hinaus, daß sie wieder den Sinn ihres Daseins verloren hatte und sich mit Willen in einen Zustand versetzte, der nicht zu ihren Jahren paßte; denn nur alte Menschen leben so, daß sie bei den Erfahrungen und Erfolgen einer vergangenen Zeit verharren und vom Gegenwärtigen nicht mehr berührt werden. Zu Agathens Glück faßt man aber in dem Alter, worin sie sich damals befand, seine Vorsätze wohl für die Ewigkeit, doch wiegt ein Jahr dafür beinahe schon wie eine halbe, und so konnte es ihr auch nicht daran fehlen, daß sich nach einiger Zeit die unterdrückte Natur und die gefesselte Phantasie gewaltsam befreiten. Wie das geschah, war in seinen Einzelheiten recht gleichgültig; einem Mann, dessen Bemühungen unter anderen Umständen wohl nie vermocht hätten, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, gelang es, er wurde ihr Geliebter, und dieser Versuch einer Wiederholung endete nach einer sehr kurzen Zeit fanatischer Hoffnung in leidenschaftlicher Ernüchterung. Agathe fühlte sich nun von ihrem wirklichen wie von ihrem unwirklichen Leben ausgespien und unwürdig hoher Vorsätze. Sie gehörte zu jenen heftigen Menschen, die sich sehr lange reglos und abwartend verhalten können, bis sie an irgend einer Stelle mit einemmal in alle Verwirrungen geraten, und faßte darum in ihrer Enttäuschung bald einen neuen unüberlegten Entschluß, der, in Kürze gesagt, darin bestand, daß sie sich in entgegengesetzter Weise bestrafte, als sie gesündigt hatte, indem sie sich dazu verurteilte, das Leben mit einem Mann zu teilen, der ihr einen leichten Widerwillen einflößte. Und dieser Mann, den sie sich zur Strafe ausgesucht hatte, war Hagauer. «Das war nun freilich weder gerecht, noch rücksichtsvoll gegen ihn gehandelt!» gestand sich Agathe ein, und es muß zugegeben werden, daß es sogar in diesem Augenblick zum ersten Mal geschah, denn Gerechtigkeit und Rücksicht sind bei jungen Leuten keine beliebten Tugenden. Immerhin war auch ihre «Selbstbestrafung» in diesem Zusammenleben keine unbeträchtliche gewesen, und Agathe prüfte nun 413

diese Angelegenheit weiter. Sie war fernab gekommen, und auch Ulrich suchte irgend etwas in seinen Büchern und hatte scheinbar vergessen, das Gespräch fortzuführen. «In früheren Jahrhunderten» dachte sie

«wäre ein Mensch in meiner Stimmung in ein Kloster eingetreten» - und daß sie statt dessen geheiratet hatte, war nicht frei von einer unschuldigen Komik, die ihr bisher entgangen war. Diese Komik, die ihr jugendlicher Sinn nicht früher bemerkt hatte, war allerdings keine andere als die der gegenwärtigen Zeit, die das Bedürfnis nach Weltflucht schlimmstenfalls in einem Touristengasthof, gewöhnlich aber in einem Alpenhotel befriedigt und sogar das Bestreben hat, die Strafanstalt nett zu möblieren. Es spricht daraus das tiefe europäische Bedürfnis, nichts zu übertreiben. Kein Europäer geißelt sich, beschmiert sich mit Asche, schneidet sich die Zunge ab, gibt sich wirklich hin oder zieht sich auch nur von allen Menschen zurück, vergeht vor Leidenschaft, rädert oder spießt heute noch; aber jeder hat zuweilen das Bedürfnis danach, so daß es schwer zu sagen ist, worin eigentlich das Vermeidenswerte liege, ob im Wünschen oder im Nichttun.

Warum sollte also gerade ein Asket hungern; das bringt ihn nur auf störende Einbildungen?! Eine vernünftige Askese besteht in der Abneigung gegen das Essen bei ständig gut unterhaltener Ernährung!

Eine solche Askese verspricht Dauer und erlaubt dem Geist jene Freiheit, die er nicht hat, wenn er in leidenschaftlicher Auflehnung vom Körper abhängig ist! Solche • bitter-lustige Erklärungen, die sie von ihrem Bruder gelernt hatte, taten Agathe nun kräftig wohl, denn sie zerlegten das «Tragische», woran starr zu glauben ihrer Unerfahrenheit lange wie eine Verpflichtung vorgekommen war, in Ironie und eine Leidenschaft, die weder einen Namen, noch ein Ziel hatte und schon darum keineswegs mit dem abgeschlossen war, was sie erlebt hatte.

Auf diese Weise machte sie überhaupt, seit sie mit ihrem Bruder beisammen war, die Wahrnehmung, daß in die große Spaltung zwischen verantwortungslosem Leben und gespenstischer Phantasie, die sie erlitten hatte, eine erlösende und das Gelöste von neuem bindende Bewegung kam. Sie besann sich zum Beispiel jetzt während des durch Bücher und Erinnerungen vertieften Schweigens, das zwischen ihr und ihrem Bruder herrschte, auf die Beschreibung, die ihr Ulrich davon gegeben hatte, wie er ziellos gehend durch die Stadt gedrungen und dabei von der Stadt durchdrungen worden sei: es erinnerte sehr genau an die wenigen Wochen ihres Glücks; und es war auch richtig, daß sie gelacht hatte, ja sie hatte ganz unbegründet und unsinnig gelacht, als er ihr das erzählte, weil sie bemerkte, daß etwas von diesem Verkehren der Welt, diesem seligen und komischen Umstülpen, von dem er sprach, selbst in den wulstigen Lippen Hagauers war, wenn sie sich zum Kuß wölbten. Freilich als Schauer; aber ein Schauer, dachte sie, ist auch im hellen Licht des Mittags, und irgendwie hatte sie daran gefühlt, daß noch nicht alle Möglichkeiten für sie vorbei wären.

Irgendein Nichts, eine Unterbrechung, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart immer gelegen hatte, war in letzter Zeit fortgeflogen. Sie sah heimlich um sich. Das Zimmer, worin sie sich befand, hatte einen Teil der Räume gebildet, in denen ihr Schicksal entstanden war; daran dachte sie jetzt, solange sie hier war, zum ersten Mal. Denn hier war sie, wenn sie den Vater aus dem Haus wußte, mit ihrem Jugendgespielen zusammengekommen, als sie den großen Beschluß faßten einander zu lieben, hier hatte sie manchmal auch den «Unwürdigen» empfangen, war mit verstohlenen Tränen der Wut oder der Verzweiflung an den Fenstern gestanden, und hier hatte sich schließlich, väterlich gefördert, auch die Bewerbung Hagauers abgespielt. So lange bloß unbeachtete Rückseite der Geschehnisse, wurden die Möbel, Wände, das eigentümlich eingeschlossene Licht nun im Augenblick des Wiedererkennens wunderlich handfest, und das abenteuerlich darin Vergangene bildete eine so körperliche, gar nicht mehr zweideutige Vergangenheit, als wäre es Asche oder verkohltes Holz. Nur noch das komisch-schattenhafte Gefühl des Gewesenen, dieser wunderliche Kitzel, den man angesichts alter, zu Staub vertrockneter Spuren seiner selbst fühlt und im Augenblick, wo man ihn fühlt, weder verscheuchen, noch fassen kann, war zurückgeblieben und wurde fast unerträglich stark.

Agathe vergewisserte sich, daß Ulrich nicht auf sie achte, und öffnete vorsichtig ihr Kleid an der Brust, wo sie auf der Haut die Kapsel mit dem kleinen Bild verwahrte, das sie durch Jahre nicht von sich gelassen hatte. Sie ging ans Fenster und tat, als sähe sie hinaus. Behutsam ließ sie den scharfen Rand der winzigen goldenen Auster aufspringen und betrachtete verstohlen ihren toten Geliebten. Er hatte volle Lippen und weiches, dichtes Haar, und der kecke Blick des Zwanzigjährigen sprang aus seinem Gesicht, das noch halb in der Eischale stak. Sie wußte lange nicht, was sie dachte, aber mit einem Mal dachte sie: «Mein Gott, ein einundzwanzigjähriger Mensch!»

Was sprechen so junge Leute miteinander? Welche Bedeutung geben sie ihren Angelegenheiten? Wie 414

komisch und anmaßend sind sie oft! Wie täuscht sie die Lebhaftigkeit ihrer Einfalle über deren Wert!

Agathe wickelte neugierig alte Aussprüche aus Seidenpapier der Erinnerung, die sie als wunder wie klug darin aufbewahrt hatte: Mein Gott, das war ja beinahe bedeutend, dachte sie; aber eigentlich ließ sich selbst das nicht mit Sicherheit behaupten, wenn man sich nicht den Garten vorstellte, worin es gesprochen worden war, mit den sonderbaren Blumen, deren Bezeichnung sie nicht wußten, den Schmetterlingen, die sich wie müde Trunkenbolde auf jene setzten, und dem Licht, das über ihre Gesichter floß, als ob Himmel und Erde darin aufgelöst wären. Wenn sie sich daran maß, so war sie heute eine alte und erfahrene Frau, obwohl die Zahl der vergangenen Jahre nicht gar groß war, und sie bemerkte ein wenig verwirrt das Mißverhältnis, daß sie, die Siebenundzwanzigjährige, bis jetzt noch den Zwanzigjährigen geliebt hatte: er war viel zu jung für sie geworden! Sie fragte sich: «Welche Gefühle müßte ich eigentlich haben, wenn mir, in meinem Alter, dieser knabenhafte Mann wirklich das Wichtigste sein sollte?!» Es wären wohl recht sonderbare Gefühle gewesen; sie bedeuteten ihr nichts, sie vermochte sich nicht einmal eine deutliche Vorstellung von ihnen zu bilden. Eigentlich löste sich alles in nichts auf.

Agathe anerkannte in einer großen, schwellenden Empfindung, daß sie in der einzigen stolzen Leidenschaft ihres Lebens einem Irrtum erlegen war, und der Kern dieses Irrtums bestand aus einem feurigen Nebel, der sich nicht berühren und fassen ließ, mochte man nun sagen, daß Glauben nicht eine Stunde alt werden dürfe, oder es anders nennen; und immer war es das, wovon ihr Bruder sprach, seit sie beisammen waren, und immer war es sie selbst, von der er sprach, auch wenn er allerhand begriffliche Umstände machte und seine Vorsicht für ihre Ungeduld oft viel zu langsam war. Sie kamen immer wieder auf das gleiche Gespräch zurück, und Agathe brannte selbst vor Verlangen, daß sich seine Flamme nicht verkleinere.

Als sie nun Ulrich ansprach, hatte er die lange Dauer der Unterbrechung gar nicht bemerkt. Aber wer das, was zwischen diesen Geschwistern vorging, nicht schon an Spuren erkannt hat, lege den Bericht fort, denn es wird darin ein Abenteuer beschrieben, das er niemals wird billigen können: eine Reise an den Rand des Möglichen, die an den Gefahren des Unmöglichen und Unnatürlichen, ja des Abstoßenden vorbei, und vielleicht nicht immer vorbei führte; ein «Grenzfall», wie das Ulrich später nannte, von eingeschränkter und besonderer Gültigkeit, an die Freiheit erinnernd, mit der sich die Mathematik zuweilen des Absurden bedient, um zur Wahrheit zu gelangen. Er und Agathe gerieten auf den Weg, der mit dem Geschäfte der Gottergriffenen manches zu tun hatte, aber sie gingen ihn, ohne fromm zu sein, ohne an Gott oder Seele, ja ohne auch nur an ein Jenseits und Nocheinmal zu glauben; sie waren als Menschen dieser Welt auf ihn geraten und gingen ihn als solche: und gerade das war das Beachtenswerte. Ulrich, der in dem Augenblick, wo ihn Agathe wieder anredete, noch von seinen Büchern und den Fragen, die sie ihm aufgaben, in Anspruch genommen war, hatte trotzdem das Gespräch, das beim Widerstand seiner Schwester gegen die Frömmigkeit ihrer Lehrerinnen und seiner eigenen Forderung «exakter Gesichte» abgebrochen war, nicht für die kürzeste Zeit aus dem Gedächtnis verloren und erwiderte sogleich: «Man braucht durchaus kein Heiliger zu sein, um etwas davon zu erleben! Man kann auch auf einem umgestürzten Baum oder einer Bank im Gebirge sitzen und einer weidenden Rinderherde zusehn und schon dabei nichts Geringeres mitmachen, als wäre man mit einemmal in ein anderes Leben versetzt! Man verliert sich und kommt mit einemmal zu sich: du hast ja selbst schon davon gesprochen!»

«Aber was geht da vor sich?» fragte Agathe.

«Dazu mußt du dir vorerst klar machen, was das Gewöhnliche ist, Schwester Mensch!» erklärte Ulrich mit einem Versuch, den allzu rasch mitreißenden Gedanken durch einen Scherz zu bremsen. «Das Gewöhnliche ist, daß uns eine Herde nichts bedeutet als weidendes Rindfleisch. Oder sie ist ein malerischer Gegenstand mit Hintergrund. Oder man nimmt überhaupt kaum Kenntnis von ihr. Rinderherden an Gebirgswegen gehören zu den Gebirgswegen, und was man in ihrem Anblick erlebt, würde man erst merken, wenn an ihrer Stelle eine elektrische Normaluhr oder ein Zinshaus dastünde. Ansonsten überlegt man, ob man aufstehn oder sitzenbleiben soll; man findet die Fliegen lästig, von denen die Herde umschwärmt wird; man sieht nach, ob ein Stier unter ihr ist; man überlegt, wo der Weg weiterführt: das sind unzählige kleine Absichten, Sorgen, Berechnungen und Erkenntnisse, und sie bilden gleichsam das Papier, auf dem das Bild der Herde steht. Man weiß nichts von dem Papier, man weiß nur von der Herde darauf - »

«Und plötzlich zerreißt das Papier!» fiel Agathe ein.

«Ja. Das heißt: irgendeine gewohnheitsmäßige Verwebung in uns zerreißt. Nichts Eßbares grast dann mehr; nichts Malbares; nichts versperrt dir den Weg. Du kannst nicht einmal mehr die Worte grasen oder weiden 415

bilden, weil dazu eine Menge zweckvoller, nützlicher Vorstellungen gehört, die du auf einmal verloren hast.

Was auf der Bildfläche bleibt, könnte man am ehesten ein Gewoge von Empfindungen nennen, das sich hebt und senkt oder atmet und gleißt, als ob es ohne Umrisse das ganze Gesichtsfeld ausfüllte. Natürlich sind darin auch noch unzählige einzelne Wahrnehmungen enthalten, Farben, Hörner, Bewegungen, Gerüche und alles, was zur Wirklichkeit gehört: aber das wird bereits nicht mehr anerkannt, wenn es auch noch erkannt werden sollte. Ich möchte sagen: die Einzelheiten besitzen nicht mehr ihren Egoismus, durch den sie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sondern sie sind geschwisterlich und im wörtlichen Sinn <innig> untereinander verbunden. Und natürlich ist auch keine <Bildfläche> mehr da, sondern irgendwie geht alles grenzenlos in dich über. »

Nun übernahm wieder Agathe lebhaft die Beschreibung: «Jetzt brauchst du bloß statt Egoismus der Einzelheiten Egoismus der Menschen zu sagen, » rief sie aus «so ist es das, was man so schwer ausdrücken kann: <Liebe deinen Nächsten?> heißt nicht, liebe ihn so, wie ihr seid, sondern es bezeichnet eine Art Traumzustand!»

«Alle Sätze der Moral» bestätigte Ulrich «bezeichnen eine Art Traumzustand, der aus den Regeln, in die man ihn faßt, bereits entflohen ist!»

«Eigentlich gibt es dann gar kein Gut und Bös, sondern nur Glaube - oder Zweifel!» rief Agathe aus, der jetzt der sich selbst tragende ursprüngliche Zustand des Glaubens so nahe zu sein schien und ebenso sein Verlust in der Moral, von dem ihr Bruder gesprochen hatte, als er sagte, Glaube könne nicht eine Stunde alt werden.

«Ja, es steht in dem Augenblick, wo man dem unwesentlichen Leben entschlüpft, alles in einer neuen Beziehung zu einander» stimmte Ulrich bei. «Fast möchte ich sagen, in gar keiner Beziehung. Denn sie ist eine gänzlich unbekannte, über die wir keinerlei Erfahrung haben, und alle anderen Beziehungen sind verlöscht; aber diese eine ist trotz ihrer Dunkelheit so deutlich, daß man sie nicht leugnen kann. Sie ist stark, aber sie ist unfaßbar stark. Man möchte auch sagen: Gewöhnlich blickt man etwas an, und der Blick ist wie ein Stäbchen oder ein gespannter Faden, woran sich Auge und Anblick gegenseitig stützen, und irgendein großes Gewirk von solcher Art stützt jede Sekunde; wogegen jetzt in dieser einen eher etwas SchmerzlichSüßes die Augenstrahlen auseinanderzieht. »

«Man besitzt nichts auf der Welt, man hält nichts mehr fest, man wird von nichts festgehalten» sagte Agathe. «Es ist alles wie ein hoher Baum, an dem sich kein Blatt regt. Und man kann nichts Niedriges tun in diesem Zustand. »

«Man sagt, es könne in diesem Zustand nichts geschehn, was nicht mit ihm übereinstimmte» ergänzte Ulrich. «Ein Verlangen <ihm anzugehören ist der einzige Grund, die liebevolle Bestimmung und die einzige Form alles Tun und Denkens, die in ihm statthaben. Er ist etwas unendliches Ruhendes und Umfassendes, und alles, was in ihm geschieht, mehrt seine ruhig steigende Bedeutung; oder es mehrt sie nicht, dann ist es das Schlechte, aber das Schlechte kann nicht geschehn, weil im gleichen Augenblick die Stille und Klarheit zerreißt und der wunderbare Zustand aufhört. » Ulrich sah seine Schwester prüfend an, ohne daß sie es merken sollte; er hatte doch immer das Gefühl, man müßte jetzt bald aufhören. Aber Agathes Gesicht war verschlossen; sie dachte an lang Vergangenes. Sie antwortete: «Ich wundere mich über mich selbst, aber es hat wirklich eine kurze Zeit gegeben, wo ich Neid, Bosheit, Eitelkeit, Habsucht und ähnliches nicht kannte; es ist kaum noch zu glauben, aber mir kommt vor, sie wären damals mit einem Schlag nicht nur aus dem Herzen, sondern auch aus der Welt verschwunden gewesen! Man kann sich dann nicht bloß selbst nicht niedrig verhalten, sondern auch die anderen können es nicht. Ein guter Mensch macht alles gut, was mit ihm in Berührung kommt, die anderen mögen gegen ihn unternehmen, was sie wollen: in dem Augenblick, wo es in seinen Bereich eintritt, wird es von ihm verändert!»

«Nein, » fiel Ulrich ein «ganz so ist es nicht; im Gegenteil wäre es so eins der ältesten Mißverständnisse!

Denn ein guter Mensch macht die Welt nicht im geringsten gut, er bewirkt überhaupt nichts an ihr, er sondert sich nur von ihr ab!»

«Er bleibt doch mitten in ihr!?»

«Er bleibt mitten in ihr, doch ist ihm so, als ob der Raum aus den Dingen gezogen würde oder irgend etwas Imaginäres geschähe: es ist das schwer zu sagen!»

«Ich habe trotzdem die Vorstellung, daß einem <hochgemuten> Menschen - das Wort fällt mir nur so ein!

- niemals etwas Niedriges in den Wegtritt; das mag ein Unsinn sein, aber es ist eine Erfahrung. »

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«Es mag eine Erfahrung sein, » entgegnete Ulrich «aber es gibt auch die entgegengesetzte Erfahrung! Oder glaubst du, daß die Soldaten, die Jesus gekreuzigt haben, nicht niedrig fühlten? Und dabei waren sie Werkzeuge Gottes! Überdies gibt es selbst nach den Zeugnissen der Ekstatiker schlechte Gefühle: sie klagen, daß sie aus dem Stand der Gnade fallen und dann eine unsägliche Unlust empfinden, sie kennen Angst, Pein und Scham und vielleicht sogar Haß. Nur wenn das stille Brennen wieder beginnt, werden Reue, Zorn, Angst und Pein selig. Über all das ist so schwer zu urteilen!»

«Wann warst du so verliebt?» fragte Agathe unvermittelt.

«Ich? Oh! Ich habe dir das doch schon erzählt: ich war tausend Kilometer von der Geliebten fort geflohen, und als ich mich sicher jeder Möglichkeit ihrer wirklichen Umarmung fühlte, heulte ich sie an wie der Hund den Mond!»

Nun gestand ihm Agathe die Geschichte ihrer Liebe ein. Sie war erregt. Schon ihre letzte Frage hatte sie losgeschnellt wie eine übermäßig gespannte Saite, und das übrige folgte in der gleichen Weise. Ihr Inneres zitterte, als sie das jahrelang Verhohlene freigab.

Ihr Bruder war aber nicht sonderlich erschüttert davon. «Gewöhnlich altern die Erinnerungen zugleich mit den Menschen, » erklärte er ihr «und die leidenschaftlichsten Vorgänge werden mit der Zeit perspektivisch-komisch, als ob man sie am Ende von neunundneunzig hintereinander geöffneten Türen sähe. Aber manchmal, wenn sie mit sehr starken Gefühlen verknüpft waren, altern einzelne Erinnerungen nicht und halten ganze Schichten des Wesens bei sich fest. Das war dein Fall Beinahe in jedem Menschen gibt es solche Punkte, die das psychische Ebenmaß ein wenig entstellen; sein Verhalten strömt so über sie hin wie ein Fluß über einen unsichtbaren Felsblock, und bei dir ist das bloß sehr stark gewesen, so daß es fast einem Stillstand gleichkam. Aber schließlich hast du dich dann doch befreit, du bist wieder in Bewegung!»

Er erklärte das mit der Ruhe eines fast beruflichen Denkens; er war leicht abzubringen! Agathe war unglücklich. Sie sagte eigensinnig: «Natürlich bin ich in Bewegung, aber davon spreche ich doch nicht! Ich will wissen, wohin ich damals beinahe gelangt wäre!» Sie war auch ärgerlich, ohne es zu wollen, bloß weil sich ihre Erregung irgendwie ausdrücken mußte; aber sie sprach trotzdem in der ursprünglichen Richtung ihrer Bewegung weiter, und es war ihr ganz schwindlig zu Mute zwischen der Zärtlichkeit ihrer Worte und dem Ärger im Hintergrund. So erzählte sie von dem eigentümlichen Zustand einer gesteigerten Empfänglichkeit und Empfindlichkeit, der ein Überquellen und Zurückquellen der Eindrücke bewirkt, woraus das Gefühl entsteht, wie in dem weichen Spiegel einer Wasserfläche mit allen Dingen verbunden zu sein und ohne Willen zu geben und zu empfangen; dieses wunderbare Gefühl der Entgrenzung und Grenzenlosigkeit des Äußeren wie des Inneren, das der Liebe und der Mystik gemeinsam ist! Agathe tat es natürlich nicht in solchen Worten, die schon eine Erklärung einschließen, sondern sie reihte bloß leidenschaftliche Bruchstücke ihrer Erinnerung aneinander; aber auch Ulrich, obwohl er schon oft darüber nachgedacht hatte, war keiner Erklärung dieser Erlebnisse mächtig, ja er wußte vor allem nicht, ob er eine solche in deren eigener Weise oder nach dem gewöhnlichen Verfahren der Vernunft versuchen solle, was ihm beides gleich nahe lag, nicht aber der fühlbaren Leidenschaft seiner Schwester. Was er in der Erwiderung ausdrückte, war darum bloß eine Vermittlung, eine Art Prüfung der Möglichkeiten. Er wies auf die merkwürdige Verwandtschaft hin, die in dem gehobenen Zustand, von dem sie sprächen, zwischen Denken und Moral bestehe, so daß jeder Gedanke als Glück, Ereignis und Geschenk empfunden werde und weder in die Vorratskammern wandere, noch sich überhaupt mit den Gefühlen des Aneignens und Bewältigens, des Festhaltens und Beobachtens verbinde, wodurch im Kopf nicht minder als im Herz der Genuß am Besitz seiner selbst durch ein grenzenloses sich Verschenken und Verschränken ersetzt werde.

«Einmal im Leben» antwortete Agathe darauf schwärmerisch entschieden «geschieht alles, was man tut, für einen anderen. Man sieht für ihn die Sonne scheinen. Er ist überall, und selbst ist man nirgends. Und doch ist das kein <Egoismus zu zweiem, denn dem anderen muß es genau so gehn. Zuletzt sind beide kaum noch für einander da, und was übrig bleibt, ist eine Welt für lauter zwei Menschen, die aus Anerkennung, Hingabe, Freundschaft und Selbstlosigkeit besteht!»

Im Dunkel des Zimmers glühte ihre Wange vor Eifer wie eine Rose, die im Schatten steht. Und Ulrich bat:

«Laß uns jetzt wieder nüchterner reden; in diesen Fragen wird viel zu viel Schwindel getrieben!» Da kam ihr auch das nicht unrichtig vor. Vielleicht machte es der Ärger, der noch immer nicht ganz verflogen war, daß ihre Entzückung von der hinzugerufenen Wirklichkeit etwas zurückgedrängt wurde; aber es war keine 417

unangenehme Empfindung, dieses unsichere Zittern der Grenze.

Ulrich begann von dem Unfug zu sprechen, die Erlebnisse, denen ihr Gespräch galt, so auszulegen, als fände in ihnen nicht bloß eine eigentümliche Veränderung des Denkens statt, sondern es träte ein übermenschliches Denken an die Stelle des gewöhnlichen. Ob man es göttliche Erleuchtung nennte oder nach der Mode der Neuzeit bloß Intuition, er hielt es für das Haupthindernis wirklichen Verstehens. Nach seiner Überzeugung war nichts dadurch zu gewinnen, daß man Einbildungen nachgab, die einer überlegten Nachprüfung nicht standhielten. Das sei nur wie die Wachsflügel des Ikaros, die in der Höhe zerschmelzen, rief er aus; wolle man nicht bloß im Traum fliegen, dann müsse man es auf Metallflügeln erlernen.

Und auf die Bücher weisend, fuhr er nach einer kleinen Weile fort: «Das sind christliche, jüdische, indische und chinesische Zeugnisse; zwischen einzelnen von ihnen liegt mehr als ein Jahrtausend. Trotzdem erkennt man in allen den gleichen vom gewöhnlichen abweichenden, aber in sich einheitlichen Aufbau der inneren Bewegung. Sie unterscheiden sich von einander fast genau nur um das, was von der Verbindung mit einem Lehrgebäude der Theologie und Himmelsweisheit herrührt, unter dessen schützendes Dach sie sich begeben haben. Wir dürfen also einen bestimmten zweiten und ungewöhnlichen Zustand von großer Wichtigkeit voraussetzen, dessen der Mensch fähig ist und der ursprünglicher ist als die Religionen.

Anderseits haben die Kirchen, » schränkte er es ein «das heißt die zivilisierten Gemeinschaften religiöser Menschen, diesen Zustand stets mit einem ähnlichen Mißtrauen behandelt, wie es ein Bürokrat der privaten Unternehmungslust entgegenbringt. Sie haben dieses schwärmende Erleben niemals ohne Vorbehalt anerkannt, im Gegenteil, sie haben große und anscheinend berechtigte Anstrengungen darauf gerichtet, an seine Stelle eine geregelte und verständliche Moral zu setzen. So gleicht die Geschichte dieses Zustands einer fortschreitenden Verleugnung und Verdünnung, die an die Trockenlegung eines Sumpfes erinnert.

Und als das kirchliche Geistesregiment» schloß er «und sein Wortschatz veralteten, ist man begreiflicherweise dazu gekommen, unseren Zustand überhaupt nur noch für ein Hirngespinst zu halten.

Warum hätte die bürgerliche Kultur, als sie an die Stelle der religiösen trat, religiöser sein sollen als diese?!

Sie hat jenen anderen Zustand auf den Hund gebracht, der Erkenntnisse apportiert. Es gibt heute eine Menge Menschen, die sich über die Vernunft beklagen und uns einreden möchten, daß sie in ihren weisesten Augenblicken mit Hilfe einer besonderen, über dem Denken stehenden Fähigkeit dächten: das ist ein letzter, selbst schon ganz und gar rationalistischer, öffentlicher Rest; der letzte Rest der Trockenlegung ist Quatsch geworden! Also gestattet man den alten Zustand außer in Gedichten nur ungebildeten Personen in den ersten Wochen der Liebe als eine vorübergehende Verwirrung; das sind sozusagen verspätete grüne Blätter, die zuweilen am Holz der Betten und Katheder ausschlagen: wo er aber in sein ursprüngliches großes Wachstum zurückfallen möchte, wird er unnachsichtlich abgegraben und ausgerodet!»

Ulrich hatte ungefähr so lange gesprochen, wie sich ein Chirurg die Hände und Arme wäscht, um keine Keime ins Operationsfeld zu tragen; auch mit der Geduld, der Hingabe und dem Gleichmut, die in Widerspruch stehn zu der Aufregung, welche die bevorstehende Arbeit bringen wird. Nachdem er sich aber ganz sterilisiert hatte, dachte er beinahe sehnsüchtig an ein wenig Infektion und Fieber, denn er liebte die Nüchternheit ja nicht um ihrer selbst willen. Agathe saß auf einer Leiter, die dem Herabholen der Bücher diente, und gab, auch als ihr Bruder schwieg, kein Zeichen der Teilnahme; sie sah in das unendliche, meeresartige Grau des Himmels hinaus und hörte dem Schweigen ebenso zu wie zuvor den Worten. So sprach Ulrich mit einem wenigen an Trotz weiter, den er kaum unter einem scherzhaften Ton verbarg.

«Kehren wir zu unserer Bank im Gebirge mit der Rinderherde zurück» bat er. «Stell dir vor, irgendein Kanzleirat in fabrikneuen Lederhosen sitzt dort, mit grünen Hosenträgern, auf die <Grüß Gott> gestickt ist: er vertritt den reellen Gehalt des Lebens, der sich auf Urlaub befindet. Dadurch ist das Bewußtsein, das er von seinem Dasein hat, natürlich für den Augenblick verändert. Wenn er die Rinderherde ansieht, so zählt er nicht, beziffert nicht, schätzt nicht das Lebendgewicht der vor ihm weidenden Tiere, verzeiht seinen Feinden und denkt milde von seiner Familie. Die Herde ist aus einem praktischen sozusagen ein moralischer Gegenstand für ihn geworden. Es kann natürlich auch sein, daß er doch ein wenig schätzt und ziffert und nicht ganz verzeiht, aber dann wird es wenigstens umspielt sein von Waldesrauschen, Bachesmurmeln und Sonnenschein. In einem Satz kann man das so sagen: Was sonst den Inhalt seines Lebens bildet, erscheint ihm <fern> und <eigentlich unwichtig>. »

«Es ist eine Ferialstimmung» ergänzte Agathe mechanisch.

«Sehr richtig! Und wenn ihm das nichtferiale Dasein darin <eigentlich unwichtig> vorkommt, so heißt das 418

nur: auf Urlaubsdauer. Das ist also heute die Wahrheit: der Mensch hat zwei Daseins-, Bewußtseins-und Denkzustände und bewahrt sich vor einem tödlichen Gespensterschreck, den ihm das einflößen müßte, auf die Weise, daß er die einen für den Urlaub von den anderen hält, für ihre Unterbrechung, Ruhe oder irgendetwas an ihnen, das er zu kennen glaubt. Mystik dagegen wäre verbunden mit der Absicht auf Dauerferien. Der Kanzleirat sollte das ehrlos nennen und augenblicklich, so wie er es gegen Ende des Urlaubs übrigens immer tut, empfinden, daß das wirkliche Leben in seiner ordentlichen Kanzlei ruhe. Und empfinden wir anders? Ob etwas in Ordnung zu bringen ist oder nicht, wird immer zuletzt darüber entscheiden, ob man es völlig ernst nimmt oder nicht; und da haben diese Erlebnisse eben wenig Glück, denn sie sind in Tausenden von Jahren über ihre uranfängliche Unordnung und Unfertigkeit nicht hinausgekommen. Und für so etwas steht der Begriff des Wahns bereit, - religiöser Wahn oder Liebeswahn, wie du willst; du kannst überzeugt sein: heute sind selbst die meisten religiösen Menschen so von der wissenschaftlichen Denkweise angesteckt, daß sie sich nicht nachzusehen trauen, was zu innerst in ihrem Herzen brennt, und jederzeit bereit wären, diese Inbrunst medizinisch einen Wahn zu nennen, auch wenn sie offiziell anders reden!»

Agathe sah ihren Bruder mit einem Blick an, darin es knisterte wie Feuer im Regen. «Nun hast du uns doch hinausmanövriert?» warf sie ihm vor, als er nicht mehr weitersprach.

«Da hast du recht» gab er zu. «Doch ist das Sonderbare: Wir haben alles das wie einen verdächtigen Brunnen verschalt, aber irgendein übrig gebliebener Tropfen dieses unheimlichen Wunderwassers brennt trotzdem ein Loch in alle unsere Ideale. Keines stimmt ganz, keines macht uns glücklich; sie weisen alle auf etwas hin, das nicht da ist: darüber haben wir heute ja genug gesprochen. Unsere Kultur ist ein Tempel dessen, was unverwahrt Wahn genannt würde, aber gleich auch seine Verwahrungsanstalt, und wir wissen nicht: leiden wir an einem Zuviel oder einem Zuwenig. »

«Vielleicht hast du dich niemals getraut, dich ganz darauf einzulassen» sagte Agathe bedauernd und stieg von ihrer Leiter herab; denn sie waren eigentlich mit dem Ordnen des schriftlichen Nachlasses ihres Vaters beschäftigt und hatten sich bloß von dieser mit der Zeit dringlich gewordenen Arbeit zuerst durch die Bücher und dann durch ihre Unterhaltung ablenken lassen. Nun fingen sie wieder an, die Verfügungen und Aufzeichnungen durchzumustern, die sich auf die Teilung ihres Vermögens bezogen, denn der Tag, auf den Hagauer vertröstet worden war, stand nahe bevor; ehe sie aber noch ernstlich damit begonnen hatten, richtete sich Agathe von den Papieren auf und fragte von neuem: «Bis zu welchem Grad glaubst du selbst an alles, was du mir erzählt hast?»

Ulrich antwortete, ohne aufzusehen. «Stell dir vor, unter der Herde befände sich, während sich dein Herz von der Welt abgewandt hat, ein böser Stier! Versuch, wirklich zu glauben, die tödliche Krankheit, von der du erzählt hast, wäre anders verlaufen, wenn dein Gefühl keine Sekunde nachgelassen hätte!» Dann hob er den Kopf und deutete auf die Papiere unter seinen Händen. «Und Gesetz, Recht, Maß? Meinst du, das sei ganz überflüssig?»

«Also bis zu welchem Grad glaubst du?» wiederholte Agathe.

«Ja und nein» sagte Ulrich.

«Also nein» vollendete Agathe.

Da war es ein Zufall, der ins Gespräch eingriff; als Ulrich, der weder Lust hatte, die Unterredung neu aufzunehmen, noch ruhig genug war, geschäftlich zu denken, in diesem Augenblick die vor ihm ausgebreiteten Schriften zusammenraffte, fiel etwas zur Erde. Es war ein loser Packen von allerhand Dingen, der versehentlich mit dem Vermächtnis aus einer Ecke der Schreibtischlade hervorgekommen war, wo er wohl jahrzehntelang gelegen haben mochte, ohne daß es sein Besitzer wußte. Ulrich betrachtete zerstreut, was er von der Erde aufhob, und erkannte auf einzelnen Blättern die Handschrift seines Vaters; aber es war nicht die Altersschrift, sondern die der Mannesjahre, er sah genauer hin, nahm außer beschriebenen Papieren noch Spielkarten, Photographien und allerhand kleinen Kram wahr und begriff nun rasch, was er gefunden habe. Es war die «Giftlade» des Schreibtisches. Da fanden sich sorgsam aufgeschriebene, meist zotige Witze; Aktaufnahmen; unter Verschluß zu versendende Postkarten mit prallen Sennerinnen, denen man hinten die Hosen öffnen konnte; Kartenspiele, die ganz ordentlich aussahen, aber, gegen das Licht gehalten, fürchterliche Dinge zeigten; Männchen, die allerhand von sich gaben, wenn man sie auf den Bauch drückte; und dergleichen mehr. Sicher hatte der alte Herr gar nichts mehr von den Dingen gewußt, die da in der Lade lagen, denn sonst hätte er sie rechtzeitig vernichtet. Sie 419

stammten offenbar noch aus den Mannesjahren, wo sich nicht wenige alternde Junggesellen und Witwer an solchen Schamlosigkeiten wärmen, aber Ulrich errötete vor der unverwahrt zurückgelassenen Phantasie seines Vaters, die der Tod vom Fleische gelöst hatte. Der Zusammenhang mit dem abgebrochenen Gespräch war ihm augenblicklich klar. Trotzdem war es sein erster Antrieb, diese Urkunden zu vernichten, ehe Agathe sie gesehen habe. Aber Agathe hatte schon gesehn, daß ihm etwas Ungewöhnliches in die Hand geraten sei, so daß er sich plötzlich anders besann und sie heranrief.

Er wollte abwarten, was sie sage. Mit einemmal war er wieder von dem Gedanken beherrscht, daß sie doch eine Frau sei, die Erfahrungen haben müsse, was während der tieferen Gespräche ganz aus dem Bewußtsein gewesen war. Aber ihrem Gesicht war nicht zu entnehmen, was sie denke; sie sah ernst und ruhig den illegalen Nachlaß ihres Vaters an, und zuweilen lächelte sie offen, aber doch auch wieder nicht lebhaft. So fing Ulrich trotz seines Vorsatzes selbst an. «Das ist der letzte Rest der Mystik!» sagte er ärgerlich-lustig.

«In der gleichen Lade liegen da die strengen sittlichen Ermahnungen des Testaments und diese Jauche!» Er war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. Und er hatte kaum zu sprechen begonnen, so riß ihn das Schweigen seiner Schwester zu neuen Worten hin.

«Du hast mich gefragt, was ich glaube» begann er. «Ich glaube, daß alle Vorschriften unserer Moral Zugeständnisse an eine Gesellschaft von Wilden sind.

Ich glaube, daß keine richtig sind.

Ein anderer Sinn schimmert dahinter. Ein Feuer, das sie umschmelzen sollte.

Ich glaube, daß nichts zu Ende ist.

Ich glaube, daß nichts im Gleichgewicht steht, sondern daß alles sich aneinander erst heben möchte.

Das glaube ich; das ist mit mir geboren worden oder ich mit ihm. »

Nach jedem Satz war er stehen geblieben, denn er sprach nicht laut und mußte doch durch irgend etwas seinem Bekenntnis Nachdruck geben. Sein Auge blieb jetzt an den klassischen Gipsgebilden hängen, die oben auf den Bücherborden standen; er sah eine Minerva, einen Sokrates; er erinnerte sich daran, daß Goethe einen überlebensgroßen Gipskopf der Juno in sein Zimmer gestellt hat. Beängstigend fern kam ihm diese Vorliebe vor: was einst blühende Idee gewesen, war seitdem zu einem toten Klassizismus ein

gegangen. War zur nachzüglerhaften Rechtund Pflichtha-berei der Zeitgenossen seines Vaters geworden.

War vergeblich gewesen. «Die Moral, die uns überliefert wurde, ist so, als ob man uns auf ein schwankendes Seil hinausschickte, das über einen Abgrund gespannt ist, » sagte er «und uns keinen anderen Rat mitgäbe als den: Halte dich recht steif!

Ich bin, wie es scheint, ohne mein Zutun mit einer anderen Moral geboren worden.

Du hast mich gefragt, was ich glaube! Ich glaube, man kann mir tausendmal aus den geltenden Gründen beweisen, etwas sei gut oder schön, es wird mir gleichgültig bleiben, und ich werde mich einzig und allein nach dem Zeichen richten, ob mich seine Nähe steigen oder sinken macht.

Ob ich davon zum Leben geweckt werde oder nicht.

Ob bloß meine Zunge davon redet und mein Gehirn oder der strahlende Schauer in meiner Fingerspitze.

Aber ich kann auch nichts beweisen.

Und ich bin sogar davon überzeugt, daß ein Mensch, der dem nachgibt, verloren ist. Er gerät in Dämmerung.

In Nebel und Quatsch. In gliederlose Langeweile.

Wenn du das Eindeutige aus unserem Leben fortnimmst, so bleibt ein Karpfenteich ohne Hecht.

Ich glaube, daß das Hundsgemeine dann sogar unser guter Geist ist, der uns schützt!

Ich glaube also nicht!

Ich glaube aber vor allem nicht an die Bindung von Bös durch Gut, die unser Kulturgemisch darstellt: das ist mir widerwärtig!

Ich glaube also und glaube nicht!

Aber ich glaube vielleicht, daß die Menschen in einiger Zeit einesteils sehr intelligent, andernteils Mystiker sein werden. Vielleicht geschieht es, daß sich unsere Moral schon heute in diese zwei Bestandteile zerlegt.

Ich könnte auch sagen: in Mathematik und Mystik. In praktische Melioration und unbekanntes Abenteuer!»

Er war seit Jahren nicht so offen aufgeregt gewesen. Die «Vielleicht» in seiner Rede empfand er nicht, die erschienen ihm nur natürlich.

Agathe hatte sich indessen vor den Ofen gekniet; sie hatte den Packen von Bildern und Schriften neben sich auf der Erde, sah jedes einzelne Stück noch einmal an und schob es dann ins Feuer. Sie war nicht ganz 420

unempfindlich gegen die gemeine Sinnlichkeit dieser Unanständigkeiten, die sie betrachtete. Sie fühlte ihren Körper von ihnen erregt. Es kam ihr vor, daß sie das so wenig selbst sei, wie wenn man in einer starren Einöde irgendwo ein Kaninchen huschen fühlt. Sie wußte nicht, ob sie sich vor ihrem Bruder schämen müßte, wenn sie ihm das sagte; aber sie war zuinnerst müde und wollte nichts mehr reden. Sie hörte auch nicht auf das, was er sagte; ihr Herz war von diesem Auf und Ab schon zu sehr geschüttelt worden und konnte nicht mehr folgen. Immer hatten ja andere besser gewußt als sie, was recht wäre; daran dachte sie, aber es geschah, vielleicht weil sie sich schämte, mit einem geheimen Trotz. Einen unerlaubten oder geheimen Weg zu gehn: darin fühlte sie sich Ulrich überlegen. Sie hörte, wie er immer wieder vorsichtig alles zurücknahm, wo/u er sich hinreißen ließ, und seine Worte schlugen wie große Tropfen von Glück und Traurigkeit an ihr Ohr.

13

Ulrich kehrt zurück und wird durch den General von allem unterrichtet, was er versäumt hat Achtundvierzig Stunden später stand Ulrich in seiner verlassenen Wohnung. Es war früh am Vormittag.

Die Wohnung war sorgfältig aufgeräumt, abgestaubt und blank; und genau so, wie er seine Bücher und Schriften bei seiner hastigen Abreise auf den Tischen liegen gelassen hatte, lagen sie, von dienender Hand erhalten, noch dort, aufgeschlagen oder von unverständlich gewordenen Lesezeichen durch-pfeilt, dieses und jenes Papier sogar noch mit einem Bleistift zwischen den Seiten, den er aus der Hand gelegt hatte. Aber alles war ausgekühlt und erstarrt wie der Inhalt eines Schmelztiegels, unter dem man das Feuer zu nähren vergessen hat. Schmerzhaft ernüchtert und verständnislos blickte Ulrich auf den Abdruck einer vergangenen Stunde, Matrize heftiger Erregungen und Gedanken, von denen sie ausgefüllt worden. Er fühlte einen unsäglichen Widerwillen, mit diesen Resten seiner selbst in Berührung zu kommen. «Das erstreckt sich jetzt» dachte er «durch die Türen über das ganze Haus bis zu dem Blödsinn der Hirschgeweihe unten in der Halle. Welch ein Leben habe ich im letzten Jahr geführt!» Er schloß, so wie er stand, die Augen, um nichts sehen zu müssen. «Wie gut, daß sie mir bald nachkommen wird, wir werden hier alles anders machen!» dachte er. Und dann lockte es ihn doch, sich die letzten Stunden zu vergegenwärtigen, die er hier zugebracht hatte; es kam ihm vor, er sei unendlich lang weggewesen, und er wollte vergleichen. Ciarisse: das war nichts. Aber vorher und nachher: die sonderbare Aufregung, in der er nach Hause geeilt war, und dann jenes übernächtige Zerschmelzen der Welt! «So, wie Eisen, wenn es unter einer ganz großen Kraft weich wird» überlegte er. «Es beginnt zu fließen und bleibt doch Eisen. Ein Mann dringt mit Kraft in die Welt ein, » schwebte ihm vor «aber plötzlich schließt sie sich um ihn, und alles sieht anders aus. Keine Zusammenhänge mehr. Kein Weg, den er gekommen ist und weitergehen muß. Ein schimmerndes Umschlossensein an der Stelle, wo er noch soeben ein Ziel oder eigentlich die nüchterne Leere sah, die vor jedem Ziel liegt. » Ulrich hielt noch immer die Augen geschlossen. Langsam, als Schatten, kehrte das Gefühl wieder. Das geschah so, als kehrte es auf den Platz zurück, wo er damals und auch jetzt stand, dieses Gefühl, das mehr im Raum außen war als im Bewußtsein innen; eigentlich war es überhaupt weder ein Gefühl noch ein Gedanke, sondern ein unheimlicher Vorgang. Wenn man so überreizt und einsam war, wie er damals, konnte man wohl glauben, es kehre sich das Wesen der Welt von innen heraus um; und plötzlich wurde ihm klar - unbegreiflich war bloß, daß es erst jetzt geschah - und lag wie ein ruhiger offener Rückblick da, daß ihm schon damals sein Gefühl die Begegnung mit seiner Schwester angekündigt hatte, denn von dem Augenblick an war sein Geist von wunderlichen Kräften gelenkt worden bis -: doch da wandte sich Ulrich, ehe er «gestern» zu denken vermochte, hastig und so handgreiflich geweckt von seinen Erinnerungen ab, als wäre er an eine Kante gestoßen; da gab es etwas, woran er noch nicht denken wollte!

Er trat an den Schreibtisch und musterte die dort liegende Post durch, ohne seine Reisekleidung abzulegen.

Er war enttäuscht, als sich kein Telegramm seiner Schwester darunter befand, obgleich er keines zu erwarten hatte. Ein Berg von Beileidskundgebungen lag da vermengt mit wissenschaftlichen Mitteilungen und Buchhändleranzeigen. Zwei Briefe von Bonadea fanden sich vor, die sich so dick anfühlten, daß er sie gar nicht erst öffnete. Auch eine dringende Bitte des Grafen Leinsdorf, ihn zu besuchen, und zwei flötende Briefchen Diotimas waren dabei, die ihn ebenfalls einlud, daß er sich gleich nach seiner Rückkunft bei ihr 421

zeige; aufmerksamer gelesen, enthielt das eine, das spätere, außeramtliche Nebentöne, die sehr freundschaftlich, wehmütig und fast ein wenig zärtlich waren. Ulrich wandte sich den telephonischen Anrufen zu, die während seiner Abwesenheit vermerkt worden waren: General von Stumm, Sektionschef Tuzzi, zweimal das Haussekretariat des Grafen Leinsdorf, mehrmals eine Dame, die ihren Namen nicht genannt hatte, und wahrscheinlich Bonadea war, Bankdirektor Leo Fischel und sonst geschäftliche Mitteilungen. Während Ulrich das las und noch am Schreibtisch stand, klingelte der Apparat, und als Ulrich den Hörer aufnahm, meldete sich «Kriegsministerium, Bildungs-und Unterrichtsabteilung, Korporal Hirsch», sehr betroffen davon, unerwartet auf Ulrichs eigene Stimme zu prallen, und eifrig versichernd, daß der Herr General Befehl gegeben habe, jeden Morgen um zehn Uhr anzurufen, und sofort selbst am Telefon sein werde.

Fünf Minuten später beteuerte Stumm, daß er noch am gleichen Vormittag «hervorragend wichtigen Konferenzen» beiwohnen und Ulrich unbedingt vorher sprechen müsse; auf die Frage, was es denn sei und warum es denn nicht am Fernsprecher erledigt werden könne, seufzte er in die Muschel und kündigte

«Mitteilungen, Sorgen, Fragen» an, ohne daß aus ihm etwas Bestimmtes herauszubekommen war. Zwanzig Minuten später hielt aber ein Fiaker des Kriegsministeriums vor dem Tor, und General Stumm betrat das Haus, von einer Ordonnanz gefolgt, die eine große lederne Aktentasche an der Schulter hängen hatte.

Ulrich, der dieses Behältnis der geistigen Sorgen des Generals recht wohl noch von den Aufmarschplänen und Grundbuchblättern der großen Gedanken kannte, runzelte fragend die Stirn. Stumm von Bordwehr lächelte, schickte die Ordonnanz zum Wagen zurück, öffnete den Rock, um den kleinen Schlüssel des Sicherheitsschlosses hervorzuholen, den er an einem Kettchen um den Hals trug, sagte kein Wort und hob aus der Tasche, die sonst nichts enthielt, zwei Laibe Kommißbrot ans

Licht.

«Unser neues Brot, » erklärte er nach einer Kunstpause «ich habe es dir zum Kosten mitgebracht!»

«Das ist aber nett von dir, » meinte Ulrich «daß du mir nach einer durchreisten Nacht Brot bringst, statt mich schlafen zu lassen. »

«Wenn du Schnaps im Haus hast, was man wohl annehmen darf, » setzte der General dagegen «so sind Brot und Schnaps das beste Frühstück nach einer durchgebrachten Nacht. Du hast mir einmal erzählt, daß unser Kommißbrot das einzige ist, was dir an des Kaisers Dienst gefallen hat, und ich möchte wohl behaupten, daß die österreichische Armee im Broterzeugen allen anderen Armeen voraus ist, besonders seit die Intendanz dieses neue Muster «1914» herausgebracht hat! Darum hab ich es hier, das ist der eine Grund.

Und dann, mußt du wissen, mach ich es jetzt auch grundsätzlich so. Ich muß natürlich nicht den ganzen Tag auf meinem Sessel sitzen und über jeden Schritt Rechenschaft ablegen, den ich aus dem Zimmer tu, das versteht sich von selbst; aber du weißt, daß der Generalstab nicht umsonst das Jesuitenkorps heißt, und geflüstert wird immer, wenn einer viel außer Haus ist, und Exzellenz von Frost, mein Chef, hat schließlich vielleicht doch noch keine ganz zutreffende Vorstellung vom Umfang des Geistes - des zivilen Geistes, meine ich - und darum nimm ich eben seit einiger Zeit immer die Tasche und eine Ordonnanz mit, wenn ich ein wenig ausgehn will, und damit sich die Ordonnanz nicht denkt, daß die Tasche leer ist, tu ich jedesmal zwei Laib Brot hinein. »

Ulrich mußte lachen, und der General lachte vergnügt mit. «Du scheinst weniger Freude an den großen Gedanken der Menschheit zu haben als früher?» fragte Ulrich.

«Alle haben jetzt weniger Freude daran» erklärte ihm Stumm, während er mit seinem Taschenmesser das Brot anschnitt. «Es ist jetzt die Parole der Tat ausgegeben worden. »

«Du wirst mir das erklären müssen. »

«Darum bin ich ja da. Du bist nicht der richtige Tatmensch!»

«Nein?»

«Nein. »

«Ich weiß nicht!?»

«Ich weiß es vielleicht auch nicht. Aber man sagt es. »

«Wer ist <man>?»

«Arnheim zum Beispiel. »

«Du stehst gut mit Arnheim?»

«Na natürlich! Wir stehen hervorragend miteinander. Wenn er kein gar so großer Geist wäre, könnten wir 422

wirklich schon Du zueinander sagen!»

«Hast du auch mit den öllagern zu tun?»

Der General trank von dem Korn, den Ulrich hatte auftragen lassen, und kaute Brot nach, um Zeit zu gewinnen. «Ausgezeichnet schmeckt das» brachte er mühsam hervor und kaute weiter.

«Natürlich hast du mit den öllagern zu tun!» stellte Ulrich in plötzlicher Erleuchtung fest. «Das ist doch eine Frage, die eure Marinesektion angeht wegen der Schiffsfeuerung, und wenn Arnheim die Bohrfelder erwerben will, muß er euch das Zugeständnis machen, euch billig zu liefern. Andrerseits ist Galizien Aufmarschgebiet und Glacis gegen Rußland, also müßt ihr vorkehren, daß die ölförderung, die er dort in Schwung bringen will, im Kriegsfall besonders geschützt wird. Also wird euch wieder seine Panzer-Blechfabrik bei den Kanonen entgegenkommen, die ihr haben wollt: Daß ich das nicht vorhergesehen habe! Ihr seid doch geradezu für einander geboren!»

Der General hatte vorsichtshalber noch ein zweites Stück Brot gekaut; jetzt konnte er sich aber nicht mehr zurückhalten und sagte unter gewaltigen Anstrengungen, den vollen Inhalt seines