Mundes
hinunterzuwürgen: «Entgegenkommen kannst du leicht sagen; du hast keine Ahnung, was das für ein Geizhals ist! Ich bitte um Verzeihung, » verbesserte er seinen Ausdruck «mit welcher sittlichen Würde der so ein Geschäft behandelt! Ich habe keine Ahnung gehabt, daß zum Beispiel zehn Heller pro Tonne-Eisenbahnkilometer eine Gesinnungsfrage sind, wegen der man im Goethe oder in einer Philosophiegeschichte nachlesen muß!» «Du führst diese Verhandlungen?» Der General trank einen Korn nach. «Ich habe überhaupt nicht gesagt, daß Verhandlungen geführt werden! Gedankenaustausch kannst du es meinethalben nennen. » «Und damit bist du beauftragt?»
«Niemand ist beauftragt! Man spricht einfach. Man kann doch hie und da auch von etwas anderem als der Parallelaktion sprechen. Und wenn jemand beauftragt wäre, so gewiß nicht ich. Das ist doch keine Angelegenheit für die Unterrichts-und Bildungsabteilung. So etwäs geht die Präsidialkanzlei an und höchstens noch die Intendanz. Wenn ich überhaupt dabei bin, so wäre ich es nur als eine Art Fachbeirat für zivile Geistesfragen, sozusagen als Dolmetsch, weil der Arnheim so gebildet ist. »
«Und weil du durch mich und Diotima fortwährend mit ihm zusammenkommst! Lieber Stumm, wenn du willst, daß ich dir weiter den Elefanten machen soll, mußt du mir die Wahrheit sagen!»
Aber darauf hatte sich Stumm inzwischen vorbereitet. «Was fragst du denn, wenn du sie ohnehin weißt!»
erwiderte er entrüstet. «Glaubst du, du darfst mich pflanzen, und ich weiß nicht, daß dich der Arnheim ins Vertrauen zieht?!» «Ich weiß gar nichts!»
«Aber du hast doch gerade erzählt, daß du’s weißt!» «Das von den Ölfeldern weiß ich. » «Und dann hast du gesagt, daß wir gemeinsame Interessen mit dem Arnheim an diesen Ölfeldern hätten. Gib mir dein Ehrenwort, daß du das weißt, und dann kann ich dir alles sagen. » Stumm von Bordwehr erfaßte Ulrichs zögernde Hand, blickte ihm ins Auge und sagte pfiffig: «Also, da du mir jetzt dein Ehrenwort gibst, daß du alles schon gewußt hast, geb ich dir das meine darauf, daß du alles weißt! Stimmt’s? Mehr gibt’s nicht. Der Arnheim möchte uns vorspannen, und wir ihn. Weißt du, ich hab ja manchmal die kompliziertesten Seelenkonflikte wegen Diotima!» rief er aus. «Aber du darfst nichts davon weitersagen, das ist ein militärisches Geheimnis!» Der General wurde vergnügt. «Weißt du überhaupt, was ein militärisches Geheimnis ist?» fuhr er fort. «Wie vor ein paar Jahren die Mobilisierung in Bosnien war, da haben sie mich im Kriegsministerium absägen wollen, ich war damals noch Oberst, und haben mich zum Kommandanten von einem Landsturmbataillon gemacht; eine Brigade hätte ich natürlich auch führen können, aber weil ich angeblich Kavallerist bin und weil sie mich eben absägen wollten, haben sie mich zu einem Bataillon geschickt. Und weil zum Kriegführen Geld gehört, hat man mir, als ich unten angekommen bin, auch eine Bataillonskasse gegeben. Hast du in deiner Militärzeit einmal so etwas gesehn? Er sieht halb wie ein Sarg und halb wie eine Futterkiste aus, ist aus dickem Holz gemacht und rundherum mit Eisenbändern beschlagen wie ein Burgtor. Daran sind drei Schlösser, und die Schlüssel dazu tragen drei Männer bei sich, jeder einen, damit keiner allein aufsperren kann: der Kommandant und die beiden Kassa-Mitsperrer. Also haben wir uns wie zu einem Gebet versammelt, als ich unten angekommen war, und haben einer nach dem ändern ein Schloß geöffnet und die Banknotenpakete ehrfürchtig herausgehoben, und ich bin mir vorgekommen wie ein Erzpriester, dem zweie ministrieren, nur daß statt aus dem Evangelium aus ärarischen Protokollen die Ziffern vorgelesen worden sind. Wie wir aber damit fertig waren, haben wir die Kiste wieder zugemacht, die Eisenbänder darumgelegt, die Schlösser zugesperrt, alles in umgekehrter 423
Reihenfolge wie zu Beginn, ich habe irgendetwas sagen müssen, woran ich mich nicht mehr erinnern kann, und dann war die Feier zu Ende -: Hab ich mir gedacht, und hättest du dir auch gedacht, und hab großen Respekt gehabt vor der unerschütterlichen Vorsicht der Militärverwaltung in Kriegszeiten! Aber ich hab damals ein Foxl gehabt, den Vorgänger von meinem jetzigen, das war ein sehr kluges Vieh, und es bestand auch keine Vorschrift, daß er nicht hätte dabeisein dürfen; nur daß er kein Loch hat sehen können, ohne gleich wie wild zu graben. Als ich gehn will, bemerk ich also, daß sich der Spot, so hat er geheißen, er war ein Engländer, an der Kiste zu schaffen macht, und war nicht wegzukriegen. Also man hat schon oft gehört, daß durch treue Hunde die geheimsten Verschwörungen aufgedeckt worden sind, und Krieg war beinahe auch, denk ich mir also, schaust du doch nach, was der Spot hat, - und was glaubst du, hat der Spot gehabt? Weißt du, für die Landsturmbataillone gibt die Intendanz ja nicht gerade die neuesten Sachen her, und so war auch unsere Bataillonskasse alt und ehrwürdig, aber das hätt’ ich doch nie gedacht, daß sie hinten, während wir vorn zu dreien zusperren, nahe am Boden ein Loch hat, daß man den Arm durchstecken kann! Da war ein Astknorren im Holz, und der war in einem der früheren Kriege herausgefallen. Aber was willst du machen; der ganze bosnische Alarm war gerade vorbei, als der angeforderte Ersatz gekommen ist, und bis dahin haben wir in jeder Woche unsere Feierlichkeit abhalten dürfen, und bloß den Spot hab ich zuhaus lassen müssen, damit er keinem das Geheimnis verrät. Also siehst du, so schaut halt ein militärisches Geheimnis unter Umständen aus!»
«Na, ich denke, ganz so offen wie deine Truhe bist du noch immer nicht» gab Ulrich zur Antwort. «Werdet ihr nun das Geschäft wirklich machen oder nicht?»
«Ich weiß es nicht. Ich gebe dir mein großes Ge-neralstabsehrenwort: es ist noch nicht so weit. » «Und Leinsdorf?»
«Der hat natürlich keine Ahnung. Er ist auch nicht für Arnheim zu gewinnen. Ich habe gehört, daß er sich furchtbar über die Demonstration ärgern soll, die du ja noch mitgemacht hast; er ist jetzt ganz gegen die Deutschen. » «Tuzzi?» fragte Ulrich, das Verhör fortsetzend.
«Der ist der letzte, der etwas erfahren darf! Der würde den Plan sofort verderben. Wir wollen natürlich alle den Frieden, aber wir Militärs haben eine andere Art, ihm zu dienen als die Bürokraten!»
«Und Diotima?»
«Aber ich bitt’ dich! Das ist doch ganz und gar eine Männerangelegenheit, an so etwas kann sie nicht einmal mit Handschuhen denken! Ich bring es nicht über mich, sie mit der Wahrheit zu belästigen. Ich versteh auch, daß ihr der Arnheim nichts davon erzählt. Weißt du, er redet doch sehr viel und schön, da kann es schon ein Genuß sein, einmal über etwas zu schweigen. So wie einen stillen Magenbitter stell ich mir das vor!»
«Weißt du, daß du ein Schuft geworden bist?! Auf dein Wohl!» Ulrich trank ihm zu.
«Nein, kein Schuft» verteidigte sich der General. «Ich bin Mitglied einer ministeriellen Konferenz. Bei einer Konferenz bringt jeder vor, was er haben möchte und für das Richtige hält, und zum Schluß ergibt sich etwas daraus, das keiner ganz gewollt hat: eben das Ergebnis. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, ich kann es nicht besser ausdrücken. »
«Natürlich versteh ich dich. Aber gegen Diotima benehmt ihr euch trotzdem gemein. »
«Das täte mir leid» sagte Stumm. «Aber weißt du, ein Henker ist ein unehrlicher Kerl, darüber ist nicht zu streiten; dagegen der Seilfabrikant, der bloß der Gefängnisverwaltung die Stricke liefert, kann Mitglied der Ethischen Gesellschaft sein. Das berücksichtigst du nicht genug. »
«Das hast du von Arnheim!»
«Kann sein. Ich weiß nicht. Man bekommt heutzutage einen so komplizierten Geist» beklagte sich der General ehrlich.
«Und was soll ich dabei tun?»
«Na, schau, ich hab mir gedacht, du bist doch ehemaliger Offizier -»
«Schon gut. Aber wie hängt das mit <Tatmensch> zusammen?» fragte Ulrich beleidigt.
«Tatmensch?» wiederholte der General erstaunt.
«Du hast das alles doch damit eingeleitet, daß ich kein Tatmensch sei!?»
«Ach, so. Das hat damit natürlich gar nichts zu tun. Damit hab ich nur begonnen. Ich meine, der Arnheim hält dich nicht gerade für einen Tatmenschen; das hat er einmal gesagt. Du hast nichts zu tun, meint er, und das bringt dich auf Gedanken. Oder so ähnlich. »
«Das heißt, auf unnütze? Auf Gedanken, die sich nicht <in Machtsphären tragen> lassen? Auf Gedanken 424
um ihrer selbst willen? Mit einem Wort, auf richtige und unabhängige! Was? Oder vielleicht auf die Gedanken eines <weltfernen Ästheten?»
«Ja» versicherte Stumm von Bordwehr diplomatisch. «So ähnlich. »
«Wem ähnlich? Was, glaubst du, ist dem Geist gefährlicher: Träume oder Ölfelder ? Du brauchst dir nicht den Mund mit Brot zu verstopfen, laß das sein! Mir ist es ganz egal, was Arnheim von mir denkt. Aber du hast anfangs gesagt: <zum Beispiel Arnheim>; wer ist also noch da, für den ich nicht genug Tatmensch bin?»
«Na, weißt du, » versicherte Stumm «das sind nicht wenige. Ich habe dir ja erzählt, daß jetzt die Parole der Tat ausgegeben ist. »
«Was heißt das?»
«Das weiß ich auch nicht genau. Der Leinsdorf hat gesagt, es muß jetzt etwas geschehn!: damit hat es angefangen. »
«Und Diotima?»
«Diotima sagt, das ist ein neuer Geist. Und das sagen jetzt viele am Konzil. Ich möchte wissen, ob du das auch kennst: es wird einem geradewegs schwindlig im Bauch, wenn eine schöne Frau ein so bedeutender Kopf ist!?»
«Das glaub ich gern, » gab Ulrich zu, der sich Stumm nicht entwischen ließ «aber ich möchte nun hören, was Diotima von dem neuen Geist sagt. »
«Halt die Leute sagen» gab Stumm zur Antwort. «Die Leute am Konzil sagen, die Zeit bekommt einen neuen Geist. Nicht gleich, aber in ein paar Jahren; falls nicht früher etwas Besonderes geschieht. Und dieser Geist soll nicht viel Gedanken enthalten. Auch Gefühle sind jetzt nicht an der Zeit.
Gedanken und Gefühle, das ist mehr für Leute, die nichts zu tun haben. Mit einem Wort, es ist halt ein Geist der Tat, mehr weiß ich auch nicht. Aber zuweilen» fügte der General nachdenklich hinzu «habe ich mir schon gedacht, ob das nicht am Ende ganz einfach der militärische Geist ist?!»
«Eine Tat muß einen Sinn haben!» forderte Ulrich, und als tiefer Ernst, weit hinter diesem narrenhaft gescheckten Gespräch, erinnerte ihn sein Gewissen an die erste Unterhaltung, die er mit Agathe darüber auf der Schwedenschanze gehabt hatte.
Aber auch der General sagte: «Das habe ich doch gerade ausgesprochen. Wenn man nichts zu tun hat und nicht weiß, was man mit sich anfangen soll, ist man tatkräftig. Dann brüllt man herum, säuft, schlägt sich und schikaniert Roß und Mann. Aber andrerseits wirst du zugeben: wenn man durchaus weiß, was man will, wird man ein Schleicher. Schau dir so einen jungen Generalstäbler an, wenn er die Lippen schweigsam aufeinander preßt und ein Gesicht macht wie der Moltke: zehn Jahre später hat er unter den Knöpfen einen Feldherrnhügel, aber keinen so wohlwollenden wie ich, sondern einen Giftbauch. Wieviel Sinn eine Tat haben darf, ist also schwer zu bestimmen. » Er überlegte und fügte hinzu: «Wenn man es richtig anpackt, kann man beim Militär überhaupt viel lernen, das wird jetzt immer mehr meine Überzeugung; aber meinst du nicht, daß es halt sozusagen das einfachste wäre, wenn doch noch die große Idee gefunden würde ?»
«Nein» widersprach Ulrich. «Das war Unsinn. »
«Nun ja, aber dann bleibt wirklich nur die Tat» seufzte Stumm. «Das erkläre ich ja schon beinahe selbst.
Erinnerst du dich übrigens, wie ich einmal davor gewarnt habe, daß alle diese übermäßigen Gedanken ja doch nur in Totschlag übergehn? Das müßte man eben verhindern!» stellte er fest. «Da müßte eben doch einer die Führung übernehmen!» lockte er.
«Und welche Aufgabe hat deine Güte dabei mir zugedacht?» fragte nun Ulrich und gähnte unverhohlen.
«Ich geh schon» versicherte Stumm. «Aber nachdem wir uns so gut ausgesprochen haben, hättest du, wenn du ein treuer Kamerad sein wolltest, noch eine wichtige Aufgabe: Zwischen Diotima und Arnheim ist einiges nicht in Ordnung!»
«Was du sagst!» Der Hausherr belebte sich ein wenig.
«Du wirst schon selbst sehen, da brauche ich dir nichts zu erzählen! Zudem vertraut sie dir ja noch mehr als mir. »
«Dir vertraut sie? Seit wann?»
«Sie hat sich etwas an mich gewöhnt» sagte der General stolz.
«Da gratuliere ich. »
«Ja. Aber dann mußt du auch bald zum Leinsdorf gehn. Wegen seiner Abneigung gegen die Preußen. »
425
«Das tu ich nicht. »
«Aber schau, ich weiß ja, daß du den Arnheim nicht magst. Aber tun mußt du’s trotzdem. »
«Nicht deshalb. Ich geh überhaupt nicht zum Leinsdorf. »
«Warum denn nicht? Er ist so ein feiner alter Herr. Arrogant, und ich kann ihn nicht ausstehn, aber zu dir ist er großartig. »
«Ich zieh mich von der ganzen Geschichte jetzt zurück. »
«Aber der Leinsdorf läßt dich ja nicht. Und Diotima auch nicht. Und ich schon gar nicht! Du wirst mich doch nicht allein lassen?!»
«Mir ist die ganze Geschichte zu dumm. »
«Da hast du ja, wie immer, hervorragend recht. Aber was ist denn nicht dumm?! Schau, ich bin ganz dumm; ohne dich. Also du gehst mir zu Liebe zum Leinsdorf?»
«Aber was ist mit Diotima und Arnheim?»
«Das sag ich dir nicht, sonst gehst du auch zu Diotima nicht!» Der General wurde plötzlich von einem Einfall erleuchtet: «Wenn du willst, kann dir ja der Leinsdorf einen Hilfssekretär aufnehmen, der dich in allem vertritt, was du nicht magst. Oder ich stell dir einen aus dem Kriegsministerium bei. Du ziehst dich soweit zurück, wie du nur willst, aber deine Hand bleibt über mir walten?!»
«Laß mich erst ausschlafen» bat Ulrich.
«Ich gehe nicht früher weg, als du nicht ja sagst. »
«Also, ich werde es überschlafen» gestand Ulrich zu. «Vergiß nicht das Brot der Militärwissenschaft wieder in deine Tasche zu tun!»
14
Neues bei Walter und Ciarisse. Ein Schausteller und seine Zuschauer
Es war die Unruhe seines Zustands, die Ulrich gegen Abend bewog, zu Walter und Ciarisse hinaus zu gehn.
Unterwegs suchte er sich den Brief ins Gedächtnis zu rufen, den er unauffindbar zwischen seinem Gepäck verstaut oder verloren hatte, erinnerte sich aber an keine Einzelheiten mehr, sondern nur an den letzten Satz
«Ich hoffe, du kommst bald zurück» und zusammenfassend an den Eindruck, er müßte dann eigentlich mit Walter sprechen, womit nicht nur Bedauern und Unbehagen, sondern auch Schadenfreude verknüpft war.
Bei diesem flüchtigen und unwillkürlichen Gefühl, dem keine Bedeutung zukam, verweilte er nun, statt es zu verscheuchen, und empfand dabei etwas Ähnliches wie ein Schwindliger, den es beruhigt, wenn er sich niedrig machen kann.
Als er zum Haus einbog, sah er Ciarisse an der Seitenwand in der Sonne stehn, wo das Pfirsichspalier war; sie hatte die Hände hinten, lehnte sich an das nachgiebige Gerank und blickte weit fort, ohne den Kommenden zu bemerken. Ihre Haltung hatte etwas Selbstvergessenes und Erstarrtes; zugleich aber etwas kaum merklich Schauspielerisches, das nur dem Freund bemerklich war, der ihre Eigenheiten kannte: sie sah so aus, als spiele sie die bedeutenden Vorstellungen mit, die ihr Inneres beschäftigten, und sei dabei von einer festgehalten und nicht mehr losgelassen worden. Er erinnerte sich an ihre Worte: «Ich möchte das Kind von dir haben!» Sie waren ihm heute nicht so unangenehm wie damals, leise rief er die Freundin an und wartete.
Ciarisse aber dachte: «Diesmal verwandelt sich Meingast bei uns!» Sein Leben enthielt ja mehrere sehr merkwürdige Verwandlungen, und ohne daß er auf Walters ausführliche Antwort noch etwas erwidert hätte, hatte er seine Ankündigung, daß er kommen werde, eines Tages verwirklicht. Ciarisse war überzeugt, daß die Arbeit, die er dann bei ihnen sofort begonnen hatte, mit einer Verwandlung zusammenhinge. Die Erinnerung an einen indischen Gott, der vor jeder Läuterung irgendwo einkehrt, vermengte sich in ihr mit der Erinnerung, daß Tiere eine bestimmte Stelle wählen, um sich einzupuppen, und von diesem Gedanken, der ihr den Eindruck machte, ungeheuer gesund und erdsicher zu sein, war sie auf den sinnlichen Duft von Pfirsichhecken gekommen, die an einer sonnenbeschienenen Hausmauer reifen: das logische Ergebnis von alledem war, daß sie im glühenden Schein der sinkenden Sonne unter dem Fenster stand, während sich der Prophet in die dahinterliegende Schattenhöhle zurückgezogen hatte. Er hatte ihr und Walter tags zuvor erklärt, daß Knecht, knight dem Ursinn nach Jüngling, Knabe, Knappe, waffenfähiger Mann und Held 426
bedeutet; sie sagte nun zu sich: «Ich bin sein Knecht!» und diente ihm und schützte seine Arbeit: es bedurfte dazu weiter keiner Worte, sie hielt bloß mit dem geblendeten Gesicht reglos den Sonnenstrahlen stand.
Als Ulrich sie ansprach, drehte sich ihr Antlitz langsam der unerwarteten Stimme zu, und er entdeckte, daß sich etwas geändert habe. Die Augen, die ihm entgegensahen, enthielten eine Kälte, wie die Farben der Natur sie nach dem Erlöschen des Tags ausstrahlen, und er wußte sofort: Sie will nichts mehr von dir!
Keine Spur davon war mehr in ihrem Blick, daß sie ihn «aus dem Steinblock hinauszwingen» gewollt, daß er ein großer Teufel oder Gott gewesen, daß sie mit ihm durch das «Loch in der Musik» entfliehen gemocht, daß sie ihn hatte ermorden wollen, wenn er sie nicht liebe. Es war ihm ja gleichgültig; es mag auch ein sehr gewöhnliches kleines Erlebnis sein, diese verlöschte Wärme des Eigennutzes in einem Blick; trotzdem war es wie ein kleiner Riß im Schleier des Lebens, durch den das teilnahmlose Nichts schaut, und es wurde damals der Grund zu manchem gelegt, was später geschah.
Ulrich erfuhr, daß Meingast da sei, und verstand. Sie gingen leise ins Haus, um Walter zu holen, und ebenso leise zu dritt zurück ins Freie, den Schaffenden nicht zu stören. Ulrich erhaschte dabei zweimal durch eine offenstehende Tür einen Blick auf Meingasts Rücken. Er hauste in einem abgetrennten, leeren Zimmer, das zur Wohnung gehörte; irgendwo hatten Ciarisse und Walter eine eiserne Bettstatt aufgetrieben, ein Küchenschemel und eine Blechschüssel dienten als Waschtisch und Bad, und außer diesen Einrichtungsstücken befanden sich in dem Raum, der keine Fenstervorhänge hatte, nur noch ein alter Geschirrschrank, worin Bücher lagen, und ein kleiner Tisch aus ungestrichenem weichem Holz. An diesem Tisch saß Meingast und schrieb, ohne den Kopf nach den Vorbeigehenden zu wenden. Alles das hatte Ulrich teils gesehen, teils erfuhr er es von seinen Freunden, die sich kein Gewissen daraus machten, daß sie den Meister viel dürftiger untergebracht hatten, als sie selbst wohnten, sondern im Gegenteil aus irgendeiner Ursache stolz darauf waren, daß er sich genügen ließ. Es war rührend und für sie bequem; Walter versicherte, daß dieser Raum, wenn man ihn in Meingasts Abwesenheit beträte, jenes Unbeschreibliche besäße, das ein abgetragener alter Handschuh besitze, der auf einer edlen und energischen Hand getragen worden sei! Und wirklich fühlte sich Meingast mit großem Vergnügen in dieser Umgebung arbeiten, deren kriegerische Einfachheit ihm schmeichelte. Er begriff darin seinen Willen, der die Worte auf dem Papier formte. Stand noch dazu Ciarisse wie vorhin unter seinem Fenster oder oben auf dem Treppenabsatz, oder saß sie auch nur in ihrem Zimmer — «von dem Mantel eines unsichtbaren Nordlichts eingehüllt» wie sie ihm gestanden hatte -, so erhöhte diese ehrgeizige, von ihm gelähmte Schülerin seine Freude. Die Feder trieb dann die Einfalle vor sich her, und die großen, dunklen Augen über der scharfen, bebenden Nase begannen zu glühn. Es sollte einer der bedeutendsten Abschnitte seines neuen Buchs werden, den er unter diesen Umständen zu beenden gedachte, und man sollte dieses Werk nicht ein Buch nennen dürfen, sondern einen Rüstungsbefehl für den Geist neuer Männer! Als von Clarissens Standplatz eine fremde Männerstimme zu ihm emporgedrungen war, hatte er sich unterbrochen und vorsichtig hinuntergeguckt; er erkannte Ulrich nicht wieder, aber er entsann sich seiner dunkel und fand in den die Treppen heraufkommenden Schritten weder eine Ursache, seine Tür zu schließen, noch den Kopf von seiner Arbeit zu wenden. Er trug eine dicke Wolljacke unter dem Rock und zeigte seine Unempfindlichkeit gegen Wetter und Menschen.
Ulrich wurde spazieren geführt und durfte die Begeisterung über den Meister anhören, indes dieser seinem Werk oblag.
Walter sagte: «Wenn man mit einem wie Meingast befreundet ist, begreift man erst, daß man immer unter der Abneigung gegen die anderen gelitten hat! Im Verkehr mit ihm ist alles, möchte ich sagen, wie in reinen Farben ganz ohne Grau gemalt. » Ciarisse sagte: «Man hat im Verkehr mit ihm das Gefühl, daß man ein Schicksal hat; man steht ganz persönlich und voll beleuchtet da. » Walter ergänzte: «Heute zerlegt sich alles in hundert Schichten, wird undurchsichtig und verwischt: sein Geist ist wie Glas!» Ulrich erwiderte ihnen:
«Es gibt Sünden-und Tugendböcke; außerdem gibt es Schafe, die ihrer bedürfen!»
Walter gab es ihm zurück: «Es ist zu erwarten gewesen, daß dir dieser Mensch nicht passen wird!»
Ciarisse rief aus: «Du hast einmal behauptet, daß man nicht nach der Idee leben kann: erinnerst du dich?
Meingast kann es!» Walter sagte bedächtiger: «Ich könnte natürlich manches gegen ihn einwenden - »
Ciarisse unterbrach ihn: «Man fühlt Lichtschauder in sich, wenn man ihm zuhört. » Ulrich entgegnete:
«Besonders schöne Männerköpfe sind gewöhnlich dumm; besonders tiefe Philosophen sind gewöhnlich flache Denker; in der Dichtung werden gewöhnlich Begabungen, die wenig über der Mittelgröße liegen, 427
von den Zeitgenossen für groß gehalten. »
Sie ist eine merkwürdige Erscheinung, die der Bewunderung. Im Leben des Einzelnen bloß auf «Anfälle»
beschränkt, bildet sie in dem der Gesamtheit eine dauernde Einrichtung. Eigentlich würde es Walter befriedigender gefunden haben, in seiner und Clarissens Achtung selbst an Meingasts Stelle zu stehn, und begriff in keiner Weise, daß es nicht so war; aber irgendein kleiner Vorzug lag doch auch darin. Und das so ersparte Gefühl kam Meingast ähnlich zugute, wie wenn einer ein fremdes Kind als eigen annimmt. Und anderseits war sie gerade darum kein reines und heiles Gefühl, diese Bewunderung für Meingast, das wußte Walter selbst; eher war sie ein übertrieben gereiztes Verlangen, sich dem Glauben an ihn hinzugeben.
Etwas Geflissentliches war in ihr. Sie war ein «Klaviergefühl», das ohne volle Überzeugung tobt. Das fühlte auch Ulrich heraus. Eines der ursprünglichen Bedürfnisse nach Leidenschaft, die das Leben heute in kleine Stücke bricht und bis zur Unkenntlichkeit vermengt, suchte sich da einen Rückweg, denn Walter lobte Meingast mit einer ähnlichen Wut, wie eine Zuhörerschaft im Theater über alle Grenzen ihrer eigentlichen Meinung hinaus Gemeinplätzen applaudiert, durch die man ihr Bei-fallsbedürfnis reizt; er lobte ihn in einem jener Notzustände der Bewunderung, für die sonst die Feste und Feiern, die großen Zeitgenossen oder Ideen und die Ehren da sind, die ihnen erwiesen werden, wobei man mittut und keiner richtig weiß, für wen oder wofür, und jeder innerlich bereit ist, am nächsten Tag doppelt so gemein zu sein als sonst, um sich nichts vorwerfen zu müssen. So dachte Ulrich über seine Freunde und hielt sie durch spitze Bemerkungen in Bewegung, die er von Zeit zu Zeit gegen Meingast richtete; denn wie jeder Mensch, der es besser weiß, hatte er sich schon unzählige Male über die Begeisterungsfähigkeit seiner Zeitgenossen ärgern müssen, die fast immer fehlgreift und so auch noch das vernichtet, was die Gleichgültigkeit übrig läßt.
Es hatte schon gedämmert, als sie unter solchen Gesprächen ins Haus zurückkehrten.
«Dieser Meingast lebt davon, daß heute Ahnen und Glauben verwechselt wird» sagte Ulrich schließlich.
«Beinahe alles, was nicht Wissenschaft ist, kann man ja nur ahnen, und das ist etwas, wozu man Leidenschaft und Vorsicht braucht. So wäre eine Methodenlehre dessen, was man nicht weiß, beinahe das gleiche wie eine Methodenlehre des Lebens. Ihr aber <glaubt>, sobald euch einer bloß wie Meingast kommt! Und alle tun das. Und dieses <Glauben> ist ungefähr ein ebensolches Verhängnis, wie wenn ihr es euch mit eurer ganzen werten Person einfallen ließet, euch in einen Eierkorb zu setzen, um seinen unbekannten Inhalt auszubrüten!»
Sie standen am Fuß der Treppe. Und mit einemmal wußte Ulrich, warum er hierher gegangen sei und wieder mit den beiden sprach wie früher. Es wunderte ihn nicht, daß ihm Walter antwortete: «Und die Welt soll wohl stillstehn, bis du mit einer Methodenlehre fertig bist?!» Sie hielten offenbar alle nichts von ihm, weil sie nicht verstanden, wie verwahrlost dieses Gebiet des Glaubens ist, das sich zwischen der Sicherheit des Wissens und dem Dunst des Ahnens breit macht! Alte Ideen ballten sich in seinem Kopf zusammen; das Denken erstarb beinahe an ihrem Andrang. Aber da wußte er doch, daß es nun nicht mehr notwendig sei, wieder von vorn anzufangen wie ein Teppichwirker, dem ein Traum den Sinn geblendet hat, und daß er nur deshalb wieder hier stehe. Es war alles in letzter Zeit viel einfacher geworden. Die letzten vierzehn Tage hatten alles Frühere außer Kraft gesetzt und die Linien der inneren Bewegung mit einem kräftigen Knoten zusammengefaßt.
Walter erwartete, daß ihm Ulrich etwas erwidern werde, worüber er sich ärgern könne. Er wollte es ihm dann doppelt heimzahlen! Er hatte sich vorgenommen, ihm zu sagen, daß Menschen wie Meingast Heilbringer seien: «Heil heißt doch ursprünglich soviel wie ganz» dachte er. Und: «Heilbringer mögen sich irren, aber sie machen uns ganz!» wollte er sagen. Und: « Du kannst dir so etwas vielleicht gar nicht vorstellen ?» wollte er dann auch noch sagen. Er empfand dabei gegen Ulrich eine ähnliche Abneigung, wie er sie hatte, wenn er zum Zahnarzt gehen mußte.
Aber Ulrich fragte bloß zerstreut, was Meingast eigentlich in den letzten Jahren geschrieben und getrieben habe.
«Siehst du!» sagte Walter enttäuscht. «Siehst du, das weißt du nicht einmal, aber du schimpfst!»
«Ach, » meinte Ulrich «das brauche ich doch auch nicht zu wissen, dazu genügen schon ein paar Zeilen!»
Er setzte den Fuß auf die Treppe.
Aber da hielt ihn Ciarisse am Rock zurück und flüsterte: «Aber er heißt doch gar nicht Meingast!»
«Natürlich heißt er nicht so: ist denn das ein Geheimnis?»
428
«Er ist einmal Meingast geworden, und jetzt bei uns verwandelt er sich wieder!» flüsterte Ciarisse heftig und geheimnisvoll, und dieses Flüstern hatte etwas mit einer Stichflamme gemeinsam. Walter stürzte sich darüber, um es zu ersticken. « Ciarisse!» beschwor er sie « Ciarisse, laß diesen Unsinn!»
Ciarisse schwieg und lächelte. Ulrich ging voran die Treppe hinauf; er wollte nun endlich diesen Sendboten sehn, der sich aus Zarathustras Bergen auf das Familienleben von Walter und Ciarisse niedergesenkt hatte, und als sie oben ankamen, war Walter nicht nur auf ihn, sondern auch auf Meingast , schlecht zu sprechen.
Dieser empfing seine Bewunderer in ihrer dunklen Wohnung. Er hatte sie kommen gesehn, und Ciarisse trat gleich zu ihm vor die graue Fensterfläche, ein kleiner, spitzer Schatten neben seinem hageren, großen; eine Vorstellung gab es nicht, oder doch nur eine einseitige, indem Ulrichs Name dem Meister ins Gedächtnis gerufen wurde. Dann schwiegen alle; Ulrich, weil er neugierig war, wie sich das weiter entwickeln werde, stellte sich an das freie zweite Fenster, und Walter gesellte sich überraschenderweise zu ihm, wahrscheinlich bloß, bei augenblicklich gleichen Abstoßungskräften, vom Helligkeitsreiz der weniger verdeckten Scheibe angezogen, der dämmrig ins Zimmer leuchtete.
Man schrieb März. Aber die Meteorologie ist nicht immer verläßlich, manchmal macht sie einen Juniabend früher oder später: dachte Ciarisse, während ihr das Dunkel vor dem Fenster wie eine Sommernacht vorkam.
Dort, wohin das Licht der Gaslaternen fiel, war diese Nacht hellgelb lackiert. Das Gebüsch daneben bildete eine flutende schwarze Masse. Wo es ins Licht hing, wurde es grün oder weißlich - das ließ sich eigentlich nicht recht bezeichnen -, zackte sich in Blätter aus und schwebte im Laternenschein wie Wäschestücke, die in einem leicht dahinfließenden Wasser ausgeschwemmt werden. Ein schmales Eisenband auf zwerghaften Pfählen — nichts als eine Erinnerung und Ermahnung, der Ordnung zu gedenken - lief eine Weile längs des Rasens, worauf das Gebüsch stand, und verschwand dann im Dunkel: Ciarisse wußte, daß es dort überhaupt aufhörte; man hatte vielleicht einmal geplant, dieser Gegend etwas gärtnerischen Schmuck zu geben, und hatte es bald wieder aufgegeben. Ciarisse rückte eng an Meingast heran, um von seinem Fensterwinkel aus dem Weg möglichst weit entgegenblicken zu können; ihre Nase lag platt an der Scheibe, und die beiden Körper berührten sich so hart und mannigfaltig, als hätte sie sich auf einer Treppe ausgestreckt, was manchmal auch vorkam; um ihren rechten Arm, der Platz geben mußte, legten sich sodann beim Ellenbogen Meingasts lange Finger wie die sehnigen Fänge eines höchst zerstreuten Adlers, der etwa ein Seidentüchlein zerknüllte. Ciarisse hatte schon seit einer Weile einen Mann erblickt, mit dem etwas nicht in Ordnung war, das sie nicht herausbekommen konnte: er ging bald zögernd, bald ging er achtlos; es machte den Eindruck, daß sich etwas um seinen Willen zu gehen wickle, und jedesmal, nachdem er es zerrissen hatte, ging er ein Stück wie jeder andere, der nicht gerade Eile hat, aber auch nicht stockt. Der Rhythmus dieser ungleichmäßigen Bewegung hatte Ciarisse ergriffen; wenn der Mann an einer Laterne vorbeikam, suchte sie sein Gesicht zu erkennen, und es kam ihr ausgehöhlt und gefühllos vor. Bei der vorletzten meinte sie, daß es ein unbedeutendes, ungutes und scheues Gesicht sei; als er aber auf die letzte zukam, die beinahe unter ihrem Fenster stand, war sein Gesicht sehr blaß, und es schwamm im Licht hin und her, wie das Licht auf dem Dunkel hin und her schwamm, so daß sich daneben der dünne Eisenpfahl der Laterne sehr aufrecht und erregt ausnahm und sich mit einem eindringlicheren Hellgrün, als ihm eigentlich zugekommen wäre, ins Auge stellte.
Alle vier hatten sie nach und nach diesen Mann zu beobachten begonnen, der sich ungesehen wähnte. Er merkte jetzt das Gebüsch, das im Licht badete, und es erinnerte ihn an die Zacken eines Frauenunterrocks, so dick, wie er noch keinen gesehen hatte, wohl aber einen sehen mochte. In diesem Augenblick hatte ihn sein Entschluß gefaßt. Er stieg über die niedere Einzäunung, er stand auf dem Rasen, der ihn an die grüne Holzwolle unter den Bäumen einer Spielzeugschachtel erinnerte, sah eine kurze Weile fassungslos vor seine Füße, wurde von seinem Kopf geweckt, der sich vorsichtig umblickte, und verbarg sich im Schatten, wie es seine Gewohnheit war. Ausflügler kehrten heim, die das warme Wetter ins Freie gelockt hatte, man hörte ihren Lärm und ihre Lustbarkeit schon von weitem; es erfüllte den Mann mit Angst, und er suchte Genugtuung dafür unter dem Blätterunterrock. Ciarisse wußte noch immer nicht, was der Mann habe. Er kam jedesmal hervor, wenn ein Trupp Menschen vorbeizog und die Augen durch den Laternenschein für das Dunkel blind wurden. Er schob sich dann, ohne Schritte zu machen, nahe an diesen Lichtkreis heran wie einer, der an einem seichten Ufer nicht über die Sohlenränder ins Wasser geht. Es fiel Ciarisse auf, wie bleich der Mann war, sein Gesicht war zu einer blassen Scheibe verzerrt. Sie empfand heftiges Mitleid mit ihm. Aber er führte sonderbare kleine Bewegungen aus, die sie lange Zeit nicht verstand, bis sie plötzlich 429
ganz Halt für ihre Hand suchen mußte; und weil Meingast noch immer ihren Arm festhielt, so daß sie keine weiten Bewegungen machen konnte, erfaßte sie seine breite Hose und klammerte sich schutzsuchend an das Tuch, das am Bein des Meisters zerrte wie eine Fahne im Sturm, so standen die beiden, ohne loszulassen.
Ulrich, der es als erster bemerkt zu haben glaubte, daß der Mann unter den Fenstern einer jener Kranken sei, die durch die Regelwidrigkeit ihres Geschlechtslebens die Neugierde der Regelmäßigen lebhaft beschäftigen, machte sich eine Weile überflüssigerweise Sorgen, wie Ciarisse, da sie doch so unsicher sei, diese Entdeckung aufnehmen werde. Dann vergaß er das und hätte nun selbst gern gewußt, was in solch einem Menschen eigentlich vorgehe. Die Veränderung, dachte er, müsse wohl in dem Augenblick, wo dieser über das Gitter steige, so vollständig sein, daß sie sich im einzelnen gar nicht beschreiben lasse. Und so natürlich, als wäre das ein passender Vergleich, fühlte er sich alsbald an einen Sänger erinnert, der soeben noch gegessen und getrunken hat, dann aber ans Klavier tritt, die Hände über den Bauch faltet und, den Mund zum Liede öffnend, teils ein anderer ist, teils nicht. Auch an Se. Erlaucht Graf Leinsdorf, der sich in einen religiös-ethischen und in einen bankweltlich-vorurteilslosen Stromkreis einschalten konnte, dachte Ulrich. Die völlige Vollständigkeit dieser Verwandlung, die sich innen vollzieht, aber außen durch das Entgegenkommen der Welt ihre Bestätigung findet, hatte es ihm angetan: es war ihm gleichgültig, wie dieser Mann da unten psychologisch dazukam, aber er mußte sich vorstellen, wie sich dessen Kopf allmählich mit Spannung fülle, gleich einem Ballon, in den das Gas gelassen wird, wahrscheinlich tagelang und nach und nach, aber noch immer an den Seilen schwankend, die ihn an festen Boden binden, bis ein unhörbares Kommando, eine zufällige Ursache oder einfach der Ablauf der bestimmten Zeit, der nun das Nächstbeste zur Ursache macht, diese Seile löse, und der Kopf ohne Verbindung mit der Menschenwelt in der Leere des Unnatürlichen schwebe. Und wirklich stand der Mann mit seinem ausgehöhlten und unbedeutenden Gesicht im Schutz der Büsche lauerte wie ein Raubtier. Er hätte, um seine Vorsätze auszuführen, eigentlich warten sollen, bis die Ausflügler spärlicher würden und dadurch die Gegend für ihn sicherer erschiene; aber sobald zwischen den Gruppen eine einzelne Frau vorbeikam, ja manchmal schon, wenn eine, lebhaft lachend und geschützt, inmitten so einer Gruppe dahintanzte, waren das keine Menschen mehr für ihn, sondern Puppen, die sich sein Bewußtsein unsinnig zu-rechtschnitt. Es erfüllte ihn eine so grausame Rücksichtslosigkeit gegen sie wie einen Mörder, und ihre Todesangst sollte ihm nichts ausgemacht haben; aber zu gleicher Zeit litt er selbst leichte Qualen durch die Vorstellung, daß sie ihn entdecken und wie einen Hund davonjagen könnten, ehe er noch ganz auf der Höhe der
Besinnungslosigkeit wäre, und die Zunge zitterte ihm im Maule vor Angst. Mit blödem Kopf wartete er, und allmählich erlosch der letzte Schimmer der Dämmerung. Nun näherte sich eine alleingehende Frau seinem Versteck, und er konnte schon, als ihn noch die Laternen von ihr trennten, abgelöst von aller Umgebung wahrnehmen, wie sie in den Wogen des Hell-Dunkel auf und ab tauchte und ein schwarzer Klumpen war, der von Licht triefte, ehe sie nahe kam. Auch Ulrich bemerkte, daß es eine formlose Frau in mittleren Jahren sei, die sich da nähere. Die hatte einen Leib wie ein Sack, der mit Schottersteinen gefüllt ist, und ihr Gesicht verbreitete keine Sympathie, sondern war herrschsüchtig und zänkisch. Aber der schmächtige Blasse im Gebüsch wußte ja wohl ihr beizukommen, ohne daß sie es merken sollte, ehe es zu spät wäre. Die stumpfen Bewegungen ihrer Augen und ihrer Beine zuckten wahrscheinlich schon in seinem Fleisch, und er bereitete sich vor, sie zu überfallen, ohne daß sie sich zur Verteidigung herzurichten vermöchte, mit seinem Anblick zu übeffallen, der in die Überraschte eindringen und für ewig in ihr stecken bleiben sollte, wie sie sich auch wenden mochte. Diese Erregung sauste und drehte in Knien, Händen und Kehlkopf; so kam es wenigstens Ulrich vor, während er beobachtete, wie sich der Mann durch den Teil des Gebüschs tastete, auf dem schon Halblicht ruhte, und seine Vorbereitungen traf, um im entscheidenden Augenblick hervorzutreten und sich zu zeigen. Entgeistert heftete der Unglückliche, an den leichten letzten Widerstand der Zweige gelehnt, seine Augen auf das häßliche Gesicht, das nun schon im vollen Licht auf und ab stampfte, und sein Atem keuchte folgsam im Rhythmus der fremden Person. «Ob sie aufschreien wird?» dachte Ulrich. Diese grobe Person konnte durchaus fähig sein, statt zu erschrecken, in Zorn zu geraten und zum Angriff überzugehen: dann müßte der verrückte Feigling die Flucht ergreifen, und die gestörte Wollust stieße ihm ihre Messer mit dem stumpfen Griff voran ins Fleisch! In diesem spannenden Augenblick hörte Ulrich aber die unbefangenen Stimmen zweier den Weg entlangkommenden Männer, und so, wie er sie durch das Glas vernahm, mochten sie auch unten gerade noch das Zischen der Erregung 430
durchdrungen haben, denn der Mann unter dem Fenster ließ den fast schon geöffneten Schleier der Büsche vorsichtig wieder zufallen und zog sich lautlos in die Mitte des Dunkels zurück.
«Dieses Schwein! > flüsterte im gleichen Augenblick Ciarisse kraftvoll ihrem Nachbar zu, aber gar nicht empört. Bevor sich Meingast verwandelt hatte, hatte er oftmals solche Worte von ihr zu hören bekommen, die damals seinem aufregend freien Benehmen galten, und das Wort durfte sonach als historisch gelten.
Ciarisse setzte voraus, daß sich auch Meingast trotz seiner Verwandlung noch daran erinnern müsse, und wirklich kam ihr vor, daß sich als Antwort seine Finger auf ihrem Arm ganz leise rührten. Überhaupt war an diesem Abend nichts zufällig; auch jener Mann hatte nicht bloß zufällig Clarissens Fenster auserwählt, um sich darunter zu stellen: Ihre Meinung, daß sie Männer, mit denen etwas nicht in Ordnung sei, grausam anziehe, war fest und hatte sich schon oft als wahr erwiesen! Nahm man alles in allem, so waren ihre Ideen nicht sowohl wirr, als daß sie vielmehr Zwischenglieder ausließen oder an manchen Stellen von Affekten getränkt wurden, wo andere Menschen keine solche innere Quelle haben. Ihre Überzeugung, daß sie es gewesen sei, die es seinerzeit Meingast ermöglicht habe, sich gründlich zu ändern, war an und für sich nicht unglaubwürdig; erwog man überdies, wie unzusammenhängend, weil in der Ferne und in Jahren ohne Berührung, sich diese Veränderung vollzogen habe, und auch ihre Größe - denn sie hatte aus einem oberflächlichen Lebemann einen Propheten gemacht -, am Ende aber gar noch, daß sich bald nach Meingasts Abschied der Liebe zwischen Walter und Ciarisse zu jener Höhe der Kämpfe erhoben habe, auf der sie sich noch befand, so hatte auch Clarissens Vermutung, Walter und sie hätten die Sünden des noch unverwandelten Meingast auf sich nehmen müssen, um diesem den Aufstieg zu ermöglichen, keine schlechtere Begründung für sich als unzählige angesehene Gedanken, die heute geglaubt werden. Daraus ergab sich aber das ritterlich dienende Verhältnis, worin sich Ciarisse zu dem Zurückgekehrten stehen fühlte, und wenn sie nun von seiner neuen «Verwandlung» sprach, statt einfach von einer Veränderung, so drückte sie nur angemessen die Gehobenheit aus, in der sie sich seither befand. Das Bewußtsein, sich in einer bedeutsamen Beziehung zu befinden, konnte Ciarisse im wörtlichen Sinn erheben. Man weiß nicht recht, ob man die Heiligen mit einer Wolke unter den Füßen malen soll oder ob sie einen Finger breit über dem Erdboden einfach in nichts stehen, und geradeso stand es jetzt um sie, seit Meingast ihr Haus erwählt hatte, um darin seine große Arbeit zu verrichten, die wahrscheinlich einen ganz tiefen Hintergrund hatte.
Ciarisse war nicht in ihn verliebt wie eine Frau, sondern eher so wie ein Knabe, der einen Mann bewundert; beseligt, wenn es ihm gelingt, in der gleichen Weise seinen Hut aufzusetzen wie jener, und von dem heimlichen Wetteifer erfüllt, ihn noch zu übertreffen.
Und das wußte Walter. Er konnte weder hören, was Ciarisse mit Meingast flüsterte, noch vermochte sein Auge mehr von den beiden wahrzunehmen als eine im Dämmerlicht des Fensters schwer verschmolzene Schattenmasse, aber er durchschaute alles ohne Ausnahme. Auch er hatte erkannt, was mit dem Mann in den Büschen los war, und die Stille, von der das Zimmer beherrscht wurde, lastete auf ihm am schwersten.
Er vermochte auszunehmen, daß Ulrich, der reglos neben ihm stand, gespannt aus dem Fenster sah, und er setzte voraus, daß die beiden an dem anderen Fenster das gleiche täten. «Warum löst keiner dieses Schweigen?!» dachte er. «Warum öffnet keiner das Fenster und verscheucht diesen Unhold?!» Es fiel ihm ein, daß man verpflichtet wäre, die Polizei anzurufen, aber es befand sich kein Fernsprecher im Hause, und er hatte nicht den Mut, etwas zu unternehmen, das auf die Geringschätzung seiner Gefährten stoßen könnte.
Er wollte ja überhaupt kein «entrüsteter Philister» sein, er war nur so gereizt! Das «ritterliche Verhältnis», in dem seine Frau zu Meingast stand, konnte er sogar sehr gut begreifen, denn Ciarisse war es auch in der Liebe unmöglich, sich eine Erhebung ohne Anstrengung vorzustellen; sie empfing ihre Erhebungen nicht von der Sinnlichkeit, sondern nur vom Ehrgeiz. Er erinnerte sich, wie unheimlich lebendig sie manchmal in seinen Armen hatte sein können, als er sich noch mit Kunstwerken abgab; aber anders als auf solchem Umweg gelang es niemals, sie zu erwärmen. «Vielleicht empfangen alle Menschen wirksame Erhebungen nur vom Ehrgeiz?» überlegte er zweifelnd. Es war ihm nicht entgangen, daß Ciarisse «Wache stand», wenn Meingast arbeitete, um seine Gedanken mit ihrem Leib zu schützen, obwohl sie diese Gedanken nicht einmal kannte. Schmerzlich betrachtete Walter den einsamen Egoisten in seinem Busch, und dieser Unglückliche gab ihm ein warnendes Beispiel für die Verheerungen ab, die in einem allzu vereinzelten Gemüt angerichtet werden. Dabei marterte ihn die Vorstellung, daß er genau wisse, was Ciarisse jetzt, während sie zusehe, empfinde. «Sie wird in einer leichten Erregung sein, als ob sie rasch eine Treppe gestiegen wäre» dachte er. Er empfand selbst in dem Bild, das vor seinen Augen stand, einen Druck, als ob 431
etwas darin eingepuppt wäre, das seine Hülle zerreißen wolle, und er spürte, wie sich in diesem geheimnisvollen Druck, den auch Ciarisse fühlte, der Wille bewegte, nicht bloß zuzusehen, sondern gleich, bald, irgendwie etwas zu tun und sich selbst in das Geschehende hineinzustürzen, um es zu befrein. Bei anderen Menschen ergeben sich wohl doch die Gedanken aus dem Leben, aber bei Ciarisse entstand das, was sie erlebte, jedesmal aus den Gedanken: das war so beneidenswert verrückt! Und Walter neigte mehr zu den Übertreibungen seiner vielleicht geisteskranken Frau als etwa zu dem Denken seines Freundes Ulrich, der sich einbildete, vorsichtig und kühn zu sein: irgendwie war ihm das Unsinnigere angenehmer, es ließ ihn vielleicht selbst unangetastet, es wandte sich an sein Mitleid, jedenfalls ziehen ja viele Menschen verrückte Gedanken schwierigen vor, und es bereitete ihm sogar eine gewisse Genugtuung, daß Ciarisse im Dunkel mit Meingast flüsterte, während Ulrich verurteilt war, als stummer Schatten neben ihm zu stehn; er gönnte ihm die Niederlage durch Meingast. Aber von Zeit zu Zeit marterte ihn die Erwartung, daß Ciarisse plötzlich das Fenster aufreißen oder über die Treppe zu den Büschen hinuntereilen werde: dann verabscheute er beide männlichen Schatten und ihr unanständig schweigendes Dabeistehn, das die Lage für den armen, kleinen von ihm behüteten Prometheus, der jeder Versuchung des Geistes ausgesetzt war, von Minute zu Minute bedenklicher machte.
In dieser Zeit waren Scham und verhinderte Lust in dem Kranken, der sich in seinen Busch zurückgezogen hatte, zu einer Einheit der Enttäuschung zusammengeschmolzen, die seine hohle Figur wie eine bittere Masse ausgoß. Als er ins innerste Dunkel gelangt war, knickte er zusammen, ließ sich zur Erde fallen, und sein Kopf hing wie ein Blatt vom Hals hinab. Die Welt stand strafend vor ihm, und er sah seine Lage ungefähr so, wie sie den beiden vorübergehenden Männern erschienen wäre, wenn sie ihn entdeckt hätten.
Aber nachdem dieser Mann eine Weile trockenen Auges über sich geweint hatte, ging wieder die ursprüngliche Veränderung mit ihm vor sich, diesmal sogar mit einem Mehr an Trotz und Rache vermischt.
Und noch einmal mißlang es. Ein Mädchen, das ungefähr fünfzehn Jahre alt sein mochte und sich offenbar irgendwo verspätet hatte, kam vorbei und erschien ihm schön, ein kleines, hastendes Ideal: der Verdorbene fühlte, daß er nun eigentlich ganz hervortreten und sie freundlich ansprechen müßte, aber das stürzte ihn augenblicklich in wilden Schrecken. Seine Phantasie, die bereit war, ihm jede Möglichkeit vorzuspiegeln, an die eine Frau nur zu erinnern vermag, wurde ängstlich unbeholfen vor der einzigen natürlichen Möglichkeit, dieses schutzlos daherkommende kleine Geschöpf in seiner Schönheit zu bewundern. Es bereitete seinem Schattenich desto weniger Vergnügen, je mehr es geeignet war, seinem Tagesich zu gefallen, und vergeblich suchte er es zu hassen, wenn er es schon nicht lieben konnte. So stand er ungewiß an der Grenze von Schatten und Licht und bot sich dar. Als die Kleine sein Geheimnis bemerkte, war sie schon an ihm vorbeigegangen und etwa acht Schritte von ihm entfernt; sie hatte zuerst bloß auf die unruhige Stelle in den Blättern gesehn, ohne zu erkennen, was los wäre, und als sie es durchschaute, konnte sie sich bereits so weit in Sicherheit fühlen, daß sie nicht mehr tödlich erschrak: wohl blieb ihr Mund eine Weile offen stehn, aber dann kreischte sie hell auf und begann zu laufen, dem Racker schien es sogar Spaß zu machen, sich umzusehn, und der Mann fühlte sich mit Beschämung stehen gelassen. Er hoffte zornig, daß ihr doch ein Tropfen Gift in die Augen gefallen sein und sich später ins Herz durchfressen möge.
Dieser verhältnismäßig arglose und komische Ausgang bedeutete einige Erleichterung für die Menschlichkeit der Zuschauer, die diesmal wohl Partei genommen hätte, wäre der Auftritt nicht auf solche Weise verflüchtigt worden; und unter diesem Eindruck stehend, bemerkten sie kaum, wie die Angelegenheit unten zu Ende kam, sie mußten sich, daß es geschehen sei, erst an der Beobachtung bestätigen, daß die männliche «Hyäne», wie Walter dann sagte, mit einemmal verschwunden blieb. Es war ein in jeder Hinsicht mittleres Wesen, an dem des Mannes Vorsatz gelang, sah ihn entgeistert und mit Widerwillen an, hielt unwillkürlich einen Augenblick erschrocken im Gehn inne und suchte dann so zu tun, als ob es nichts bemerkt hätte. In dieser Sekunde fühlte er sich samt dem Blätterdach und der ganzen umgestülpten Welt, aus der er hervorgegangen war, tief in den widerstrebenden Blick der Wehrlosen hineingleiten. So mochte es gewesen sein oder auch anders. Ciarisse hatte nicht achtgegeben. Tief aufatmend richtete sie sich aus ihrer vorgebeugten Haltung auf, nachdem Meingast und sie einander schon vor einer Weile losgelassen hatten. Es kam ihr vor, daß sie plötzlich mit den Sohlen auf dem Holzboden lande, und ein Wirbel unaussprechlicher, grauenvoller Lust beruhigte sich in ihrem Körper. Sie war fest überzeugt, daß alles, was sich abgespielt habe, eine besondere, auf sie gemünzte Bedeutung besitze; und so seltsam es klingen mag, hatte sie von dem abstoßenden Vorgang den Eindruck, daß sie eine Braut sei, der 432
man ein Ständchen dargebracht habe, und in ihrem Kopf tanzten Vorsätze, die sie abschließen wollte”, mit solchen, die sie neu faßte, wild durcheinander.
«Komisch!» sagte plötzlich Ulrich ins Dunkel und brach als erster das Schweigen der vier. «Es ist doch eigentlich ein lächerlich verzwickter Gedanke, daß diesem Burschen der ganze Spaß verdorben wäre, wenn er bloß wissen könnte, daß er ohne sein Wissen beobachtet wird!» Aus dem Nichts löste sich der Schatten Meingasts und blieb in der Richtung auf Ulrichs Stimme als schmale Verdichtung der Finsternis stehn.
«Man mißt dem Sexuellen viel zu große Bedeutung bei» sagte der Meister. «Das sind in Wahrheit Bockspiele des Zeit-wollens. » Sonst sagte er nichts. Aber Ciarisse, die bei Ulrichs Sprache unwillig zusammengezuckt war, fühlte, daß sie durch Meingasts Worte, wenn man auch in ihrem Dunkel nicht wußte, wohin es ging, vorwärtsgebracht wurde.
15
Das Testament
Als Ulrich nach Hause zurückkehrte, von dem, was er erlebt hatte, in noch größere Unzufriedenheit als zuvor versetzt, wollte er einer Entscheidung nicht länger ausweichen und rief sich, so genau er sich nur zu erinnern vermochte, den «Zwischenfall» ins Gedächtnis, mit welchem Wort er mildernd das bezeichnete, was sich in den letzten Stunden seines Beisammenseins mit Agathe und wenige Tage nach dem großen Gespräch ereignet hatte.
Ulrich war reisefertig gewesen, um einen Schlafwagenzug zu benützen, der spät durch die Stadt kam, und die Geschwister hatten sich zum letzten Abendbrot getroffen; es war vorher ausgemacht worden, daß ihm Agathe in kurzer Zeit nachfolgen solle, und sie schätzten diese Trennung etwas ungewiß auf fünf bis vierzehn Tage.
Bei Tisch sagte Agathe: «Wir haben aber vorher noch etwas zu tun!»
«Was?» fragte Ulrich.
«Wir müssen das Testament ändern. »
Ulrich erinnerte sich, daß er seine Schwester ohne Überraschung angesehen habe: trotz allem, was sie schon miteinander gesprochen hatten, war er der Erwartung gewesen, daß nun ein Scherz kommen werde.
Aber Agathe blickte auf ihren Teller und hatte die wohlbekannte Falte des Nachdenkens über der Nasenwurzel. Langsam sagte sie: «Er soll nicht so viel von mir in seinen Fingern behalten, als hätte man einen Wollfaden dazwischen abgebrannt… !»
Es mußte in den letzten Tagen etwas in ihr heftig gearbeitet haben. Ulrich wollte ihr sagen, daß er diese Überlegungen, wie man Hagauer schädigen könne, für unerlaubt halte, und nicht wieder darüber zu sprechen wünsche: in diesem Augenblick trat aber der alte Haus-und Amtsdiener seines Vaters ein, der die Speisen auftrug, und sie konnten sich nur noch verhüllt und in Andeutungen ausdrücken.
«Tante Malwine —» sagte Agathe und lächelte ihren Bruder an «erinnerst du dich an Tante Malwine? —
Sie hatte ihr ganzes Vermögen unserer Kusine bestimmt; das war eine ausgemachte Sache, von der alle wußten! Und dafür ist diese im elterlichen Erbe zugunsten ihres Bruders auf den Pflichtteil beschränkt worden, damit keines der Geschwister, die von ihrem Vater gleich zärtlich geliebt wurden, mehr bekäme als das andere. Daran mußt du dich wohl erinnern? Die Jahresrente, die Agathe - Alexandra, deine Kusine, »
verbesserte sie sich lachend «seit ihrer Heirat bekam, ist bis auf weiteres gegen diesen Pflichtteil verrechnet worden, das war eine komplizierte Angelegenheit, um Tante Malwine mit dem Sterben Zeit zu lassen - »
«Ich verstehe dich nicht» hatte Ulrich gemurrt.
«Aber das ist doch einfach zu verstehn! Tante Malwine ist heute tot, aber noch vor ihrem Tod hatte sie ihr ganzes Vermögen verloren; sie mußte sogar unterstützt werden. Jetzt braucht Papa nur noch aus irgendeinem Grund vergessen zu haben, daß er seine eigene Testamentsabänderung rückgängig mache, so bekommt Alexandra überhaupt nichts, auch wenn bei ihrer Heirat Gütergemeinschaft vereinbart worden sein sollte!»
«Das weiß ich nicht, ich glaube, das wäre sehr ungewiß!» sagte Ulrich unwillkürlich. «Und dann werden doch wohl auch bestimmte Zusicherungen des Vaters dagewesen sein. Vater kann das alles doch nicht ohne irgendwelche Auseinandersetzung mit seinem Schwiegersohn gemacht haben!» Ja, er erinnerte sich 433
allzugut, so geantwortet zu haben, weil er bei dem gefährlichen Irrtum seiner Schwester einfach nicht stillsein konnte. Auch das Lächeln, mit dem sie ihn danach angesehen hatte, war ihm noch ganz gegenwärtig: « So ist er!» schien sie zu denken. «Man braucht ihm eine Sache nur so darzulegen, als ob sie nicht Fleisch und Blut, sondern etwas Allgemeines wäre, und man kann ihn am Nasenring führen!» Und dann hatte sie kurz gefragt: «Waren solche Vereinbarungen schriftlich da?» und gab selbst die Antwort:
«Davon habe ich nie etwas gehört, und ich müßte es doch eigentlich wissen! Papa war eben in allen Dingen sonderbar. »
In diesem Augenblick wurde serviert, und sie benutzte Ulrichs Wehrlosigkeit um beizufügen: «Mündliche Vereinbarungen kann man jederzeit abstreiten. Ist aber das Testament nach Tante Malwines Verarmung noch einmal abgeändert worden, so spricht alles dafür, daß diese zweite Abänderung verloren gegangen ist!»
Und wieder ließ sich Ulrich zu einer Verbesserung verleiten und sagte: «Immerhin bleibt dann noch der nicht unbeträchtliche Pflichtteil; den kann man leiblichen Kindern doch nicht wegnehmen!»
«Aber ich habe dir schon gesagt, daß der noch bei Lebzeiten ausbezahlt worden ist! Alexandra war doch überhaupt zweimal verheiratet!» Sie waren einen Augenblick allein, und hastig fügte Agathe hinzu: «Ich habe mir diese Stelle genau angesehn: Man braucht nur einige Worte zu ändern, dann sieht es so aus, als ob mir der Pflichtteil schon früher ausgezahlt worden wäre. Wer weiß denn das heute?! Als uns Papa nach den Verlusten der Tante wieder auf gleiche Teile setzte, ist das in einem Nachtrag geschehn, den man vernichten kann; außerdem könnte ich ja auch auf meinen Pflichtteil verzichtet haben, um ihn aus irgendwelchen Gründen dir zu lassen!»
Ulrich sah verblüfft seine Schwester an und versäumte darüber die Gelegenheit, auf ihre Erfindungen die Antwort zu geben, zu der er verpflichtet war; als er damit beginnen wollte, befanden sie sich schon wieder zu dritt, und er mußte seine Worte verschleiern:
«Man sollte wirklich» begann er zögernd «so etwas auch nicht denken!»
«Weshalb denn nicht?!» entgegnete Agathe.
Solche Fragen sind sehr einfach, wenn sie ruhen; aber sobald sie sich aufrichten, sind sie eine ungeheuerliche Schlange, die zu einem harmlosen Fleck zusammengerollt gewesen ist: Ulrich erinnerte sich, daß er zur Antwort gegeben habe: «Sogar Nietzsche schreibt den <freien Geistern> vor, um der Freiheit des Inneren willen gewisse äußere Regeln zu achten!» Er hatte das mit einem Lächeln geantwortet, hatte aber dabei gefühlt, daß es etwas feige sei, sich hinter die Worte eines anderen zu verstecken.
«Das ist ein lahmer Grundsatz!» entschied Agathe kurz. «Nach diesem Grundsatz war ich verheiratet!»
Und Ulrich dachte: «Ja, es ist wirklich ein lahmer Grundsatz. » Es scheint, daß Menschen, die auf besondere Fragen etwas Neues und Umgestaltendes zu antworten haben, dafür mit allem anderen ein Kompromiß schließen, das sie eine brave Moral in Pantoffeln leben läßt; zumal da ein solches Verfahren, das alle Bedingungen konstant zu halten trachtet bis auf die eine, die es zu verändern wünscht, ganz und gar der schöpferischen Ökonomie des Denkens entspricht, die ihnen vertraut ist. Auch Ulrich war das stets eher streng als nachlässig vorgekommen, aber damals, als dieses Gespräch zwischen ihm und seiner Schwester stattfand, fühlte er sich getroffen; er ertrug nicht mehr die Unentschiedenheit, die er geliebt hatte, und es schien ihm, daß gerade Agathe die Aufgabe gehabt habe, ihn soweit zu bringen. Und während er ihr trotzdem noch die Regel der Freien Geister vorhielt, lachte sie und fragte ihn, ob er nicht bemerke, daß in dem Augenblick, wo er allgemeine Regeln zu bilden suche, ein anderer Mensch an seine Stelle trete.
«Und obgleich du ihn sicher mit Recht bewunderst, ist er dir im Grunde ganz gleichgültig!» behauptete sie.
Sie sah ihren Bruder mutwillig und herausfordernd an. Er fühlte sich wieder gehindert, ihr zu antworten, schwieg, jeden Augenblick eine Störung erwartend, und mochte sich doch nicht entschließen, das Gespräch abzubrechen. Diese Lage machte ihr Mut. «Du hast mir in der kurzen Zeit unseres Beisammenseins» fuhr sie fort «so wunderbare Ratschläge für mein Leben gegeben, wie ich sie mir nie auszudenken gewagt hätte, aber dann hast du jedesmal gefragt, ob sie auch wahr seien! Mir scheint, die Wahrheit ist in deinem Gebrauch eine Kraft, die den Menschen mißhandelt!?»
Sie wußte nicht, woher sie das Recht nahm, ihm solche Vorwürfe zu machen; ihr eigenes Leben erschien ihr doch so wertlos, daß sie hätte schweigen müssen. Aber sie schöpfte ihren Mut aus ihm selbst, und das war ein so wunderlich weiblicher Zustand, der sich auf ihn stützte, während sie ihn angriff, daß er es auch fühlte.
434
«Du hast kein Verständnis für das Verlangen, Gedanken zu großen, gegliederten Massen zusammenzufassen, die Kampferlebnisse des Geistes sind dir fremd; du siehst darin nur irgend einen Gleichschritt ziehender Kolonnen, das Unpersönliche vieler Füße, die die Wahrheit wie eine Staubwolke aufwirbeln!» sagte Ulrich.
«Aber hast du mir denn nicht selbst die zwei Zustände, in denen du leben kannst, so genau und klar beschrieben, wie ich es nie vermöchte?!» antwortete sie.
Eine Glutwolke, deren Grenzen sich rasch veränderten, flog über ihr Gesicht. Sie hatte das Verlangen, ihren Bruder so weit zu bringen, daß er nicht mehr umkehren könne. Sie fieberte bei dieser Vorstellung, wußte aber noch nicht, ob sie genug Mut haben werde, und verzögerte das Ende des Mahls.
Das alles wußte Ulrich, er erriet es; aber er hatte sich nun aufgerüttelt und sprach auf sie ein. Er saß vor ihr, die Augen abwesend, den Mund gewaltsam zum Sprechen gezwungen, und hatte den Eindruck, er sei nicht bei sich, sondern eigentlich hinter sich zurückgeblieben und rufe sich das nach, was er sage. «Nimm an, ich möchte» sagte er «auf der Reise einem Fremden die goldene Zigarettendose stehlen: ich frage dich, ob das nicht einfach undenkbar ist?! Also will ich jetzt auch nicht erst darüber reden, ob eine Entscheidung, wie sie dir vorschwebt, mit höherer Geistesfreiheit zu rechtfertigen sei oder nicht. Möge es sogar recht sein, Hagauer ein Leid zuzufügen. Aber stell dir vor, ich im Hotel sei weder in Not, noch ein Berufsdieb, noch ein geistig Minderwertiger mit Deformationen am Kopf oder am Körper, noch habe ich eine Hysterikerin zur Mutter oder einen Trinker zum Vater, noch sei ich von irgendetwas anderem verwirrt oder stigmatisiert, stähle aber trotzdem: ich wiederhole dir, daß es diesen Fall auf der ganzen Welt nicht gibt! Er kommt einfach nicht vor! Er ist geradezu mit wissenschaftlicher Sicherheit für unmöglich zu erklären!»
Agathe lachte hell auf. «Aber Ulo! Was ist dann, wenn man es trotzdem tut?!»
Bei dieser Antwort, die er nicht vorgesehen hatte, mußte Ulrich selbst lachen; er sprang auf und schob seinen Stuhl hastig zurück, damit er sie durch seine Zustimmung nicht ermutige. Agathe erhob sich von Tisch. «Du darfst das nicht tun!» bat er sie. «Aber Uli, » erwiderte sie «denkst du denn selbst im Traum, oder träumst du da etwas, das geschieht?!»
Diese Frage erinnerte ihn an seine eigene vor wenig Tagen aufgestellte Behauptung, daß alle Forderungen der Moral auf eine Art Traumzustand hinwiesen, der aus ihnen entflohen sei, wenn sie fertig dastünden.
Aber Agathe war, nachdem sie das gesagt hatte, in das Arbeitszimmer ihres Vaters gegangen, das sich nun hinter zwei geöffneten Türen beleuchtet darbot, und Ulrich, der ihr nicht gefolgt war, sah sie in diesem Rahmen stehn. Sie hielt ein Papier ans Licht und las darin. «Hat sie keine Vorstellung von dem, was sie da auf sich nimmt?!» fragte er sich. Doch der Schlüsselbund zeitgenössischer Begriffe wie nervöse Minderwertigkeit, Ausfallserscheinung, Debilität und dergleichen wollte nicht passen, und in dem schönen Anblick, den Agathe während ihres Vergehens bot, war auch weder von Habsucht, noch von Rache oder einer anderen inneren Häßlichkeit eine Spur zu entdecken. Und obwohl mit Hilfe solcher Begriffe selbst die Handlungen eines Verbrechers oder Halbirren Ulrich noch verhältnismäßig gezähmt und zivilisiert vorgekommen wären, denn da schimmern die verzerrten und verschobenen Beweggründe des gewöhnlichen Lebens in der Tiefe, machte ihn seiner Schwester wildsanfte Entschlossenheit, worin sich Reinheit und Verbrechen unterschiedslos mischten, in diesem Augenblick völlig fassungslos. Er vermochte nicht, dem Gedanken Raum zu geben, daß dieser Mensch, der ganz offen begriffen war, eine schlechte Handlung zu begehn, ein schlechter Mensch sein könne, und mußte dabei zusehn, wie Agathe ein Papier nach dem anderen aus dem Schreibtisch nahm, durchlas, zur Seite legte und ernstlich nach bestimmten Aufzeichnungen suchte. Ihre Entschlossenheit machte den Eindruck, aus einer anderen Welt auf die Ebene gewöhnlicher Entscheidungen herabgestiegen zu sein.
Während dieser Beobachtungen beunruhigte Ulrich überdies die Frage, warum er Hagauer überredet habe, gutgläubig abzureisen. Es dünkte ihn, er habe von allem Anfang an so gehandelt, als ob er das Werkzeug des Willens seiner Schwester wäre, und bis zuletzt hatte er ihr, auch wenn er widersprach, Antworten gegeben, die ihr vorwärtshalfen. Die Wahrheit mißhandle den Menschen, hatte sie gesagt: «Sehr gut gesagt, aber sie weiß doch gar nicht, was Wahrheit bedeutet!» überlegte Ulrich. «Mit den Jahren bekommt man die steife Gicht davon, aber in der Jugend ist es ein Jagd-und Segelleben!» Er hatte sich wieder gesetzt. Jetzt kam ihm plötzlich vor, daß Agathe nicht nur das, was sie von Wahrheit sage, irgendwie von ihm abgenommen habe, sondern daß ihr auch das, was sie im Nebenzimmer tue, von ihm vorgezeichnet worden sei. Er hatte doch gesagt, daß es im höchsten Zustand eines Menschen kein Gut und Böse gebe, sondern nur 435
Glaube oder Zweifel; daß feste Regeln dem innersten Wesen der Moral widersprächen und der Glaube höchstens eine Stunde alt werden dürfe; daß man im Glauben nichts Niedriges tun könne; daß Ahnung ein leidenschaftlicherer Zustand sei als Wahrheit: Und Agathe war jetzt im Begriff, das Gebiet der moralischen Umfriedung zu verlassen und sich auf jene grenzenlose Tiefe hinauszuwagen, wo es keine andere Entscheidung gibt als die, ob man steigen wird oder fällt. Sie führte das so aus, wie sie seinerzeit die Orden aus seiner zögernden Hand genommen hatte, um sie zu vertauschen, und in diesem Augenblick liebte er sie unerachtet ihrer Gewissenlosigkeit mit dem merkwürdigen Gefühl, daß es seine eigenen Gedanken seien, die von ihm zu ihr gegangen wären und nun von ihr wieder zu ihm zurückkehrten, ärmer an Überlegung geworden, aber wie ein Wildwesen balsamisch nach Freiheit duftend. Und während er unter der Mühe, sich zu bändigen, zitterte, schlug er ihr vorsichtig vor: «Ich werde meine Abreise um einen Tag verschieben und beim Notar oder bei einem Rechtsanwalt Erkundigungen einholen. Vielleicht ist das furchtbar durchsichtig, was du tun willst!»
Aber Agathe hatte schon herausgefunden, daß der Notar, dessen sich ihr Vater seinerzeit bedient hatte, nicht mehr am Leben sei. «Kein Mensch weiß mehr von der Sache, » sagte sie «rühr nicht daran!»
Ulrich bemerkte, daß sie ein Blatt Papier genommen hatte und Versuche anstellte, die Handschrift ihres Vaters nachzuahmen.
Angezogen davon, war er nahegekommen und hinter sie getreten. Da lagen nun in Haufen die Blätter, auf denen die Hand seines Vaters gelebt hatte, deren Bewegung man beinahe noch nachfühlen konnte, und dort zauberte Agathe wie in schauspielerischer Nachahmung fast das gleiche hervor. Es war seltsam, dem zuzusehn. Der Zweck, zu dem das geschah, der Gedanke, daß es einer Fälschung diene, verschwand. Und in Wahrheit hatte sich das Agathe auch gar nicht überlegt. Es schwebte eine Gerechtigkeit mit Flammen statt mit Logik um sie. Güte, Anständigkeit und Rechtlichkeit waren ihr, wie sie diese Tugenden an Menschen, die sie kannte, und zumal an Professor Hagauer kennen gelernt hatte, immer nur so vorgekommen, als ob man einen Fleck aus einem Kleid entfernt hätte; aber das Unrecht, das in diesem Augenblick um sie selbst schwebte, war so, wie wenn die Welt im Licht eines Sonnenaufgangs ertrinkt. Es kam ihr vor, es wären Recht und Unrecht nicht mehr allgemeine Begriffe und ein für Millionen von Menschen angerichtetes Kompromiß, sondern zauberhafte Begegnung von Mir und Dir, Irrsinn erster, noch mit nichts vergleichlicher und an keinem Maß zu messender Schöpfung. Eigentlich machte sie Ulrich ein Verbrechen zum Geschenk, indem sie sich in seine Hand gab, voll Vertrauen, daß er ihre Unbesonnenheit verstehen müsse, und ähnlich wie Kinder, die, wenn sie schenken wollen und nichts besitzen, auf die unerwartetsten Einfalle kommen. Und Ulrich erriet das meiste davon. Wenn seine Augen ihren Bewegungen folgten, bereitete es ihm eine Annehmlichkeit, die er noch nie erlebt hatte, denn es hatte etwas von märchenhafter Sinnlosigkeit in sich, einmal ganz und ohne Warnung dem nachzugeben, was ein anderes Wesen tat. Auch wenn die Erinnerung hineinfiel, daß doch einem Dritten gleichzeitig Böses geschehe, blinkte sie nur für eine Sekunde wie ein Beil auf, und er beruhigte sich rasch damit, daß es eigentlich doch noch niemand etwas angehe, was seine Schwester dort tue; es war nicht ausgemacht, daß diese Schriftversuche wirklich benutzt würden, und was Agathe in ihren vier Wänden trieb, blieb ihre Sache, solange die Wirkung nicht aus dem Haus drang.
Sie rief jetzt nach ihrem Bruder, wandte sich um und war überrascht, weil er hinter ihr stand. Sie wachte auf.
Sie hatte alles geschrieben, was sie schreiben wollte, und bräunte es nun entschlossen an einer Kerzenflamme, um der Schrift ein altes Aussehen zu geben. Sie streckte ihre freie Hand Ulrich entgegen, der nahm sie nicht, vermochte aber auch nicht, sein Gesicht ganz in finstere Falten zu verschließen. Darauf sagte sie: «Höre! Wenn etwas ein Widerspruch ist, und du liebst ihn nach seinen beiden Seiten - liebst ihn wirklich! - hebst du ihn damit nicht schon auf, ob du es willst oder nicht?!»
«Diese Frage ist viel zu leichtfertig gestellt» murrte Ulrich. Aber Agathe wußte, wie er in seinem «zweiten Denken» darüber urteilen werde. Sie nahm ein reines Papierblatt und schrieb übermütig in den altmodischen Schriftzügen, die sie so gut nachzuahmen verstand: «Meine böse Tochter Agathe bietet keinen Grund, diese einmal getroffenen Bestimmungen zuungunsten meines guten Sohnes Ulo zu ändern!»
Damit war sie noch nicht zufrieden und schrieb auf ein zweites Blatt: «Meine Tochter Agathe soll von meinem guten Sohn Uli noch eine Weile erzogen werden. »
So hatte es sich also zugetragen, aber nachdem Ulrich es bis ins einzelne wieder erweckt hatte, wußte er am Ende ebensowenig, was zu tun sei, wie vor Beginn.
436
Er hätte nicht abreisen dürfen, ohne die Lage wieder ins Lot zu bringen: das stand wohl außer Zweifel! Und offenbar hatte ihm der zeitgenössische Aberglaube, daß man nichts zu ernst nehmen dürfe, einen Streich gespielt, als er ihm einflüsterte, vorderhand das Feld zu räumen und den Wert des strittigen Zwischenfalls nicht durch empfindungsvollen Widerstand zu vergrößern. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird; es entsteht aus den heftigsten Übertreibungen, wenn man sie sich selbst überläßt, mit der Zeit eine neue Mittelmäßigkeit; man könnte sich in keinen Zug setzen und müßte auf der Straße immer eine entsicherte Pistole zur Hand haben, wenn man nicht dem Gesetz des Durchschnitts vertrauen dürfte, das die überstiegenen Möglichkeiten von selbst unwahrscheinlich macht: diesem europäischen Erfahrungsglauben hatte Ulrich gehorcht, als er trotz aller Bedenken nach Hause gereist war. Im Grunde freute es ihn sogar, daß sich Agathe anders gezeigt hatte.
Trotzdem durfte der Abschluß dieser Angelegenheit rechtlichermaßen kein anderer sein, als daß Ulrich nun, und so bald wie möglich, das Versäumte nachhole. Er hätte seiner Schwester ohne zu zögern einen Expreßbrief oder eine Depesche schicken müssen, und er vergegenwärtigte sich, daß darin ungefähr stehen müßte: «Ich lehne jede Gemeinschaft ab, solange du nicht… !» Aber das zu schreiben, war er ganz und gar nicht gesonnen, es war ihm einfach im Augenblick völlig unmöglich.
Überdies war jenem verhängnisvollen Auftritt der BeSchluß vorangegangen, daß sie in den nächsten Wochen zusammen leben oder doch wenigstens wohnen wollten, und in der kurzen dann noch bis zum Abschied übriggebliebenen Zeit hatten sie hauptsächlich davon sprechen müssen. Sie waren zunächst «für die Dauer der Scheidung» übereingekommen, damit Agathe Rat und Schutz habe. Aber nun erinnerte sich Ulrich, während er sich das ins Gedächtnis rief, auch einer älteren Bemerkung seiner Schwester, daß sie
«Hagauer umbringen» wolle, und offenbar hatte dieser «Plan» in ihr gearbeitet und eine neue Gestalt angenommen. Sie hatte lebhaft darauf bestanden, das Familiengrundstück rasch zu verkaufen, und das mochte wohl schon den Sinn gehabt haben, daß sich der Besitz verflüchtige, wenngleich es auch aus anderen Gründen ratsam erscheinen konnte; jedenfalls hatten die Geschwister beschlossen, eine Maklerfirma zu beauftragen, und hatten die Bedingungen festgesetzt. Also mußte Ulrich jetzt auch darüber nachdenken, was mit seiner Schwester eigentlich geschehen solle, nachdem er in sein
nachlässig-einstweiliges und von ihm selbst nicht anerkanntes Leben zurückgekehrt wäre. Die Lage, in der sie sich befand, konnte unmöglich andauern. So überraschend nah sie einander auch in der kurzen Zeit gekommen waren - der Anschein einer Schicksalskreuzung, dachte Ulrich, wenn auch wahrscheinlich aus allerhand unabhängigen Einzelheiten zustandegekommen; während Agathe vielleicht eine abenteuerlichere Auffassung davon hatte - so wenig wußten sie von einander in den mannigfachen oberflächlichen Beziehungen, von denen ein gemeinsames Leben abhängt. Wenn er unbefangen über seine Schwester nachdachte, fand Ulrich sogar viele ungelöste Fragen, und selbst über ihre Vergangenheit vermochte er sich kein sicheres Urteil zu bilden; den meisten Aufschluß schien ihm noch die Vermutung zu geben, daß sie alles, was durch sie oder mit ihr geschehe, sehr nachlässig behandle und daß sie sehr ungewiß und vielleicht phantastisch in Erwartungen lebe, die neben ihrem wirklichen Leben herliefen, denn eine solche Erklärung wurde auch dadurch nahegelegt, daß sie so lange mit Hagauer gelebt und so schnell mit ihm gebrochen habe. Und auch die Unüberlegtheit, womit sie die Zukunft behandelte, paßte dazu: sie war von Hause fortgegangen, das schien ihr einstweilen zu genügen, und Fragen, was weiter geschehen werde, wich sie aus.
Und auch Ulrich vermochte weder die Vorstellung zu bilden, daß sie nun ohne Mann bleiben und unbestimmt wie ein junges Mädchen harren werde, noch konnte er sich vorstellen, wie der Mann aussehen müßte, zu dem seine Schwester passe; das hatte er auch ihr kurz vor dem Abschied gesagt.
Sie aber hatte ihm erschrocken - und wahrscheinlich ein wenig mit närrisch gespieltem Schreck — ins Gesicht gesehn und dann ruhig mit der Gegenfrage geantwortet: «Kann ich denn in der nächsten Zeit nicht einfach bei dir wohnen, ohne daß wir alles entscheiden?»
So, und um nichts bestimmter, war also der Beschluß, daß sie zusammenzögen, bekräftigt worden. Aber Ulrich begriff, daß mit diesem Versuch der Versuch seines «Lebens auf Urlaub» abschließen müsse. Er wollte nicht überlegen, welche Folgen das haben werde, aber daß sein Leben fortab gewissen Einschränkungen unterworfen wäre, war ihm nicht unwillkommen, und zum erstenmal dachte er wieder an den Kreis und zumal an die Frauen der Parallelaktion. Die Vorstellung, sich von allem abzuschließen, die mit der neuen Veränderung verbunden war, dünkte ihn wundervoll. So wie an Räumen oft nur eine Kleinigkeit zu ändern ist, damit aus einem lustlosen Schallen eine herrliche Resonanz entsteht, veränderte 437
sich in seiner Phantasie sein kleines Haus zu einer Muschel, in der man wie einen fernen Strom das Rauschen der Stadt hörte.
Und dann hatte es doch wohl in dem letzten Teil dieses Gesprächs auch noch ein besonderes kleines Gespräch gegeben:
«Wir werden wie die Eremiten leben, » sagte Agathe mit einem lustigen Lächeln «aber in Liebesfragen bleibt natürlich jeder frei. Du wenigstens bist ungehindert!» versicherte sie.
«Weißt du, » gab Ulrich darauf zur Antwort «daß wir in das Tausendjährige Reich einziehn?»
«Was ist das?»
«Wir haben schon so viel von jener Liebe gesprochen, die nicht wie ein Bach zu einem Ziel fließt, sondern wie das Meer einen Zustand bildet! Sei nun ehrlich: Wenn man dir in der Schule erzählt hat, die Engel im Paradies täten nichts, als im Angesicht des Herrn zu verweilen und ihn zu lobpreisen, hast du dir dieses selige Nichtstun und Nichtsdenken vorstellen können?»
«Ich habe es mir immer etwas langweilig vorgestellt, was gewiß an meiner Unvollkommenheit liegt» war die Antwort Agathes.
«Aber nach allem, worüber wir uns verständigt haben, » erklärte Ulrich «mußt du dir jetzt vorstellen, daß dieses Meer eine Reglosigkeit und Abgeschiedenheit ist, die von immerwährenden kristallisch reinen Begebenheiten erfüllt wird. Alte Zeiten haben versucht, sich ein solches Leben schon auf Erden vorzustellen: das ist das Tausendjährige Reich, geformt nach uns selbst und doch keins der Reiche, wie wir sie kennen! Und so werden wir leben! Wir werden alle Selbstsucht von uns abtun, wir werden weder Güter, noch Erkenntnisse, noch Geliebte, noch Freunde, noch Grundsätze, noch uns selbst sammeln: demnach wird sich unser Sinn öffnen, auflösen gegen Mensch und Tier und so in einer Weise erschließen, daß wir gar nicht mehr wir bleiben können und uns nur in alle Welt verflochten aufrecht erhalten werden!»
Dieses kleine Zwischengespräch war ein Scherz gewesen. Er hatte dabei Papier und Blei zur Hand, machte Vormerkungen und besprach dazwischen mit seiner Schwester, was ihrer warte, wenn sie den Verkauf des Hauses und seiner Einrichtung durchführe. Er war auch noch böse und wußte selbst nicht, ob er lästere oder phantasiere. Und über dem allen waren sie nicht mehr dazugekommen, sich wegen des Testaments gewissenhaft auseinanderzusetzen.
Auch heute lag wohl in diesem mannigfaltigen Zustandekommen der Grund dafür, daß Ulrich keineswegs bis zur tätigen Reue gelangte. Der Handstreich seiner Schwester hatte viel an sich, das ihm gefiel, obgleich er selbst der Geschlagene war; er mußte sich eingestehn, daß dadurch der «nach der Regel der freien Geister» dahinlebende Mensch, dem er in sich allzuviel Bequemlichkeit zugebilligt hatte, mit einem Schlag in einen gefährlichen Widerspruch zu dem tief
unbestimmten geraten war, von dem der wirkliche Ernst ausgeht. Er wollte auch diesem Geschehen nicht ausweichen, indem er es schnell und in gewöhnlicher Weise gutmache: Aber dann gab es keine Regel, und man mußte das Geschehnis sich entwickeln lassen.
16
Wiedersehen mit Diotimas diplomatischem Gatten
Der Morgen traf Ulrich nicht klarer an, und spät am Nachmittag entschloß er sich - in der Absicht, den Ernst, der ihn bedrückte, zu erleichtern - seine mit der Befreiung der Seele von der Zivilisation beschäftigte Kusine aufzusuchen.
Zu seiner Überraschung wurde er, ehe noch Rachel aus Diotimas Zimmer zurückgekehrt war, von Sektionschef Tuzzi in Empfang genommen, der ihm entgegenkam. «Meine Frau fühlt sich heute nicht wohl» erläuterte der geübte Ehegatte mit jenem gedankenlosen Zartgefühl in der Stimme, dessen Klang durch allmonatlichen Gebrauch schon zu einer Formel geworden ist, in der das häusliche Geheimnis offen daliegt. «Ich weiß nicht, ob sie Ihren Besuch wird empfangen können. » Er war zum Ausgehen angekleidet, leistete Ulrich aber bereitwillig Gesellschaft.
Dieser benutzte die Gelegenheit, sich nach Arnheim zu erkundigen.
«Arnheim ist in England gewesen und befindet sich jetzt in Petersburg» erzählte Tuzzi. Ulrich war bei dieser bedeutungslosen und nur natürlichen Nachricht unter dem Eindruck seiner bedrückenden Erlebnisse 438
so zumute, als strömte Welt, Fülle und Bewegung auf ihn zu.
«Es ist ganz gut so» meinte der Diplomat. «Er soll nur recht viel hin und her reisen. Man kann daran seine Beobachtungen machen und erfährt allerhand. »
«Sie glauben also immer noch, daß er mit einem pazifistischen Auftrag des Zaren reist?» fragte Ulrich erheitert.
«Ich glaube das mehr denn je» versicherte schlicht der für die Ausführung der österreichisch-ungarischen Politik verantwortliche Amtsleiter. Aber plötzlich zweifelte Ulrich, ob Tuzzi wirklich so ahnungslos sei oder sich nur so stelle und ihn zum Besten habe; etwas verärgert ließ er von Arnheim ab und erkundigte sich:
«Ich habe gehört, daß inzwischen hier die Parole der Tat ausgegeben worden ist?»
Wie immer schien es Tuzzi Vergnügen zu machen, gegenüber der Parallelaktion den Unschuldigen und Schlauen zu spielen; er zuckte die Achseln und grinste: «Ich will meiner Frau nicht vorgreifen, Sie werden es ja doch von ihr hören, sobald Sie von ihr empfangen werden können!» Aber nach einer kleinen Weile begann das Bärtchen auf seiner Oberlippe zu zucken, und die großen dunklen Augen in dem lederbraunen Gesicht glänzten von einem unsicheren Leid. «Sie sind doch auch solch ein Schriftgelehrter, » sagte er zögernd «können Sie mir vielleicht erklären, was es heißt, wenn ein Mann Seele hat?»
Es schien, daß Tuzzi wirklich über diese Frage sprechen wolle, und offenbar rief seine Unsicherheit den Eindruck, daß er leide, hervor. Als Ulrich nicht gleich antwortete, fuhr er fort: «Wenn man sagt: <eine Seele von einem Menschen>, so meint man einen treuen, pflichtgeduldigen, aufrichtigen Kerl, - ich habe so einen Kanzleidirektor: aber da hat man es doch schließlich mit einer subalternen Eigenschaft zu tun! Oder es ist Seele eine Eigenschaft von Frauen: das ist dann ungefähr soviel wie daß sie leichter weinen als Männer und leichter rot werden - »
«Ihre Frau Gemahlin hat Seele» verbesserte ihn Ulrich so ernst, als stellte er fest, sie habe nachtblaues Haar.
Eine leichte Blässe eilte über Tuzzis Gesicht. «Meine Frau hat Geist, » sagte er langsam «sie gilt mit Recht für eine geistvolle Frau. Ich plage sie manchmal und werfe ihr vor, daß sie ein Schöngeist sei. Dann ärgert sie sich. Aber das ist noch nicht Seele - » Er dachte ein wenig nach. «Waren Sie schon einmal bei einer Mystikerin?» fragte er dann. «Sie liest aus der Hand oder aus einem Haar die Zukunft, unter Umständen verblüffend richtig: Das sind so Gaben oder Tricks. Aber können Sie sich etwas Sinnvolles vorstellen, wenn jemand beispielsweise sagt, daß Anzeichen für das Heraufkommen einer Zeit vorhanden sein sollen, wo sich unsere Seelen quasi ohne Vermittlung der Sinne erblicken werden? Ich will gleich hinzufügen, »
ergänzte er rasch «daß das nicht etwa nur bildlich zu verstehen ist, sondern wenn Sie nicht gut sind, Sie mögen machen, was Sie wollen, so soll man es heute, da das bereits eine Zeit der erwachenden Seele ist, viel deutlicher spüren als in früheren Jahrhunderten! Glauben Sie das?»
Man wußte bei Tuzzi nie, wo sein Sticheln ihm selbst oder dem Zuhörer galt, und Ulrich antwortete auf alle Fälle: «Ich würde es an Ihrer Stelle eben auf den Versuch ankommen lassen!»
«Machen Sie keine Witze, Verehrtester, das ist unvornehm, wenn man sich in Sicherheit befindet» beklagte sich Tuzzi. «Aber meine Frau verlangt von mir das ernsthafte Verständnis solcher Sätze, auch wenn ich ihnen nicht beipflichten sollte, und ich muß da kapitulieren, ohne daß ich mich überhaupt verteidigen kann.
So habe ich mich in meiner Not erinnert, daß Sie doch auch so ein Schriftgelehrter sind -?»
«Die beiden Behauptungen sind von Maeterlinck, wenn ich mich nicht irre» half Ulrich.
«So!? Von - ? Ja, das könnte schon sein. Das ist dieser - ? Sehen Sie, sehr gut: dann ist er vielleicht auch der, der behauptet, daß es keine Wahrheit gibt! Außer für den liebenden Menschen! sagt er. Wenn ich einen Menschen liebe, so soll ich unmittelbar an einer geheimnisvollen Wahrheit teilhaben, die tiefer ist als die gewöhnliche. Dagegen wenn wir etwas auf Grund genauer Menschenkenntnis und Beobachtung aussprechen, so soll es natürlich wertlos sein. Das soll auch von diesem Ma - Mann herrühren?»
«Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht. Es würde zu ihm passen. »
«Ich habe mir eingebildet, daß das von Arnheim ist. »
«Arnheim hat viel von ihm angenommen, und er viel von anderen, beide sind sie begabte Eklektiker. »
«So? Also dann sind das alte Sachen? Aber dann erklären Sie mir, um Himmelswillen, wie man so etwas heute drucken lassen darf!?» bat Tuzzi. «Wenn mir meine Frau antwortet: <Verstand beweist gar nichts, Gedanken reichen nicht bis an die Seele !> oder: <Über der Genauigkeit gibt es ein Reich der Weisheit und Liebe, das man durch überlegte Worte nur entweiht!> so verstehe ich, wie sie dazu kommt: sie ist eben eine Frau, sie verteidigt sich in dieser Weise gegen die Logik des Mannes! Aber wie kann das ein Mann 439
sagen?!» Tuzzi rückte näher und legte Ulrich die Hand aufs Knie: «Die Wahrheit schwimmt wie ein Fisch in einem unsichtbaren Prinzip; sobald man sie herausgreift, ist sie tot: was sagen Sie dazu? Hängt das vielleicht mit dem Unterschied zwischen einem <Erotiker> und einem <Sexualiker> zusammen?»
Ulrich lächelte. «Soll ich es Ihnen wirklich sagen?»
«Ich brenne darauf!»
«Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. »
« Sehen Sie! Unter Männern bringt man so etwas nicht über die Lippen. Wenn Sie aber eine Seele hätten, würden Sie jetzt meine Seele einfach betrachten und bewundern. Wir würden in eine Höhe gelangen, wo es keine Gedanken, Worte und Taten gibt. Dagegen geheimnisvolle Mächte und ein erschütterndes Schweigen!
Darf eine Seele rauchen?» fragte er und zündete sich eine Zigarette an; dann erst erinnerte er sich seiner Hausherrenpflicht und hielt auch Ulrich die Tabatiere hin. Im Grunde war er etwas stolz darauf, daß er die Bücher Arnheims nun gelesen hatte, und gerade weil sie ihm unausstehlich blieben, schmeichelte es ihm als eine persönliche Entdeckung, daß er den möglichen Nutzen ihrer quellenden Ausdrucksweise für die undurchdringlichen Absichten der Diplomatie erkannt habe. Wirklich hätte auch kein anderer eine so schwere Arbeit vergeblich leisten wollen, und jeder hätte sich an seiner Stelle wohl noch eine Weile nach Bedürfnis lustig gemacht, wäre dann aber bald der Sehnsucht erlegen, probeweise ein oder das andere Zitat anzubringen oder etwas, das man ohnehin nicht genau sagen kann, in einen der ärgerlich unklaren neuen Gedanken zu kleiden. Das geschieht widerstrebend, weil man den neuen Anzug noch als lächerlich empfindet, aber man gewöhnt sich rasch an ihn, und so ändert sich unmerklich der Geist der Zeit in seinen Anwendungsformen, und im Besonderen könnte Arnheim einen neuen Verehrer gewonnen haben. Sogar Tuzzi gab schon zu, daß man sich unter der Forderung, Seele und Wirtschaft zu vereinen, trotz aller grundsätzlichen Gegnerschaft, etwas wie eine Wirtschaftspsychologie vorstellen könne, und was ihn unerschütterlich vor Arnheim schützte, war eigentlich nur Diotima. Denn zwischen ihr und Arnheim hatte damals - allen unbekannt - schon eine Erkaltung Platz zu greifen begonnen, die alles, was Arnheim je über Seele gesagt hatte, mit dem Verdacht belastete, nur eine Ausrede zu sein, was zur Folge hatte, daß Tuzzi diese Aussprüche mit größerer Gereiztheit denn je vorgeworfen bekam. Es war verzeihlich, daß er unter diesen Umständen annahm, die Beziehung seiner Gattin zu dem Fremden sei noch im Ansteigen; die keine Liebe war, gegen die ein Ehemann seine Maßnahmen treffen konnte, sondern ein «Zustand der Liebe» und
«liebendes Denken» und so erhaben über jeden niederen Verdacht, daß Diotima selbst offen von dem sprach, was sie ihr an Gedanken eingab, ja in letzter Zeit sogar ziemlich unnachsichtig von Tuzzi forderte, daß er geistig daran teilnehme.
Er fühlte sich ungemein verständnislos und empfindlich, von diesem Zustand umgeben, der ihn blind machte wie ein allseitiges Sonnenlicht ohne einen festen Sonnenstand, nach dem man sich richten könnte, um Schatten und Schonung zu finden.
Und er hörte Ulrich reden. «Aber ich möchte Ihnen das Folgende zu bedenken geben. In uns ist gewöhnlich ein stetiger Zu-und Abfluß des Erlebens. Die Erregungen, die sich in uns bilden, werden von außen angestiftet und fließen als Handlungen oder Worte wieder nach außen ab. Denken Sie sich das wie ein mechanisches Spiel. Und dann denken Sie es sich gestört: So muß sich eine Stauung ergeben? Irgendeine Art aus den Ufern zu treten? Unter Umständen mag es auch bloß eine Aufblähung sein —»
«Sie reden wenigstens vernünftig, wenn es auch Unsinn ist… » äußerte Tuzzi anerkennend. Er begriff nicht gleich, daß da wirklich eine Erklärung heranreifen sollte, aber er hatte seine Haltung bewahrt, und während er sich innen im Elend verlor, war auf seinen Lippen das kleine boshafte Lächeln so stolz liegen geblieben, daß er nur wieder hineinzuschlüpfen brauchte.
«Ich glaube, die Physiologen sagen, » fuhr Ulrich fort «daß das, was wir bewußtes Handeln nennen, daraus entsteht, daß der Reiz sozusagen nicht einfach durch einen Reflexbogen ein-und ausfließt, sondern zu einem Umweg gezwungen wird; dann gleichen also die Welt, die wir erleben, und die Welt, in der wir handeln, obwohl sie uns als ein-und dieselbe vorkommen, eigentlich dem Ober-und Unterwasser in einem Mühlgang und sind durch eine Art Bewußtseinsstausee verbunden, von dessen Höhe, Kraft und ähnlichem die Regelung des Zu-und Abflusses abhängt. Oder mit anderen Worten: wenn auf einer der beiden Seiten eine Störung eintritt - eine Entfremdung der Welt, oder eine Unlust zu handeln -, so könnte man doch ganz gut annehmen, daß sich auf diese Weise auch ein zweites, höheres Bewußtsein zu bilden vermöchte? Oder meinen Sie, nicht?»
440
«Ich?» sagte Tuzzi. «Ich muß sagen, ich glaube, mir ist das ganz egal. Das sollen die Professoren einstweilen unter sich ausmachen, wenn sie es wichtig finden. Aber praktisch gesprochen — » er bohrte nachdenklich die Zigarette in den Aschenbecher und blickte dann ärgerlich auf: «entscheiden die Menschen mit zwei Stauungen oder die mit einer Stauung über die Welt?»
«Ich dachte, daß Sie von mir nur zu hören wünschen, wie ich mir solche Gedanken entstanden denke?»
«Wenn Sie mir das gesagt haben sollten, habe ich Sie leider nicht verstanden» meinte Tuzzi.
«Aber sehr einfach: Sie besitzen die zweite Stauung nicht, also besitzen Sie das Prinzip der Weisheit nicht und verstehen kein Wort von dem, was Menschen reden, die eine Seele besitzen. Und ich wünsche Ihnen Glück dazu!»
Es war Ulrich allmählich bewußt geworden, daß er in schimpflicher Form und wunderlicher Gesellschaft Gedanken ausspreche, die gar nicht ungeeignet sein mochten, die Gefühle zu erklären, von denen sein eigenes Herz unsicher bewegt worden war. Die Vermutung, daß bei sehr gesteigerter Empfänglichkeit ein Über-und Zurückquellen der Erlebnisse entstehen könne, das die Sinne grenzenlos und weich wie ein Wasserspiegel mit allen Dingen verbinde, rief in ihm die Erinnerung an die großen Gespräche mit Agathe zurück, und sein Gesicht nahm unwillkürlich einen teils verhärteten, teils verlorenen Ausdruck an. Tuzzi betrachtete ihn unter träg gehobenen Augendeckeln und merkte an der Art von Ulrichs Sarkasmus etwas davon, daß er selbst hier nicht der einzige sei, dessen «Stauungen» nicht seinen Wünschen entsprächen.
Es war den beiden kaum aufgefallen, wie lange Rachel ausblieb, die von Diotima zurückgehalten worden war, um ihr rasch zu helfen, sich selbst und das Krankenzimmer in eine Ordnung des Leidens zu bringen, die zwar frei sein sollte, aber doch schicklich, Ulrich zu empfangen: Nun überbrachte das Mädchen die Meldung, daß er nicht fortgehen, sondern sich noch ein wenig gedulden möge, und kehrte eilig wieder zur Herrin zurück.
«Alle Sätze, die Sie mir genannt haben, sind natürlich Allegorien» setzte Ulrich nach dieser Unterbrechung das Gespräch fort, um den Hausherrn für die Aufmerksamkeit zu entschädigen, daß er ihm Gesellschaft leiste. «Eine Art Schmetterlingssprache! Und ich habe von den Leuten wie Arnheim ungefähr den Eindruck, daß sie sich mit diesem hauchdünnen Nektar einen Bauch ansaufen! Das heißt, » fügte er rasch hinzu, denn es fiel ihm noch rechtzeitig ein, daß er nicht auch Diotima mitbeleidigen dürfe «gerade von Arnheim habe ich diesen Eindruck, ebenso wie ich trotzdem von ihm auch den Eindruck habe, daß er seine Seele gleich einer Brieftasche am Busen trägt!»
Tuzzi legte Aktenmappe und Handschuhe wieder hin, die er bei Racheis Eintritt an sich genommen hatte, und erwiderte heftig: «Wissen Sie, was es ist? Ich meine, was Sie mir so interessant erklärt haben. Das ist nichts als der Geist des Pazifismus!» Er machte eine Pause, damit sich diese Eröffnung auswirke. «Der Pazifismus in den Händen von Dilettanten schließt ohne Zweifel eine große Gefahr ein» fügte er bedeutsam hinzu.
Ulrich wollte lachen, aber Tuzzi meinte es tödlich ernst, und er hatte da zwei Dinge zusammengebracht, die wirklich entfernt verwandt waren, so komisch es auch sein mochte, Liebe und Pazifismus dadurch verbunden zu sehn, daß beide in ihm den Eindruck einer dilettantischen Ausschweifung hervorriefen. So wußte Ulrich nicht, was er antworten solle, und benutzte die Gelegenheit bloß, um auf die Parallelaktion zurückzukommen, indem er einwandte, daß in ihr doch gerade eine Parole der Tat ausgegeben worden sei.
«Das ist eine Leinsdorf-Idee!» äußerte Tuzzi wegwerfend. «Erinnern Sie sich noch an die letzte Besprechung hier bei uns kurz vor Ihrer Abreise? Leinsdorf hat gesagt: <Irgend etwas muß geschehn!>: das ist jetzt das Ganze, das nennt man jetzt die Parole der Tat! Und natürlich sucht Arnheim dem seinen russischen Pazifismus zu unterschieben. Erinnern Sie sich, wie ich davor gewarnt habe ? Ich fürchte, man wird noch an mich denken! Nirgends ist die Außenpolitik so schwierig wie bei uns, und ich habe schon damals gesagt: Wer sich heute zumutet, grundlegende politische Ideen zu verwirklichen, muß ein Stück Bankrotteur und Verbrecher in sich haben!» — Diesmal ging Tuzzi ordentlich aus sich heraus, wohl weil Ulrich schon im nächsten Augenblick zu seiner Gattin gerufen werden konnte oder weil er in dieser Unterredung nicht allein der Belehrte bleiben wollte. «Die Parallelaktion erregt internationales Mißtrauen,
» berichtete er «und ihre innerpolitische Wirkung, daß man sie sowohl für deutschfeindlich wie für slawenfeindlich hält, ist auch außenpolitisch zu spüren. Damit Sie aber ganz den Unterschied zwischen dilettantischem und fachmännischem Pazifismus verstehn, werde ich Ihnen etwas erklären: Österreich könnte auf mindestens dreißig Jahre jeden Krieg verhindern, wenn es der Entente cordiale beiträte! Und 441
beim Regierungsjubiläum könnte es das natürlich mit einer unerhört schönen pazifistischen Gebärde tun und dabei Deutschland seiner Bruderliebe versichern, auf daß es ihm nachfolge oder nicht. Die Mehrheit unserer Nationalitäten würde begeistert sein. Wir könnten mit französischen und englischen billigen Krediten unsere Armee so stark machen, daß uns Deutschland nicht einschüchtern kann. Italien wären wir los. Frankreich könnte ohne uns nichts machen: Mit einem Wort, wir wären der Schlüssel zu Frieden und Krieg und machten das große politische Geschäft. Ich verrate Ihnen damit kein Geheimnis: das ist eine einfache diplomatische Rechnung, die jeder Handelsattache anstellen kann. Warum läßt sie sich nicht ausführen? Imponderabilien des Hofs: Man kann dort Es Em so wenig ausstehn, daß man es unanständig fände, dem nachzugeben; Monarchien sind heute im Nachteil, weil sie mit Anständigkeit belastet sind!
Sodann Imponderabilien des sogenannten öffentlichen Geistes: da bin ich bei der Parallelaktion. Warum erzieht sie nicht den öffentlichen Geist?! Warum bringt man ihm nicht eine sachliche Auffassung bei?
Sehen Sie, » — aber hier verloren Tuzzis Darlegungen von ihrer Glaubwürdigkeit und machten eher den Eindruck verhehlter Mühsal - «dieser Arnheim macht mir ja wirklich Spaß mit seinem Schreiben! Das hat nicht er erfunden, und neulich, als ich spät eingeschlafen bin, habe ich Zeit gehabt, darüber ein wenig nachzudenken. Es hat immer Politiker gegeben, die Romane geschrieben oder Theaterstücke gemacht haben, zum Beispiel Clemenceau oder gar Disraeli; Bismarck nicht, aber Bismarck war ein Zerstörer. Und nun sehen Sie sich diese französischen Advokaten an, die heute am Ruder sind: Beneidenswert! Politische Plusmacher, aber beraten von einer ausgezeichneten Berufsdiplomatie, die ihnen die Richtlinien gibt, und alle haben sie irgendeinmal auf das ungenierteste Theaterstücke oder Romane geschrieben, zumindest in ihrer Jugend, und schreiben noch heute Bücher. Glauben Sie, daß diese Bücher etwas wert sind? Ich glaube nicht. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich mir gestern abend gedacht habe: unserer eigenen Diplomatie geht etwas ab, weil sie nicht auch Bücher hervorbringt, und ich werde Ihnen sagen, warum: Erstens gilt es natürlich für einen Diplomaten geradeso wie für einen Sportsmann, daß er sein Wasser ausschwitzen muß.
Und zweitens erhöht es die öffentliche Sicherheit. Wissen Sie, was das europäische Gleichgewicht ist? - »
Sie wurden durch Rachel unterbrochen, die mit der Meldung kam, daß Diotima Ulrich erwarte. Tuzzi ließ sich Hut und Mantel reichen. «Wenn Sie ein Patriot wären — » sagte er, indes er in die Ärmel schlüpfte, und Rachel den Mantel hielt.
«Was sollte ich dann tun?» fragte Ulrich und sah die schwarzen Augensterne Racheis an.
«Wenn Sie ein Patriot wären, würden Sie meine Frau oder Graf Leinsdorf ein wenig auf diese Schwierigkeiten aufmerksam machen. Ich kann das nicht, bei einem Ehemann wirkt das leicht als engherzig. »
«Aber mich nimmt hier ja doch niemand ernst» entgegnete Ulrich ruhig.
«Ach, sagen Sie das nicht!» rief Tuzzi lebhaft aus. «Man nimmt Sie nicht in der Weise ernst wie andere Menschen, aber schon lange Zeit haben alle große Angst vor Ihnen. Man befürchtet, daß Sie dem Leinsdorf einen ganz verrückten Rat geben könnten. Wissen Sie, was das europäische Gleichgewicht ist?!» forschte der Diplomat dringend.
«Ich denke: ungefähr wohl» meinte Ulrich.
«Dann ist Ihnen Glück zu wünschen!» entgegnete Tuzzi aufgebracht und unglücklich. «Wir Berufsdiplomaten wissen es alle nicht. Es ist das, was man nicht stören darf, damit nicht alle übereinander herfallen. Aber was man nicht stören darf, weiß keiner genau. Erinnern Sie sich doch so ein bißchen, was es rings um Sie in den letzten Jahren gegeben hat und gibt: Italienisch-türkischen Krieg, Poincare in Moskau, Bagdadfrage, bewaffnete Intervention in Libyen, österreichischserbische Spannung, das Adriaproblem:…
Ist das ein Gleichgewicht? Unser unvergeßlicher Baron Ährental — aber ich will Sie nicht länger aufhalten!»
«Schade» versicherte Ulrich. <Wenn man das europäische Gleichgewicht so auffassen darf, dann drückt sich in ihm ja aufs beste der europäische Geist aus!»
«Ja, das ist das Interessante» gab Tuzzi, schon in der Türe, ergeben lächelnd, zurück. «Und in diesem Sinne ist die geistige Leistung unserer Aktion nicht zu unterschätzen!»
«Warum hindern Sie das nicht?»
Tuzzi zuckte die Achseln. «Wenn bei uns ein Mann in der Stellung Seiner Erlaucht etwas will, so kann man nicht dagegen auftreten. Man kann bloß Obacht geben!»
«Und wie geht es Ihnen?» fragte Ulrich, nachdem Tuzzi gegangen war, die kleine schwarz-weiße 442
Schildwache, die ihn jetzt zu Diotima führte.
17
Diotima hat ihre Lektüre gewechselt
«Lieber Freund, » sagte Diotima, als Ulrich bei ihr eintrat «ich wollte Sie nicht gehen lassen, ohne Sie gesprochen zu haben, aber ich muß Sie so empfangen!» - Sie trug ein Hauskleid, worin die Majestät ihrer Form durch eine Zufallsstellung ein wenig an Schwangerschaft erinnerte, was dem stolzen Körper, der noch nie geboren hatte, etwas von der zuweilen lieblichen Schamlosigkeit der Mutterleiden verlieh; ein Pelzkragen lag neben ihr auf dem Sofa, mit dem sie sich offenbar gerade den Leib gewärmt hatte, und um die Stirn trug sie einen Umschlag gegen Migräne, der auf seinem Platz hatte bleiben dürfen, weil sie wußte, daß er sie ähnlich kleide wie eine griechische Binde. Obwohl es spät war, brannte kein Licht, und der Geruch von Heil-und Erfrischungsmitteln gegen ein unbekanntes Leid lag in der Luft vermischt mit einem kräftigen Wohlgeruch, der über alle einzelnen Gerüche wie eine Decke geworfen worden war.
Ulrich beugte sein Gesicht tief, während er Diotimas Hand küßte, als wollte er am Duft des Arms die Veränderungen wahrnehmen, die während seiner Abwesenheit vorsichgegangen seien. Aber die Haut strömte nur den vollen, satten, gebadeten Geruch aus wie alle Tage.
«Ach, lieber Freund, » wiederholte Diotima «es ist gut, daß Sie zurückkommen - Oh!» stöhnte sie plötzlich lächelnd «ich habe so heftige Magenschmerzen!»
Diese Mitteilung, die, von einem natürlichen Menschen gemacht, so natürlich ist wie ein Wetterbericht, gewann im Munde Diotimas den ganzen Nachdruck eines Zusammenbruchs und Geständnisses.
«Kusine?!» rief Ulrich aus und beugte sich lächelnd vor, um ihr ins Gesicht zu sehn. Es hatte sich in ihm, was Tuzzi zart über das üble Befinden seiner Gattin angedeutet hatte, in diesem Augenblick mit der Vermutung verwirrt, daß Diotima schwanger geworden sei und die Entscheidung nun über das Haus hereingebrochen.
Matt wehrte sie ab, die ihn halb erriet. Sie hatte in Wahrheit bloß Menstruationskrämpfe, was früher allerdings nie vorgekommen war und dunkel ahnbar mit ihrem Schwanken zwischen Arnheim und ihrem Gatten zusammenhing, das seit einigen Monaten von solchen Beschwerden begleitet wurde. Als sie von Ulrichs Rückkehr hörte, bedeutete es ihr einen Trost, und sie begrüßte in ihm den Vertrauten ihrer Kämpfe, weshalb sie ihn vorgelassen hatte. Sie lag da, wahrte nur halb die Haltung des Sitzens und war in seiner Gesellschaft, den Schmerzen preisgegeben, die in ihr wühlten, ein offenes Stück Natur ohne Zäune und Verbotstafeln, was selten genug bei ihr vorkam. Immerhin hatte sie angenommen, daß es glaubhaft sein werde, wenn sie nervöse Magenschmerzen vorschütze, und geradezu ein Zeichen empfindsamer Naturanläge; sonst hätte sie sich ihm nicht gezeigt.
«Nehmen Sie doch etwas ein» schlug Ulrich vor.
«Ach, » seufzte Diotima «das kommt nur von den Erregungen. Meine Nerven werden es nicht mehr lange aushalten!»
Es entstand eine kleine Pause, weil sich Ulrich nun eigentlich hätte nach Arnheim erkundigen müssen, aber neugierig war, etwas von den Vorgängen zu erfahren, die ihn selbst angingen, und nicht gleich einen Ausweg fand. Schließlich fragte er: «Die Befreiung der Seele von der Zivilisation macht wohl Schwierigkeiten?» und fügte hinzu: «Ich darf mir leider schmeicheln, Ihnen schon lange vorhergesagt zu haben, daß ihre Bemühungen, dem Geist eine Gasse in die Welt zu bahnen, schmerzlich zusammenbrechen werden!»
Diotima erinnerte sich, wie sie aus der Gesellschaft geflohen war und mit Ulrich auf der Schuhbank im Vorzimmer gesessen hatte: ihre Niedergeschlagenheit war fast die gleiche gewesen wie heute, und doch lagen unzählige Hoffnungsaufund -niedergänge dazwischen. «Wie war es doch herrlich, » sagte sie «mein Freund, als wir noch an die große Idee glaubten! Heute darf ich wohl sagen, daß die Welt aufgehorcht hat, aber wie sehr bin ich selbst enttäuscht!»
«Warum eigentlich?» fragte Ulrich.
«Ich weiß es nicht. Es liegt wohl an mir. »
Sie wollte etwas von Arnheim anfügen, aber Ulrich wünschte zu wissen, wie man sich mit der 443
Demonstration abgefunden habe; seine letzte Erinnerung daran war, daß er Diotima nicht angetroffen hatte, als ihn Graf Leinsdorf zu ihr schickte, um sie auf ein entschlossenes Eingreifen vorzubereiten und gleichzeitig zu beruhigen.
Diotima machte eine hochmütige Gebärde. «Die Polizei hat einige junge Leute verhaftet und wieder freigelassen: Leinsdorf ist sehr verärgert, aber was hätte man sonst tun sollen?! Er hält jetzt erst recht an Wisnieczky fest und sagt, daß etwas geschehen müsse: aber Wisnieczky kann keine Propaganda entfalten, wenn man nicht weiß, wofür!»
«Ich habe gehört, daß dies die Parole der Tat sein soll» schaltete Ulrich ein. Der Name des Barons Wisnieczky, der als Minister am Widerstand der deutschen Parteien gescheitert war und darum an der Spitze des Ausschusses, der für die unbekannte große patriotische Idee der Parallelaktion um Teilnahme warb, heftiges Mißtrauen erregen mußte, rief ihm lebendig das politische Walten Sr. Erlaucht vor Augen, dessen Erfolg das war. Wie es schien, hatte der unbefangene Gang der gräflich Leinsdorfschen Gedanken -
vielleicht bekräftigt durch das erwartete Versagen aller Bemühungen, den Geist der Heimat und in weiterem Umkreis den Europas durch das Zusammenwirken seiner bedeutendsten Männer aufzuschrecken
- nun zu der Erkenntnis geführt, daß es das Beste sei, diesem Geist einen Stoß zu geben, gleichgültig, von wo dieser komme. Möglicherweise stützte sich das in den Überlegungen Sr. Erlaucht auch auf die Erfahrungen, die man mit Besessenen gemacht hat, denen es zuweilen gut bekommen sein soll, wenn man sie rücksichtslos anschrie oder rüttelte; aber diese Mutmaßung, zu der Ulrich in Eile gelangte, ehe Diotima erwidern konnte, wurde nun durch deren Antwort unterbrochen.
Diesmal bediente sich die Leidende wieder der Anrede: Lieber Freund. «Lieber Freund, » sagte sie «es ist etwas Wahres daran! Unser Jahrhundert dürstet nach einer Tat. Eine Tat — »
«Aber welche Tat! Welche Art Tat?!» unterbrach Ulrich.
«Ganz gleich! In der Tat liegt ein großartiger Pessimismus gegenüber den Worten: Leugnen wir nicht, daß in der Vergangenheit immer nur geredet worden ist: Wir haben für ewige und große Worte und Ideale gelebt; für eine Steigerung des Menschlichen; für unsere innerste Eigenart; für eine wachsende Gesamtfülle des Daseins. Wir haben eine Synthese angestrebt, wir haben für neue Schönheitsgenüsse und Glückswerte gelebt, und ich will nicht leugnen, daß das Suchen nach Wahrheit ein Kinderspiel ist gegen den ungeheuren Ernst, selbst eine Wahrheit zu werden: Aber es war eine Überspannung gegenüber dem gegenwärtigen geringen Wirklichkeitsgehalt der Seele, und wir haben in einer traumhaften Sehnsucht sozusagen für nichts gelebt!» Diotima hatte sich eindringlich am Ellbogen aufgerichtet. «Es ist etwas Gesundes daran, wenn man heute darauf verzichtet, den verschütteten Eingang zur Seele zu suchen, und lieber danach trachtet, mit dem Leben fertig zu werden, wie es ist!» schloß sie.
Nun besaß Ulrich also neben der vermuteten Leinsdorfschen auch noch eine beglaubigte andere Auslegung der Parole der Tat. Diotima schien ihre Lektüre gewechselt zu haben; er erinnerte sich, daß er sie bei seinem Eintritt von vielen Büchern umgeben gesehen habe, aber es war schon zu finster geworden, um deren Titel zu entziffern, und es lag auch auf einem Teil von ihnen der Körper der nachdenklichen jungen Frau wie eine dicke Schlange, die sich nun noch höher aufgerichtet hatte und ihn erwartungsvoll ansah.
Diotima war, nachdem sie sich seit ihren Mädchenjahren mit Vorliebe von sehr empfindsamen und subjektiven Büchern genährt hatte, offenbar, wie Ulrich aus ihren Worten schloß, von jener geistigen Erneuerungskraft ergriffen worden, die immerwährend am Werke ist, das, was sie mit den Begriffen der letzten zwanzig Jahre nicht gefunden hat, mit den Begriffen der nächsten zwanzig Jahre auch nicht zu finden; woraus zuletzt vielleicht sogar jene großen Stimmungswechsel der Geschichte entstehen, die zwischen Humanität und Grausamkeit, Sturm und Gleichgültigkeit oder anderen Widersprüchen schwanken, für die es keinen ganz ausreichenden Grund gibt. Es fuhr Ulrich durch den Kopf, daß jener kleine, unaufgeklärte Rest von Unbestimmtheit, der in jeglichem moralischen Erlebnis übrigbleibt, worüber er mit Agathe so viel gesprochen hatte, wohl eigentlich die Ursache dieser menschlichen Unsicherheit sein müsse; aber weil er sich das Glück, das in der Erinnerung an diese Gespräche lag, nicht gestatten wollte, zwang er seine Gedanken, sich davon ab-und lieber dem General zuzuwenden, der ihm als erster davon erzählt hatte, daß die Zeit jetzt einen neuen Geist bekomme, und in einer Weise erzählt hatte, deren gesunde Ärgerniskraft keinen Raum für die Lust an bezaubernden Zweifeln übrigließ. Und weil er nun schon einmal an den General dachte, fiel ihm auch dessen Bitte ein, daß er sich zwischen seiner Kusine und Arnheim um die gestörte Ordnung kümmern möge, und so gab er schließlich auf die Abschiedsrede 444
Diotimas an die Seele schlicht zur Antwort: «Die <grenzenlose Liebe> ist Ihnen wohl nicht gut bekommen?!»
« Ach Sie, Sie bleiben sich immer gleich!» seufzte die Kusine und ließ sich in die Kissen zurückfallen, und dort schloß sie die Augen; denn durch Ulrichs Abwesenheit solcher geraden Fragen entwöhnt, mußte sie sich erst besinnen, wieviel sie ihm anvertraut habe. Und mit einem Mal brachte seine Nähe das Vergessene in Bewegung. Dunkel entsann sie sich eines Gesprächs mit Ulrich über «maßloses Lieben», das bei ihrem letzten oder vorletzten Beisammensein noch eine Fortsetzung gefunden hatte, worin sie sich verschwor, daß die Seelen aus dem Gefängnis des Leibes hervortreten könnten, oder sich wenigstens sozusagen mit halbem Körper hinausbeugen, und Ulrich hatte ihr darauf zur Antwort gegeben, dies seien Delirien des Liebeshungers und sie möge doch Arnheim oder ihm oder irgendwem irgend ein «Gewähren» gewähren; sogar Tuzzi hatte er in solchem Zusammenhang genannt, auch das kam ihr nun wieder ins Gedächtnis: an Vorschläge von dieser Art erinnert man sich eben wohl leichter als an das Übrige, was ein Mensch wie Ulrich redet. Und wahrscheinlich hatte sie es mit Recht damals als eine Frechheit empfunden; aber da vergangener Schmerz im Vergleich mit gegenwärtigem ein harmloser alter Freund ist, genoß es heute des Vorzugs, eine kameradschaftlich-vertraute Erinnerung zu sein. Diotima schlug also die Augen wieder auf und sagte:
«Man kann wahrscheinlich auf Erden nicht vollkommen lieben!»
Sie lächelte dazu, aber unter ihrer Stirnbinde lagen Sorgenfalten, die dem Gesicht im Dämmer einen merkwürdig verzogenen Ausdruck gaben. Diotima war in Fragen, die ihr persönlich nahegingen, nicht abgeneigt, an überirdische Möglichkeiten zu glauben. Sogar das unerwartete Auftreten des Generals von Stumm am Konzil hatte sie wie das Werk von Geistern erschreckt, und als Kind hatte sie darum gebetet, daß sie niemals sterben möge. Das hatte es ihr erleichtert, auch ihrer Beziehung zu Arnheim einen überirdischen Glauben zu schenken oder, richtiger gesagt, jenen nicht vollendeten Unglauben, jenes Nicht-für-ausgeschlos sen-Halten, die heute die grundlegende Glaubensbeziehung geworden sind. Wenn Arnheim nicht nur imstande gewesen wäre, aus ihrer und seiner Seele etwas Unsichtbares zu ziehen, das sich, bei fünf Meter Entfernung von ihr und ihm, in der Luft berührte, oder wenn ihre Blicke das so imstande gewesen wären zu tun, daß hinterdrein davon eine Kaffeebohne, ein Grießkorn, ein Tintenfleck, irgendeine Gebrauchsspur oder auch nur ein Fortschritt zurückgeblieben wäre, so hätte Diotima als das nächste erwartet, daß es eines Tags noch höher gehen werde, in irgendeinen von jenen überirdischen Zusammenhängen, die man sich so wenig genau vorstellen kann wie die meisten irdischen. Sie hatte auch damit Geduld, daß Arnheim in letzter Zeit öfter verreist und länger fortgeblieben war als früher und sogar an den Tagen seiner Anwesenheit überraschend stark von Geschäften in Anspruch genommen wurde. Sie gestattete sich keinen Zweifel daran, daß die Liebe zu ihr noch immer das große Ereignis in seinem Leben sei, und wenn sie wieder einmal. allein zusammenkamen, so war die Erhöhung der Seelenlage augenblicklich so groß und die Berührung so wesenhaft, daß die Gefühle erschrocken verstummten, ja, wenn sich nicht Gelegenheit bot, über etwas Unpersönliches zu reden, ein Vakuum entstand, das eine bittere Erschöpfung hinterließ. So wenig es ausgeschlossen war, daß dies Leidenschaft sei, so wenig mochte sie also - von der Zeit, in der sie lebte, daran gewöhnt, daß alles, was nicht praktisch sei, ohnehin nur einen Gegenstand des Glaubens, eben jenes unsicheren Unglaubens, bedeute - es ausschließen, daß noch etwas folgen werde, das allen vernünftigen Voraussetzungen widerspreche. Aber in dieser Minute, wo sie ihre Augen aufgeschlagen hatte und offen auf Ulrich gerichtet ließ, von dem nur ein dunkler Umriß wahrzunehmen war, der keine Antwort gab, fragte sie sich: «Worauf warte ich? Was soll eigentlich geschehn!?»
Endlich erwiderte Ulrich: «Arnheim wollte Sie aber doch heiraten?!»
Diotima richtete sich wieder auf ihren Arm auf und sagte: «Kann man denn das Problem der Liebe lösen, indem man sich scheiden läßt oder heiratet?!»
«Mit der Schwangerschaft habe ich mich geirrt» nahm Ulrich still zur Kenntnis, da er auf den Ausruf seiner Kusine durchaus nichts zu erwidern wußte. Plötzlich sagte er aber, vom Zaun gebrochen: «Ich habe Sie vor Arnheim gewarnt!» Vielleicht fühlte er sich in diesem Augenblick verpflichtet, ihr mitzuteilen, was er davon wüßte, daß der Nabob ihrer beider Seelen mit seinen Geschäften verbunden habe, doch ließ er gleich wieder davon ab; denn er fand, daß in diesem Gespräch geradeso jedes Wort seinen alten Platz besaß wie die Gegenstände in seinem Zimmer, die er sorgsam abgestaubt nach seiner Rückkehr angetroffen hatte, als 445
wäre er eine Minute lang tot gewesen. Diotima tadelte ihn: «Sie dürfen das nicht so leicht nehmen.
Zwischen Arnheim und mir besteht eine tiefe Freundschaft; und wenn es trotzdem zuweilen auch etwas zwischen uns gibt, das ich eine große Angst nennen möchte, so kommt es gerade von der Aufrichtigkeit. Ich weiß nicht, ob Sie das je erlebt haben oder dessen fähig sind: zwischen zwei Menschen, die eine gewisse Höhe der Empfindung erreichen, kann jede Lüge derart unmöglich werden, daß man überhaupt kaum noch miteinander sprechen kann!»
Mit feinem Ohr hörte Ulrich aus diesem Tadel, daß der Eingang zu seiner Kusine Seele für ihn offener stand als sonst und weil ihn überaus erheitert hatte, was sie unfreiwillig davon gestand, daß sie mit Arnheim nicht reden könne, ohne zu lügen, empfahl er seine Aufrichtigkeit eine Weile dadurch, daß auch er nichts sagte, und beugte sich dann, da sich Diotima inzwischen wieder hingelegt hatte, über ihren Arm, um in freundschafdich sanfter Weise dessen Hand zu küssen. Leicht wie Hollundermark ruhte sie in der seinen und blieb nach dem Kuß dort liegen. Der Puls rann über seine Fingerspitzen. Der puderzarte Geruch der Nähe blieb wie ein Wölkchen an seinem Gesicht hängen. Und obgleich dieser Handkuß bloß ein galanter Scherz gewesen war, hatte er mit einer Untreue jene bittere Hinterlassenschaft der Lust gemeinsam, sich so nah an eine andere Person gebeugt zu haben, daß man aus ihr trank wie ein Tier und das eigene Bild nicht mehr aus dem Wasser zurückkommen sah. «Was denken Sie?» fragte Diotima. Ulrich schüttelte bloß den Kopf und gab ihr dadurch - im Dunkel, das nur noch von einem letzten samtenen Schimmer erhellt wurde -
von neuem Gelegenheit, vergleichende Studien über Schweigen anzustellen. Ein wundervoller Satz kam ihr ins Gedächtnis: «Es gibt Menschen, mit denen sich der größte Held nicht zu schweigen getraute. » Oder es war der richtige Wortlaut dem ähnlich. Sie glaubte sich zu erinnern, daß es ein Zitat sei; Arnheim hatte es gebraucht, und sie hatte es auf sich bezogen. Und außer Arnheims Hand hatte sie seit den ersten Wochen ihrer Ehe keines anderen Mannes Hand länger als zwei Sekunden in der ihren gehalten, nur mit Ulrichs Hand geschah das jetzt. Sie übersah in ihrer Selbstbefangenheit, wie das weiterging, fand sich aber einen Augenblick später angenehm überzeugt davon, daß sie völlig recht gehabt habe, als sie die vielleicht noch kommende, vielleicht unmögliche Stunde der höchsten Liebe nicht tatenlos abwartete, sondern die Zeit der zaudernden Entscheidung dazu benutzte, sich etwas mehr ihrem Gatten zu widmen. Verheiratete Menschen haben es sehr gut: wo andere ihren Geliebten die Treue brächen, dürfen sie sagen, daß sie sich auf ihre Pflicht besännen; und weil sich Diotima sagte, sie habe, was immer kommen möge, auf dem Platz, wohin sie vom Schicksal gestellt worden sei, einstweilen ihre Pflicht zu tun, hatte sie den Versuch unternommen, die Fehler ihres Gatten auszugleichen und ihm etwas mehr Seele beizubringen. Wieder fiel ihr ein Dichterwort ein: ungefähr besagte es, daß es keine schlimmere Verzweiflung gebe, als mit einem Menschen in ein gemeinsames Schicksal verflochten zu sein, den man nicht liebe, und auch das bewies, daß sie sich bemühen mußte, etwas für Tuzzi zu empfinden, solange ihr Schicksal sie noch nicht getrennt hätte. In verständigem Gegensatz zu den unberechenbaren Geschehnissen der Seele, die sie ihn nicht länger entgelten lassen wollte, hatte sie das systematisch begonnen; und mit Stolz fühlte sie die Bücher, auf denen sie lag, denn sie beschäftigten sich mit der Physiologie und der Psychologie der Ehe, und irgendwie ergänzte es sich gegenseitig, daß es dunkel war, daß sie diese Bücher bei sich hatte, daß Ulrich ihre Hand hielt, daß sie ihm den großartigen Pessimismus zu verstehen gegeben hatte, den sie nun vielleicht auch in ihrer öffentlichen Tätigkeit bald durch einen Verzicht auf ihre Ideale ausdrücken werde, und Diotima drückte Ulrichs Hand von Zeit zu Zeit bei diesen Gedanken so, als ob die Koffer gepackt stünden, um von allem Gewesenen Abschied zu nehmen. Sie stöhnte dann leise, und eine ganz leichte Welle von Schmerz rann zur Entschuldigung durch ihren Körper; Ulrich aber erwiderte begütigend den Druck mit seinen Fingerspitzen, und nachdem sich das einigemal wiederholt hatte, dachte Diotima wohl, daß es eigentlich zuviel sei, doch sie wagte nicht mehr ihre Hand zurückzuziehen, weil diese so leicht und trocken in der seinen lag, und zuweilen sogar zitterte, daß es ihr selbst wie ein unzulässiger Hinweis auf die Physiologie der Liebe vorkam, den sie nun um keinen Preis durch eine ungeschickte Fluchtbewegung verraten wollte.
Es war «Rachelle», die sich im Nebenzimmer zu schaffen gemacht hatte und, seit einiger Zeit eigenartig ungezogen geworden, diesem Auftritt ein Ende bereitete, indem sie jenseits der offenen Verbindungstür plötzlich das Licht einschaltete. Diotima zog rasch ihre Hand aus der Ulrichs zurück; ein von Schwerlosigkeit ausgefüllt gewesener Raum blieb einen Augenblick lang in dieser liegen. «Rachelle, » rief Diotima flüsternd «mache auch hier Licht!» Als es geschehen war, hatten die beleuchteten Köpfe etwas Aufgetauchtes, wie wenn das Dunkel noch nicht ganz von ihnen weggetrocknet wäre. Schatten lagen um 446
Diotimas Mund und gaben ihm Nässe und Schwellung; die perlmutterfarbenen kleinen Wülste am Hals und unter den Wangen, die sonst für die Liebhaber üppiger Feinkost geschaffen zu sein schienen, waren hart wie ein Linoleumschnitt und wild mit Tinte schattiert. Auch Ulrichs Kopf ragte schwarz und weiß bemalt wie der eines auf dem Kriegspfad befindlichen Urmenschen ins ungewohnte Licht. Er blinzelte und trachtete die Aufschriften der Werke zu entziffern, von denen Diotima umgeben war, und mit Erstaunen erkannte er nun die seelen-und körperhygienische Wissensbegierde seiner Kusine, die sich in der Wahl dieser Bücher ausdrückte. «Er wird mir einmal noch etwas antun!» dachte sie plötzlich, die seinem Blick gefolgt war und von ihm beunruhigt wurde, aber es kam ihr nicht in der Form dieses Satzes zu Bewußtsein; sie fühlte sich ihrem Vetter bloß zu sehr ausgeliefert, wie sie nun im Licht unter seinen Augen lag, und hatte das Bedürfnis, sich ein sicheres Ansehen zu geben. Mit einer Gebärde, die recht überlegen sein sollte, wie es einer von allem, was es gibt, «unabhängigen» Frau zukommt, wies sie umfassend auf ihre Lektüre hin und sagte mit möglichst sachlicher Betonung: «Werden Sie es glauben, daß mir der Ehebruch manchmal als eine viel zu einfache Lösung der ehelichen Konflikte erscheint?!»
«Er ist jedenfalls die schonendste!» gab Ulrich zur Antwort und ärgerte sie durch seinen spöttischen Ton.
«Ich möchte sagen, er schadet auf keinen Fall. »
Diotima warf ihm einen Blick des Vorwurfs zu und gab ihm ein Zeichen, daß Rachel vom Nebenzimmer her zuhören könne. Dann sagte sie laut: «So meine ich es gewiß nicht!» und rief ihre Zofe an, die störrisch zum Vorschein kam und mit bitterer Eifersucht zur Kenntnis nahm, daß sie hinausgewiesen werde. Durch diesen Zwischenfall hatten sich aber die Gefühle geordnet; die vom Dunkel begünstigte Einbildung, gemeinsam eine kleine Untreue zu begehn, wenn auch sozusagen unbezeichenbar und an niemandem, verflog in der Helligkeit, und Ulrich trachtete nun, zur Sprache zu bringen, was noch geschäftlich zu sagen war, um aufbrechen zu können.
«Ich habe Ihnen noch nicht mitgeteilt, daß ich meine Sekretärstelle niederlege» begann er.
Diotima zeigte sich aber unterrichtet und erklärte, er müsse bleiben, es ginge nicht anders. «Die Arbeit, die wir leisten sollen, ist noch immer enorm» bat sie. «Haben Sie nur noch ein wenig Geduld, es muß bald die Lösung kommen! Man wird Ihnen einen richtigen Sekretär zur Verfügung stellen. »
Dieses unbestimmte «Man wird» fiel Ulrich auf, und er wollte Näheres wissen.
«Arnheim hat sich angeboten, Ihnen seinen Sekretär zu leihen. »
«Nein, danke» erwiderte Ulrich. «Ich habe das Gefühl, das wäre nicht ganz selbstlos. » Er hatte in diesem Augenblick wieder nicht übel Lust, Diotima den schlichten Zusammenhang mit den ölfeldern zu erklären, aber ihr war der zweifelhafte Ausdruck seiner Antwort nicht einmal aufgefallen, und sie berichtete einfach weiter:
«Überdies hat sich auch mein Mann bereit erklärt, Ihnen einen Angestellten aus seinen Büros zu überlassen.
»
«Wäre Ihnen das recht?»
«Offen gestanden, es wäre mir nicht ganz lieb» äußerte sich Diotima diesmal bestimmter. «Zumal da wir keinen Mangel leiden: Auch Ihr Freund, der General, hat mir eröffnet, daß er Ihnen mit Vergnügen eine Hilfskraft aus seiner Abteilung zur Verfügung stellen könnte. »
«Und Leinsdorf?»
«Diese drei Möglichkeiten sind mir freiwillig angeboten worden, darum hatte ich keine Ursache, Leinsdorf zu fragen: aber sicher würde er ein Opfer nicht scheuen. »
«Man verwöhnt mich. » Mit diesen Worten faßte Ulrich die überraschende Bereitwilligkeit Arnheims, Tuzzis und Stumms zusammen, sich in billiger Weise eine gewisse Kontrolle über alle Vorgänge der Parallelaktion zu sichern. «Aber vielleicht wäre es doch das Klügste, ich nähme den Vertrauensmann Ihres Gatten zu mir. »
«Lieber Freund -?» wehrte Diotima das noch immer ab, aber sie wußte nicht recht, wie sie fortfahren solle, und wahrscheinlich kam darum etwas sehr Verwickeltes heraus. Sie stützte sich wieder auf den Ellbogen und sagte lebhaft:
«Ich lehne Ehebruch als eine zu plumpe Lösung ehelicher Konflikte ab: das habe ich Ihnen gesagt! Aber trotzdem: es ist nichts so schwer, wie mit einem Menschen in ein Schicksal verflochten zu sein, den man nicht genügend liebt!»
Das war ein höchst unnatürlicher Naturlaut. Aber ungerührten Sinnes beharrte Ulrich auf seinem Entschluß.
447