Das Telefon rief Fischel wieder an ein Geschäft. Er, der sein Leben lang nur ein solider Angestellter gewesen war, hatte seit einiger Zeit begonnen, auf eigene Rechnung an der Börse zu operieren; nur mit 797

kleinen Beträgen einstweilen, den geringen Ersparnissen, die er besaß, und einigen Papieren seiner Gattin Klementine. Er durfte mit ihr nicht darüber reden, aber er konnte mit dem Erfolg recht zufrieden sein; es war geradezu eine Erholung von den entmutigenden Verhältnissen zuhause.

101 Ulrich hört Musik

Das nächstemal traf Ulrich mit Clarisse bei Freunden von ihr in einem Maleratelier zusammen, wo sich ein Kreis von Menschen versammelt hatte und Musik machte. Clarisse war unauffällig in dieser Umgebung, die Rolle des Sonderlings fiel darin eher Ulrich zu. Er war unwillig gekommen und empfand Widerstreben zwischen lauter Menschen, die verzückt und verbogen lauschten. Diese Übergänge von Lieblich, Leise, Sanft zu Düster, Heldisch und Brausend, welche die Musik binnen einer Viertelstunde ein paarmal vollzieht,

- Musiker bemerken das ja nicht, weil für sie der Vorgang gleichbedeutend ist mit Musik und also mit etwas ganz und gar Ausgezeichnetem! - aber Ulrich, der in diesem Augenblick ganz und gar nicht von dem Vorurteil, daß es Musik geben müsse, befangen war, erschienen sie als so schlecht begründete und unvermittelte Vorgänge wie das Treiben einer betrunkenen Gesellschaft, die alle Augenblicke zwischen Rührseligkeit und Prügeln abwechselt. Er wollte sich zwar keine Vorstellung von der Seele eines großen Musikers machen und darüber urteilen, aber was gewöhnlich schon für große Musik gilt, kam ihm noch beiweitem nicht anders wie ein Kasten vor, der alle Inhalte der Seele einschließt und außen sehr schön geschnitzt ist, aus dem man aber alle Laden herausgezogen hat, so daß innen der ganze Inhalt durcheinander liegt. Er konnte gewöhnlich nicht begreifen, daß Musik eine Verschmelzung von Seele und Form sei, weil er zu deutlich sah, daß die. Seele der Musik, abgesehen von der ganz seltenen reinen Musik, nichts ist als die ausgeborgte und verrückt gemachte Seele von Hinz und Kunz.

Dennoch hatte er den Kopf wie die anderen in beide Hände gestützt; er wußte bloß nicht, ob es geschah, weil er an Walter dachte, oder um sich ein wenig die Ohren zuzuhalten. In Wahrheit hielt er weder die Ohren ganz zu, noch dachte er nur an Walter. Er wollte bloß allein sein. Er dachte nicht oft über andere Menschen nach; wahrscheinlich deshalb, weil er auch über sich selbst «als Person» selten nachdachte. Er handelte gewöhnlich nach der Meinung, was man denke, fühle, wolle, sich einbilde und schaffe, könne unter Umständen eine Bereicherung des Lebens bedeuten; was man sei, bedeute aber unter keinerlei Umständen mehr als ein Nebenprodukt bei dem Vorgang dieser Herstellung. Musikalische Menschen sind jedoch oft der entgegengesetzten Meinung. Sie erzeugen zwar eine Sache, für die sie den unpersönlichen Namen Musik gebrauchen, aber diese Sache besteht doch zum größten oder wenigstens in dem ihnen wichtigsten Teil aus ihnen selbst, ihren Empfindungen, Gefühlen und dem gemeinsamen Erlebnis. Es ist mehr Sein und weniger Bleiben in ihrer Musik, der von allen geistigen Tätigkeiten die des Schauspielers am nächsten steht. Diese Steigerung, deren Zeuge er sein mußte, erregte Ulrichs Abneigung, er saß wie eine Eule unter Singvögeln zwischen ihnen.

Und natürlich war Walter ganz das Gegenteil von ihm. Er dachte viel und leidenschaftlich über sich selbst nach. Er nahm alles ernst, was ihm begegnete. Weil es ihm begegnete; als ob das eine Auszeichnung wäre, die eine Sache zu einer anderen machen kann. Er war in jedem Augenblick Person und ganzer Mensch, und weil er es war, wurde er nichts. Alle Menschen hatten ihn fesselnd gefunden, ihm Glück gebracht und ihn eingeladen, bei ihnen zu bleiben, mit dem Endergebnis, daß er Archivar oder Kustos geworden ist, festgefahren ist, keine Kraft mehr hat, sich zu verändern, auf alle Menschen schimpft, zufrieden unglücklich ist und pünktlich in sein Büro geht. Und während er in seinem Büro ist, wird vielleicht zwischen Clarisse und Ulrich etwas geschehen, das seine Person, wenn er es erführe, in eine Aufregung versetzen könnte, wie wenn der ganze Ozean der Weltgeschichte in sie einströmte; wogegen Ulrich weit weniger aufgeregt davon war. Clarisse aber hatte sich, gleich als sie gekommen war, Walter war nicht dabei, neben Ulrich gesetzt. Den Rücken vorgebogen, das Knie hochgezogen, im Dunkel, denn es war noch kein Licht gemacht worden, hatte sie gleich nach den ersten Takten, denen sie beiwohnten, ihre Hand ausgebreitet auf die seine gestützt, als ob sie aufs innigste zusammengehörten. Ulrich hatte sich vorsichtig befreit, und auch das war ein Grund dafür gewesen, daß er den Kopf in beide Hände stützte; aber Clarisse, als sie geschaut hatte, was er vorhabe, und ihn von der Seite ebenso ergriffen dasitzen sah wie alle anderen, hatte sich sanft an ihn gelehnt und so saß sie nun schon eine halbe Stunde. Und auch er war nicht glücklich.

Er wußte, daß er immer von neuem nichts als den entgegengesetzten Irrtum beging wie Walter. Durch 798

diesen Irrtum entstand eine Auflösung ohne Kern; der Mensch verlor sich in einen Strahlenraum; er hörte auf, ein Ding, mit allen ebenso köstlichen wie zufälligen Begrenztheiten, zu sein; er wurde in der höchsten Steigerung so gleichgültig gegen sich selbst, daß das Menschliche gegenüber dem Übermenschlichen nicht mehr Bedeutung hat, wie das Stückchen Kork, an dem ein Magnet angebracht ist, der es in einem Netz von Kräften kreuz und quer zieht. Zuletzt war es ihm mit Agathe so ergangen. Und jetzt - nein, es war eine Lästerung, das nebeneinander zu setzen - aber selbst zwischen Clarisse und ihm war jetzt etwas «los», bewegte sich, er war in einen Wirkungsbereich geraten, in dem Clarisse und er von Kräften einander zu bewegt wurden, die keine Rücksicht darauf nahmen, ob sie im ganzen für einander Neigung verspürten oder nicht.

Und während Clarisse an ihm lehnte, dachte Ulrich an Walter. Er sah ihn in einer bestimmten Weise vor sich, wie er ihn oft heimlich sah. Walter lag dann an einem Waldrand, hatte kurze Hosen an, trug unpassende schwarze Strümpfe dazu und hatte in diesen Strümpfen nicht die Beine eines Mannes, weder die muskulösen, noch die dünnen, sondern die eines Mädchens, eines nicht sehr schönen Mädchens, mit sanften, unschönen Beinen. Er hatte die Hände unter dem Kopf gekreuzt, sah hinaus in die Landschaft, über die einst seine unsterblichen Werke rollen sollten, und verbreitete das Gefühl, daß man ihn durch eine Ansprache stören würde. Dieses Bild liebte Ulrich eigentlich sehr. So hatte Walter in seiner Jugend ausgesehen. Und Ulrich dachte: Was uns getrennt hat, ist nicht die Musik - denn er konnte sich ganz gut eine Musik vorstellen, die so unpersönlich und überdinglich und jedesmal ein einzigesmal aufsteigt wie ein Rauch, der sich im Himmelsraum verliert; - sondern es ist der Unterschied im Verhalten der Person zu ihr, es ist dieses Bild, das ich liebe, weil es übrig geblieben ist, während er es sicher aus dem entgegengesetzten Grunde liebt, weil es alles in sich einschluckte, was aus ihm hätte werden können, bis schließlich eben Walter daraus geworden ist. «Und eigentlich» dachte er «ist alles das nichts als ein Zeichen der Zeit. Der Sozialismus bemüht sich heute, das liebe Privatich für eine wertlose Illusion zu erklären, an deren Stelle gesellschaftliche Ursachen und Pflichten gehören. Ihm ist dabei aber längst die Naturwissenschaft schon mit den lieben Privatdingen vorangegangen, die sie in lauter unpersönliche Vorgänge wie Wärme, Licht, Schwere und so weiter aufgelöst hat. Das Ding, wie es Privatmenschen wichtig ist, als ein Stein, der ihnen auf den Kopf fällt, (oder als einer, den sie in Gold gefaßt kaufen können) oder eine Blume, an der sie riechen, interessiert die neueren Menschen nicht im geringsten; sie behandeln es als einen Zufall oder gar als ein <Ding an sich>, das ist etwas, das nicht da ist und doch da ist, eine ganz törichte und gespenstische Persönlichkeit von einem Ding. Man darf wohl voraussagen, daß sich das ändern wird, so wie ein Mann, der täglich Millionen umsetzt, einmal sehr erstaunt eine einzelne Mark in die Hand nimmt, aber dann werden Ding und Persönlichkeit etwas anderes geworden sein. Und einstweilen besteht noch ein sehr komisches Nebeneinander. Moralisch zum Beispiel betrachtet man sich noch ungefähr so, wie die Physik die Körper vor dreihundert Jahren betrachtet hat; sie <fallen>, weil sie die <Eigenschaft> haben, das Hohe zu scheuen, oder werden warm, weil in ihnen ein Fluidum steckt: solche gute oder böse Eigenschaften und Fluida dichten die Moralisten noch den Menschen an. Psychologisch dagegen ist man schon soweit, die Menschen in typische Bündel typischer Allerwelts-verhaltensweisen aufzulösen. Soziologisch behandelt man ihn nicht anders. Musikalisch dagegen macht man ihn wieder ganz. »

Aber plötzlich wurde Licht gemacht, die Musik schwang nur noch auf den letzten Tönen hin und her, wie ein Ast, von dem jemand herunter gesprungen ist, die Augen blinzelten, und die Stille vor dem Lossprechen aller trat ein. Clarisse war noch rechtzeitig von Ulrich abgerückt, aber als nun die neuen Gruppen sich gebildet hatten, zog sie ihn in eine Ecke und hatte ihm etwas mitzuteilen.

«Was ist das äußerste Gegenteil davon, daß man gewähren läßt?» fragte sie ihn. Und da Ulrich nichts erwiderte, gab sie selbst die Antwort. «Sich selbst einprägen!» Das Figürchen stand elastisch vor ihm, die Hände auf dem Rücken. Aber sie suchte sich mit den Augen an Ulrichs Augen anzuhalten, denn die Worte, die sie jetzt suchen mußte, waren so schwer, daß sie ihren kleinen Körper ins Wanken brachten. «Sich einkratzen! sage ich. Ich habe das vorhin herausgebracht, während wir nebeneinander gesessen sind.

Eindrücke sind gar nichts; sie drücken dich ein! Oder ein Haufen Regenwürmer. Aber wann verstehst du ein Stück Musik? Wenn du es selbst innerlich machst! Und wann verstehst du einen Menschen? Wenn du dich so machst wie er. Siehst du, » sie beschrieb mit der Hand einen wagrecht liegenden spitzen Winkel, der Ulrich unwillkürlich an einen Phallus erinnerte «unser ganzes Leben ist Ausdruck! In der Kunst, in der Liebe, in der Politik suchen wir die aktive Form, die spitzige, ich habe es dir schon gesagt, daß es die der 799

Bärenschnauze ist! Nein, ich habe nicht sagen wollen, daß Eindrücke nichts sind: sie sind die Hälfte; wundervoll steckt das beides in dem Wort Erlösen, das aktive er-und das Lösen —»: sie wurde sehr erregt von der Bemühung sich Ulrich verständlich zu machen.

In diesem Augenblick setzte aber wieder das Musizieren ein, es hatte nur eine kurze Ruhepause gegeben, und Ulrich wandte sich von Clarisse ab. Er sah durch das große Atelierfenster in den Abend hinaus. Das Auge mußte sich erst wieder ans Dunkel gewöhnen. Dann erschienen blaue wandernde Wolken am Himmel. Die Spitzen eines Baums reichten von unten herauf. Häuser standen mit dem Rücken nach oben.

«Wie sollten sie sonst?!» dachte Ulrich lächelnd, und doch es gibt Minuten, wo alles verkehrt erscheint. Er gedachte Agathes und war unsagbar traurig. Dieses neue, kleine Wesen Clarisse an seiner Seite trieb mit einer unnatürlichen Geschwindigkeit voran. Das war keine natürliche Entwicklung, darüber war er sich ganz klar. Er hielt sie für verrückt. Von Liebe konnte keine Rede sein. Aber es gefiel ihm die Vorstellung, während ihm die Musik hinter seinem Rücken wie ein Zirkus vorkam, neben einem im Kreise sprengenden Pferd herzulaufen, auf dem Clarisse stand und mit geschwungener Gerte Ajaha schrie.

102 Gerda

Einige Tage nach dem musikalischen Abend im Atelier erschien Gerda, die sich aufgeregt am Telefon angemeldet hatte, abends bei Ulrich. Sie riß mit auffallendem Schwung ihren Hut vom Kopf und warf ihn auf einen Stuhl. Auf die Frage, was es gebe, antwortete sie: «Nun ist alles in die Luft geflogen!»

«Ist Hans davongegangen?»

«Papa ist pleite!» Gerda lachte nervös zu ihrem burschikosen Ausdruck. Ulrich erinnerte sich, daß er sich bei seinem letzten Zusammentreffen mit Direktor Fischel über eine Art von Telefongesprächen gewundert hatte, die dieser von seiner Wohnung aus führte; aber diese Erinnerung war nicht eindringlich genug, um ihn Gerdas Ausruf völlig ernst nehmen zu lassen.

«Papa war ein Spieler, denken Sie!» lieferte das aufgeregte, zwischen Heiterkeit und Verzweiflung kämpfende Mädchen die Ergänzung. «Wir alle haben gedacht, er sei ein braver Bankbeamter ohne große Aussichten, aber gestern Abend hat sich herausgestellt, daß er alle Zeit über heimlich die gefährlichsten Börsenoperationen gemacht hat! Sie hätten dabei sein sollen, wie das gestern aufflog!» Gerda warf sich neben ihren Hut auf den Sessel und schlug kühn ein Bein über das andere. «Er kam nach Haus, als ob man ihn aus dem Wasser gezogen hätte. Mama stürmte mit Speisesoda und Kamillentropfen auf ihn ein, weil sie dachte, daß ihm schlecht sei. Es war halb zwölf Uhr nachts, wir hatten schon geschlafen. Da gestand er, daß er in drei Tagen große Beträge zu zahlen habe und nicht wisse, woher er sie nehmen solle. Mama, großartig, hat ihm ihr Heiratsgut angeboten. Mama ist immer großartig; was hätten die paar tausend Kronen für einen Spieler bedeutet! Aber Papa gestand überdies, daß er Mamas kleines Vermögen schon längst mitverloren habe. Was soll ich Ihnen sagen? Mama schrie wie ein überfahrener Hund. Sie hat nichts als das Nachthemd und Hausschuhe angehabt. Papa lag in einem Fauteuil und ächzte. Seine Stellung ist natürlich auch hin, wenn die Sache herauskommt. Ich sage Ihnen, es war erbärmlich!»

«Soll ich mit Ihrem Vater sprechen?» fragte Ulrich. «Ich verstehe wenig von solchen Dingen. Glauben Sie, daß er sich etwas antun könnte?»

Gerda zuckte die Achseln. «Er macht heute den Versuch, einen seiner sauberen Geschäftsfreunde zu bestimmen, daß er ihm helfe!» Sie wurde plötzlich finster. «Sie glauben doch hoffentlich nicht, daß ich deshalb zu Ihnen gekommen bin?! Mama ist heute zu ihrem Bruder übersiedelt; sie hat mich mit sich nehmen wollen, aber ich verzichtete darauf; ich bin von zuhause fortgelaufen. » Sie war wieder heiter geworden. «Wissen Sie, daß hinter der ganzen Sache ein Frauenzimmer steckt, eine Chansonette oder so etwas? Mama ist daraufgekommen, und das hat ihr den Rest gegeben. Alle Achtung vor Papa, was? Wer hätte ihm soviel zugetraut! -Ich glaube übrigens nicht, daß er sich töten wird» fuhr sie fort. «Denn wie das nachträglich mit dem Frauenzimmer herausgekommen ist, heute, im Lauf des Tags, hat er ganz außerordentliche Dinge gesagt: er wolle lieber sich einsperren lassen und nachher sein Brot durch Hausieren mit pornographischen Büchern verdienen, als noch länger der Direktor Fischel mit Familie zu sein!»

«Aber was mir die Hauptsache ist, » fragte Ulrich «was wollen denn Sie tun?»

«Ich komme bei Freunden unter» sagte Gerda schnippisch. «Sie brauchen nicht besorgt zu sein!»

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«Bei Hans Sepp und seinen Freunden!» rief Ulrich vorwurfsvoll aus.

«Da tut mir niemand was!»

Gerda musterte die Wohnung Ulrichs. Wie Schatten trat die Erinnerung an das, was hier einmal vorgefallen war, aus den Wänden. Gerda fühlte sich als armes Mädchen, das nichts besaß, außer ein paar Kronen, die sie im Fortgehn aus dem Schreibtisch ihrer Mutter genommen hatte, wunderbar frei und unbeschwert. Sie tat sich leid. Sie war geneigt, über sich zu weinen, wie über eine tragische Theaterfigur. Man hätte ihr wohl etwas Gutes gönnen dürfen, dachte sie, aber sie erwartete kaum, daß Ulrich sie tröstend in die Arme nehmen würde. Nur wäre sie, wenn er es getan hätte, nicht so feig gewesen wie das erstemal.

Aber Ulrich sagte: «Sie wollen sich jetzt nicht von mir helfen lassen, Gerda, das sehe ich; Sie sind noch viel zu stolz auf Ihr neues Abenteuer. Ich kann nur sagen, daß ich für Sie einen bösen Ausgang fürchte. Prägen Sie sich, bitte, ein, daß Sie immer, ohne jede Rücksicht über mich verfügen können, wenn Sie es brauchen sollten. » Er sagte es zögernd und überlegend, denn er hätte ja eigentlich auch etwas anderes und Liebevolleres sagen können. Gerda war aufgestanden, tastete vor dem Spiegel an ihrem Hut herum und lächelte Ulrich zu. Sie hätte ihn gerne zum Abschied geküßt, aber dann wäre es vielleicht gar nicht zum Abschied gekommen; und der Tränenstrom, der unsichtbar hinter ihren Augen rann, trug sie wie eine zart tragische Musik, die man nicht unterbrechen durfte, in das neue Leben hinaus, von dem sie sich noch sehr wenig vorstellen konnte.

103 Clarisse verführt Ulrich

[Früher Entwurf]

Die Zugeherin war schon fort, Walter in der Mitte seiner Bürozeit, Ulrich wählte, ohne sich ganz über die Bedeutung dieser Wahl Rechenschaft zu geben, jetzt solche Stunden für seine Besuche. Dennoch geschah nichts bis zu einem Sonntag. Da hatte Walter eine Einladung bekommen, die ihn bis zum Abend in die Stadt rief, und eine halbe Stunde zuvor, nach dem Mittagbrot, war Ulrich nichtsahnend gekommen und trüber Laune, denn die Aussicht auf einen Nachmittag in Gegenwart des Freundes hatte ihn so wenig gelockt, daß er den Weg eigentlich aus Gewohnheit antrat. Als Walter sich aber sogleich zu verabschieden begann, empfand es Ulrich wie ein Signal. Auch Clarisse hatte an das Gleiche gedacht. Das wußten sie beide.

Sie werde ihm vorspielen, sagte Clarisse. Clarisse begann. Ulrich winkte vom Fenster Walter nach, der hinaufgrüßte. Den Blick im Zimmer, beugte er sich immer weiter hinaus, dem Entschwindenden nach.

Clarisse brach plötzlich ab, kam auch ans Fenster. Walter war nicht mehr zu sehn. Clarisse spielte weiter.

Ulrich kehrte ihr jetzt den Rücken zu, als kümmerte es ihn nicht; im Fenster lehnend. Clarisse hörte wieder zu spielen auf, lief ins Vorzimmer. Ulrich hörte, wie sie die Kette vor die Tür legte. Als sie zurückkehrte, drehte er sich langsam um; schwieg; schwankte. Sie spielte weiter. Er ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie stieß die Hand, ohne den Kopf zu wenden, mit der Schulter weg. «Schuft!» sagte sie; spielte weiter. «Sonderbar?» dachte er «will sie Gewalt spüren?» Die Vorstellung, die sich ihm aufdrängte, daß er sie an beiden Schultern packen und vom Klavierstuhl herunterreißen solle, kam ihm so komisch vor, wie an einem unsicheren Zahn zu wackeln. Er fühlte sich dadurch beengt. Ging in die Mitte des Zimmers hinein. Spannte das Gehör und suchte nach Anlässen. Bevor ihm aber noch irgendetwas einfiel, sagte sein Mund: «Clarisse!» Das hatte sich gepackt, gurgelnd aus dem Hals gelöst, war wie ein fremdes Geschöpf aus seinem Hals gewachsen. Clarisse stand folgsam auf und war bei ihm. Sie hatte die Augen weit offen. In diesem Augenblick begriff er erst, daß Clarisse künstlich, vielleicht ohne es zu wissen, die Aufregung einer ungeheuren Opferhandlung hervorzurufen suchte. Da Clarisse neben ihm stand, mußte im nächsten Augenblick die Entscheidung fallen, aber die ganze Gewalt dieser Hemmungen bemächtigte sich Ulrichs; seine Beine trugen ihn nicht mehr, er brachte kein Wort hervor und warf sich ins Sofa.

Im gleichen Augenblick warf sich Clarisse auf seinen Schoß. Ihre Armeidechsen schlangen sich um seinen Kopf und Hals. Sie schien an ihren Armen zu zerren, ohne sie aber aus der Umschlingung lösen zu können.

Heiße Luft fuhr aus ihrem Mund und brannte ihm unverständliche Worte ins Gesicht. Sie hatte Tränen in den Augen. Da zerbrach alles, was ihn sonst machte[?]. Auch er stieß etwas hervor, das sinnlos war, aber vor den Augen der beiden schwankten die Adern wie ein Gitter, ihre Seelen gingen wie Stiere aufeinander los, und dieser Aufruhr war von dem Gefühl einer ungeheuren moralischen Entscheidung begleitet. Nun hielten sie beide nicht mehr ihre Worte, ihr Gesicht, ihre Hände. Die Gesichter preßten sich, feucht von 801

Tränen und Schweiß, nur noch als Fleisch aneinander; alle Worte der Liebe, die nachzuholen waren, überstürzten sich, als würde der Inhalt einer Ehe verkehrt ausgeschüttet, die lasziven, abgehärteten Worte, die erst mit der späten Vertraulichkeit kommen, zuerst, unvermittelt, anstachelnd, und doch nicht ohne Entsetzen darüber. Ulrich hatte sich halb aufgerichtet; alles war so schlüpfrig (von den Gesichtern bis zu den Worten), daß das Ineinandergleiten keinen Laut mehr von sich gab.

Clarisse riß ihren Hut vom Nagel, stürmte fort. Er mit ihr. Wortlos. Wohin? Diese Frage war dabei lächerlich einsam in seinem Gehirn, das von dem Sturm leergefegt worden war.

Clarisse raste über Wege, Wiesen, durch Hecken hindurch, durch den Wald. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die sanft gebrochen werden, sondern wurde nach dem Fall böse und hart. Sie befanden sich schließlich in dem an den Wald anschließenden Tiergarten an einer ganz abgelegenen Stelle. Dort stand ein kleines Rokokolusthaus. Leer. Dort stellte sie sich ihm noch einmal. Diesmal mit vielen Worten und Geständnissen. Gehetzt von der Ungeduld der Begierde und der Angst, daß Menschen vorbeikommen könnten. Es war entsetzlich. Diesmal wurde Ulrich ganz kalt und hart von Reue. Er ließ [Clarisse] zurück.

Er kümmerte sich nicht, wie sie nach Hause käme, sondern raste davon.

Als Ulrich spät in die Wohnung zurückkehrte, fand er Walter vor. Clarisse war noch böse und betonte sanftes eheliches Zueinanderstimmen. Aber mit einem einzigen schmollenden Blick ließ sie Ulrich fühlen, daß sie doch zusammengehörten. Erst hinterdrein fiel ihm auf, wie sonderbar der Ausdruck ihrer Augen zweimal an diesem Nachmittag gewesen war: rasend und verrückt.

104 Ulrich bereitet die Entführung Moosbruggers vor

[Aus einem frühen Entwurf]

Ulrich hatte in der Erregung eingewilligt, Moosbrugger zu befreien. Nun gab er diesem Einfall nach, weil es bereits so weit gekommen war. Er glaubte nicht daran und traf die Vorbereitungen, überzeugt, daß die Durchführung doch nicht möglich sein werde.

Er traf Moosbrugger breit zwischen den Arglistigen thronend. Es war etwas Heroisches, der vergebliche Kampf eines Riesen, um diesen Menschen. Er schien die Bewunderung, die er scheinbar fand und naiv lächerlich genoß, doch auch durch irgendeine Eigenschaft zu verdienen. In der ärgsten Entstellung durch Wahnsinn ist er noch ein Ich, welches um Haltung kämpft. Wie ein Heldenlied war er, inmitten einer Zeit, welche schon ganz andere Lieder schafft, aber durch ihre gewohnheitsmäßige Bewunderung noch immer das alte konserviert. Wehrlose bewunderte Gewalt, einer Keule gleich zwischen den Pfeilen des Geistes.

Man konnte über diesen Menschen lachen, aber fühlen, daß seine Komik erschütternd war. (Die Trübung dieses Geistes hing mit der Trübung der Zeit zusammen. >

«Haben Sie einen Freund?» fragte Ulrich in einem unbewachten Augenblick. «Ich meine, Moosbrugger, haben Sie niemand… » Moosbrugger meint, er hätte wohl einen aber…

––—Es war jener Automatismus, der ihn trug, welcher

alle gewagten Taten begleitet. Er war eigentlich gar nicht überrascht, als er in eine Wohnung trat, welche wie vierzig andere in diesem Vorstadthaus aussah, und eine junge Frau in der Küche wirtschaftend antraf, welche den vierzig anderen Hausfrauen gleichen mußte. Auch das Mißtrauen, mit dem er empfangen wurde, wich in nichts von dem Mißtrauen ab, das man oft in diesen Kreisen findet. Er mußte sogleich beim Eintreten etwas sprechen und wurde durch diese europäisch allgemeinen Höflichkeiten, die er vorbrachte, sogleich in eine ganz unpersönliche Beziehung gebracht. Von Verbrechen war in diesem Umkreis kein Hauch. Es war eine derbe junge Frau, und ihr Busen regte sich unter der Bluse wie ein Kaninchen unter einem Tuch.

Ulrich hatte Glück und traf Karl Biziste gleich beim ersten Versuch. Wieder trug ihn ein automatisches Spiel seiner Glieder und Gedanken hin; diesmal aber gab Ulrich acht und verfolgte mit Neugierde, was mehr mit ihm geschah, als daß er es tat. Sein Gefühl war dabei das gleiche wie damals, als er verhaftet worden war. Von dem Augenblick an, wo Clarissens Interesse ihn vorsichtig wie die Spitze eines Fadens zu berühren begonnen hatte, bis jetzt, wo das Geschehen sich schon zu einem dicken Strick drehte, waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen, wo eins das andere gab, mit einer Notwendigkeit, die ihn nur mitnahm.

Es erschien ihm unsagbar sonderbar, daß der Lebensweg der meisten Menschen dieser der Dinge ist, der ihn so befremdete, wogegen es für andere Menschen ganz natürlich ist, sich von den Gelegenheiten tragen zu lassen und so schließlich zu einer festen Existenz emporgehoben zu werden. Ulrich fühlte auch, daß er bald 802

nicht mehr werde umkehren können, aber das machte ihn so neugierig, wie wenn man plötzlich die unaufhaltsame Bewegung des eigenen Atmens beachtet.

Und noch eine Bemerkung machte er. Wenn er sich vorstellte, wieviel Unheil aus dem entstehen konnte, was er vorhatte, und daß es bald nicht mehr in seiner Macht stehen würde, den Beginn zu vermeiden. Mit einer bösen Tat, die er schon auf dem Gewissen fühlte, als ob sie geschehen sei, sah die Welt, durch die er ging, verändert aus. Fast wie mit einer Vision im Herzen. Gottes oder einer großen Erfindung oder eines großen Glücks. Selbst der Sternenhimmel ist eine soziale Erscheinung, ein Gebilde der gemeinsamen Fantasie unserer Gattung Mensch, und ändert sich, wenn man aus ihrem Kreis austritt.

«Moosbrugger» sagte sich Ulrich «wird von neuem Unheil stiften, wenn ich ihm zur Freiheit verhelfe.

Unleugbar wird er früher oder später wieder seiner Anlage verfallen, und ich werde die Verantwortung dafür tragen. » Aber wenn er versuchte, sich schwere Vorwürfe deswegen zu machen, um sich aufzuhalten, war etwas durchaus Verlogenes daran. Etwa so, wie wenn man sich stellen würde, als ob man durch einen Nebel hindurch klar sähe. Die Leiden jener Opfer waren wirklich nicht gewiß. Hätte er die leidenden Geschöpfe vor sich gesehen, so wäre er wahrscheinlich in heftiges Mitleiden verfallen, denn er war ein Mensch der Schwingungen und also auch der Mitschwingungen. Solange diese Suggestivkraft des Erlebens mit den Sinnen aber fehlte, und alles nur ein Kräftespiel der Vorstellungen blieb, waren das Angehörige einer Menschheit, die er am liebsten abgeschafft oder doch sehr verändert hätte, und kein Mitleid schmälerte die Gefühlskraft dieser Abneigung. Es gibt Menschen, welche das entsetzt; sie stehen unter einer sehr starken moralischen oder sozialen Suggestion, behaupten aufzuschrein, sobald sie das entfernteste Unrecht bemerken, und sind empört über die Schlechtigkeit und Gefühlskälte, die sie in der Welt häufig finden. Sie zeigen heftige Gefühle, aber in den meisten Fällen sind es solche, welche ihre Vorstellungen und Grundsätze ihnen aufnötigen, das ist eine Dauersuggestion, welche wie alle Suggestionen etwas Automatisches und Mechanisches hat, dessen Weg in den Bereich der lebendigen Gefühle nicht eintaucht. Der unbefangen lebende Mensch ist im Gegensatz zu ihnen bös und gleichgültig gegenüber allem, was seinen eigenen Kreis nicht berührt; er hat nicht nur die Gleichgültigkeit eines Massenmörders passiv, wenn er in der Morgenzeitung die Unfälle und das Unglück des vergangenen Tages liest, sondern er wünscht ihm gleichgültigen Personen, wenn sie ihn ärgern, leicht auch sehr aktiv jedes Unglück auf den Hals. Gewisse Erscheinungen legen es nahe anzunehmen, daß die fortschreitende auf gemeinsamen Werken ruhende Zivilisation auch die unterdrückten und eingekerkerten Antagonisten dieser Gefühle stärkt. Also dachte Ulrich im Gehen. Die Opfer Moosbruggers waren abstrakt, Bedrohte, wie all die Tausende, welche den Gefahren der Fabriken, der Eisenbahn und Automobile ausgesetzt sind.

Wenn er so um sich blickte, während er zu Herrn B[iziste] ging, glaubte er festzustellen, daß alles Leben, das wir geschaffen haben, nur durch Vernachlässigung der pflichtgemäßen Obsorge für unsere entfernteren Nächsten ermöglicht worden ist. Wir dürften sonst keine Maschinen auf die Straße stellen, die ihn töten, ja wir dürften ihn gar nicht auf die Straße lassen, so wie vorsichtige Eltern es in der Tat mit ihren Kindern tun.

Stattdessen leben wir aber mit einem alljährlich statistisch vorausberechenbaren Perzentsatz von Morden, die wir lieber begehn, als daß wir von unserer Art zu leben und der Entwicklungslinie, die wir einzuhalten hoffen, abwichen. Ulrich fiel plötzlich eine allgemeine Arbeitsteilung auch darin auf, bei der es immer Sache besonderer Menschengruppen ist, Schäden zu heilen, welche die unerläßliche Tätigkeit anderer verursacht; niemals halten wir aber eine Energie damit auf, daß wir von ihr selbst Mäßigung verlangen; und schließlich gibt es noch ganz bestimmte Organe, wie die Parlamente, Könige und dergleichen, welche ganz dem Ausgleich dienen. Ulrich schloß daraus, daß es durchaus nichts bedeute, wenn er Moosbrugger zur Flucht verhelfe, denn es seien genug andere da, welche dazu berufen sind, dem etwa entstehenden Schaden vorzubeugen, und wenn sie ihre Schuldigkeit tun, kann es ihnen nicht mißlingen, wodurch seine persönliche Tat nicht ärger als eine Unregelmäßigkeit erschien. Daß er als Einzelner es trotzdem nicht so weit kommen lassen dürfe, dieses außerdem persönliche, moralische Verbot war in solchem Zusammenhang nichts mehr als ein verdoppelter Sicherheitskoeffizient, und der Wissende war in der Lage, ihn zu vernachlässigen.

Die von diesen bestimmten Gedanken weithin vorschwebende Vision einer anderen Ordnung der Dinge, welche aufrichtiger, man könnte sagen technisch phrasenloser war, begleitete Ulrich, während ihn das Abenteuer lockte und er müde des unentschiedenen Lebens eines Menschen von heute war. (Eventuell: er hatte nicht das Glück zu wirken und von da Bestimmtheit zu empfangen. Wie Thomas Mann oder der gute 803

bürgerliche Mensch dieser Zeit. Und er befand sich auch nicht im Kampf für etwas. > So war dieser Weg nicht unähnlich dem Ulrich wohlbekannten Sprung von einem zehn Meter hohen Turm ins Wasser. Man sieht im Flug das eigene Bild in einem immer rasender entgegenkommenden Wasserspiegel auftauchen, kann kleine Fehler der Haltung richtigstellen, aber im übrigen nichts mehr ändern an dem, was geschieht.

Ulrich tat, als er die ihm angegebene kleine Wirtschaft

gefunden hatte, alles so, wie es ihm––-anbefohlen worden war––- Während sich das abspielte, war Ulrich zweimal bei Clarisse.

Das erstemal verbrachte er einen Abend bei ihr und Walter in dem kleinen Haus in den Weinbergen, wo sie gemietet hatten. Das Ehepaar musizierte, als Ulrich ankam; er setzte sich in den Garten und lauschte, wie…

Plötzlich fragt er sich: warum bin ich nicht eifersüchtig? Er stellt sich Walter vor und haßt ihn; aber es ist kein echter Haß; die Abneigung galt eigentlich ebenso sehr Clarisse, die dieses Leben teilte und dazu (doch irgendwie) paßte. Er hätte in diesem Augenblick heulen mögen wie ein Hund… und fühlte, daß er und Clarisse bloß einer Gelegenheit erlegen waren.

Als es vorbei war, befand er sich in dem leicht fiebernden Zustand, der manchmal tief ins eigene Leben schneidende Erkenntnissen vorangeht. Er hatte überhört… Clarisse kam ihn suchen… der Händedruck wie Reben.

«Kennst du auch diese Augenblicke, wo man bis ins fernste durchsichtig zu sein scheint?»

Clarissens Augen… elektrisiert.

«Nein, » sagte er «ich will mich gar nicht sehn. Was sollte man da auch sehn. » Clarisse: «man muß sein Ziel finden. » Ulrich: «keine Spur; höchstens die Landschaft. Statt in Atelier! Unser Leben ist ein Gewebe von Widersprüchen ohne Dezision. Ich werde einen langen Urlaub nehmen - »

Ulrich fühlte jetzt wieder den schlanken Teufel an seiner Seite. Sie hatten übersehn, daß im Wohnzimmer das Licht verlöschte. Sie wußten nicht, wie lange sie abwesend gewesen waren, hörten plötzlich Walters Schritte und gingen ihm etwas trotzig entgegen.

Dann im Haus, im Gespräch, entwickelte Ulrich gegen den betrogenen Gatten Walter das Problem Moosbrugger unter dem auch für seinen Ehebruch geltenden Gesichtspunkt: alles, was wir tun, ist nur ein Gleichnis. (Das heißt: oder Analogie. Wenn ich, Ulrich, mich für Moosbrugger einsetze, so ist das nur teilweise zu nehmen, nicht voll. Ebenso wenn ich mit Clarisse die Ehe breche; ich schließe sie ja nicht.

Unsere ganze Existenz ist nur eine Analogie. Wir bilden uns ein System von Grundsätzen, Vergnügungen und so weiter, das einen Teil des Möglichen deckt.

Walter dagegen - als Durchschnittsmensch - für das Feste und Pseudototale. >

105 Walter ruft Ulrich an. Clarisse verstört

[Früher Entwurf]

Vor seinem zweiten Besuch wurde Ulrich von Walter telefonisch angerufen und dringend gebeten zu kommen. Clarisse, berichtete Walter, sei besorgniserregend verändert; er wisse nicht, was es zwischen ihr und Ulrich gegeben habe, aber es sei herzloser Eigensinn, wenn Ulrich sich jetzt nicht um sie kümmere.

(Sie klagte über «eine schauerliche Stille», die sie um sich höre. > Ulrich eilte hin.

Er fand Clarisse in einer eigenartigen Aufregung, die sogleich auffallen mußte. Das Wirbelnde, Trommelnde ihres Wesens war ungeschwächt vorhanden, aber darüber schien ein schwarzes Tuch gelegt worden zu sein. «Sie hat beim Frühstück die Zeitung gelesen, » berichtete Walter «und es stand wahrhaftig nichts besonderes darin; ein Zugzusammenstoß in Amerika mit einigen Toten und einer in Frankreich, irgendeine Typhusepidemie, der tägliche Totschlag, das wöchentliche Automobilunglück und ein paar Touristenunfälle in den Alpen. Aber es ist mit ihr nicht zu reden; sie behauptet, diese Vorstellungen nicht mehr loswerden zu können. »

Clarisse sah Ulrich an, als ob sie ihn nicht gleich erkennen würde. Es schien ihm aber, daß sie nicht nur genau gewußt hatte, daß er kommen müsse, sondern es darauf angelegt hatte. Sie hatte ihn nicht nur im gleichen Augenblick des Eintretens erkannt, sondern ihr ganzer Ausdruck war noch tief ausgehöhlt von einer Erwartung, in die seine Anwesenheit jetzt wie eine Kugel in eine Schale paßte. Und doch schien etwas sie zu behindern, sein vor ihr Stehen anzuerkennen. Er ärgerte sich über diese Affektation.

Endlich lächelte Clarisse und reichte ihm die Hand. So gibt ein kranker Hund die Pfote. Als hätte sie etwas 804

angestellt.

«Walter übertreibt» sagte sie. «Aber ich weiß nicht, was mir ist. Ich habe zuerst alles ganz ruhig wie immer gelesen - » Sie begann tief und aufgeregt zu atmen, in ihre Augen kam etwas Hilfloses. Walter trat zu ihr, legte den Arm um ihre Schulter und zog sie beruhigend an sich. Sie machte sich mit einer Gebärde des Ekels frei. «Aber habt ihr das niemals bemerkt?» stieß sie nun heftig hervor. «Es sind fürchterliche Unglücke geschehn. Auf jeder Seite findest du Armut und Krankheit. Ich habe Walter gebeten, auf die Redaktionen zu gehn, aber er will nicht!»

Ulrich wollte eine Antwort geben, aber er begriff blitzschnell, daß das falsch war. Also sagte er rücksichtslos und gerade: «Was geht alles das dich an?!»

Der grobe Angriff brachte Clarissens Aufregung zum Stehn.

«Kannst du helfen?!» fuhr Ulrich fort. «Wie willst du es machen?»

Clarisse sah ihn mit Augen an, deren Pupillen sich unwillig und eingeschüchtert sträubten.

«Aber verstehst du nicht, » sagte sie «daß du das täglich liest, ohne etwas zu tun. Jeder Morgen, wenn du die Zeitung öffnest, legt dir einen Berg von Leid auf, und du spürst nicht mehr davon, als ob sich dir eine Fliege auf die Stirn setzen würde? Werde ich verrückt oder seid ihr Gewohnheitsmenschen?» Sie riß heftig die Zeitung an sich, die übel zusammengefaltet auf einem Tischchen lag, und begann vorzulesen: «<Der Tourist, welcher, wie wir gemeldet haben, Sonntag auf dem Hochtor abgestürzt ist, ist der ein-unddreißigjährige Privatbeamte Max Prevenhuber. > Kannst du das nicht verstehn? Jedes Wort ist voll Verantwortung. Sonntag. Abgestürzt. Privatbeamter: wäre er an einem anderen Tag abgestürzt? Wäre er Sonntag ins Gebirge gefahren, wenn er nicht Beamter wäre? Ja vielleicht, wenn er nicht Max hieße? Und warum hat ihn niemand geschützt? Warum hat niemand die tausend anderen geschützt, welche jeden Tag zugrundegehn, weil wir nicht an sie denken?»

«Du hast dich überarbeitet, Clarisse» sagte Walter verzweifelt; «ich schicke dir Doktor X., er soll es dir verbieten. »

Clarisse sah ihn nur mit einem hochmütigen Blick an. «Riecht ihr denn nicht die Leichen?» fragte sie ruhig.

«Ich rieche sie immerzu!» In diesem Satz, den sie sehr einfach aussprach, lag wirkliche Gegenwart und es ging von ihm eine stumme Erschütterung aus. Die beiden Männer standen unschlüssig da. Endlich antwortete Ulrich sanft: «Irgendetwas hat dich wirklich überreizt, Clarisse. Ich sage nicht, daß es falsch ist, was du sagst. Aber ein gesunder Mensch sperrt sich dagegen. »

Clarisse hob traurig ein wenig die Hände. «Wann wird wieder ein Erlöser kommen, der das Ungerade gerade macht und diese grenzenlose Verwirrung erhellt?»

«Niemals» erwiderte Ulrich. «Es ist freilich viel schwerer heute» sagte Clarisse fast bittend. Wieder hatte er das unbestimmte Gefühl: sie meint mit all dem dich. Er sprach breit und hart davon, daß das Bedürfnis nach einer einfachen Lösung der verwirrten Zeit eine Schwäche sei, eine lächerliche Einbildung. (Vergleiche: Partial-und Totallösungen. )

Walter konnte kaum noch an sich halten, aber er schwieg dazu, denn es war zu sehn, wie Clarissens Melancholie sich etwas erleichterte, während ihr Blick an Ulrich hing. Seine feste Gleichgültigkeit schüchterte sie ein, und was sich nicht ohne einige Selbstgefälligkeit und Komödie breit gemacht hatte, zog sich in ihr wieder ein; in einen Punkt hinter den Augen, fühlte sie. Aber der Punkt blieb da.

Ulrich wußte, als er fortging, daß sie nicht nachgegeben hatte. Walter begleitete ihn ein Stück Wegs. «Sie war schon einmal so» sagte er «auf unserer Hochzeitsreise. » Ulrich erinnerte sich. Das war in England, und sie lief bedrückt und begeistert von dem fremden Land fort, ließ sich aber schon nach einem Tag wieder finden. «Du solltest jedenfalls einen Arzt fragen» sagte Ulrich.

«Sie will nicht, aber ich werde es tun. Sie hat diese nervöse Unsicherheit aus der Familie. Sie sind alle nicht ganz normal. »

«Mein Gott, wer ist es ganz… » tröstete Ulrich. Aber als er allein war, schüttelte er sich. Eine physiologische Störung ist so dinglich und unmenschlich wie eine Mauer; unangenehm gleichgültig fühlte er sich. Clarisse war also hysterisch? Ein sehr unangenehmes Gefühl gesellte sich hinzu: eine halbgetane Sache! Wieder war dieses Geheimnis mit Clarisse, in das er sich eingelassen hatte, etwas, das ihn nur streifte; «ein Gleichnis» sagte er und spuckte wider seine Gewohnheit aus. Aber er unterließ es sogar, sich in den nächsten Tagen nach Clarissens Befinden zu erkundigen, so unangenehm war ihm das Ganze geworden.

805

Es bereitete Ulrich ein eigentümliches, bitteres Vergnügen, daß indes alles andere unaufhaltsam weiterging.

An dem Tag, den B[iziste] bestimmt hatte, war er zu der Zusammenkunft gekommen, aber… (Enthält: Moosbruggers Ausbruchsversuch scheitert, Ulrich gerät in Verdacht Es rettet ihn etwas Ähnliches, wie bei seiner ersten Verhaftung. Enthält ferner: das Abenteuer. Respekt vor den Gaunern. Eine Reaktion der Moral. Der Geist flaut ab. >

106 Racheis Reue

Die kleine Rachel erlitt die Vorstellung Reue in ihrer ganzen Qual, die von nichts aufgelöst wurde als von der mildernden Wirkung der Tränen und der vorsichtigen Wiederkehr der Versuchung, wenn die Reue einige Zeit gedauert hatte. Man erinnere sich daran, daß das glühende kleine Zöfchen Diotimas, aus dem Elternhaus wegen eines Fehltritts verstoßen und im Goldglanz der Tugend, die nun ihre Herrin war, gelandet, im schwächsten einer Reihe immer schwächer werdender Augenblicke den Angriffen des schwarzen Mohrenknaben erlegen war. Es geschah, und sie war sehr unglücklich darüber. Aber das Unglück hatte ein Bestreben, sich zu wiederholen, so oft die spärlichen Gelegenheiten, die das Haus Diotimas bot, es erlaubten. Es trat am zweiten oder dritten Tag nach jedem Unglück eine merkwürdige Ver

änderung ein, zu vergleichen mit einer Blume, die, vom Regen geknickt, ihr Köpfchen wieder aufrichtet.

Mit Schönwetter zu vergleichen, das ganz oben, in einem fernen Winkel der Höhe durch einen Regentag guckt; befreundete blaue Fleckchen findet; einen blauen See bildet; zu einem blauen Himmel wird; mit einem leichten Dunst von übermächtiger Glücktageshelle sich beschlägt; angebräunt wird; einen heißen Dunstschleier nach dem ändern hinabläßt und schließlich zitternd vor Schwüle von der Erde zum Himmel ragt, vom Zucken und Schreien der Vögel erfüllt, vom Blätterhängenlassen der Bäume erfüllt, von dem Aberwitz noch nicht entladener Spannungen, die Mensch und Tier irrsinnig hin und her irren lassen.

Am letzten Tag vor der Reue zuckte der Kopf des Mohren jedesmal durch das Haus wie ein rollender Kohlkopf, und die kleine Rachel wäre am liebsten wie eine genäschige Raupe auf ihn gekrochen. Aber dann kam die Reue. Als ob man eine Pistole losgedrückt hätte und eine schimmernde Glaskugel wäre zu Glassand zerstaubt. Sand fühlte Rachel zwischen den Zähnen, in der Nase, im Herzen; nichts als Sand. Die Welt war dunkel; nicht mohrendunkel, sondern eklig dunkel wie ein Schweinestall. Rachel, die das Vertrauen, das man in sie setzte, enttäuscht hatte, kam sich durch und durch beschmutzt vor. In die Gegend des Nabels setzte der Kummer einen großen Bohrer. Eine wütende Angst, ein Kind zu bekommen, blendete den Kopf. Man könnte so weiter fortfahren, jedes Glied tat Rachel einzeln weh in der Reue, aber die Hauptsache bestand nicht aus diesen Einzelheiten, sondern erfaßte die Person als Ganzes, und trieb sie vor sich wie der Wind eine Kehrichtwolke. Das Bewußtsein, daß ein geschehener Fehltritt durch nichts auf der Welt wieder gut zu machen sei, gab der Welt etwas von einem Orkan, in dem kein Halt zum Stehen zu finden ist. Die Ruhe des Todes erschien Rachel wie ein dunkles Federbett, auf das hinabzurollen, Genuß sein müßte. Sie war herausgerissen aus ihrer Welt, einem Gefühl preisgegeben, das in dieser Stärke im Hause Diotimas nirgends seinesgleichen hatte. Sie konnte mit keinem Gedanken an dieses Gefühl heran, so wenig wie Tröstungen gegen Zahnschmerzen aufkommen können, und es schien ihr in der Tat dagegen nur noch das einzige Mittel zu geben, die ganze kleine Rachel wie einen bösen Zahn aus der Welt zu ziehn.

Wäre sie beschlagener gewesen, so hätte sie behaupten dürfen, daß Reue eine gründliche Gleichgewichtsstörung sei, die man auf die verschiedensten Weisen ausgleichen könne.

Aber der liebe Gott half ihr mit seinem bewährten alten Hausmittel, indem er ihr nach wenigen Tagen wieder Lust zur Sünde gab.

107 Clarisse bei Rachel

Die Wochen, seit Rachel Diotimas Haus verlassen hatte, verliefen in einer Unwahrscheinlichkeit, die ein anderer Mensch als sie kaum ruhig hingenommen hätte. Aber Rachel war als Sündige aus dem Elternhaus gewiesen worden und war schnurstracks am Ende dieses Falles in einem Paradies bei Diotima gelandet; nun hatte sie Diotima hinausgestürzt, aber ein so bezaubernd vornehmer Mann wie Ulrich war schon dagestanden und hatte sie aufgefangen: konnte sie nicht glauben, daß das Leben so ist, wie es in den 806

Romanen beschrieben wurde, die sie mit Vorliebe gelesen hatte? Wer zum Helden bestimmt ist, den wirft das Schicksal immer wieder halsbrecherisch in die Luft, aber es fängt ihn auch immer wieder mit starken Armen auf. Rachel setzte blindes Vertrauen in dieses Schicksal und hatte eigentlich während der ganzen Zeit nichts anderes getan, als darauf zu warten, daß er ihr bei der nächsten Begebenheit vielleicht seine Absichten entschleiere. Sie war nicht schwanger geworden; das Erlebnis mit Soliman schien also nur eine Zwischenhandlung gewesen zu sein. Sie aß in einer kleinen Speisewirtschaft, gemeinsam mit Kutschern, postenlosen Dienstmädchen, Arbeitern, die in der Nähe zu tun hatten, und jenen wechselnden unbestimmbaren Menschen, die durch eine Großstadt fluten. Der Platz, den sie gewählt hatte, an einem bestimmten Tisch, wurde täglich für sie bereit gehalten: sie war besser gekleidet als die anderen Frauen, die in dieser Kneipe verkehrten; die Art, wie sie Messer und Gabel führte, war anders, als man es hier sah; Rachel genoß an diesem Ort ein heimliches Ansehen, das sie sehr wohl bemerkte, wenn es ihr auch viele nicht zeigen wollten, und sie nahm an, daß man sie für eine Gräfin halte oder für die Geliebte eines Fürsten, die aus irgendwelchen Gründen vorübergehend gezwungen sei, ihren Stand zu verhüllen. Es kam vor, daß Männer mit zweifelhaften Brillanten am Finger und eingefetteten Haaren, wenn sie einmal unier den ehrbaren Gästen auftauchten, es so einzurichten wußten, daß sie an Racheis Tisch zu sitzen kamen, und dann richteten sie verführerisch gezwirbelte Artigkeiten an sie; aber Rachel wußte das mit Würde und ohne Unfreundlichkeit abzulehnen, denn obgleich es ihr so gut gefiel wie das Schwirren und Kriechen der Käfer an einem üppigen Sommertag, und der Raupen und Schlangen, ahnte ihr doch, daß sie sich nach dieser Seite nicht einlassen dürfe, ohne in ihrer Freiheit Gefahr zu laufen. Sie unterhielt sich überhaupt am liebsten mit älteren Leuten, die vom Leben schon etwas wußten, und von seinen Gefahren, Enttäuschungen und Vorgängen berichteten. Auf diese Weise bekam sie eine Kenntnis, die in Krümel aufgelöst bei ihr ankam, wie die Nahrung zu einem Fisch herabsinkt, der sich am, Boden seines Glases ruhig aufhält. In der Welt gingen abenteuerliche Dinge vor sich. Man sollte jetzt schon schneller fliegen als die Vögel. Häuser ganz ohne Ziegel baun. Die Anarchisten wollten die Kaiser werden. Eine große Revolution stand nahe bevor, und dann würden die Kutscher in den Wagen sitzen, die reichen Leute aber anstelle der Pferde eingespannt werden. In einem in der Nähe gelegenen Häuserblock hatte eine Frau nachts ihren Mann mit Petroleum übergössen und dann angezündet; es war nicht zu denken! In Amerika setzte man Leuten, die das Augenlicht verloren hatten, schon Glasaugen ein, mit denen sie wirklich sehen konnten, aber es kostete noch sehr viel Geld und war nur etwas für Milliardäre. Solche fesselnden Nachrichten hörte Rachel, freilich nicht alle auf einmal, schon wenn sie bloß beim Speisen saß. Trat sie danach auf die Straße, so war von derartigen Ungeheuerlichkeiten wohl nichts zu bemerken, alles floß in Ordnung hin und stand genau so da wie am Tag vorher; aber kochte nicht die Luft in diesen Sommertagen, gab der Asphalt nicht heimlich unter dem Fuß nach, ohne daß Rachel sich klar machen mußte, daß ihn die Sonne erweicht habe? Die Heiligen reckten die Arme auf den Kirchendächern und hoben die Augen empor, daß man annehmen mußte, es gebe überall etwas Besonderes zu sehn. Die Schutzleute trockneten sich den Schweiß vor Anstrengung, inmitten der Bewegung, die um sie tobte, Fuhrwerke hielten im schärfsten Lauf jäh an, weil eine alte Frau über die Straße ging und beinahe überfahren worden wäre, weil sie auf nichts achtete. Wenn Rachel zu Hause in ihrem kleinen Zimmer ankam, fühlte sie ihre Neugierde von dieser leichten Nahrung gesättigt, sie nahm ihre Wäsche vor, um sie auszubessern, oder änderte ein Kleid oder las einen Roman - denn sie hatte mit Staunen vor der Weltleitung die Einrichtung der Volksbüchereien kennengelernt -, ihre Wirtin trat ein und plauderte ehrerbietig mit ihr, denn Rachel hatte Geld, ohne zu arbeiten und ohne daß man irgendetwas von schlechtem Lebenswandel merkte, und so ein Tag war, um, ehe sich Zeit fand, das geringste zu vermissen, und goß seinen Inhalt, voll bis zum Rand von Spannendem, in die Träume der Nacht aus.

Freilich hatte Ulrich vergessen, Rachel rechtzeitig Geld zu schicken oder sie zu sich zu bestellen, und sie hatte schon anfangen müssen, die kleinen Ersparnisse aus ihrem Dienst zu verbrauchen. Aber sie machte sich keine Sorge, denn Ulrich hatte ja versprochen, sie einstweilen zu schützen, und zu ihm hinzugehen, um ihn zu erinnern, kam ihr ganz und gar unpassend vor. In allen Märchen, die sie kannte, gab es etwas, das man nicht sagen oder nicht tun durfte; und gerade das wäre es gewesen, wenn sie zu Ulrich gegangen wäre und ihm gesagt hätte, daß sie kein Geld mehr habe. Damit soll keineswegs behauptet sein, daß sie das ausdrücklich dachte, daß ihre Lebensführung ihr märchenhaft vorkam oder daß sie überhaupt an Märchen glaubte. Im Gegenteil, so war die Wirklichkeit beschaffen, die sie nie anders kennengelernt hatte, wenn es auch noch niemals derart schön gewesen war wie jetzt. Nun gibt es Menschen, denen das erlaubt ist, und 807

solche, denen es verboten ist; die einen sinken von Stufe zu Stufe und enden im äußersten Elend, die anderen werden reich und glücklich und hinterlassen viele Kinder. Zu welcher von beiden Gruppen Rachel gehörte, war ihr niemals gesagt worden; den beiden Menschen, die ihr den Unterschied hätten erklären können, hatte sie nie gezeigt, daß sie träume, sondern hatte fleißig gearbeitet, bis auf die zwei unbeabsichtigten Fehltritte, die so große Folgen gehabt hatten. Und eines Tages meldete ihr wirklich ihre Wirtin, daß, während sie zum Essen gegangen war, eine feine Dame nach ihr gefragt habe und angekündigt habe, daß sie nach einer Stunde wiederkehre. Rachel gab angstvoll die Beschreibung Diotimas; aber die Dame, die sie gesucht habe, sei ganz entschieden nicht groß gewesen, behauptete die Wirtin, und auch nicht stark, auch dann nicht, wenn man unter stark nicht dick meine. Die Dame, die Rachel suchte, war ganz entschieden eher klein und mager zu nennen.

Und wirklich, die Dame war schlank, klein und kehrte schon nach einer halben Stunde wieder. Sie sagte

«Liebes Fräulein» zu Rachel, nannte Ulrichs Namen und zog einen größeren, eng zusammengefalteten Betrag Geldes aus ihrem Täschchen, den sie Rachel im Auftrage ihres Freundes übergab. Dann begann sie ihr eine schwierige und aufregende Geschichte zu erzählen, und Rachel war noch nie in ihrem Leben von einer Unterhaltung so gefesselt worden. Es gebe einen Mann, erzählte die Dame, der von seinen Feinden verfolgt werde, weil er sich edelmütig für sie geopfert habe. Eigentlich nicht edelmütig; denn er mußte es tun, es war sein inneres Gesetz, jeder Mensch hat ein Tier, dem er innen ähnlich sieht, - «Sie, zum Beispiel, Fräulein» - sagte die Dame — «haben entweder eine Gazelle oder eine Schlangenkönigin, das läßt sich nicht immer auf den ersten Blick sagen. »

Wenn das nun etwa die Köchin in der Küche bei Diotima behauptet hätte, so möchte es auf Rachel keinen oder einen ungünstigen Eindruck gemacht haben; aber es wurde von einer Frau gesagt, die in jedem Wort die Sicherheit einer gnädigen Frau ausströmte, diese Gabe des Herrschens, die jeden Zweifel als eine Achtungsverletzung erscheinen ließe; also war für Rachel das Ereignis gegeben, daß eine Gazelle oder eine Schlangenkönigin zu ihr in Beziehungen stand, die vorläufig noch zu hoch für sie waren, aber wohl in irgendeiner Weise erklärt werden konnten, denn ähnliches hört man ja manchesmal. Rachel fühlte sich von dieser Neuigkeit geladen wie eine Bonbonniere, die man im Augenblick noch nicht öffnen kann.

Der Mann, der sich geopfert habe, fuhr die Dame fort, trage einen Bären in sich, das heißt, die Seele eines Mörders, und bedeute, daß er den Mord auf sich genommen habe, allen Mord, den an den ungeborenen und verhinderten Kindern, den feigen Mord, den die Menschen an ihren Talenten begehen, und den Mord auf der Straße durch die Fuhrwerke, Radfahrer und Bahnen. Clarisse fragte Rachel - denn natürlich war es Clarisse, die da sprach -, ob sie den Namen Moosbrugger schon gehört habe. Nun, Rachel hatte, obgleich sie ihn später wieder vergaß, Moosbrugger geliebt und gefürchtet wie einen Räuberhauptmann, damals, als er alle Zeitungen in Schrecken setzte und bei Diotima öfters von ihm gesprochen wurde; also fragte-sie gleich, ob es sich um ihn handle.

Clarisse nickte. «Er ist unschuldig!» Zum erstenmal hörte das Rachel nun von einer Autorität, was sie sich selbst früher oft gedacht hatte.

«Wir haben ihn befreit» fuhr Clarisse fort. «Wir, die Verantwortlichen, die mehr erkennen als die übrigen.

Aber wir müssen ihn nun verbergen. » Clarisse lächelte, und so eigentümlich und doch beseligend freundschaftlich, daß das Herz Rachel in die Höschen fallen wollte, aber unterwegs stecken blieb, ungefähr in der Gegend des Magens. «Wo verbergen?» stammelte sie blaß.

«Die Polizei wird ihn suchen, » erklärte Clarisse «er muß also irgendwohin, wo ihn kein Mensch vermuten kann. Das beste wäre, Sie würden ihn als Ihren Mann ausgeben. Er müßte ein Stockbein tragen, das läßt sich leicht vortäuschen, oder irgendetwas, und Sie würden einen kleinen Laden mit anschließendem Wohnraum aufnehmen, damit es so aussieht, wie wenn Sie damit Ihren invaliden Ehemann ernährten, der das Haus nicht verlassen kann. Das Ganze dauert nur ein paar Wochen, und ich könnte Ihnen mehr Geld dafür geben, als Sie brauchen. »

«Aber warum nehmen Sie ihn denn nicht zu sich, gnädige Frau!?» wagte Rachel dem entgegenzuhalten.

«Mein Mann ist nicht eingeweiht und würde mir das nie erlauben» antwortete Clarisse und fügte die Lüge hinzu, daß der Vorschlag, den sie gemacht habe, von Ulrich ausgehe.

«Aber ich fürchte mich vor ihm!» rief Rachel aus.

«Das ist schon richtig» meinte Clarisse. «Aber, liebes Fräulein, alles Große ist furchtbar. Viele große Männer sind im Irrenhaus gewesen. Es ist unheimlich, sich mit jemand auf gleich zu stellen, der ein Mörder 808

ist; aber sich mit dem Unheimlichen gleichzustellen, ist der Beschluß zur Größe!»

«Aber will denn er überhaupt?» fragte Rachel. «Kennt er mich? Will er mir nichts tun?»

«Er weiß doch, daß Sie ihn retten wollen. Denken Sie, er hat in seinem Leben nur Ersatzweiber gekannt; Sie verstehen, was ich meine. Er wird glücklich darüber sein, daß eine wirkliche Frau ihn schützt und aufnimmt; und er wird Sie mit keinem Finger berühren, wenn Sie es ihm nicht erlauben. Dafür stehe ich Ihnen gut! Er weiß, daß ich die Kraft habe, ihn zu bezwingen, wenn ich will!»

«Nein, nein!»” Rachel stieß nur dies hervor; sie hörte auch von allem, was Clarisse sagte, nur noch die Gestalt der Stimme und Sprache, eine Freundlichkeit und schwesterliche Gleichheit, der sie nicht widerstehen konnte. So hatte noch nie eine Dame zu ihr gesprochen, und doch war gar nichts Gekünsteltes und Falsches daran; Clarissens Gesicht befand sich in einer Ebene mit dem ihren und nicht in der Höhe wie das Diotimas; sie sah die Züge arbeiten, namentlich zwei Längsfalten bildeten sich immer wieder von der Nase ausgehend und am Mund hinablaufend; Clarisse kämpfte sichtlich gemeinsam mit ihr um die Lösung.

«Bedenken Sie, Fräulein» sagte Clarisse jetzt. «Der, welcher erkennt, muß sich opfern. Sie haben gleich erkannt, daß Moosbrugger nur zum Schein ein Mörder ist. Also müssen Sie sich opfern. Sie müssen das Mörderische aus ihm herausziehen, und dann kommt das, was Ihrem eigenen Wesen entspricht, dahinter zum Vorschein. Denn Gleiches wird nur von Gleichem angezogen: das ist das unerbittliche Gesetz des Großen!»

«Aber wann sollte das denn sein?»

«Morgen. Ich komme gegen Abend zu Ihnen und hole Sie ab. Bis dahin ist alles geordnet!»

«Wenn noch ein Dritter bei uns wohnen könnte, würde ich es tun» sagte Rachel.

«Ich werde Sie täglich besuchen» sagte Clarisse «und achtgeben; es ist ja das Wohnen nur Schein. Sie dürfen doch auch gegen Ulrich nicht undankbar sein, wenn er einen Dienst von Ihnen braucht!»

Das gab den Ausschlag. Clarisse hatte vertraulich den Taufnamen gebraucht. Rachel kam sich in diesem Augenblick mit ihrer Feigheit ihres Wohltäters unwürdig vor. Die Darstellung, die uns unser Inneres von dem gibt, was wir tun sollen, ist außerordentlich trügerisch und launisch. Rachel kam mit einemmal das Ganze wie ein Scherz vor, ein Spiel, eine Nichtigkeit. Sie würde einen Laden und ein Zimmer haben; wenn sie wollte, konnte sie die Tür dazwischen absperren. Ebenso würde es zwei Ausgänge geben, wie bei den Zimmern auf dem Theater. Der ganze Vorschlag war nur eine Formalität, und es war wirklich übertrieben von ihr, Schwierigkeiten zu machen, wenngleich sie sich grauenhaft vor Moosbrugger fürchtete. Diese Feigheit mußte sie überwinden. Und wie hatte die Dame gesagt? Dann kommt alles das in ihm hervor, was ihrem Wesen entspricht. Wenn er wirklich nicht so furchtbar war, so hatte sie dann doch das, was sie sich früher leidenschaftlich gewünscht hatte.

108 Moosbrugger und Rachel

Mit dem Laden und dem anstoßenden Zimmer und den zwei Ausgängen war es nichts geworden; Clarisse war erschienen und hatte erklärt, daß sich der Miete im letzten Augenblick Schwierigkeiten entgegengestellt hätten; man müsse nehmen, was da sei, die Zeit dränge, und das Schicksal hänge vielleicht von Viertelstunden ab. Sie habe einen anderen Raum gefunden. Ob Rachel ihre Sachen schon eingepackt und beisammen habe? Das Auto warte unten. Es sei leider kein schöner Raum. Und vor allem sei er noch nicht möbliert. Clarisse habe aber schnell das Nötigste hineinstellen lassen.

Jetzt handle es sich aber nur darum, rasch Moosbrugger unterzubringen. Alles andere lasse sich morgen ordnen. Und das Heutige sei nur vorläufig. - Den größeren Teil dieses Berichts stattete Clarisse schon im Auto ab. Die Worte wirbelten. Rachel fand keine Zeit sich zu besinnen. Der Fahrpreisanzeiger, von einem kleinen Lämpchen halb beleuchtet, rückte ohne Aufhören vor; Rachel hörte bei jeder Umdrehung der Räder das Knacksen des Kilometerzählers, so wie wenn ein Gefäß einen Sprung hat und unaufhörlich tropft; Clarisse drückte ihr im Dunkel der alten Droschke einen Haufen Geld in die Hände, und Rachel hatte zu tun, um ihn in ihre Taschen zu stopfen; das Papier quoll dabei auf, einzelne Blätter segelten davon und mußten wieder eingefangen werden; und Clarisse half ihr lachend suchen, und der Rest des langen Wegs war ganz davon ausgefüllt.

Der Wagen hielt in einer abseitigen Gasse vor der baufälligen Front eines alten «Hofs»; das sind tiefe Grundstücke, wo von einem schmalen Gassenteil niedere Flügel nach hinten laufen, mit Werkstätten, 809

Ställen, Hühnern, Kindern, und den kleinen Wohnungen großer Familien, die sich unmittelbar auf den Hof öffnen oder, einen Stock höher, auf einen ins Freie hinaushängenden, von außen alles verbindenden Gang.

Clarisse half Rachel schleppen und schien den Hausmeister vermeiden zu wollen; sie stießen an Wagen, die im Dunkel standen, an Werkzeuge, die überall herumlagen, und an den Brunnen, aber sie kamen unbehelligt bis zu Racheis neuer Wohnung. Clarisse hatte eine Kerze in der Tasche und fand mit ihrer Hilfe eine große Petroleumlampe, an die sie sich erinnert hatte, um sie vom Dachboden ihrer Eltern zu entführen.

Es war ein hohes, in Metall getriebenes Stück, das alle letzten Fortschritte, welche die Petroleumzeit gemacht hatte, kurz ehe sie von der elektrischen Hausbeleuchtung endgültig verdrängt wurde, in sich faßte und das ganze Zimmer, weil der Schirm fehlte, mit massigem Licht füllte. Clarisse war sehr stolz darauf, aber sie mußte eilen, da sie den Wagen an der nächsten Ecke warten ließ, um Moosbrugger zu holen.

Rachel traten die Tränen in die Augen, sowie sie allein war und sich mit ihrer neuen Umgebung vertraut machte. Der dicke weiße Lichtschein war fast das einzige, was es in dem Zimmer gab, außer den schmutzigen Wänden. Aber der Schreck hatte Rachel ungerecht gemacht; bei genauerem Hinsehen fand sich an einer Wand ein schmales Eisenbett, auf dem so etwas wie Bettzeug lag, in einer Ecke war ohne Ordnung eine Anzahl Decken aufgehäuft, die wohl das zweite Lager darstellen sollten, Decken hingen auch vor den Fenstern und der Türe, die ins Freie führte, und bildeten vor einem kleinen, sehr einfachen Tisch eine Art Teppich, auf dem auch noch ein gehobelter Stuhl stand. Rachel setzte sich seufzend darauf und zog ihr Geld hervor, um es in Ordnung zu bringen. Nun erschrak sie wieder, diesmal aber über die Größe, ja den Überfluß des Betrags, den ihr Clarisse im Dunkel des Wagens ohne alle Vorsicht zugesteckt hatte. Sie glättete die Scheine und barg sie in einem Täschchen, das sie am Busen trug. Wenn sie gewußt hätte, daß sie vor dem Tisch saß, an dem Meingast sein großes Werk geschaffen hatte, und daß auch das schmale Eisenbett seines gewesen war, hätte sie vielleicht einiges mehr verstanden. So seufzte sie bloß noch einmal, aber doch schon beruhigter über die Zukunft, und entdeckte auch noch einen alten Herd, einen Spirituskocher und etwas Geschirr, ehe Clarisse mit Moosbrugger zurückkam.

Dieser Augenblick war wie der schreckliche Augenblick beim Zahnarzt, wenn man ins Zimmer gerufen wird, was Rachel bisher nur ein einzigesmal kennengelernt hatte, und sie stand gehorsam auf, als die beiden eintraten.

Moosbrugger ließ sich von Clarisse ins Zimmer führen, wie ein großer Künstler in einen Kreis von Menschen eingeführt wird, die auf ihn warten. Er wollte Rachel nicht bemerken und musterte zuerst den neuen Raum, dann erst, nachdem er nichts auszusetzen hatte, richtete er seinen Blick auf das Mädchen und nickte einen Gruß. Clarisse schien ihm nichts mehr zu sagen zu haben; sie schob ihn, ihre winzige Hand an seinem riesigen Arm, gegen den Tisch zu und lächelte bloß. Sie lächelte so, wie es jemand tut, der alle Muskeln bei einem gewagten Unternehmen anspannen muß und dazu lächeln will, so daß sich die zarten Gesichtsmuskeln scharf zusammenziehen müssen, um sich zwischen der Pressung aller anderen durchzuzwängen. Diesen Ausdruck behielt sie auch bei, als sie ein Pack Eßwaren auf den Tisch stellte und den beiden anderen erklärte, daß sie keine Minute mehr bleiben könne und eilig nach Hause müsse. Sie versprach, am nächsten Morgen gegen zehn Uhr wiederzukehren, und dann solle alles in Ordnung gebracht werden, was im Augenblick noch fehle.

So war nun Rachel mit dem bewunderten Mann allein. Sie deckte den Tisch mit einem Kissenüberzug, da sich kein Tischtuch vorfand, und breitete den Aufschnitt, den Clarisse mitgebracht hatte, auf einem großen Teller aus. Diese Pflichten kamen ihrer Verlegenheit sehr zu Hilfe. Dann sagte sie, das Essen auf den Tisch stellend, in gewähltem Deutsch: «Sie werden Hunger haben»; diesen Satz hatte sie sich inzwischen ausgedacht. Moosbrugger war aufgestanden und bot ihr mit einer galanten Bewegung seiner großen Pratze seinen Platz an, denn es zeigte sich, daß nur dieser eine Stuhl vorhanden war. «Oh danke, » sagte Rachel

«ich esse nicht viel, ich werde mich dorthin setzen!» Sie nahm zwei Scheibchen von dem Teller, den ihr Moosbrugger reichte, und setzte sich damit aufs Bett.

Moosbrugger hatte ein grauenerregend langes Schnappmesser aus der Tasche gezogen und bediente sich damit beim Essen. Er hatte in den Tagen seiner Flucht unregelmäßig und schlecht gegessen und entwickelte großen Hunger. Rachel benützte die Gelegenheit, um ihn zu betrachten; richtiger gesagt, sie mußte das tun, denn sobald sie nur in der Richtung des Tisches sah, wurde ihr ganzes Auge von der Erscheinung dieses Mannes ausgefüllt, ja mehr, seine Erscheinung überfüllte ihr Auge, ging auf allen Seiten über den Rand hinaus, und Rachel konnte ihren Blick richtig spazierenführen; über die ganze Breite der Brust oder von der 810

Tischkante zu dem dichten Schnauzbart, auch von dem Kinn bis zum Dach des mächtigen Schädels war das zum Beispiel ein weiter Weg, und in den rotblonden Haaren der gewaltigen Fäuste konnte man verweilen wie in einem Gebüsch. In Rachel waren einstweilen alle Gedanken und ein Teil der Träumereien wieder zurückgekommen, deren Gegenstand einstens Moosbrugger gewesen War. Vor allem suchte sie sich zu vergegenwärtigen, wie viele Frauen sie jetzt um die Lage beneiden möchten, in der sie sich befand. Für sie war Moosbrugger ein großer und berühmter Mann, ganz der Wahrheit entsprechend, wenn man die Unterschiede des öffentlichen Ruhms beiseite läßt, die zwar gemacht werden, aber keineswegs genau und deutlich sind. Sie übersah nicht das Fürchterliche an diesem Ruhm, der durch blutige, grausame, ja sogar heimtückische Taten erworben war, denn sie zitterte vor Angst, obgleich sie auch vor Aufregung glühte.

Aber wie alle Menschen bewunderte sie an dieser Grausamkeit die Kraft, und wie alle ursprünglichen Menschen setzte sie voraus, daß diese herkulische Kraft in Berührung mit ihr nicht gefährlich sein, sondern sich zum Guten umlenken werde, so daß ihre Furcht ihr nur als kleinmütige äußere Gewohnheit vorkam, während ihre Seele immer tapferer wurde, je länger sie mit Moosbrugger beisammen war. Und in der Tat, wer in der richtigen Beziehung zu Verbrechern lebt, lebt zwischen ihnen so sicher wie zwischen anderen Menschen.

Moosbrugger hatte nicht richtig gefunden, sich bei einem so wichtigen Geschäft, wie es das Essen ist, durch die Blicke des Mädchens stören zu lassen. Nun aber lehnte er sich nach getaner Arbeit zurück, klappte sein Messer zu, strich die Reste von seinem Schnurrbart und sagte: «Na, kleines Fräulein, jetzt wäre wohl ein Glas Schnaps nicht ohne - »

Rachel beeilte sich, ihm zu versichern, daß keine alkoholischen Getränke im Hause seien, und sie fügte die Lüge hinzu, daß Clarisse ihr auch aufgetragen habe, keine anzuschaffen.

Moosbrugger hatte es gar nicht so ernst gemeint. Er war kein Trinker, ja er hütete sich selbst vor dem Alkohol, dessen unberechenbare Wirkung er fürchtete. Aber er hatte monatelang keinen Tropfen gesehn und hatte sich nach der reichlichen Mahlzeit gedacht, es wäre nicht übel, an diesem langweiligen Abend einen zu versuchen. Er ärgerte sich über die Abweisung. Diese Weiber setzten ihn ja ordentlich gefangen.

Aber er ließ es sich nicht merken und nahm sich vor, die Unterhaltung in bester Form fortzusetzen.

«Da wären wir also sozusagen wie Mann und Frau bis auf weiteres, kleines Fräulein, » begann er «wie soll ich dich denn nennen?» Er gebrauchte das natürliche Du der einfachen Leute; es war Rachel nicht unangenehm, aber ebenso natürlich blieb sie beim Sie. «Ich heiße Rachel oder Rachèle, wie Sie wollen. »

«Oh, lala, Rachele, alle Achtung!» Er sprach den französischen Namen zweimal mit Genuß aus. — «Und Rachel war die schönste Tochter Labans» - er lachte galant.

«Erzählen Sie mir, wie Sie die Maurer besiegt haben!» bat Rachel. Um etwas noch Aufregenderes traute sie sich nicht zu bitten.

Moosbrugger wandte sich ab und drehte eine Zigarette. Er war beleidigt. In seinen Kreisen galt so eine Frage für eine unerlaubte Vertraulichkeit bei flüchtiger Bekanntschaft. Er rauchte mehrere Zigaretten hintereinander. Er langweilte sich. Unbedeutende, zudringliche Frauenzimmer waren nichts für ihn. Er wurde schläfrig. Er war es jetzt aus dem Gefängnis und der Anstalt gewohnt, sehr früh zur Ruhe zu gehn.

Rachel ärgerte sich darüber, daß er so rücksichtslos rauchte. Sie hatte wohl auch das Gefühl, etwas schlecht gemacht zu haben, aber sie wußte nicht was.

Moosbrugger stand auf, vertrat sich die Beine und gähnte. «Wollen Sie zur Ruhe gehn?» fragte Rachel.

«Was soll man sonst anfangen!» meinte Moosbrugger. Er besah das Bett; dann, in Erinnerung an die Gebote der Ritterlichkeit, wandte er sich in die Ecke, wo die Decken lagen.

«Schlafen Sie doch im Bett. Sie brauchen Erholung» sagte Rachel.

«Nein, im Bett kannst du schlafen. » Er legte seinen Rock ab. Rachel geriet in Verlegenheit, als Moosbrugger aus den Hosen fuhr. Aber so, wie er dann war, legte er sich auf die Decken und zog eine davon über sich. Rachel wartete eine Weile, dann blies sie das Licht aus und entkleidete sich im Dunkel.

In der Nacht fürchtete sie sich wieder; sie bildete sich ein, wenn sie einschlafe, könnte es so kommen, daß sie überhaupt nie mehr erwache. Aber dann schlief sie doch bald ein und erwachte, wie der Morgen ins Zimmer schien. In der Ecke lag Moosbrugger, zugedeckt, wie ein großer Berg. Im Haus war noch alles still.

Rachel benutzte das, um vom Brunnen Wasser zu holen. Sie reinigte auch ihre und Moosbruggers Schuhe draußen im Hof. Als sie leise wieder zur Türe her-einschlüpfte, sagte ihr Moosbrugger guten Morgen.

«Wollen Sie Kaffee, Tee oder Schokolade?» fragte sie ihn. Moosbrugger war ganz erstaunt darüber. Er 811

sagte Kaffee, aber die Entscheidung fiel ihm wirklich nicht leicht. Auch gefiel ihm Rachel jetzt bei Tag besser als gestern abend; sie hatte etwas Feines und Gebildetes in ihrer Erscheinung. Er gab sich Mühe beim Ankleiden und drehte sich erst wieder von der Wand fort, als er ganz fertig war.

«Waren Sie mir gestern abend böse?» fragte Rachel, die seine Aufgeräumtheit bemerkte.

«Ach, Weiber wollen immer alles wissen, aber wenn du willst, kann ich dir ja die Geschichte von den Maurern erzählen. Du wirst daraus sehen, wie die Leute sind; alle sind sie gleich. Und was hast du bis jetzt gemacht?»

«Ich war in einem sehr vornehmen Haus, man hat mich dort wie eine Tochter gehalten. »

«Na, und warum bist du dann hinausgeflogen?»

«Oh!» sagte Rachel und war keineswegs entschlossen die Wahrheit zu sagen. «Wissen Sie, der Herr in diesem Haus ist ein sehr hoher Diplomat, und da war eine Geschichte mit einem Mohrenprinzen - »

«Du bist wohl schwanger?» fragte Moosbrugger mißtrauisch.

«Pfui!» rief Rachel empört. «Sie erlauben sich zu viel, wenn Sie so zu mir sprechen! Hätte die Dame Sie mir anvertraut?!»

Sie gefiel Moosbrugger ganz entschieden. Sie war etwas Besseres, das konnte man hören und sehen. Wenn er die Weiber überlegte, die er kannte: etwas so Feines hatte er noch nie gehabt. «Na, schon gut» meinte er.

«Ich habe dich nicht beleidigen wollen. Und die Geschichte mit den Maurern, die war so: -»

Er erzählte sie ihr umständlich und würdevoll, samt allen Ränken und Bestechungen, denen ein Mann wie er bei Gericht begegnet, und weil sie eine Bekanntschaft mit einem Mohrenfürsten erwähnt hatte, so wollte er nicht zurückstehn und erzählte auch noch seinen Marsch nach Konstantinopel.

«Da haben die Türken mehrere Frauen?» fragte Rachel.

«Nur die reichen. Aber darum taugen die Türken auch nichts» gab Moosbrugger mit galantem Lächeln zur Antwort. «Schon von einer Frau wird ja der Mann ruiniert!»

«Haben Sie schlechte Erfahrungen mit Frauen gemacht?» fragte Rachel, während ihr Blut Kreise schlug wie der Schweif einer lauernden Katze.

Moosbrugger sah sie prüfend an und wurde ernst. «Ich habe in meinem ganzen Leben nur schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn ich mein Leben schreiben wollte, würden manchem die Augen aufgehn!»

«Das sollten Sie tun!» schlug Rachel begeistert vor.

«Mir ist das Schreiben viel zu unbequem!» sagte Moosbrugger stolz und dehnte seine Schultern aus. «Aber du bist ja ein gebildetes Fräulein. Vielleicht erzähl ich dir noch was. Dann kannst du’s schreiben. »

«Ich habe noch nie ein Buch geschrieben!» erwiderte Rachel bescheiden; aber zumute war ihr, wie wenn man ihr angeboten hätte, Sektionschef Tuzzis Stelle zu übernehmen. Und dieser Mann vor ihr war kein Schwätzer; der hatte bewiesen, daß er für seine Worte einstehen konnte.

So verging die Zeit in angeregtem Gespräch, und es wurde zehn Uhr, ohne daß Clarisse kam.

Moosbrugger zog seine große dicke Nickeluhr aus der Weste und stellte fest, daß es fünf Minuten nach halb elf sei.

Als sie das nächste Mal nachsahen, war es sieben Minuten vor elf.

«Sie wird nicht mehr kommen, ich hab mir das gleich gedacht» sagte Moosbrugger.

«Aber sie muß doch kommen» sagte Rachel.

Das Gespräch wurde wortkarg. Sie waren früh erwacht und hatten das Zimmer nicht verlassen, das Eingesperrtsein machte sie müde. Moosbrugger stand auf und dehnte sich. Rachel erklärte sich endlich bereit, etwas zum Essen zu besorgen, ohne länger zu warten. Aber vorher mußte Moosbrugger den grünen Augenschirm aufsetzen und das Holzbein umschnallen, falls in Racheis Abwesenheit ein Fremder in die Wohnung käme; Holzbein und Augenblende waren ein Vermächtnis Clarisses. Es war gar nicht einfach, mit dem an den Schenkel zurückgeklappten und angebundenen Bein, an dessen Knie die Holzstelze saß, durch die Hose zu fahren; Moosbrugger mußte den Arm um Racheis Nacken legen und zog sie bei dieser Gelegenheit ein bißchen an sich.

Er humpelte über eine Viertelstunde allein in der Wohnung auf und ab, es war ekelhaft langweilig; dann kochte Rachel, aber sie konnte nicht viel kochen, und das Essen war auch nicht gerade lustig. Moosbrugger bekam diese Zurückgezogenheit allmählich satt, aber er sah ein, daß er sie noch lange nicht aufgeben dürfe.

Er wollte ein wenig schlafen, damit die Zeit vergehe, gähnte wie ein Löwe und setzte sich auf das Bett, um das verdammte Bein abzuschnallen, das ihm das Blut in den Kopf trieb. Rachel mußte ihm helfen. Und wie 812

er wieder den Arm um ihre Schulter legte, dachte er, daß sie doch eigentlich seine Frau sei für diese Zeit.

Sicherlich hatte sie nie etwas anderes von ihm erwartet und sich lustig über ihn gemacht, gestern, als er so ohne weiteres zur Ruhe ging. Als das Holzbein zur Erde fiel, legte er Rachel mit dem Arm, den er um ihre Schulter hatte, zurück aufs Bett und zog sie ein wenig daran hoch, bis ihr Kopf auf ein Kissen zu liegen kam.

Rachel wehrte sich nicht. Sein großer Bart senkte sich auf ihren Mund. Aber ihr kleiner Mund kam ihm entgegen. Ging gleichsam in diesen Bart hinein wie in einen Wald und suchte darin den Mund. Als der Mann sich an ihr hinaufschob, kam Rachel beinahe mit dem Gesicht unter seine Brust zu liegen und mußte mit dem Kopf seitwärts ausweichen, um atmen zu können; ihr war, wie wenn sie von Erde verschüttet wäre, die vulkanisch zuckte. Die wirklich großen körperlichen Erregungen entstehen durch die Einbildungskraft; Rachel erblickte in Moosbrugger nicht einen Helden, wie die Erde keinen zweiten trug, - denn das Vergleichen und Überlegen hätte dann die Einbildungskraft schon getötet, - sondern den Held, und das ist ein Begriff, der weniger bestimmt ist, aber mit dem Ort und dem Augenblick, wo er auftritt, verschmilzt und mit dem Mensehen, der ihn bewundert. Wo Helden sind, dort ist auch noch die Welt weich und glühend und der Zusammenhang der Schöpfung nicht zerrissen. Das abenteuerliche Zimmer mit verhängten Fenstern sah mit einemmal wie die Höhle eines großen Räubers aus, der sich dahin vor der Welt zurückzieht. Rachel fühlte ihre Brust unter einem gewaltigen Druck liegen; das Huschende, das zu ihrem Wesen gehörte, wurde in diesem Augenblick von einer übermächtigen Kraft festgehalten und zum Dulden gezwungen; ihr Oberleib konnte sich dabei so wenig rühren, wie wenn er unter die Eisenräder eines Lastwagens geraten wäre, und diese Lage würde quälend geworden sein, hätte nicht alle Freiwilligkeit und Selbständigkeit, deren ihr Körper fähig war, sich in den Hüften versammelt, wo ein Riese mit Wolken kämpfte, die ihn unerachtet ihrer Ohnmacht immer wieder umschlangen und in ihrer Weise ebenso stark waren wie er in der seinen. Ein Wunsch, den Rachel noch nie in ihrem Leben empfunden, ja noch nie geahnt hatte, drückte in ihrem Kopf und öffnete von da die ganze Person: sie wollte einen Helden empfangen und gebären. Ihre Lippen blieben staunend geöffnet, ihre Glieder blieben liegen, wo sie lagen, als sich Moosbrugger erhob, und ihre Augen blieben von einem bläulich gelben Hauch, wie ihn Waldschwämme annehmen, wenn man sie bricht, noch lange überzogen. Sie stand erst auf, als es Zeit wurde, Licht zu machen und an das Abendbrot zu denken; bis dahin hatte sie in einer Art Gedankenlosigkeit auf eine Fortsetzung gewartet, die sie sich nicht vorzustellen vermochte und keineswegs bloß als eine Wiederholung dachte. Für Moosbrugger war die Angelegenheit übrigens bis auf weiteres erledigt. Menschen, die bei Gelegenheit Sexualverbrechen begehen, sind, wie man weiß, in gewöhnlichen Zeiten nichts weniger als üppige Liebhaber, da ihre Verbrechen, soweit sie nicht äußeren Einflüssen entspringen, ja nichts anderes ausdrücken als die Unregelmäßigkeit ihrer Begierde. Moosbrugger empfand nichts als Langeweile, während Rachel vernichtet auf dem Bett lag. Nun war also nach seiner Ansicht auch noch das vorbei, das dem Beisammensein eine gewisse Spannung verliehen hatte, ehe man daran dachte.

Clarisse kam nicht, sie kam auch am nächsten Tag nicht; sie kam überhaupt nicht mehr.

Moosbrugger rauchte Zigaretten und gähnte. Rachel legte ihm ein paarmal den Arm um den Hals und die Hand ins Haar, er schüttelte sie ab. Er zog sie auf seinen Schoß und stellte sie gleich danach wieder auf die Beine, weil er es sich anders überlegt hatte. Was er außer Langeweile fühlte, war, daß man ihn beleidigt hatte. Diese Frauen hatten ihn wie einen Jungen aus der Schule geholt und nach Hause begleitet; er hatte dieses Bild manchesmal beobachtet und sich dabei gedacht, daß aus solchen Söhnchen nie etwas Tüchtiges werden könne. Aber er sah ein, daß er vorläufig nachgeben müsse; er durfte sich nicht auf die Straße traun, solange der Eifer der Polizei noch frisch war, und Freunde aufzusuchen, war schon gar nicht ratsam. Er ließ sich von Rachel Zeitungen bringen und suchte, was man über ihn sage; er war jedoch mit seiner Presse diesmal nicht zufrieden, die Blätter taten seine Flucht mit drei bis fünf Zeilen ab. Er wußte, daß Rachel ebenso niedergeschlagen davon war, daß Clarisse sich nicht zeigte, wie er selbst; aber der Unwille, der sich in ihm anhäufte, wenn er Rachel auch nicht als seine Ursache ansah, so lagerte er sich doch um sie, als die gegenwärtige Stellvertreterin Clarissens. Rachel begriff den Fehler, daß sie sich auch weiterhin weigerte, Alkohol zu bringen; hätte sie es, übrigens, getan, so wäre auch das ein Fehler gewesen. Moosbrugger schwieg nach solcher Weigerung, aber die Beleidigungen, denen er ausgesetzt war, bildeten mit der Sehnsucht nach einem Wirtshaus und der faden Langeweile zusammen einen Knäuel von Widerwärtigkeit, als dessen Spindel ihm das dünne Mädchen vorkam, das sich den ganzen Tag um ihn bewegte. Er sprach nur das Nötigste und ließ alle Versuche Racheis, das Gespräch wieder auf die Höhe des ersten Morgens zu 813

bringen, unberücksichtigt. Dazu noch von ihren eigenen Sorgen gepeinigt, war Rachel sehr unglücklich.

Nach wenigen Tagen kam es zu dem ersten Auftritt zwischen ihr und ihm. Als das Abendbrot und auch eine Weile des Gähnens vorbei waren, zog Moosbrugger das kleine Geldtäschchen, aus dem Rachel den täglichen Bedarf beglich, an sich, und suchte mit seinen dicken Fingern ein Geldstück herauszufischen.

Rachel, die sofort begriff, was er wolle, aber ihm die Börse nicht rechtzeitig hatte entziehen können, lief um den Tisch und fiel ihm in den Arm. «Nein, » rief sie aus, «Sie dürfen nicht ins Wirtshaus gehn! Man wird -

» Aber sie kam nicht dazu, diesen Satz zu vollenden, denn Moosbruggers Arm schob sie so streng zur Seite, daß sie das Gleichgewicht verlor und alle Mühe aufwenden mußte, um nicht zu fallen. Moosbrugger setzte seinen Hut auf und verließ das Zimmer, so unnahbar wie eine große Steinfigur.

Rachel überlegte verzweifelt, was sie zu tun habe. Sie beschloß, den Kampf gegen Moosbruggers Unklugheit aufzunehmen. Sie warf sich vor, daß sie sich durch sein verändertes Benehmen habe erschrecken lassen, und in der Einsamkeit des Nachdenkens kam ihr dieses Benehmen begreiflich vor. Als die Schwächere hatte sie es leicht, die Klügere zu sein, aber sie mußte alles daransetzen, ihm begreiflich zu machen, daß sie es in diesem Falle auch wirklich sei, und wenn er das einsähe, würde er sich wohl auch mit seiner Lage ein wenig befreunden, denn Rachel begriff ganz gut, daß das keine Lage für einen Helden war.

Aber Moosbrugger war, als er nachhause kam, betrunken. Die Stube füllte sich mit üblem Geruch, sein Schatten tanzte an den Wänden; Rachel war entgeistert, und ihre Worte liefen in spitzen Vorwürfen diesem Schatten nach, ohne daß sie es selbst wollte. Moosbrugger war auf ihrem Bett gelandet und winkte ihr mit dem Finger. «Nein, niemals wieder!» schrie Rachel. Moosbrugger zog eine Flasche aus der Brust, die er mitgebracht hatte. Er war schon vor elf Uhr aus der Wirtschaft aufgebrochen und war bloß zu einem Drittel von Schnaps gefüllt, zum zweiten von schlechtem Gewissen und zum dritten von Ärger über seinen Aufbruch. Rachel ließ sich verleiten, sich auf ihn zu stürzen, um ihm die Flasche zu entreißen. In diesem Augenblick glaubte sie, daß ihr Kopf zerberste, die Lampe drehte sich, und ihr Körper verlor allen Zusammenhang mit der Welt; Moosbrugger hatte ihr Zustürzen mit einem gewaltigen Tatzenschlag in ihr Gesicht abgewehrt, und als Rachel zu sich kam, lag sie weit von ihm entfernt auf der Erde, zwischen den Zähnen sickerte etwas hervor, und Oberlippe und Nase schienen schmerzhaft zusammengewachsen zu sein.

Sie sah, wie Moosbrugger immer noch die Flasche betrachtete, dann schmetterte er diese unwirsch zur Erde, stand auf und blies das Licht aus. Ob mit Willen oder bloß in seiner Trunkenheit, Moosbrugger hatte das Bett besetzt, und Rachel kroch weinend auf den Deckenhaufen, in dessen Nähe sie hingestürzt war. Die Schmerzen in ihrem Gesicht und Körper ließen sie nicht schlafen, sie getraute sich aber nicht, Licht zu machen und sich Umschläge zu bereiten. Es war ihr kalt, die Schande erfüllte ihren Kopf mit einem Zustand, der ganz der gehaltlosen Unruhe von Fieberphantasien glich, und der ausgeronnene Schnaps überzog den Boden mit einem lähmenden, ekligen Dunst. So gut sie es vermochte, überlegte sie während der ganzen Nacht, was zu geschehen habe. Sie mußte Clarisse finden, aber sie hatte keine Kenntnis, wo Clarisse wohne.

Sie wollte fortlaufen, aber dann sagte sie sich wieder, daß sie Clarissens Vertrauen täuschen würde, wenn sie Moosbrugger im Stich ließe, ehe diese wiedergekommen sei, sie hatte doch Geld dafür bekommen. Es fiel ihr auch ein, daß sie Ulrich aufsuchen könnte, aber sie schämte sich und verschob das auf später. Sie war noch nie geschlagen worden, aber wenn man von dem Schmerz absah, so war es nicht so schlimm; es drückte einfach die Tatsache aus, daß sie schwächer war als dieser Riese, den sie liebte, daß ihre Beschwörungen nicht bis zu seinem Ohr drangen und daß sie vorsichtig sein mußte; er wollte ihr nichts Ernstes tun, das sah sie wohl, und das Unangenehmste blieb die Angst, die sie vor einer Wiederholung ihrer Züchtigung hatte, denn diese Vorstellung nahm ihr allen Mut aus der Brust und machte sie ganz elend.

So kam der Tag, ehe sie mit sich fertig war. Moosbrugger erhob sich, und schlotternd vor innerer Leere, mußte sie seinem Beispiel folgen. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, daß Mund und Nase stark angeschwollen waren, inmitten eines grüngelb entfärbten, halb ausgelöschten Gesichts; der Zauber dieser Nacht hatte Rachel häßlich und anspruchslos gemacht. Weder sie noch Moosbrugger sagten etwas.

Moosbrugger hatte einen wirren Kopf, er hatte im Schlaf den Schnaps gerochen und war mit dem Gefühl aufgewacht, nicht genug getrunken zu haben. Als er Racheis angelaufenes Gesicht sah, ahnte er etwas von dem, was gestern vor sich gegangen war; eine dunkle Erinnerung, daß sie sich herausfordernd betragen habe, hielt ihn davon ab, sie zu fragen. Er hätte sie aber gerne gefragt; eigentlich wußte er bloß nicht, wie er es anstellen solle. Und Rachel wartete auf ein gutes Wort von ihm, wie nur irgendein verliebtes Mädchen wartet; als er sich schweigend bedienen ließ, wurde sie immer trotziger. Moosbrugger wäre am liebsten 814

gleich wieder in die Kneipe gegangen, aber er hatte vor diesem Mädchen Angst, das ihm wieder einen Auftritt machen möchte, und er konnte sie doch nicht immerzu schlagen. Ihre vom Heulen ver-schwollenen Augen widerten ihn noch mehr an als der aufgequollene Mund, der sichtbar wurde, wenn sie das Tuch, das sie daran hielt, von neuem näßte. Er sei ja wohl schuld, sagte er sich, alles was richtig ist, aber gleich am Morgen das wieder um sich zu haben, sei ihm zu viel. Der zarte Rücken Racheis und ihre schlanken Arme, die sie beim Waschen jetzt zeigte, der Teufel sollte sie holen, ihm gefielen sie nicht und kamen ihm wie Hühnerknochen vor.

Er faßte alles in allem so zusammen, daß er sich in einer sehr dummen Lage befinde, aber möglichst in Ehren ausharren müsse. Er ging abends ins Wirtshaus, das hatte er beschlossen, in dieser Gegend, wo man ihn nicht kannte, zu wagen, und Rachel traute sich nicht mehr, das Geld zu verweigern, oder bei diesem Anlaß Vorwürfe zu machen. Auch dann nicht, als er Karten zu spielen begann und dazu mehr Geld brauchte.

In der Kneipe fand man leidlich gute Gesellschaft, in dieser Weise, dachte Moosbrugger, könne man ausharren, wenn man bei Tag recht viel schlafe. Aber Rachel schlief bei Tag nicht und störte ihn wie eine Fledermaus. Einigemale fing er sie. Einigemale machte er auch den Versuch, ein besseres Leben zu beginnen und mit ihr als mit einem kleinen Fräulein zu sprechen, das sie ja auch war. Aber da zeigte sich, daß Rachel nicht mehr konnte. Sie antwortete ausweichend und einsilbig. Wenn Moosbrugger den Mund öffnete, erstarrte sie, ohne es zu wollen; denn sie hätte gern mit ihm gesprochen, aber er hatte etwas Fremdes in sie geschüttet, Gewalt, und der Brunnen, aus dem alles Sagenswerte kommt, war zugefroren. So blieb Moosbrugger nichts übrig, als sich zur Wand zu drehen.

Aber es gab einen Augenblick, wo sie jedesmal sprach, und das war, wenn Moosbrugger vom Wirtshaus zurückkehrte. Wenn er nicht betrunken war, schwieg er dazu oder brummte bloß unverständliche Antworten, und Rachel verfolgte ihn bis in den Schlaf mit Vorwürfen seines Leichtsinns. Er hatte sie in der Spannung geschlagen, der sehr unangenehmen, die in ihm herrschte, solange er sich verlockt fühlte, das Haus zu verlassen, und sich noch nicht dazu entschließen konnte; jetzt, wo er einstweilen damit im Gleichgewicht war, zeigte er sich fein und artig; und Rachel, die herausfühlte, daß sie keine Gefahr laufe, wagte sich immer weiter vor. Er blieb bloß von einem Tag zum anderen länger aus, in dem Wunsch, erst zurückzukehren, wenn sie eingeschlafen sei. Aber Rachel hatte eine merkwürdige Art Schlaf angenommen.

Wenn er mit der Dunkelheit das Haus verließ, schlief sie augenblicklich ein, und wenn er zurückkehrte, wachte sie auf und mit einer Sicherheit, als sei das nur die Fortsetzung ihres Schlafs, begann sie mit ihm zu zanken. Ihre arme Seele, dazu verurteilt, mit Überlegung und Gedanken ihre Lage nicht auflösen zu können, ließ sich dann von den trunkenen Kräften des Schlafs emporheben.

«So ein Hendl!» dachte Moosbrugger von ihr, und die Beleidigung, daß solch ein mageres Huhn tagaus, tagein um ihn herumscharren dürfe, wurmte ihn. Aber Rachel, als wüßte sie, wie er von ihr denke, und ohne daß er es je ausgesprochen hätte, fast wie in einer somnambulen Übereinstimmung mit dem schweigsamen Mann, der nachts durch das Zimmer tappte, fühlte eine unbezwingbare Lust zu gackern und zu zanken. Und wenn Moosbrugger betrunken heimkam, was ja auch nicht gerade selten geschah, so war sein Schwanken und Stolpern wie ein großes Schiff, das auf den gleichen Wellen tanzte wie die kleinen, aufgeregten Sätze des Mädchens. Und wenn dem gewaltig betrunkenen Christian Moosbrugger ein Satz zu nahe ging, so schnappte er. Wie gesagt, es war nie wieder der unbedachte Zorn wie beim erstenmal, wo eine Bewegung seiner Hand Rachel beinahe zerschmettert hätte, aber er wollte dieses schreiende, sich gegen ihn auflehnende Kind zur Ruhe bringen, und mit vorsichtig bemessener Gewalt, so wie ein Betrunkener den Schritt über den Rinnstein ausmißt, ließ er seine Hand auf sie fallen. Wenn Rachel geschlagen wurde, war sie augenblicklich still. Ein maßloses Staunen befiel sie wie bei einer ganz unerwarteten abschließenden Antwort. Sie war, seit sie das Elternhaus hinter sich gelassen hatte, nicht religiös; nach ihrem Werdegang erschien ihr Religion als eine Sache für unfeine Leute: aber wenn ein Elohim oder besser ein böser Geist plötzlich auf einer Bank im Stadtpark zwischen den geputzten Menschen gesessen wäre, gerade so kam es ihr vor, wenn sie geschlagen wurde. Es zog sie in die Nähe, diesen bösen Geist noch einmal zu betrachten, und sie suchte ihn in Bewegung zu bringen. Dann öffnete sie eben wieder den Mund und sagte etwas, wovon sie ebenso sicher wußte, daß es Moosbrugger reizen könnte, wie daß es, wenn er es befolgen wollte, das richtige zu seinem Heil wäre. Dann schlug sie Moosbrugger mit dem Rücken der Hand auf die Wange oder stieß sie an die Wand. Und Rachel, obgleich schon wieder staunend, fand noch ein Wort, spitz und eindringlich wie eine Stricknadel. Und Moosbrugger mußte natürlich darauf die Gabe größer machen. Und 815

dieser Riese, der nicht erschlagen will, schlägt sie wild über den Rücken, aufs Gesäß, zerreißt ihr das Hemd, wirft sie an den Haaren zu Boden oder schleudert sie mit einem Fußtritt in die Ecke, aber tut alles dies doch mit so viel Behutsamkeit in der Wildheit, wie es sein Rausch nur erlaubt, damit ihr nicht die Knochen brechen. Und Rachel staunt den bösen Geist der Kraft und Roheit an, der alle Worte nichtig macht. Sie wird völlig leicht, wenn Moosbrugger sie stößt. Gegen seine Kraft gibt es keinen Willen. Der Wille kommt erst wieder, wenn der Schmerz aufhört. Und solange der Schmerz da ist, heult sie und ist selbst darüber erstaunt, wie sie gegen die Wände zetert. Und Moosbrugger möchte sich an den Kopf greifen und seinen eigenen Kopf aus den gehobenen Fäusten auf die Erde schmettern, wenn er dieses verwünschte Nichts von einem Menschen damit nur zum Schweigen bringen könnte! Am Tage nach solchen Abenden kommt es Rachel vor, als ob sie selbst betrunken gewesen wäre. Ihre Vernunft sagte ihr, daß sie ein Ende machen müsse. Sie suchte Ulrich auf. Aber man gab ihr die Antwort, daß er verreist sei, und niemand wisse, wo er sich aufhielte, noch wann er zurückkehre. Am Rückweg glaubte sie zu bemerken, daß alles in der Welt, heimlich auf Schlagen eingerichtet sei. Es fuhr ihr nur so durch den Kopf. Die Eltern das Kind. Der Staat die Sträflinge. Das Militär die Soldaten. Der Reiche die Armen. Der Kutscher die Pferde. Die Leute gingen mit großen Hunden an der Leine spazieren. Jeder schüchtert den anderen lieber ein, als sich mit ihm zu verständigen. Was ihr widerfahren war, war nicht anders, wie wenn sie mit den Händen in reine Lauge gegriffen hätte, statt in die verdünnte, die allerorts zum Waschen benützt wird. Sie mußte heraus! Ihr Sinn war wirr. Sie nahm sich vor, abends, wenn Moosbrugger aus dem Haus sei, mit allem, was sie noch besaß, zu entfliehn. Es mußte für sie allein noch ein paar Wochen reichen. Sie setzte ein argloses Gesicht auf, als sie die Wohnung betrat, um Moosbrugger nicht mißtrauisch zu machen. Aber obgleich es erst sechs Uhr und noch heller Tag war, fand sie ihn dort nicht vor. Ein augenblicklicher Argwohn ließ sie Umschau halten.

Von ihren Kleidern fehlte fast alles. Die Lampe und ein Teil der Decken war fort. Wenn nicht in seiner Abwesenheit Diebe eingedrungen waren, so hatte Moosbrugger selbst alles zusammengerafft und versilbert.

Rachel packte den Rest zusammen. Aber dann wußte sie nicht, wo sie um diese Stunde, bei beginnendem Abend hinsolle. Sie beschloß, noch eine Nacht auszuharren und den Mund zu halten, wenn Moosbrugger so schwer betrunken zurückkehren werde, wie es nach diesen Vorbereitungen zu erwarten war. Am Morgen wollte sie dann spurlos verschwinden. Sie legte sich aufs Bett, und obgleich Moosbrugger auch den Kopfpolster mitgenommen hatte, schlief sie zum ersten Male ruhig die ganze Nacht.

Trotz dieses tiefen Schlafs wußte sie am Morgen sofort, noch ehe sie die Augen öffnete, daß Moosbrugger nicht nach Hause gekommen sei. Sie sah sich um und wollte es benutzen, um sich rasch fertig zu machen.

Aber sie war traurig; sie fürchtete, daß Moosbrugger in seinem Leichtsinn der Polizei in die Hände gefallen sei, und das tat ihr leid. Unwillkürlich zögerte sie, während sie ihr Bündel schnürte. In Wahrheit hatte Moosbrugger schon längere Zeit etwas vorgehabt. Er hatte sehr gut bemerkt, daß Rachel das Geld an ihrem Busen verwahre, und er wollte es ihr wegnehmen. Aber er scheute sich hinzugreifen. Er fürchtete sich vor diesen zwei mädchenhaften Dingen, zwischen denen es lag; warum, wußte er nicht. Vielleicht, weil sie so unmännlich waren. So kam es zu dem anderen Plan. Der war der natürlichere. Er hob Moosbrugger und setzte ihn wieder ab. Wenn es Moosbrugger aber einmal ganz belieben sollte, so würde er sich auf diese Weise Reisegeld verschaffen und sich ganz forttragen lassen. Eigentlich gefiel es ihm bei Rachel recht gut.

Sie hatte ihre Eigenheiten, die ihn dumpf verfolgten; aber wenn er in Wut geriet oder wenn er sie zur Liebe einfing, so entlud er jedesmal wieder einen Teil seines Unbehagens, und der Spiegel seines Plans stieg darum ziemlich langsam. Er fühlte sich bei Rachel einigermaßen gesichert; ja, das war es, ein sehr geordnetes Leben, wenn er abends ausging, sich etwas betrank, und dann seinen Streit mit ihr hatte. Es nahm ihm gleichsam jeden Abend die Patrone aus der Waffe. Die beiden hatten Glück damit, daß er Rachel sozusagen in kleinen Teilen schlug. Aber eben, weil das Leben mit ihr so gesund war, erregte sie auch nicht im großen seine Phantasie, und er hätschelte seinen heimlichen Plan, in die Welt zu verschwinden; er wollte ihn mit einem großen Rausch beginnen. Als es neun Uhr vormittags war, holte sich Rachel eine Zeitung, um nachzusehen, ob nichts Böses darinstehe. Sie sah es gleich. Eine Frauensperson war nachts von einem Betrunkenen oder Irrsinnigen zerfleischt worden, und man hatte den Mörder gefaßt, und die Feststellung seiner Persönlichkeit stand bevor. Rachel wußte, daß es niemand anderer als Moosbrugger war. Die Tränen traten ihr in die Augen. Sie wußte nicht warum, denn sie fühlte sich froh und erleichtert. Und wenn Clarisse sich wieder einfallen lassen sollte, Moosbrugger zu befrein, so würde Rachel die Polizei auf sie aufmerksam machen. Aber weinen mußte sie doch den ganzen Tag, als ob nun ein Stück von ihr selbst an 816

den Galgen kommen sollte.

109 Generaldirektor Fischel

Ein eleganter Herr ließ seinen Wagen halten und rief Ulrich an; Ulrich erkannte mit Mühe in der selbstsicheren Erscheinung, die sich aus dem vornehmen Fuhrwerk beugte, Direktor Leo Fischel. «Man muß Glück haben!» rief ihm Fischel entgegen. «Meiner Sekretärin glückt es seit Wochen nicht, Ihrer habhaft zu werden! Immer heißt es, Sie sind verreist. » Er übertrieb, aber dies Chefbewußtsein, mit dem er sich zeigte, machte einen echten Eindruck.

Ulrich sagte leise: «Ich hatte mir Ihr Befinden ganz anders vorgestellt. »

«Was hat man Ihnen von mir gesagt?» forschte Fischel neugierig.

«Ich glaube, wohl so ziemlich alles. Ich habe lange Zeit erwartet, von Ihnen durch die Zeitungen zu hören.

»

«Unsinn! Frauen übertreiben immer. Wollen Sie mich nicht in meine Wohnung begleiten? Ich erzähle Ihnen alles. »

Die Wohnung hatte sich verändert, einen Hauch von Generaldirektion irgendwelcher Unternehmungen bekommen, und war ganz und gar unweiblich geworden. Aber Fischel erzählte nicht genau. Es war ihm mehr darum zu tun, sein Ansehen bei Ulrich wieder zu befestigen. Seinen Austritt aus der Bank behandelte er als einen Zwischenfall. «Was wollen Sie, ich hätte noch zehn Jahre bleiben können, ohne vorzurücken!

Ich bin in voller Freundschaft ausgetreten!» Er hatte eine so selbstbewußte Art zu sprechen angenommen, daß sich Ulrich veranlaßt sah, ihm trocken seine Verwunderung darüber zu bemerken. «Sie hatten sich doch so ruiniert, » fragte er «daß man annahm, Sie mußten sich entweder erschießen oder vor Gericht wandern?»

«Ich würde mich nie erschießen, ich würde mich vergiften; » verbesserte ihn Leo «ich werde niemand den Gefallen tun, wie ein Adeliger oder ein Sektionschef zu sterben! Aber ich habe es auch gar nicht nötig gehabt. Wissen Sie, was eine Versteifung, eine vorübergehende Illiquidität ist? Nun also! Es ist in meiner Familie ein lächerliches Aufheben davon gemacht worden, das man heute schon sehr bedauert!»

«Sie haben mir übrigens nie ein Wort davon gesagt, » rief Ulrich, dem es gerade einfiel, lachend aus «daß Sie der Freund Leonas geworden sind; ich hätte ein Anrecht gehabt, wenigstens das zu erfahren!»

«Haben Sie eine Ahnung, wie sich dieses Frauenzimmer mir gegenüber betragen hat? Unverschämtheit!

Ihre Erziehung!»

«Ich habe Leona immer gelassen, wie sie ist. Ich nehme an, daß sie durch ihre natürliche Dummheit in wenigen Jahren als Pensionärin eines Bordells enden wird. »

«Weit gefehlt! Ich bin übrigens nicht so herzlos wie Sie, lieber Freund, ich habe mich bemüht, in Leona ein wenig die Vernunft und sozusagen den Wirtschaftsgeist in der Ausnutzung ihres Körpers zu wecken. Und an dem Abend, wo meine Illiquidität sich mir fühlbar zu machen begann, bin ich zu ihr gegangen, um mir einige hundert Kronen auszuborgen, von denen ich annahm, daß Leona sie auf die Seite gelegt haben sollte.

Sie hätten dieses Weibsbild hören sollen, wie sie mich einen Filz, einen Räuber, ja sogar bei meiner Religion beschimpft hat; einzig und allein, daß sie nicht behauptete, ich hätte ihr die Unschuld gestohlen.

Aber mit Leonas Zukunft irren Sie sich: wissen Sie, wen sie jetzt zum Freund hat, gleich nach mir?»

Er beugte sich zu Ulrich und flüsterte ihm einen Namen ins Ohr, mehr aus Respekt tat er das, als weil Flüstern notwendig gewesen wäre. «Was sagen Sie dazu? Man muß zugeben, sie ist eine Schönheit. »

Ulrich war tatsächlich erstaunt, der Name, den ihm Fischel zugeflüstert hatte, war der Arnheims.

Ulrich erkundigte sich nach Gerda. Fischel blies die Luft zwischen den sich wölbenden Lippen aus seiner Seele, sein Gesicht wurde ängstlich und verriet verheimlichte Sorgen. Er hob die Schultern und ließ sie müde sinken. «Ich habe mir gedacht, daß Sie vielleicht wissen, wo sie sich aufhält. »

«Ich habe eine Vermutung, » antwortete Ulrich «aber ich weiß nichts. Ich denke mir, sie wird eine Stellung angenommen haben. »

«Stellung? Als was? Als Fräulein in einer Familie mit kleinen Kindern! Denken Sie, da nimmt sie eine Stellung als Dienstbote an und könnte jeden Luxus haben! Ich habe erst gestern wegen eines Hauses abgeschlossen, prima Lage, eine Wohnung darin, die ein Palais für sich ist: Aber nein, nein, nein!»

Fischel fuhr sich mit den Fäusten ins Gesicht, sein Schmerz um die Tochter war ehrlich oder war wenigstens der ehrliche Schmerz darüber, daß sie ihn hinderte, seinen Sieg ganz zu genießen.

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«Warum wenden Sie sich nicht an die Polizei?» fragte Ulrich.

«Ach, ich bitte Sie, ich kann meine Familienangelegenheiten doch nicht an die große Glocke hängen!

Übrigens will ich es ja tun, aber meine Frau erlaubt es nicht. Ich habe meiner Frau sofort zurückgezahlt, was sie durch mich verloren hatte; die hohen Herren Brüder sollten sich nicht den Mund über mich zerreißen!

Und schließlich ist Gerda doch so gut ihr Kind wie meines. Ich will da nichts ohne ihre Zustimmung tun.

Sie fährt den halben Tag in meinem Wagen herum und sucht sich die Augen aus. Das ist natürlich Unsinn, so macht man es nicht. Aber was kann man tun, wenn man mit einer Frau verheiratet ist?» «Ich dachte, Sie wären schon in Scheidung?» «Waren wir auch. Das heißt, nur in Worten. Noch nicht bei Gericht. Die Rechtsanwälte hatten eben erst die ersten Schüsse abgegeben, als sich meine Verhältnisse zusehends besserten. Ich weiß selbst nicht, wie wir jetzt zu einander stehen; ich glaube, Klementine wartet auf eine Aussprache. Sie wohnt natürlich immer noch bei ihrem Bruder. »

«Aber warum beauftragen Sie denn nicht einfach ein Detektivbüro, Gerda zu finden?!» rief Ulrich dazwischen, dem das gerade einfiel.

«Sollte man tun» meinte Fischel. «Die Spur führt doch sicher über Hans Sepp!» «Meine Frau will dieser Tage noch einmal zu Hans Sepp hinausfahren und ihn bearbeiten; er sagt nichts. »

«Ach, wissen Sie was? Hans muß doch jetzt zum Militär eingerückt sein, erinnern Sie sich nicht?! Er hatte wegen irgendwelcher Prüfungen, die er dann doch nicht gemacht hat, ein halbes Jahr Aufschub bekommen, er muß vor vierzehn Tagen eingerückt sein; ich kann das genau sagen, weil es sehr ungewöhnlich war, denn um diese Zeit werden sonst nur die Medizinstudenten eingezogen. Ihre Frau wird ihn also kaum finden.

Dagegen könnte man ihm durch seine Vorgesetzten die Hölle ordentlich heiß machen. Verstehen Sie, wenn man ihn dort etwas zwischen die Finger nimmt, wird er schon mit der Sprache herausrücken!»

«Ausgezeichnet, ich danke Ihnen! Ich hoffe, meine Frau sieht das auch ein. Denn ohne Klementine will ich, wie gesagt, in dieser Richtung nichts unternehmen; sonst kann es gleich wieder heißen, daß man ein Mörder ist!»

Ulrich mußte lachen. «Die Freiheit scheint Sie ängstlich gemacht zu haben, lieber Fischel. »

Fischel ärgerte sich immer leicht über Ulrich; jetzt wo er ein großer Mann war, mehr denn je. «Sie überschätzen die Freiheit, » sagte er abweisend «und es scheint, daß Sie meinen Standpunkt nie ganz verstanden haben. Die Ehe ist oft ein Kampf, wer der Stärkere ist; außerordentlich schwierig, solange es sich um Gefühle, Gedanken und Einbildungen handelt! Aber gar keine Schwierigkeit, sobald man im Leben Erfolg hat. Ich habe den Eindruck, daß auch Klementine das einzusehen beginnt. Man kann wochenlang darüber streiten, ob eine Auffassung richtig ist. Aber sobald man Erfolg hat, ist es die Auffassung eines Mannes, der sich geirrt haben kann, aber diesen nebensächlichen Irrtum eben braucht, um Erfolg zu haben.

Es ist schlimmstenfalls wie die Marotte eines großen Künstlers; nun, was tut man mit den Marotten großer Künstler? Man liebt sie; man weiß, sie sind ein kleines Geheimnis»! — Da Ulrich ungebunden lachte, wollte Fischel nicht zu sprechen aufhören. - «Ich sage das gerade Ihnen! Geben Sie nur gut acht! Ich habe gesagt, wenn man nichts hat als Gefühle und Gedanken, nimmt der Streit kein Ende, Gedanken und Gefühle machen kleinlich und nervös. So ist es leider mir und Klementine ergangen. Heute habe ich keine Zeit. Ich weiß nicht einmal sicher, ob Klementine wieder zu mir zurück möchte; ich glaube bloß, daß sie es will; sie hat bereut, und früher oder später wird sich das ganz von selbst zeigen, dann aber ganz bestimmt viel einfacher und schöner, als wenn ich mir jetzt schon ganz genau ausdenken würde, wie es geschehen muß.

Mit einem ungesund bis ins kleinste fixierten Plan würde man auch nie Geschäfte machen. »

Fischel war fast außer Atem, aber er fühlte sich frei. Ulrich hatte ihm ernst zugehört und widersprach nicht.

«Ich bin sehr erfreut, daß sich alles so zum Guten wendet» sagte er höflich. «Ihre Frau Gemahlin ist eine ausgezeichnete Frau, und wenn es für Sie vorteilhaft sein wird, ein großes Haus zu führen, wird sie dieser Aufgabe vorzüglich vorstehen. »

«Eben. Auch das. Wir könnten jetzt bald die silberne Hochzeit feiern und Spaß beiseite, wenn das Geld neu ist, soll wenigstens sozusagen der Charakter alt sein. Eine silberne Hochzeit ist fast so viel wert wie eine adelige Großmutter, die sie übrigens auch hat. »

Ulrich erhob sich zum Gehn, aber Fischel war nun aufgeräumt. «Sie brauchen aber nicht zu glauben, daß mir am Ende Leona die Flügel gebrochen hat! Ich habe sie Dr. Arnheim ganz ohne Neid überlassen.

Kennen Sie die Tänzerin?» er nannte einen unbekannten Namen und zog ein kleines Bild aus der Brieftasche. «Nun woher sollten Sie sie auch kennen, sie ist noch selten aufgetreten, selbständige 818

Tanzabende, distinguiert, Beethoven und Debussy, wissen Sie, das ist jetzt so der kommende Geist. Aber was ich Ihnen sagen wollte, Sie sind doch Sportsmann, bringen Sie das zustande: -?» -Er trat an einen Tisch und begleitete seine Worte mit einem Echo aus Arm und Bein — «Da legt sie sich zum Beispiel auf einen Tisch. Den Oberkörper platt auf der Platte, das Gesicht mit dem Ohr an die aufgestützten Arme gelehnt, und lächelt lieblich. Die Beine tut sie dabei ganz auseinander, so, der schmalen Tischkante entlang, daß es aussieht wie ein großes T. Oder sie steht plötzlich auf den Unterarmen und Handflächen - So - ich kann das natürlich nicht. Und einen Fuß hat sie über den Kopf weg beinahe auf der Erde, den anderen am Schrank oben. Ich sage Ihnen, Sie bringen es nicht zu einem Zehntel zusammen, trotz Ihrem Turnen. Das ist die neue Frau. Sie ist schöner als wir, sie ist geschickter als wir, und ich glaube, wann ich mit ihr boxen wollte, würde ich mir bald den Bauch halten. Das einzige, worin ein Mann stärker ist als die Frau heute, ist Geldverdienen!»

110 Politisch unverläßlich Was auch mitbedeutend sein soll

Hans Sepp mußte Marsch-Eins üben, sich in Pfützen auf dem Kasernenhof niederknien, das Gewehr in Anschlag bringen und wieder absetzen, bis ihm die Arme vom Leib fielen. Der Korporal, der ihn peinigte, war ein milchbärtiger Bau-ernsohn, und Hans sah verständnislos in sein junges wütendes Gesicht, das nicht nur Zorn ausdrückte, was begreiflich gewesen wäre, weil er mit diesem Rekruten nachexerzieren mußte, sondern die ganze Bösartigkeit, deren ein Mensch fähig ist, wenn er sich gehen läßt. Wenn Hans seinen Blick über die Weite des Hofs gleiten ließ - an und für sich hat ein Kasernenhof etwas Unmenschliches, unfrei Regelmäßiges, wie es die tote Welt der Kristalle hat -, so endete er bei hockenden und steif laufenden blauen Figuren, die an alle Mauern gemalt waren, damit man das Gewehr auf sie anschlage; und dieser Weltzweck, beschossen zu werden, drückte sich auch in der abstrakten Art dieser Malereien zum Verzweifeln gut aus. Das war Hans Sepp schon in der ersten Stunde seines Kommens schwer aufs Herz gefallen. Der Mensch hat auf den Bildern, die an die Wände der Kaserne gemalt werden, kein Gesicht, sondern anstelle des Gesichts nur eine helle Fläche. Er hat auch keinen Körper, den der Maler in einer der Stellungen festgehalten hätte, wie sie Tier und Mensch, dem Spiele ihrer Bedürfnisse folgend, von selbst einnehmen, sondern er besteht aus einem mit dunkelblauer Farbe ausgefüllten groben Umriß, der die Stellung eines mit dem Gewehr in der Hand laufenden Mannes oder eines Mannes, der kniet und schießt, für eine Ewigkeit festhält, in der es niemals wieder etwas so Überflüssiges wie persönliche Zeichnung geben wird. Das war keineswegs unvernünftig; der Fachausdruck für diese Figuren hieß «Zielfläche», und wenn der Mensch als Zielfläche betrachtet wird, so sieht er so aus, daran ist nichts zu deuteln. Man könnte daraus schließen, daß man ihn niemals als Zielscheibe betrachten dürfe; aber um Gotteswillen, wenn er gleich so aussieht, sobald man ihn nur so anschaut, ist die Versuchung dazu ungeheuer groß! Hans fühlte sich in der Tat während der Öde des Strafexerzierens immer wieder von der Dämonie dieser Malereien angezogen, als ob er von Teufeln gepeinigt würde; der Korporal schrie ihm zu, daß er nicht umherglotzen dürfe, sondern geradeaus zu schauen habe, er faßte ihn mit solchen Worten geradezu körperlich beim Blick, und wenn der Blick dann geradeaus in das rote Gesicht des Korporals fiel, so sah dieses warm und menschlich aus.

Hans hatte das urzeitliche Gefühl, einem fremden Stamm in die Hände gefallen und zum Sklaven gemacht worden zu sein. Wenn ein Offizier erschien und auf der anderen Seite des Hofes als schlanke Silhouette teilnahmslos vorbeiglitt, kam er Hans Sepp wie einer der unerbittlichen Götter dieses fremden Stammes vor.

Er wurde streng und schlecht behandelt. Mit ihm zugleich war ein Dienststück der Zivilbehörden zum Militär gekommen, das ihn als «politisch unverläßlich» bezeichnete, und so nannte man in Kakanien die staatsfeindlichen Individuen. Er wußte nicht, wer und was ihm diesen Leumund eingetragen hatte. Außer seiner Beteiligung an der Demonstration gegen Graf Leinsdorf hatte er niemals etwas gegen den Staat unternommen, und schließlich war Graf Leinsdorf nicht der Staat; Hans Sepp hatte, seit er Student war, nur von der germanischen Volksgemeinschaft gesprochen, von Symbolen und von der Keuschheit.

Aber irgendetwas davon mußte der Behörde zu Ohr gekommen sein, und das Ohr der Behörde ist wie ein Klavier, aus dem man von je acht Saiten sieben entfernt hat. Offenbar war seinem Ruf auch nachgeholfen worden, jedenfalls kam er mit dem Ruf zum Militär, ein Feind des Kriegs, des Militärs, der Religion, der Habsburger und des Staates Österreich zu sein, verdächtig der Geheimbündelei und großdeutscher 819

Machenschaften, die auf den Zweck des Umsturzes der bestehenden Staatsordnung gerichtet» waren.

Mit allen diesen Verbrechen verhielt es sich aber beim Militär in Kakanien so, daß man ihrer den größten Teil aller tüchtigen Reserveoffiziere ohneweiters bezichtigen konnte. Fast jeder Deutsche hatte das natürliche Gefühl, mit den Deutschen im Reich zusammenzugehören und nur durch das Trägheitsvermögen der geschichtlichen Vorgänge vorläufig noch abgetrennt zu sein, und jeder Nichtdeutsche hatte mit den nötigen Änderungen erst recht ein solches gegen Kakanien gerichtetes Gefühl; Patriotismus war in Kakanien, wenn er sich nicht auf Hoflieferanten beschränkte, ausgesprochen eine Oppositionserscheinung, er verriet entweder Widerspruchsgeist oder jene fade Gegnerschaft gegen das Leben, die allezeit etwas Feines und Höheres braucht; abzusehen war da nur von Graf Leinsdorf und seinen Freunden, die das Höhere im Blut hatten. Ebensowenig waren aber auch die aktiven Offiziere frei von den Vorwürfen, die eine unbekannte Behörde gegen Hans Sepp erhob. Sie waren zum großen Teil Deutsche — und soweit sie es nicht waren, bewunderten sie das deutsche Heer —, und da die Kakanischen Parlamente nicht halb soviel Soldaten und Kriegsschiffe bewilligten wie der deutsche Reichstag, hatten sie alle das Gefühl, daß an den großdeutschen Hoffnungen nicht alles verwerflich sein könne. Sie waren von Kindheit an dazu erzogen, die Stütze des Patriotismus zu sein, was zur Folge hatte, daß ihnen dieses Wort stille Übelkeit erregte. Sie waren endlich gewohnt, am Fronleichnamstag ihre Soldaten zur Prozession zu führen und die Rekruten am Kasernenhof «Kniet nieder zum Gebet» üben zu lassen, aber unter sich nannten sie den Regimentsgeistlichen Kommischristus und für ihren braven, aber etwas beleibten Feldbischof hatten diese Heiden den Armeenamen Die Himmelskugel aufgebracht.

Ganz unter sich nahmen sie es nicht einmal übel, wenn jemand ein Feind des Militärs war, denn die meisten von ihnen waren es in längerer Dienstzeit selbst geworden, und sogar Pazifisten hat es im Kriegerstand von Kakanien gegeben. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß nicht alle später im Krieg genau so ihre Schuldigkeit mit Begeisterung getan hätten wie ihre Kameraden in anderen Staaten; im Gegenteil, man denkt ja immer anders als man handelt. (Krieg und Frieden das sind zwei ganz verschiedene Zustände, was noch nicht deutlich genug verstanden wird!)

Diese Tatsache, so überaus wichtig sie auch für den Zustand der heutigen Weltzivilisation ist, wird gewöhnlich so verstanden, als ob das Denken eine schöne bürgerliche Privatgepflogenheit wäre, unbeschadet deren man sich beim Handeln eben dem anschließt, was üblich ist und alle tun. Das stimmt aber nicht ganz, denn es gibt Menschen, die in ihrem Denken ganz und gar unoriginell sind, dagegen, wenn sie handeln, oft eine ganz persönliche Art haben, die, weit liebenswürdiger, über ihren Gedanken liegt oder weit gemeiner unter diesen, jedenfalls aber eigenartiger ist. Man kommt näher an die Wahrheit heran, wenn man nicht bei dem Gegensatz des Handelns gegen die Gedanken Halt macht, sondern erkennt, daß man es dabei von vornherein schon mit zwei verschiedenen Arten von Gedanken zu tun habe. Der Gedanke eines Menschen hört schon auf, nur Gedanke zu sein, wenn ein zweiter Mensch etwas ähnliches denkt und zwischen diesen beiden etwas besteht, mag es selbst nur ein Wissen voneinander sein, das sie zu einem Paar macht. (Die Gedanken, die man im Kopf hat, und die Gedanken, die außerhalb seiner deponiert sind. > Schon dann ist der Gedanke nicht mehr reine Möglichkeit, sondern erhält einen Zusatz von Nebenrücksichten. Aber das mag ein Sophisma oder eine Konstruktion sein. Trotzdem ist es Tatsache, daß jeder kräftige Gedanke in die Wirklichkeit hinaustritt, sie durchdringt wie eine Kraft eine plastische Materie und schließlich in ihr erstarrt, ohne seine Wirksamkeit als Gedanke ganz zu verlieren. Überall, in den Schulen, den Gesetzbüchern, im Antlitz der Häuser in der Stadt und der Felder am Land, in den von den Oberflächenströmungen durchspülten Büros der Zeitungen, in Herrenhosen und Frauenhüten, in allem, wo der Mensch Einfluß ausübt und empfängt, sind Gedanken eingekapselt oder aufgelöst in verschiedenen Graden der Erstarrung und des Gehalts. (Das ginge nur in Verbindung mit ungewöhnlichen Eindrücken, die die Stadt vermittelt. >

Das ist natürlich nicht mehr als eine Binsenwahrheit, aber das Ausmaß davon ist uns nicht immer gegenwärtig, denn es beträgt wirklich nicht weniger als eine ungeheure hinausgestülpte dritte Gehirnhälfte. Sie denkt nicht; sie sendet Gefühle, Gewohnheiten, Erlebnisse, Grenzen und Richtungen, lauter unbewußte und halbbewußte Einflüsse, zwischen denen das persönliche Denken so viel und so wenig ist wie ein Kerzenflämmchen im steinernen Dunkel eines Riesendepots. Und nicht zuletzt sind darunter die Reservegedanken, die so aufbewahrt werden, wie die Uniformen für die Kriegszeit. In dem Augenblick, wo etwas Ungewöhnliches um sich greift, steigen sie aus ihrer Versteinerung. Alle Tage läuten die Glocken, 820

aber wenn eine Feuersbrunst ausbricht oder ein Volk zu den Waffen gerufen wird, zeigt sich erst, was für Gefühle in ihnen getobt und gebimmelt haben. Alle Tage schreiben die Zeitungen gewisse ihnen gleichgültige Sätze, mit denen sie herkömmliche Geschehnisse herkömmlich verzeichnen, aber wenn eine Revolution droht oder etwas Neues geschehen soll, zeigt sich mit einemmal, daß die Worte nicht ausreichen und auf die ältesten Ladenhüter und Geistgespenster zurückgegriffen werden muß, um abzuwehren oder zu begrüßen. Bei jeder großen allgemeinen Mobilisierung, sei sie friedlich oder kriegerisch, tritt der Geist unausgerüstet und behangen mit Vergessenheiten an.

Zwischen dieses Mißverhältnis der persönlichen und allgemeinen, der lebendigen und Reservegrundsätze war Hans geraten. Man hätte sich unter anderen Umständen begnügt, ihn wenig sympathisch zu finden, aber die behördliche Zuschrift hatte ihn aus der Mitte der Privatpersonen herausgehoben, zu einem Gegenstand des öffentlichen Denkens gemacht, und seine Vorgesetzten daran gemahnt, daß sie auf ihn nicht ihre unerzogenen, aber abwechslungsreichen eigenen Gefühle anzuwenden hatten, sondern die allgemein gültigen, die ihnen Verdruß und Langeweile bereiteten und in jedem Augenblick zügellos entarten konnten wie die Handlungen eines Trunkenen oder eines Hysterischen, der ganz deutlich fühlt, daß er in seinem Rausch wie in einer zu großen fremden Hülse darinsteckt.

Nur darf man nicht glauben, daß Hans etwa mißhandelt wurde und ihm Unerlaubtes geschah: im Gegenteil, er wurde vollkommen vorschriftsmäßig behandelt und bloß jenes Quentchen menschlicher Wärme fehlte

— nein, man kann nicht sagen, Wärme; aber Kohle, Brennstoff, vorhanden, um allenfalls bei günstiger Gelegenheit gebraucht zu werden, -das selbst in einer Kaserne noch zuhause ist. Durch die Abwesenheit jeder persönlichen Wohlwollensmöglichkeit wirkten die rechtwinkligen Gebäude, die eintönigen Mauern, mit den blauen Figuren darauf, die endlosen Geraden der Gange, mit den unzähligen parallelen Schrägstrichen der daraufhängenden Gewehre, wirkten die den Tag einteilenden Trompetensignale und Vorschriften als die klare, kalte Auskristallisation eines Geistes, der Hans Sepp bis dahin fremd gewesen war, des Geistes der Allgemeinheit, der Öffentlichkeit, der unpersönlichen Gemeinschaft oder wie man das nennen soll, der dieses Haus und diese Formen geschaffen hatte. (Vielleicht auch ein wenig: vom Erstarren zur Begrifflichkeit. >

Das Erdrückendste war, daß er allen seinen Widerspruchsgeist wie fortgeblasen fühlte. Er hätte sich ja wie ein Missionar vorkommen können, der von einem Indianerstamm gemartert wird. Oder er hätte den Lärm der Welt aus seinen Sinnen drängen und sich in die Ströme der Jenseitigkeit versenken können. Er hätte seine Leiden als ein Symbol ansehen können, und so fort. Aber alle diese Gedanken waren wie ohnmächtige Schatten, seit man ihm eine Militärmütze aufs Haupt gesetzt hatte. Die feine Welt des Geistes verblaßte zu einem Gespenst, das hier, wo tausend Menschen beisammen wohnten, nicht eindringen konnte.

Sein Kopf war verödet und abgewelkt.

Hans Sepp hatte Gerda bei der Mutter eines seiner Freunde untergebracht. Er sah sie selten und dann war er meist mürrisch vor Müdigkeit und Verzweiflung. Gerda wollte selbständig werden, sie wollte nichts von ihm; aber sie begriff nicht die Geschehnisse, denen er ausgesetzt war. Sie hatte einigemale den Einfall gehabt, ihn nach dem Dienst abzuholen; als ob er er selbst wäre und nur von irgendeiner Veranstaltung käme. Er wich ihr in letzter Zeit aus. Er hatte nicht einmal die Kraft sich darüber zu kränken. In den Pausen des Dienstes, diesen unregelmäßigen, auf die unnützesten Zeiten fallenden Pausen, trieb er sich mit den anderen Einjährigen umher, trank Branntwein und Kaffee in der Kantine und saß in der trüben Flut ihrer Gespräche und Witze wie in einem schmutzigen Bach, ohne sich zum Aufstehen entschließen zu können.

Erst jetzt haßte er zum erstenmal in seinem Leben den Soldatenstand, weil er sich seinem Einfluß unterworfen fühlte. «Mein Inneres ist jetzt nichts als das Futter eines Militärmantels» sagte er sich; aber er fühlte sich erstaunt versucht, die neuen Bewegungen in seiner Einkleidung zu erproben. Es kam vor, daß er auch nach dem Dienst mit anderen zusammenblieb und die etwas rohen Lustbarkeiten dieser halbselbständigen jungen Menschen verkostete.

111 Leo Fischel interveniert bei Diotima

[Entwurf]

Wer hatte Hans Sepp die Kennzeichnung p. u. eingebracht? Merkwürdigerweise war es Graf Leinsdorf.

Graf Leinsdorf hatte eines Tages Ulrich nach diesem jungen Mann ausgefragt, und Ulrich hatte ihn als 821

einen harmlosen Wirrkopf hingestellt; aber Graf Leinsdorf mißtraute in der letzten Zeit Ulrich und fühlte sich durch dessen Auskunft in der Überzeugung bestärkt, daß er in Hans Sepp eines jener unverantwortlichen Elemente vor sich habe, die jederzeit verhinderten, daß es in Kakanien zu etwas Gutem komme. Graf Leinsdorf war in der letzten Zeit nervös geworden. Er hatte durch Generaldirektor Fischel davon gehört, daß ein ganz bestimmter Kreis unreifer junger Menschen, dessen Mittelpunkt Hans Sepp bilde, der eigentliche Urheber jener Demonstration gewesen sei, die Seiner Erlaucht mehr Unannehmlichkeiten eingetragen hatte, als man annehmen sollte. Denn dieser politische Aufzug hatte

«oben» einen «ungünstigen Eindruck» gemacht. Ohne Frage war er ganz harmlos gewesen, und wenn man so etwas ernstlich verhindern will, kann das jederzeit durch eine Handvoll Polizei geschehn; aber der Eindruck, den solche Vorkommnisse machen, ist immer viel erschrecklicher, als es ihnen in Wahrheit zukommt, und kein wirklicher Politiker darf den Eindruck vernachlässigen. Graf Leinsdorf hatte darüber ernste Aussprachen mit seinem Freund, dem Polizeipräsidenten gehabt, die ergebnislos geblieben waren, und als er nachträglich den Namen Hans Sepp erfuhr, war der Präsident gerne bereit, zur Beruhigung Seiner Erlaucht diese Spur verfolgen zu lassen. Er war von vornherein überzeugt gewesen, daß ein Ergebnis, das seiner Polizei bisher entgangen war, nicht wesentlich sein könne, und wurde in dieser Auffassung durch die Erhebungen, die auf seinen Befehl stattfanden, nur bestätigt. Immerhin ergibt die Beschäftigung einer Behörde mit einer Privatperson immer, daß diese Privatperson unklar und unverläßlich sei, nämlich gemessen an den Ansprüchen, die man in einem Amt an Genauigkeit und aktenmäßige Sicherheit stellt. Der Präsident fand es darum angebracht, in dubio nicht einem Manne wie Graf Leinsdorf entgegenzuhalten, daß er sich eine Einbildung in den Kopf gesetzt habe, sondern lieber den Fall Sepp nach dem Muster behandeln zu lassen, dem Verdächtigten sei vorderhand nichts nachzuweisen gewesen, weshalb er bis zur restlosen Aufklärung verdächtig bleibe. Diese restlose Aufklärung wurde dabei stillschweigend für den St. Nimmerleinstag angesetzt, wo alle unerledigten Akten aus den Gräbern der Archive aufsteigen. Daß trotzdem Hans Sepp daraus Leid entstand, das war eine ganz unpersönliche Angelegenheit ohne jede Schikane. Ein unabgeschlossen begrabener Akt muß von Zeit zu Zeit aus dem Grab gehoben werden, um auf ihm zu bemerken, daß er noch immer nicht abgeschlossen werden könne, und einen Tag darauf zusetzen, wo ihn der Archivbeamte wieder dem Konzeptsbeamten vorzulegen habe. Das ist ein Weltgesetz der Bürokratie, und wenn es sich dabei um einen Akt handelt, der unter dem Vorwand, daß seine Grundlagen nicht vollständig seien, nie abgeschlossen werden soll, so muß man sehr gut auf ihn achtgeben, denn es kann vorkommen, daß die Beamten vorrücken, versetzt werden und sterben, und ein Neuling, der den Akt erhält, in seinem Übereifer veranlaßt, daß zu einer der letzten Erhebungen, die vor Jahren stattgefunden haben, eine kleine ergänzende Erhebung gemacht werde, die den Akt einige Wochen am Leben erhält, bis sie als Beilage endet und mit ihm verschwindet. Durch einen ähnlichen Zwischenfall war auch der Akt Hans Sepp ohne jede besondere Absicht ins Laufen gekommen; da sich Hans beim Militär befand, mußte sein Akt ins Justizministerium, von dort ins Kriegsministerium, von dort zum Korpskommando und so weiter, und es läßt sich denken, daß er durch die verschiedenen Einlaufs-und Absendungsvermerkungen, Präsentierungsstempel, Behandlungsbestätigungen und die Zusätze diensthöflich überreicht, abgetreten, zur Berichterstattung, hieramts nicht bekannt und dergleichen ein gefährliches Aussehen bekam.

Gerda war unterdessen zu Ulrich gelaufen, verzweifelt, und berichtete, daß Hans gerettet werden müsse, weil er sich den Verhältnissen, in die er geraten sei, nicht gewachsen zeige und schon deutlich befürchten mache, daß er völlig verkomme. Sie war noch immer nicht ins Elternhaus zurückgekehrt, hielt sich verborgen und war sehr stolz, weil sie eine Klavierstunde gefunden hatte und damit ein paar Kreuzer zu dem Geld hinzuverdiente, das ihr ihre Freundinnen liehen. Leo Fischel machte damals die größten Anstrengungen, um sie zurückzugewinnen, und so legte sich Ulrich aufs Vermitteln. Gerda ließ sich nach langem Hin und Her und väterlichen Ermahnungen Ulrichs zu dem Versprechen herbei, die Rückkehr in ihr Elternhaus in wohlwollende Erwägung zu ziehen, falls ihr Papa sich bereiterkläre und es zuwege bringe und Ulrich es unterstütze, Hans aus seinem Verhängnis zu befreien. Ulrich sprach mit Generaldirektor Fischel darüber, und Generaldirektor Fischel hätte damals Schlimmeres begangen, als man von ihm verlangte, um seine Tochter wiederzubekommen. Er wandte sich an Graf Leinsdorf. Generaldirektor Leo Fischel stand mit seiner Erlaucht in emsiger Geschäftsverbindung. Seine Erlaucht empfahl ihn nach einigem Bedauern und Überlegen an Diotima, die mit dem Kriegsministerium augenblicklich innige Fühlung hätte und auch aus dem Grund in diesem Fall geeigneter sei als er selbst, weil diese ganze Angelegenheit, und besonders 822

durch die nicht ganz reguläre Lösung, die sie erfordere, doch eher eine Sache der Frau, des Herzens und des weiblichen Taktes sei. So kam Leo Fischel zu Diotima.

Sie war schon durch Graf Leinsdorf in Kenntnis des Besuches gesetzt worden, und Fischel empfing einen großen Eindruck durch sie. Er hatte gedacht, daß der Abschnitt, wo etwas Geistiges ihm Bewunderung abzwingen könne, hinter ihm läge. Aber es schien, daß schöne Frauen besonders geeignet waren, seine neue Härte weich zu machen. Den ersten Rückfall hatte er bei Leona gehabt. Leona hatte ein Gesicht, wie es Generaldirektor Fischeis Eltern bewundert haben würden, und dieses Gesicht fiel ihm wieder ein, als er Diotima sah, obgleich eigentlich keine Ähnlichkeit bestand. Zu jener Zeit hätte auch der armseligste Zeichenlehrer oder Photograph sich nicht ruhig gefühlt, wenn er nicht in seinen Haaren oder seinem Schlips etwas von genialem Hauch gespürt hätte. Darum war auch Leona für Leo nicht einfach schön, sondern sie war ein Genie an Schönheit gewesen; das war der besondere Reiz, durch den sie ihn zu gewagten Unternehmungen verleitet hatte. «Schade, daß sie einen so unwürdigen Charakter hatte, » dachte Fischel

«ihre dicken hohen Beine, waren entschieden schöner, als es die ausgetrockneten Beine dieser modernen Tänzerinnen sind. » Weiterhin wußte er nicht, ob es die ausgetrockneten Beine waren oder der unangenehme Charakter, was ihn auf seine Gattin Klementine brachte, aber jedenfalls erinnerte er sich mit Rührung der ersten glücklichen Jahre seiner Ehe, denn damals hatten er und Klementine noch an den Wert des Genies geglaubt, und wenn man es wohlwollend überlegte, war das gar nicht so falsch gewesen; Leo Fischeis Lebenslinie wies, so betrachtet, keinen Bruch auf, denn letzten Endes war der Glaube, daß es bevorzugte Genies gebe, eine Möglichkeit, um rücksichtslose und gewagte Geschäfte zu rechtfertigen.

Diotima hatte die Eigenschaft, solche weit durch die Seele schweifenden Gedanken wachzurufen, wenn man ihr zum erstenmal gegenübersaß, und Generaldirektor Fischel brauchte indessen nur einmal durch seine Favorits zu fahren und seinen Klemmer zurechtzurücken, ehe er mit einem Seufzer zu sprechen anhub. Diotima bestätigte diesen Seufzer mit einem mütterlichen Lächeln, und ehe Fischel noch zu etwas anderem kam, sagte diese für ihre außerordentliche Einfühlungsgabe mit Recht berühmte Frau zu ihm: «Ich bin von dem Zweck Ihres Besuchs unterrichtet worden. Es ist traurig: die heutige Menschheit vermißt auf das schmerzlichste, daß sie keine Genies mehr hervorbringt, und andererseits leugnet und verfolgt sie jedes junge Talent, aus dem vielleicht eins werden könnte. »

Fischel wagte die Frage: «Gnädige Frau haben gehört, wie es meinem Schützling ergeht? Er ist ein Aufrührer. Nun: wenn schon? Alle großen Leute waren in ihrer Jugend Aufrührer. Ich bin übrigens gar nicht damit einverstanden. Aber er ist außerdem, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, eine Zangengeburt; sein Kopf ist etwas eingedrückt worden, er ist außerordentlich reizbar, und ich habe mir gedacht, daß das vielleicht ein Weg sein könnte… ?»

Diotima hob traurig die Augenbrauen. «Ich habe mit einem der führenden Herren des Kriegsministeriums darüber gesprochen; ich muß Ihnen leider sagen, Herr Generaldirektor, daß Ihr Wunsch auf kaum überwindliche Schwierigkeiten stößt. »

Fischel hob traurig und empört die Hände. «Aber man darf doch einen Geistigen nicht wider den Geist zwingen! Gnädige Frau, der Bursche hat so Ideen von Kriegsdienstverweigerung, und die Herren werden ihn mir noch erschießen!»

«Ja, » erwiderte Diotima «wie recht Sie haben! Man sollte einen Geistigen nicht wider den Geist zwingen.

Sie sprechen meine Meinung aus. Aber wie soll man das einem General begreiflich machen?!»

Es trat eine Pause ein. Fischel meinte fast, er müsse gehen, aber als er die Füße räusperte, legte ihm Diotima die Hand auf den Arm, mit stummer Erlaubnis, noch zu bleiben. Sie schien nachzudenken. Fischel zerbrach sich den Kopf, wie er ihr zu einem guten Einfall verhelfen könnte. Er hätte ihr gerne Geld für den führenden Herrn des Kriegsministeriums angeboten, von dem sie gesprochen hatte; aber ein solcher Gedanke war zu jener Zeit Wahnwitz. Fischel fühlte sich ohnmächtig. «Ein Midas!» fiel ihm ein; warum, wußte er nicht genau, und suchte sich an diese alte Geschichte zu erinnern, die irgendwie doch anders war. Dabei beschlugen sich seine Augengläser fast vor Rührung.

In diesem Augenblick kehrte Diotima zurück. «Ich glaube, Herr Generaldirektor, daß ich Ihnen vielleicht doch ein wenig helfen kann. Ich würde mich jedenfalls freuen, es zu können. Ich komme nicht los davon, daß man einen Geistigen nicht wider den Geist zwingen darf! Von der Art dieses Geistes spricht man natürlich besser zu den Herren des Kriegsministeriums nicht zu viel. »

Leo Fischel schloß sich dienstfertig dieser Verwahrung an. «Aber der Fall hat doch sozusagen auch eine 823

mütterliche Seite, » fuhr Diotima fort «eine weibliche, unlogische; ich meine, bei soundsoviel tausend Soldaten kann es doch auf einen einzelnen nicht ankommen. Ich werde versuchen, einem hohen Offizier, mit dem ich befreundet bin, begreiflich zu machen, daß Seine Erlaucht aus politischen Gründen Wert darauf legt, diesen jungen Mann freizubekommen; man soll ja doch immer die rechten Leute auf den rechten Platz stellen, und ihr zukünftiger Schwiegersohn stiftet in einer Kaserne nicht den geringsten Nutzen, wogegen er -: nun irgendwie denke ich mir das so. Leider sind die Herren Militärs ungemein widerstrebend gegen Ausnahmen. Aber, was ich hoffe, ist, daß wir für den jungen Mann wenigstens eine Beurlaubung auf längere Zeit erwirken können, und dann kann man ja über das Weitere noch nachdenken.

»

Leo Fischel beugte sich entzückt über Diotimas Hand. Er hatte volles Vertrauen zu dieser Frau gewonnen.

Dieser Besuch blieb auch nicht ohne Einfluß auf seine Denkweise. Aus begreiflichen Gründen war er in der letzten Zeit sehr materiell geworden. Seine Lebenserfahrungen hatten ihn auf den Standpunkt geführt, daß ein rechter Mann seine Sache selbst machen müsse. Unabhängig sein; nichts von anderen brauchen, wofür man nicht begehrte Gegenwerte hat: das ist aber auch ein Protestantengefühl, so gut wie nur das der ersten Kolonisten in Amerika es gewesen ist.

Leo Fischel philosophierte noch immer gern, wenngleich seine Zeit dafür noch viel knapper geworden war.

Seine Geschäfte brachten ihn jetzt manchmal in Berührung mit dem hohen Klerus. Er stellte fest, daß es der Fehler aller Religionen sei, die Tugend nur negativ, als Enthaltsamkeit und Selbstlosigkeit zu lehren; das macht sie unzeitgemäß und gibt den Geschäften, die man machen muß, beinahe etwas von heimlichen Sündenfällen. Dagegen hatte ihn die öffentliche Religion der Tüchtigkeit ergriffen, wie er sie in Deutschland bei seinen Geschäften antraf. Einem tüchtigen Menschen hilft man gern, mit anderen Worten, er findet überall Kredit: das war eine positive Formel, mit der man etwas schaffen konnte. Sie lehrte hilfsbereit sein, ohne auf Dankbarkeit zu rechnen, genau so wie es die christliche Lehre verlangt, aber schloß nicht die Unsicherheit ein, daß man sich auf irgendein edles Gefühl eines anderen Menschen verlassen müsse, sondern benützte den Egoismus als die einzige verläßliche Eigenschaft des Menschen, die er ohne Zweifel ist. Das Geld aber ist ein geniales Mittel, um diese Grundeigenschaft berechenbar und regulierbar zu machen. Es ist geordnete Selbstsucht, ins Verhältnis gebracht zur Tüchtigkeit. Eine ungeheure Organisation der Ichsucht nach der Rangordnung, es zu verdienen. Es ist eine schöpferische Großorganisation, aufgebaut auf der Gemeinheit. Nicht Kaiser, noch Könige haben die Leidenschaften so gezähmt wie das Geld. Fischel dachte oft darüber nach, welcher menschliche Halbgott das Geld erfunden haben mochte. Wäre schon alles dem Gelde zugänglich und würde jede Sache ihren Preis haben, wovon man leider noch entfernt ist, so würde eine andere Moral als das Bestehen des Handels überhaupt nicht nötig sein. Dies war seine Meinung und Überzeugung.

Er hatte schon in der Zeit seiner Verehrung für die großen Menschheitsideen immer auch eine gewisse Abneigung dagegen gehabt, wenn ein anderer von ihnen sprach. Wenn jemand schlechtweg Tugend sagt oder Schönheit, hat das etwas so Unnatürliches und Geziertes, wie wenn ein Österreicher in der Mitvergangenheit spricht. Jetzt war das noch gewachsen. Sein Leben ging in Arbeit, Machtstreben, Betriebsamkeit und der Abhängigkeit von Sachgrößen auf, die er beobachten und benutzen mußte. Das Geistige kam ihm immer mehr wie Wolken vor, die mit der Erde keinen Zusammenhang haben. Aber er war nicht glücklicher. Er fühlte sich irgendwo geschwächt. Alle Vergnügungen kamen ihm äußerlicher vor als früher. Er steigerte die Reize, mit dem Erfolg, daß er sich doch nur mehr zerstreute. Er machte sich über seine Tochter lustig, aber im geheimen beneidete er sie um ihre Ideen.

Und wie Diotima so sehr natürlich und zwanglos von Muttergefühl, Seele, Geist und Güte gesprochen hatte, hatte er immerzu gedacht: das wäre eine Mutter für Gerda! (?Frau für dich) Die Tränen rannen ihm ordentlich im Inneren herunter, so schön sprach sie, und so befriedigt konnte er verfolgen, wie aus diesen großen Worten in der vornehmsten Weise ein kleiner Korruptionsfall entstand, denn das war doch schließlich ihre Erfüllung seiner Bitte, mochte sie welche Gründe immer haben. In gewissen Fällen, wenn es sich um etwas Unrechtes handelt, ist der Idealismus doch beinahe noch besser, als die nackte Berechnung; das war die Lehre, die Fischel unmittelbar aus den Eindrücken seines Besuchs gezogen hatte, und die bei Gelegenheit eindringlich zu überlegen, er sich am Weiterweg vornahm.

112 Clarisse läßt müde ab. Im Sanatorium

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[Früher Entwurf]

Hausarzt: Aufenthalt in einem Sanatorium geraten; ein bißchen Liege-und Mastkur. Es ist nicht gut für die Nerven, wenn sie ganz ohne Fett daliegen - nachdem er den völlig knabenhaft gewordenen Körper Clarissens betrachtet hatte. Zur freudigen Überraschung Walters leistete Clarisse keinen Widerstand. Sie hat die erste Etappe zurückgelegt, nun ist es ganz gut, wenn sie sich ausruht und kräftigt. Außerdem hatte sie das Gefühl: «ich muß alles allein machen». (Sie empfand: alle sind doch nur halb; Walter, Ulrich, Meingast. > Sie fühlte ihren Kopf wie ein Berghaupt, um das Wolken ziehen; sie empfand Sehnsucht nach dem Horizontalen, sich ausstrecken, niederlegen, in einer stärkeren Luft als der der Stadt. Grünes, Umrankendes, Lichtdämpfendes schwebte ihr vor; Land, wie eine starke Hand, die zum Schlafen zwingt.

Wo. [tan = Siegmund] hatte sich angeboten, sie hinzubringen; Walter konnte vom Dienst nicht weg; litt, als ob sein Herz durch eine Wurstmaschine getrieben würde, als er die beiden abreisen sah.

Als Clarisse in dem Sanatorium eintraf, musterte sie es wie ein General. Mit ihrer Niedergeschlagenheit mischte sich schon wieder ein Gefühl ihrer Mission und Göttlichkeit, sie prüfte die Einrichtungen und Ärzte selbstbewußt auf die Frage, ob sie imstande sein würden, die Umwälzung der Weltideen zu umhegen, welche von hier ausgehen würden.

Die Diagnose, die man ihr gestellt hatte, war allgemeine Erschöpfung und Neurasthenie; Clarisse lebte ruhig und sorgsam bedient. Die fortwährenden Stöße, die ihren Körper wie eine Eisenbahnfahrt geschüttelt hatten, hörten auf; sie glaubte plötzlich zu erkennen, daß sie krank gewesen sei, während nun der Boden unter ihr wieder fester und elastischer wurde; sie empfand Zärtlichkeit für ihren gesundenden Körper (vorher Appetitlosigkeit, Durchfall… ), welcher ihren Geist nun auch «sorgsam bediente», wie sie, erfreut von dieser Einheit des Geschehens, feststellte. Aber die Geschehnisse der jüngsten Zeit kamen ihr mit einemmal fragwürdig vor.

Sie beschaffte sich Schreibzeug und ging daran, ihre Erfahrungen niederzuschreiben.

Sie schrieb einen Tag lang beinahe vom Morgen bis zum Abend. Ohne Bedürfnisse nach Luft und Essen; es fiel ihr auf, daß die körperlichen Tätigkeiten fast ganz zurücktraten, nur eine gewisse Scheu vor der sanatoriumsstrengen Hausordnung bewog sie, in den Speisesaal zu gehen. Sie hatte vor einiger Zeit irgendwo einen Aufsatz über Franz von Assisi gelesen; in dem Heft, das sie anlegte, kehrte er wieder, in ganzen Abschriften mit geringfügigen persönlichen Änderungen wiederholt, aber ohne daß sie das störte.