«Ich fühle mich als schlechten Theologen bloßgestellt» gab Ulrich lachend zu und bat: «Lies vor!»
Und Agathe hatte eine schwere Bibel in Händen, kein besonders altes oder kostbares Ding, aber immerhin eine nicht ganz neue Ausgabe, und las vor: «Ihr habt gehört, daß gesagt ist: du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: liebet eure Feinde, tut wohl denen, so euch beleidigen und verfolgen. Auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. »
«Weißt du vielleicht noch etwas?» bat Ulrich wißbegierig.
«Ja» fuhr Agathe fort. «Es steht geschrieben: <Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber sagt: du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldige>. Und dann doch auch dies, was du so gut weißt: <Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den ändern auch dar. Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und so dich jemand nötiget eine Meile, so gehe mit ihm zwei. >»
«Ich weiß nicht, mir gefällt es nicht!» meinte Ulrich.
Agathe blätterte. «Vielleicht gefällt dir das: <Ärgert dich deine rechte Hand, so haue sie ab und wirf sie von dir. Es ist dir besser, daß eines deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. >»
Ulrich nahm ihr das Buch ab und blätterte selbst darin.
«Das hat sogar mehrere Spielarten» rief er aus. Dann legte er das Buch ins Gras, zog sie neben sich und sagte eine Weile nichts. Endlich erwiderte er: «Im Ernst gesprochen, ich bin wie jedermann, oder zumindest wie jedem Mann ist es mir natürlich, diese Sprüche verkehrt anzuwenden. Ärgert dich seine Hand, so haue sie ab, und so du einen auf die Backe geschlagen hast, gib ihm vorsichtshalber auch noch einen Herzhaken.
642
»
59 Versuche, ein Scheusal zu lieben
[Variante zu: Sonderaufgabe eines Gartengitters Aus einem Entwurf]
Ein andermal fragte aber Agathe: «Mit welchem Recht darfst du denn gleich von einem <Weltbild> oder gar von einer <Welt> der Liebe sprechen? Von der Liebe <als dem Leben selbst>? Du bist leichtsinnig, mein Lieber!» Es war ihr zumute wie Schaukeln auf einem hohen Ast, der unter dieser Bemühung jeden Augenblick abzubrechen droht; doch fragte sie weiter: «Könnte man dann, wenn von einem Weltbild der Liebe, am Ende nicht auch von einem des Zornes, des Neides, des Stolzes, der Härte sprechen?»
«Alle anderen Gefühle dauern kürzer» erwiderte Ulrich. «Sie erheben auch nicht einmal den Anspruch, ewig zu währen. »
«Findest du es aber nicht ein wenig komisch von der Liebe, daß sie diesen Anspruch erhebt?» fragte Agathe.
Ulrich entgegnete: «Ich glaube, man könnte wohl davon sprechen, daß es auch anderen Gefühlen möglich sein müßte, eigentümliche Weltbilder zu gestalten, sozusagen einseitige oder einfarbige Welten; aber es ist immer so gewesen, daß der Liebe darin ein unklarer Vorzug und ein besonderer Anspruch auf weltgestaltende Kraft zugestanden worden
ist - - - Die allgemeine Roheit ist heute unerträglich. Aber
weil sie es ist, muß auch die Güte falsch sein! Die beiden hängen ja nicht wie auf einer Waage zusammen, wo ein Zuviel auf der einen Seite einem Zuwenig auf der anderen gleich ist, sondern hängen zusammen wie zwei Teile eines Körpers, die miteinander krank und gesund sind. Nichts ist also irriger, » fuhr er fort «als sich einzubilden, wie es allgemein geschieht, daß an dem Überhandnehmen böser Gesinnung ein Mangel an guter schuld sei: im Gegenteil, das Böse wächst offenbar durch das Wachsen einer falschen Güte!»
«Das haben wir schon oft gehört» erwiderte Agathe mit angenehm trockenem Spott. «Aber es ist scheinbar nicht einfach, auf die gute Weise gut zu sein!»
«Nein, es ist nicht einfach zu lieben!» wiederholte Ulrich lachend.
Sie lagen und sahen in die blaue Sonnenhöhe; dann wieder durch das Gitter auf die Straße, die sich vor den vom Sommerhimmel geblendeten Augen in einem dunstig erregten Grau wälzte. Stille senkte sich herab.
Langsam wandelte sich das im Gespräch gehoben gewesene Selbstgefühl in Ent-mächtigung, ja Entführung des Ich. Ulrich erzählte leise: «Ich habe das großartig flunkernde Begriffspaar <egozentrisch und allozentrisch> erfunden. Die Welt der Liebe wird entweder egozentrisch oder allozentrisch erlebt; die gewöhnliche Welt kennt aber nur Egoismus und Altruismus, ein im Vergleich damit
zanksüchtig-vernünftiges Brüderpaar. Egozentrisch sein heißt fühlen, als trüge man im Mittelpunkt seiner Person den Mittelpunkt der Welt. Allozentrisch heißt, überhaupt keinen Mittelpunkt mehr haben. Restlos an der Welt teilnehmen und nichts für sich zurücklegen. Im höchsten Grad, einfach aufhören zu sein. Ich könnte auch Hereinwendung der Welt und Hinauswendung des Ich sagen. Es sind die Ekstasen der Selbstsucht und Selbstlosigkeit. Und obwohl die Ekstase scheinbar ein Auswuchs des gesunden Lebens ist, darf man scheinbar auch sagen, daß die moralischen Begriffe des gesunden Lebens eine Verkümmerung ursprünglich ekstatischer sind. »
Agathe dachte: «Mondnacht… Zwei Meilen… » Auch vieles andere schwebte ihr durch den Kopf. Was ihr Ulrich erzählte, war eine Fassung mehr von alle dem; sie hatte nicht den Eindruck, daß sie etwas verliere, wenn sie nicht ganz scharf aufpasse, obwohl sie gerne zuhörte. Dann dachte sie daran, daß Lindner behaupte, man müsse für irgendetwas leben und dürfe nicht an sich denken, und sie fragte sich, ob das auch
«Allozentrik» wäre. In einer Aufgabe aufzugehen, wie er es verlangte? Sie bezweifelte es. Fromme Menschen haben ihre Lippen begeistert auf die Wunden von Aussätzigen gedrückt: eine abscheuliche Vorstellung! eine «lebensfremde Übertreibung», wie Lindner gerne sagte! Aber was er schon für das Gottgefällige hielt, ein Spital zu errichten, das ließ sie kalt. So geschah es, daß sie ihren Bruder nun am Ärmel zupfte und mit den Worten: «Da ist inzwischen unser Mann eingetroffen!» unterbrach. Sie hatten sich nämlich, teils im Scherz, teils durch Gewöhnung, einen besonders unangenehmen Mann ausgewählt, den sie für ihre Gedankenversuche benutzten, und das war ein Bettler, der täglich für einige Zeit an ihrem Gartengitter sein Geschäft betrieb. Er behandelte den Steinsockel als Bank, die für ihn bereitstand, er 643
breitete jeden Tag zuerst ein durchfettetes Papier mit Speiseresten neben sich aus, an denen er sich gemächlich sättigte, ehe er seine Geschäftsmiene aufsetzte und den Rest wieder einsteckte; er war ein untersetzter Mensch mit kräftigem, eisengrauem Haar, hatte das fahle, tückische Gesicht eines Trinkers und war schon einigemal von großer Roheit in der Behauptung seines Platzes gewesen, als andere Bettler arglos in seine Nähe kamen: Die Geschwister haßten diesen Mitgenießer, der ihr Eigentum — und verfeinert das ihnen Eigentümliche, ihre Einsamkeit - verletzte, mit einem urwüchsigen Besitzinstinkt, über den sie lachen mußten, weil er ihnen gänzlich unstatthaft erschien; und gerade darum verwandten sie auch den häßlichen, bösartigen Gast bei den kühnsten und zweifelhaftesten Beschwörungen der Nächstenliebe.
Kaum hatten sie ihn ins Auge gefaßt, sagte Ulrich lächelnd: «Ich wiederhole: Wenn du dich bloß, wie man es nennt, in seine Lage versetzt oder irgendeine ungenaue soziale Mitverantwortung für ihn spürst, ja selbst wenn er dir nur als malerisch zerlumptes Bild erscheint, so sind auch schon darin einige Promille des echten
<Sich in einen anderen versetzens> enthalten. Nun mußt du es hundertprozentig versuchen!»
Agathe schüttelte lachend den Kopf.
«Stell dir vor, du wärest mit diesem Menschen in allem so einverstanden, wie du es mit dir selbst bist!»
schlug Ulrich vor.
Agathe verwahrte sich: «Ich war nie mit mir einverstanden!»
«Aber du wirst es dann sein» sagte Ulrich. Er faßte ihre Hand. Agathe ließ es geschehen und sah den Mann an. Sie wurde eigentümlich ernst, und nach einer Weile erklärte sie: «Er ist mir fremder als der Tod. »
Ulrich schloß seine Hand vollständiger um die ihre und forderte noch einmal: «Versuch es nur!»
Nach einer Weile sagte Agathe: «Es ist mir, als hinge ich an dieser Figur; ich selbst, und nicht bloß meine Neugierde!» Ihr Gesicht hatte durch die Anspannung der Aufmerksamkeit und deren Einschränkung auf einen einzigen Gegenstand einen schlafwandlerisch-unwillkürlichen Ausdruck bekommen.
Ulrich half nach: «Es ist ähnlich wie in einem Traum; rauh-süß, fremd-selbst begegnet man sich in der Gestalt eines anderen?»
Agathe wehrte mit einem Lächeln ab. «Nein, so bezaubert sinnlich wie in solchen Träumen ist es wohl nicht» sagte sie.
Ulrichs Augen ruhten auf ihrem Gesicht. «Versuch ihn gleichsam zu träumen!» riet er überredend.
«Vorsichtige Sparer, bestehen wir in wachem Zustand meistens aus Hingabe und Zurücknahme; wir nehmen teil, und bewahren uns dabei. Aber im Traum ahnen wir zitternd, wie herrlich eine Welt ist, die ganz aus Verschwendung besteht!»
«Vielleicht ist es so» antwortete Agathe zögernd und abgelenkt. Ihre Augen hafteten fest an dem Mann.
«Gott sei Dank, » sagte sie nach einiger Zeit langsam «er ist jetzt wieder ein gewöhnliches Scheusal geworden!» Der Mann hatte sich erhoben, suchte seine Sachen zusammen und ging weg. «Es ist ihm unheimlich gewesen!» behauptete Ulrich und lachte. Als er schwieg, hob sich der gleichmäßige Lärm der Straße und mischte sich mit dem Sonnenschein zu einem eigenartigen Gefühl der Stille. Nach einer Weile fragte Ulrich nachdenklich: «Ist es nicht seltsam, daß sich fast jeder einzelne Mensch selbst am wenigsten kennt und am meisten liebt? Aber es ist offenbar eine Schutzeinrichtung. Und auch <Liebe deinen Nächsten wie dich selbst> heißt auf diese Weise: liebe ihn, ohne daß du ihn kennst, ehe du ihn kennst, obschon du ihn kennst. Ich kann verstehen, daß man dies bloß für einen übermäßigen Ausdruck hält, aber ich bezweifle, daß damit der Forderung genügt wird; denn, ernstlich befolgt, verlangt sie: Liebe ihn ohne Verstand. So geht eben eine scheinbar alltägliche Forderung, wenn man sie genau nimmt, in eine ekstatische über!»
Agathe erwiderte: «Das <Scheusal> ist wahrhaftig dabei schon beinahe schön gewesen!»
Ulrich sagte: «Ich glaube, man liebt nicht nur etwas, weil es schön ist, sondern es wird auch schön, weil man es liebt. Schönheit ist nichts anderes als der Ausdruck davon, daß etwas geliebt worden ist, alle Schönheit der Kunst und der Welt hat ihren Ursprung in der Kraft, eine Liebe verständlich zu machen… »
Agathe dachte an die Männer, mit denen sie das Leben zusammengebracht hatte. Das Gefühl, von einem fremden Wesen zuerst beschattet zu sein, dann in diesem Schatten die Augen aufzuschlagen, ist seltsam.
Sie vergegenwärtigte es sich. Verschmolz da nicht Fremdes, fast Feindseliges im Kuß zweier Leben?! Die Körper bleiben vereint getrennt. Achtet man auf sie, so empfindet man das Abstoßende und Häßliche in unverminderter Stärke. Sogar als Schreck. Man ist auch sicher, geistig nichts miteinander zu tun zu haben.
Die Verschiedenheit und Trennung der Personen ist schmerzhaft deutlich. War eine Täuschung darüber vorhanden, daß man geheimnisvoll übereinstimme, gleich oder einander ähnlich sei, so verflüchtigt sie sich 644
in diesem Augenblick wie ein Nebel. Nein, man täusche sich nicht im geringsten, dachte Agathe. Und trotzdem erlischt die Ichhaftigkeit zum Teil, das Ich ist gebrochen, und unter Zeichen, die nicht weniger eine Gewalttat als ein süßes Opfer bedeuten, ergibt es sich in seinen neuen Zustand. All das bewirkt ein
«Hautreiz»? Zweifellos vermögen die anderen Liebesarten nicht so viel. Vielleicht hatte Agathe so oft die Neigung gespürt, Männer zu lieben, die ihr mißfielen, weil da die merkwürdige Umbildung am vernunftlosesten stattfindet. Auch die merkwürdige Anziehung, die neuerdings Lindner auf sie ausgeübt hatte, bedeutete nichts anderes, sie zweifelte nicht daran. Sie wußte aber kaum, daß sie darüber nachdachte; auch Ulrich hatte einmal einbekannt, daß er oft das liebe, was ihm mißfalle, und sie glaubte an ihn zu denken. Sie erinnerte sich daran, daß sie zeitlebens in lauter vorbeirinnenden Umgebungen geglaubt hatte, hoffnungslos die gleiche zu bleiben; sie hatte sich nie aus eigenem Vorsatz ändern können, und doch war jetzt als Geschenk ohne jede Bemühung an die Stelle von Verdruß und Ekel ein von Sommerkräften getragenes Schweben getreten. Dankbar sagte sie zu Ulrich: «Mich hast du zu dem gemacht, was ich bin, weil du mich liebst!»
Ihre Hände, die verschlungen gewesen waren, hatten sich gelöst und ruhten nur noch mit den Fingerspitzen aneinander; jetzt erwachten diese Hände wieder zu Bewußtsein, und Ulrich umfaßte mit der seinen die seiner Schwester. «Mich hast du ganz verändert» erwiderte er. «Ich habe vielleicht Einfluß auf dich, aber dabei bist es doch nur du, die gleichsam durch mich fließt!»
Agathe schmiegte ihre Hand an die umfassende. «Eigentlich kennst du mich gar nicht!» sagte sie.
«An Menschenkenntnis liegt mir nichts» erwiderte Ulrich. «Das einzige, was man von einem Menschen wissen soll, ist es, ob er unsere Gedanken fruchtbar macht. Es sollte keine andere Menschenkenntnis geben als diese!»
Agathe fragte: «Wie bin ich dann aber wirklich?»
«Du bist überhaupt nicht wirklich» erwiderte Ulrich lachend. «Ich sehe dich, wie ich dich brauche, und du machst mich, was ich brauche, sehen. Wer vermöchte da leicht zu sagen, wo das Ursprüngliche und Gründende ist. Wir sind ein in der Luft schwebendes Band. »
Agathe lachte auf und fragte: «Wenn ich dich enttäusche, wirst also du schuld haben?»
«Ohne Zweifel» sagte Ulrich. «Denn es gibt Höhen, wo es keinen Sinn hat, zu unterscheiden zwischen: ich habe mich in dir geirrt, und: ich habe mich in mir selbst geirrt. Zum Beispiel die des Glaubens, die der Liebe, die der Großmut. Wer aus Großmut handelt, oder, wie man auch sagt, aus Größe, der fragt nicht nach Täuschung, noch nach Sicherheit. Er darf sogar manches nicht wissen wollen, er wagt den Sprung über die Unwahrheit… »
«Könntest du nicht auch gegen Professor Lindner großmütig sein?» fragte Agathe ziemlich überraschend; denn sie sprach sonst nie von Lindner, wenn nicht ihr Bruder damit anfing. Ulrich wußte, daß sie ihm etwas verschweige. Sie verheimlichte nicht gerade, daß sie zu Lindner in irgendeiner Beziehung stehe, aber sie erzählte auch nicht, in welcher. Er erriet diese ungefähr und fügte sich mit Mißbehagen in die Notwendigkeit, Agathe ihren eigenen Umweg gehen zu lassen. Diese hatte nun in dem Augenblick, wo ihr aus Gott weiß welchen Gründen eine solche Frage über die Lippen sprang, sofort wieder festgestellt, wie schlecht doch das Wort Professor Lindner mit dem Worte Großmut zusammenpasse. Sie fühlte sowohl, daß Großmut auf irgendwelche Weise berufslos sei, als auch, daß Lindner in einer unangenehmen Art gut sei.
Ulrich war verstummt. Sie suchte ihm ins Gesicht zu blicken, und als er dieses, wie er nur vermochte, abwandte, zupfte sie ihn am Ärmel. Sie benutzte so lange den Ärmel als Klingelzug, bis Ulrichs lachendes Gesicht wieder im Torrahmen des Kummers erschien und er ihr warnend eine kleine Rede darüber hielt, daß derjenige leicht ins Lächerliche verfalle, welcher in seinem Großmut den Boden des Wirklichen zu früh verlasse. Es bezog sich das aber nicht nur auf Agathes Großmut-Bereitschaft gegenüber dem verdächtigen Manne Lindner, sondern richtete einen Zweifel auch auf jene nicht zu betrügende wahre Empfindsamkeit, darin Wahrheit und Irrtum bei weitem weniger Bedeutung haben als das dauernde Strahlen des Gefühls und seine Kraft, alles sich anzuwandeln.
60 Nachdenken
Seit diesem Auftritt meinte Ulrich, daß er vorwärts getragen würde; eigentlich wäre nur zu sagen gewesen, daß etwas Unverständliches neu hinzugekommen sei, er nahm es aber als Zuwachs an Wirklichkeit auf. Er 645
handelte dabei vielleicht ein wenig wie einer, der seine Meinungen gedruckt gelesen hat und seither von ihrer Unumstößlichkeit überzeugt ist; aber er mochte das belächeln, zu ändern vermochte er es nicht. Und Agathe hatte ihm, gerade als er seine Schlüsse aus dem tausendjährigen Buch ziehen, vielleicht aber auch nur sein Erstaunen nochmals ausdrücken wollte, erwidert und mit dem Ausruf das Wort abgeschnitten:
«Das haben wir ja schon lange besprochen!» Daß sie immer recht behielte, auch dann, wenn sie es nicht hätte, fühlte Ulrich! Denn ob es zwar nichts weniger als richtig sein konnte, daß zwischen ihnen schon genug gesagt worden wäre, - geschweige denn das Wahre oder Entscheidende! — ja gerade ein solches erlösendes Geschehen oder Zauberwort ausgeblieben war, auf das man anfangs noch hatte hoffen mögen: so wußte er doch auch, daß die Fragen, die sein Leben schon fast seit einem Jahr beherrschten, nun sehr eng und dicht, und nicht in einer verständigen, sondern in einer lebendigen Weise, um ihn zusammengerückt seien. Gerade so, als wäre nun bald doch genug über sie gesprochen worden, wenn sich auch die Antwort nicht eben in Worten ausdrückte.
Er konnte sich nicht einmal vollständig erinnern, was er darüber im Lauf der Zeit gesagt und gedacht hatte, ja beiweitem vermochte er das nicht. Er war wohl offenbar ausgezogen, um mit allen Menschen davon zu sprechen; aber es lag ja auch an dem Vorwurf selbst, daß sich nichts, was man über ihn zu sagen vermochte, in einer fortschreitenden Art aneinander fügte, sondern daß sich alles ebenso vielfältig zerstreute wie berührte. Es entstand immer wieder die gleiche Bewegung des Geistes, die sich von der gewöhnlichen deutlich unterschied, und der Reichtum des in sie Einbezogenen wuchs; aber Ulrich mochte sich erinnern, woran er wollte, so war es von einer solchen Eingebung zur ändern immer ebenso weit, wie es zu einer dritten gewesen wäre, und nirgends hob sich eine Behauptung durch ihre beherrschende Stellung hervor.
Auf diese Weise erinnerte er sich jetzt auch daran, daß einstmals ein dem ähnliches «Gleichweit», wie es hier zwischen den Gedanken beinahe lästig und entmutigend wirkte, auf das beglückendste zwischen ihm und der ganzen Welt, die um ihn war, bestanden hatte; scheinbar oder wirklich, eine Aufhebung des Geistes der Trennung, ja beinahe des Raums. Das war damals, in seinen allerersten Mannesjahren, auf der Insel geschehen, wohin er sich vor der Frau Major, mit ihrem Bilde im Herzen, geflüchtet hatte. Er hatte es wohl auch fast mit den gleichen Worten beschrieben. Alles war auf unverständlich sichtbare Weise durch einen Zustand der Liebesfülle verändert, als hätte er ehedem nur einen Zustand der Armut gekannt. Selbst der Schmerz war Glück. Beinahe auch sein Glück ein Schmerz. Alles war ihm hangend zugeneigt. Es schien, daß alle Dinge von ihm wüßten, und er von ihnen; daß alle Wesen von einander wüßten, und daß es doch ein Wissen überhaupt nicht gäbe, sondern daß Liebe mit ihren Attributen der schwellenden Fülle und des reifenden Werdens als das einzige und vollkommene Gesetz diese Insel beherrschte. Er hatte das später, mit geringfügigen Änderungen, oft genug als Vorlage benutzt, und mehr oder minder hätte er auch in den letzten Wochen diese Beschreibung erneuern können; es war durchaus nicht schwer, in ihr fortzufahren, und je bedenkenloser man es tat, desto fruchtbarer geschah es. Aber gerade diese Unbestimmtheit war das, woran ihm jetzt am meisten lag. Denn hingen seine Gedanken so zusammen, daß sich ihnen nichts Wesentliches hinzufügen ließ, das sie nicht aufgenommen hätten wie einen Hinzukommenden, der in einer Versammlung verschwindet, so bewiesen sie damit doch bloß ihre Ähnlichkeit mit den Empfindungen, durch die sie zum erstenmal in Ulrichs Leben gerufen worden waren; und diese Übereinstimmung einer, nun durch Agathe, zum zweitenmal erlebten Veränderung der Sinnessphäre, von der die Welt ergriffen zu werden schien, mit einem veränderten Denken, - von dem man auch hätte sagen können, daß es sich in unendlichen Träumen auf seinem Platz winde; und schon einmal war es schließlich daran ermattet! - diese merkwürdige Übereinstimmung, die Ulrich heute erst ganz beachtete, gab ihm Mut und Befürchtungen ein.
Er wußte noch, daß er damals den Ausdruck, ins Herz der Welt geraten zu sein, gebraucht hatte. Gab es das?
War es wirklich mehr als eine Umschreibung? Er war dem Anspruch der Mystik, daß man sich selbst aufgeben müsse, nur mit Ausschluß des Kopfes geneigt: aber mußte er sich nicht gerade darum eingestehn, daß er heute nicht viel mehr davon wisse als ehedem?!
Er ging weiter diese Breiten entlang, die scheinbar nirgends in ihre Tiefen einließen. Ein andermal hatte er alles dies «das rechte Leben» genannt; wohl noch vor kurzem, wenn er nicht irrte; und erst wenn man ihn früher gefragt hätte, was er treibe, so hätte er auch während seiner exaktesten Beschäftigungen gewöhnlich keine andere Antwort darauf gehabt als die, daß sie Vorarbeiten für das rechte Leben seien. Daran nicht zu denken, war überhaupt unmöglich. Zwar ließ sich nicht sagen, wie es aussehen müßte, ja nicht einmal, ob es wirklich eines gebe, und es war vielleicht nur eine jener Ideen, die mehr ein Wahrzeichen als eine Wahrheit 646
sind; aber ein Leben ohne Sinn, eines, das nur den sogenannten Erfordernissen gehorchte, und ihrem als Notwendigkeit verkleideten Zufall, somit ein Leben der ewigen Augenblicklichkeit - und da fiel ihm wieder ein Ausdruck ein, den er einmal gebildet hatte: Die Vergeblichkeit der Jahrhunderte! -: ein solches Leben war ihm einfach eine unerträgliche Vorstellung! Nicht weniger aber auch ein Leben «für etwas», diese von Meilensteinen beschattete Landstraßendürre inmitten undurchmessener Breiten. Das alles mochte er ein Leben vor der Entdeckung der Moral heißen. Denn auch das war eine seiner Ansichten, daß die Moral nicht von den Menschen geschaffen wird und mit ihnen wechselt, sondern daß sie geoffenbart wird, daß sie in Zeiten und Zonen entfaltet wird, daß sie geradezu entdeckt werden könne. In diesem Gedanken, der so unzeitgemäß wie zeitgemäß war, drückte sich vielleicht nichts als die Forderung aus, daß auch die Moral eine Moral haben müsse, oder die Erwartung, daß sie sie im Verborgenen habe, und nicht bloß eine sich um sich selbst drehende Klatschgeschichte auf einem bis zum Zusammenbruch kreisenden Planeten sei. Er hatte natürlich niemals geglaubt, daß der Inhalt solcher Forderung mit einem Schlag entdeckt werden könnte; es kam ihm bloß wünschenswert vor, beizeiten daran zu denken, das heißt, in einem Zeitpunkt, der nach etlichen Jahrhunderttausenden zwecklosen Drehens verhältnismäßig günstig und geeignet für die Frage zu sein schien, ob sich nicht eine Erfahrung daraus gewinnen lasse. Aber freilich, was wußte er nun auch von dem wirklich? Es war im ganzen nicht mehr, als daß auch dieser Kreis von Fragen im Verlauf seines Lebens dem gleichen Gesetz oder Schicksal unterworfen gewesen sei wie die anderen Kreise, die sich nach allen Seiten aneinanderschlossen, ohne eine Mitte zu bilden. Er wußte natürlich mehr davon! Zum Beispiel, daß so zu philosophieren, wie er es da tat, für schrecklich unernst gelte, und er wünschte in diesem Augenblick auf das lebhafteste, diesen Irrtum widerlegen zu können. Er wußte auch, wie man so etwas beginnt: er kannte einigermaßen die Geschichte des Denkens; er hätte darin ähnliche Bemühungen finden können und ihre erbitterte oder spöttische oder ruhige Bestreitung; er hätte sein Material ordnen, einordnen können; er hätte Fuß fassen und über sich hinausgreifen können. Für eine Weile erinnerte er sich schmerzlich seiner früheren Tüchtigkeit und namentlich jener Gesinnung, die ihm so natürlich war, daß sie ihm einmal sogar den Spottnamen eines «Aktivisten» eingetragen hatte. War er denn nicht mehr der, den beständig die Vorstellung begleitete, daß man sich um die «Ordnung des Ganzen»
bemühen müsse; hatte nicht er mit einer gewissen Hartnäckigkeit die Welt einem «Laboratorium» einer
«Experimentalgemeinschaft» verglichen; hatte er nie von einem «fahrlässigen Bewußtseinszustand der Menschheit» gesprochen, der in einen Willen zu verwandeln wäre; gefordert, daß man Geschichte
«machen» müsse; hatte er nicht schließlich wirklich, wenn es auch nur spöttisch geschah, ein
«Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele» verlangt? Das war nicht vergessen, denn darin kann man sich nicht plötzlich ändern; das war bloß augenblicklich außer Wirksamkeit gesetzt! Es ließ sich auch nicht verkennen, woran das liege. Ulrich hatte nie über seine Gedanken Buch geführt; aber selbst wenn er sich aller auf einmal hätte entsinnen können, so wäre es ihm, das wußte er, nicht möglich gewesen, sie einfach vorzunehmen, zu vergleichen, an möglichen Erklärungen zu prüfen und schließlich das reine, so dünne Blättchen des Metalls der Wahrheit aus den Dämpfen zum Vorschein zu führen. Es war ja eine Eigentümlichkeit dieser Art von Gedanken, daß sie keinen Fortschritt zur Wahrheit besaß; und obwohl Ulrich im Grunde voraussetzte, daß sich ein solcher Fortschritt durch einen unendlichen und langsamen Vorgang in der Gesamtheit einmal doch einstellen werde, so war es ihm kein Trost, denn er besaß nicht mehr die Geduld des Sich-überleben-lassens von dem, wozu man bloß wie eine Ameise etwas beiträgt. Seine Gedanken standen mit der Wahrheit längst nicht mehr auf dem besten Fuß, und nun kam ihm wieder das als die Frage vor, die am dringendsten der Aufklärung bedurft hätte. Er war aber damit nochmals auf den Gegensatz von Wahrheit und Liebe zurückgekommen, der ihm kein neuer war. Es fiel ihm ein, wie oft in den letzten Wochen Agathe über seine, für ihren Geschmack noch viel zu pedantische Wahrheitsliebe gelacht habe; und manchmal mochte sie davon auch Kummer gehabt haben! Und plötzlich fand er sich bei dem Gedanken, daß es eigentlich kein widerspruchsvolleres Wort gebe als Wahrheitsliebe. «Denn man kann die Wahrheit auf Gott weiß wieviel Weisen hochstellen, bloß lieben darf man sie nicht, weil sie sich ja in der Liebe auflöst» dachte er. Und diese Behauptung, - keineswegs das gleiche wie die kleinmütige, daß die Liebe keine Wahrheit vertrage - war für ihn ebenso vertraut-unvollendbar wie alles übrige. Sobald einem Menschen die Liebe nicht als ein Erlebnis begegnet, sondern als das Leben selbst, mindestens als eine Art des Lebens, kennt er mehrere Wahrheiten. Der ohne Liebe Urteilende nennt das Ansichten, persönliche Auffassungen, Subjektivität, Willkür; aber der Liebende weiß, er ist nicht unempfindlich für 647
die Wahrheit, er ist überempfindlich. Er befindet sich in einer Art Enthusiasmus des Denkens, wo sich die Worte bis zum Grund öffnen. Das kann natürlich eine Täuschung sein, und Ulrich berücksichtigte es, die natürliche Folge allzu lebhaft beteiligten Gefühls. Wahrheit entsteht bei kaltem Blut; das Gefühl ist ihr abträglich, und sie dort zu erwarten, wo etwas «Sache des Gefühls» ist, gilt nach aller Erfahrung für ebenso verkehrt, wie Gerechtigkeit vom Zorn zu fordern. Trotzdem war es unbezweifelbar, was die Liebe als «das Leben selbst» von der Liebe als Erlebnis der Person unterschied. Und Ulrich überlegte nun, wie deutlich doch die Schwierigkeiten, die ihm die Ordnung seines Lebens darbot, immer mit diesem Begriff einer übermächtigen, sozusagen ihre Kompetenz überschreitenden, Liebe zusammengehangen seien. Von dem Leutnant, der ins Herz der Welt versank, bis zu dem Ulrich des letzten Jahres mit seiner mehr oder weniger überzeugten Behauptung, daß es zwei grundlegend verschiedene und schlecht verschmolzene Lebenszustände, Ichzustände, ja vielleicht sogar Weltzustände gebe, waren die Bruchstücke der Erinnerung, soweit er sie sich zu vergegenwärtigen vermochte, alle in irgendeiner Form mit dem Verlangen nach Liebe, Zärtlichkeit und gartenhaft-kampflosen Seelengefilden verbunden. In diesen Breiten lag auch die Vorstellung des «rechten Lebens»; so leer sie im hellen Verstandeslicht sein mochte, so reich wurde sie vom Gefühl mit halb geborenen Schatten erfüllt.
Es war ihm gar nicht angenehm, diese Bevorzugung der Liebe in seinem Denken so eindeutig anzutreffen; er hatte eigentlich erwartet, daß darin mehr und noch anderes zu gewahren sein müßte und daß Erschütterungen wie die des letzten Jahres ihre Bewegung nach verschiedenen Richtungen getragen hätten; ja, es kam ihm wirklich wunderlich vor, daß der Eroberer, dann der Moralingenieur, als die er sich in seinen Kraftjahren erwartet hatte, schließlich zu einem Minnenden und Minnesüchtigen ausreifen sollten.
61 Frühspaziergang
Um Clarissens Mund kämpfte Lachen mit Schwierigkeiten; bald öffnete er sich, bald preßte er sich schmal zusammen. Sie war vorzeitig aufgestanden; Walter schlief noch, sie hatte rasch ein leichtes Kleid übergeworfen und war ins Freie getreten. Die Vögel sangen vom Wald herüber durch die leere Morgenstille.
Die Halbkugel des Himmels war noch nicht mit Wärme ausgefüllt. Selbst das Licht war noch seicht verteilt.
«Es reicht mir nur an die Knöchel, » dachte Clarisse «der Hahn des Morgens ist soeben erst aufgedreht worden! Alles ist vor der Zeit!» Clarisse war stark davon berührt, daß sie vor der Zeit durch die Welt wandere. Ohne einen Begriff damit zu verbinden, hätte sie beinahe geweint.
Clarisse war ein zweitesmal, ohne Walter oder Ulrich etwas davon zu sagen, im Irrenhaus gewesen. Seither war sie besonders erregbar. Sie bezog alles, was sie während der beiden Besuche gesehen hatte, persönlich auf sich. Aber namentlich beschäftigten sie drei Vorkommnisse: Das erste war, daß man sie als kaiserlichen Sohn und Mann angesprochen und begrüßt hatte. Bei der Wiederholung dieser Behauptung hatte sie ganz deutlich ihren Widerstand dagegen nachgeben gefühlt, so als ob etwas Gewöhnliches, das sonst dem Fürstlichen im Wege stand, verschwände. Und sie war von einer unaussprechlichen Lust erfüllt worden.
Das zweite, was sie erregte, war, daß sich auch Meingast verwandelte, und dazu offenbar ihre und Walters Nähe benützte. Seit sie ihn - es mochte nun wohl schon einige Wochen her sein! - im Gemüsegarten gestellt und durch den wahrhaft seherischen Zuruf in Schrecken versetzt hatte, daß auch sie sich verwandle und ein Mann sein könne, mied er ihre Gesellschaft. Sie hatte ihn von da an nicht einmal mehr bei den Mahlzeiten oft gesehn; er sperrte sich mit seiner Arbeit ein oder blieb tagsüber außer Hause, und wenn er Hunger hatte, holte er sich heimlich etwas aus der Speisekammer. Erst ganz vor kurzem war es ihr gelungen, ihn wieder allein anzureden. Sie hatte ihm gesagt: «Walter hat mir verboten, davon zu sprechen, daß du dich bei uns verwandelst!» und sie hatte mit den Augen gezwinkert. Meingast verhehlte sich jedoch auch da und tat überrascht, ja sogar ärgerlich. Clarisse aber hatte ihm gesagt: «Ich werde dir vielleicht zuvorkommen!»
Und sie brachte das mit dem ersten Vorkommnis in Zusammenhang. Von Überlegung hatte das wenig an sich, und war darum auch in Beziehung zur Wirklichkeit ungewiß; aber deutlich war darin das wollüstige Hervordrängen eines anderen Wesens aus dem Grunde des ihren zu fühlen gewesen.
Clarisse war nun überzeugt, die Irren hätten sie erraten. Und als weder durch den heimlich widerstrebenden General von Stumm noch durch Ulrich eine Einladung kam, den
unterbrochenen Besuch zu wiederholen, hatte sie nach langem Zögern selbst Dr. Friedenthal angerufen und ihm angekündigt, daß sie ihn im Krankenhaus aufsuchen werde. Und der Doktor hatte alsbald für Clarisse 648
Zeit gehabt. Als sie ihn gleich bei ihrem Kommen fragte, ob die Irren nicht vieles wüßten, was die Gesunden nicht errieten, hatte er lächelnd den Kopf geschüttelt, aber tief in ihre Augen geschaut und mit wohlgefälliger Betonung geantwortet: «Die Ärzte der Irren wissen viel, was die Gesunden nicht ahnen!»
Und als er seinen Rundgang antreten mußte, hatte er sich erboten, Clarisse zu Moosbrugger mitzunehmen und dort zu beginnen, wo sie das letztemal aufgehört hätten. Clarisse war wieder in den weißen Mantel geschlüpft, den ihr Friedenthal hinhielt, als wäre das schon ganz natürlich.
Aber - und das war das dritte Vorkommnis, das Clarisse noch nachttäglich und noch mehr als die übrigen erregte — es war wieder nicht dazu gekommen, daß sie Moosbrugger sah. Denn es war etwas Merkwürdiges geschehn. Als sie den letzten Pavillon verlassen hatten und im Gehen die freie würzige Luft des Parks einatmeten, wobei Friedenthal unternehmungslustig sagte: «Nun kommt aber Moosbrugger an die Reihe!», war wieder ein Wärter dahergelaufen gekommen und hatte eine Meldung hinterbracht.
Friedenthal zuckte die Schultern und sagte: «Sonderbar! Es geht wieder nicht! Bei Moosbrugger ist im Augenblick der Chef mit einer Kommission. Ich kann Sie nicht mitnehmen!» Und nachdem er ihr aus eigenem versprochen hatte, sie, sobald es möglich sei, zur Fortsetzung einzuladen, war er mit großen Schritten weggegangen, indes Clarisse durch den Wärter zurück auf die Straße gebracht worden war.
Clarisse fand dieses zweimalige Leerausgehen ihres Besuchs auffällig und ungewöhnlich und vermutete eine Ursache dahinter. Sie hatte den Eindruck, daß man sie geflissentlich nicht zu Moosbrugger lasse und jedesmal eine andere Ausrede ersänne, ja vielleicht die Absicht habe, Moosbrugger verschwinden zu lassen, ehe sie ihn erreiche.
Als sich Clarisse das jetzt wieder überlegte, hätte sie beinahe geweint. Sie hatte sich überlisten lassen und fühlte sich sehr beschämt; denn von Friedenthal war wieder keine Nachricht gekommen. Aber während sie sich so aufregte, beruhigte sie sich auch wieder. Es fiel ihr ein Gedanke ein, der sie jetzt oft beschäftigte, daß im Verlauf der menschlichen Geschichte viele große Männer von ihren Zeitgenossen verheimlicht und gemartert worden und viele sogar im Irrenhaus verschwunden seien. «Sie haben sich nicht wehren, noch erklären können, weil sie nur Verachtung für ihre Zeit empfanden!» dachte sie. Und sie erinnerte sich an Nietzsche, den sie vergötterte, mit dem großen traurigen Lippenbart, und ganz stumm geworden dahinter.
Es wurde ihr dabei aber unheimlich zumute. Was sie soeben noch beleidigt und gekränkt hatte, ihre Niederlage durch den listigen Arzt, leuchtete ihr plötzlich als ein Zeichen davon ein, daß auch ihr das Schicksal eines solchen großen Menschen vorbestimmt sein könnte. Ihre Augen suchten die Richtung, in der das Irrenhaus lag, und sie wußte, daß sie diese Richtung immer als etwas Besonderes fühlte, auch wenn sie nicht daran dachte. Es war ungemein bedrückend, sich so mit den Irren eins zu fühlen, aber «sich mit dem Unheimlichen gleichzustellen, ist die Entscheidung zum Genie!» sagte sie sich.
Inzwischen war die Sonne aufgegangen, und die Landschaft wirkte dadurch noch leerer; sie war grün und kühl mit blutigen Streifen; die Welt war noch immer niedrig und reichte Clarisse, die auf einer kleinen Anhöhe stand, nur bis an die Knöchel. Da und dort schrieeine Vogelstimme auf wie eine arme Seele. Ihr schmaler Mund breitete sich aus und lächelte der Morgenrunde zu. Sie stand, von ihrem Lächeln umgürtet, wie die Muttergottes auf der von der Sünde (Mondsichel) umschlungenen Erde. Sie überlegte, was sie zu tun habe. Eine eigentümliche Opferstimmung beherrschte sie: Allzuviel war ihr in der letzten Zeit durch den Kopf gegangen. Wiederholt hatte sie geglaubt, jetzt begänne es mit ihr: etwas Großes mit ganzer Seele zu tun! Aber sie wußte nicht was.
Sie fühlte nur, es stand ihr etwas nahe bevor. Sie fürchtete sich davor, und es verlangte sie nach dem Furchtbaren. In der Leere des Morgens schwebte es wie ein Kreuz über ihren Schultern. Aber eigentlich war es doch mehr ein tätiges Leid. Eine große Tat. Eine Verwandlung. Da war nun wieder diese beziehungsvolle Vorstellung. Die Gedanken daran und die Versuche, es sich vorzustellen, fuhren ihr kreuz und quer durch den Kopf. Auch die Schwalben hatten inzwischen begonnen, durch die Luft hin und her zu fahren.
Clarisse wurde plötzlich wieder heiter, ohne daß jedoch das Unheimliche ganz von ihr wich. Es kam ihr vor, daß sie sich sehr weit von ihrem Wohnhause entfernt habe. Sie kehrte um und unterwegs begann sie zu tanzen. Sie streckte die Arme waagrecht aus und hob die Knie. So legte sie den ganzen letzten Teil des Wegs zurück.
Aber ehe sie zuhause anlangte, traf sie bei einer Biegung des Pfads auf General von Stumm.
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62 General von Stumm und Clarisse
«Guten Morgen, Gnädigste! Wie geht’s denn?» rief der General schon aus der Entfernung.
«Sehr gut» erwiderte Clarisse mit strengem Gesicht und tonlos weicher Stimme.
Stumm war in Uniform, und seine runden Beinchen staken in Stiefeln und in feldfarbenen Reithosen mit roten Generalsstreifen. Im Ministerium gab er jetzt kriegerisch vor, daß er zuweilen vor dem Dienst große Morgenritte unternehme; in Wahrheit lustwandelte er aber dann in Clarisses Gesellschaft auf den Feldrainen und Wiesen, die ihr Haus umgaben. Walter schlief um diese Stunde noch oder mußte sich in freudloser Eile um seine Kleider und das Frühstück kümmern, damit er nicht zu spät ins Büro komme; und wenn er durch die Fenster spähte, sah er voll Eifersucht die Sonne auf den Knöpfen und Farben einer Uniform blitzen, neben der gewöhnlich ein rotes oder blaues Sommerkleid vom Wind entfaltet wurde, wie es auf alten Bildern den Engelsgewändern vom Überschwang des Herabfahrens geschieht.
«Wollen wir zur Sprungschanze gehn?» fragte Stumm fröhlich. Die «Sprungschanze» war ein kleiner Steinbruch, zwischen Hügeln, der mit seinem Namen nicht das geringste zu tun hatte. Aber Stumm fand diese von Clarisse gewählte Bezeichnung «scharmant und dynamisch». «Als ob es Winter wäre!» rief er aus. «Jedesmal lache ich darüber. Und eine Schneeschanze möchten Gnädigste gewiß <Sommerhügel> nennen?»
Clarisse hatte es gern, daß er sie Gnädigste nannte, und war gleich einverstanden, mit ihm umzukehren, denn als sie sich erst einmal daran gewöhnt hatte, war ihr die Gesellschaft des Generals sehr angenehm.
Zunächst, weil er immerhin ein General war; nicht «nichts» wie Ulrich und Meingast und Walter. Sodann, weil sie darauf gekommen war, daß es ein ganz eigentümlicher Zustand sei, immer einen Säbel bei sich zu haben, ein eigentümliches Verhältnis zur Welt, das den großen und furchtbaren Gefühlen entsprach, die sie oft beschäftigten. Ferner schätzte sie den gesprächigen von Stumm, weil sie unbewußt erkannte, daß er sie nicht, wie die anderen, in einer Weise begehrte, durch die sie, wenn sie nicht selbst dazu Lust hatte, entwürdigt wurde. «Es ist etwas seltsam Reines in ihm!» hatte sie darüber zu ihrem eifersüchtigen Gatten gesagt. Aber endlich brauchte sie auch einen Menschen, um sich auszusprechen, denn sie war von lauter Eingebungen bedrängt, die sie bei sich behalten mußte. Und sie fühlte, daß alles, was sie sagte und tat, gut war, wenn ihr der General zuhörte. «Gnädigste haben etwas, das Sie über alle Frauen hinaushebt, die ich näher zu kennen die Ehre hatte» pflegte er zu versichern. «Ich lerne geradezu bei Ihnen Energie, Soldatenmut und Überwindung der österreichischen Nachlässigkeit!» Er lächelte dazu, aber sie merkte nicht, daß er etwas davon nicht meine.
Ihren Hauptgesprächsstoff bildeten aber, wie es auch in der Liebe die Regel ist, ihre Erinnerungen an ihr gemeinsames großes Erlebnis, den Irrenhausbesuch, und so begann denn auch Clarisse diesmal dem General anzuvertraun, daß sie seither noch einmal dort gewesen sei.
«Mit wem denn?» fragte dieser, der es schon begrüßte, einer schrecklichen Aufgabe entronnen zu sein.
«Allein» sagte Clarisse.
«Sapristi!» rief Stumm aus und blieb stehn, obwohl sie erst wenige Schritte gegangen waren. «Wirklich allein? Sie lassen sich aber auch durch nichts gruseln! Und haben Sie noch etwas Besonderes gesehn?»
fragte er neugierig. «Das Mörderhaus» erwiderte Clarisse lächelnd. Diese Bezeichnung hatte Dr.
Friedenthal, der ein guter Regisseur war, gebraucht, als sie über das lautlose Moos unter den Bäumen des alten Parks auf eine Gruppe kleiner Gebäude zugegangen waren, aus denen ihnen merkwürdig regelmäßige fürchterliche Schreie entgegentönten. Und auch Friedenthal hatte gelächelt und hatte Clarisse erzählt, was Clarisse jetzt dem General erzählte, daß jeder Bewohner dieser Häusergruppe mindestens einen Menschen getötet hätte, manchmal aber deren mehrere.
«Und jetzt schreien sie, wo es zu spät ist!» sagte Stumm im Ton vorwurfsvoller Schickung in den Lauf der Welt.
Aber Clarisse würdigte seine Erwiderung nicht. Sie erinnerte sich, daß auch sie gefragt hatte, was die Schreie bedeuteten. Und Friedenthal hatte ihr zur Antwort gegeben, daß es Tobsuchtsanfälle seien; aber ganz leise und vorsichtig, als dürfe man nicht stören. Und zur gleichen Zeit waren auch rings um sie wieder die riesenhaften Wärter aufgetaucht, von denen die Panzertüren geöffnet wurden; und Clarisse wiederholte das, in die Stimmung zurückgeratend, wie ein aufregendes Theaterstück, indem auch sie das Wort «Tobsuchtsanfälle!» leise flüsterte und dem General bedeutsam in die Augen sah.
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Sie wandte sich ab und ging einige Schritte voran, so daß Stumm beinahe laufen mußte, um sie einzuholen.
Als er wieder an ihrer Seite war, fragte sie ihn, wie er über die neue Malerei denke, und ehe er noch seine Eindrücke sammeln konnte, überraschte sie ihn durch die Mitteilung, daß dieser Malerei ganz merkwürdig eine aus dem Geiste des Irrenhauses geborene Architektur entspreche: «Die Gebäude sind Würfel, und die Kranken wohnen also in ausgehöhlten Betonwürfeln» erläuterte sie. «Da ist ein Mittelgang, und links und rechts sind solche Zellen, und in jeder Zelle ist nichts als ein Mensch und um ihn der Raum. Sogar die Bank, worauf er sitzt, ist mit der Wand aus einem Stück gegossen. Allerdings sind alle Kanten sorgfältig abgerundet, damit er sich nicht wehtun kann» fügte sie genau hinzu, denn sie hatte alles das mit größter Aufmerksamkeit beobachtet.
Sie fand keine Worte für das, was sie eigentlich sagen wollte. Da* sie ihr ganzes Leben lang von Kunst umgeben gewesen war und die Sorgen angehört hatte, die man sich um die Kunst macht, war diese Insel verhältnismäßig widerstandsfähig gegen die in ihrem Denken sonst herangewachsenen Veränderungen geblieben; und zumal weil ihre eigene künstlerische Betätigung nicht unmittelbarer Leidenschaft entsprang, sondern bloß ein Anhängsel ihres Ehrgeizes und eine Folge der Verhältnisse war, in denen sie lebte, hatte sich auf diesem Gebiet ihr Urteil trotz der Erkrankung ihrer Person, die in der letzten Zeit neue Fortschritte gemacht hatte, nicht mehr verschroben, als es in der Entwicklung der Kunst ohnehin von Zeit zu Zeit üblich ist. Darum konnte sie auch mit einer Vorstellung wie «Zweckarchitektur» oder «Aus der Aufgabe eines Irrenhauses hervorgegangene Bauweise» sehr wohl umgehen, und nur die Bevölkerung dieser gegenwartsnahen Wohnbauten mit Irren überraschte sie als ein neuer Begriff und kitzelte sie wie anbrennendes Räucherwerk in der Nase.
Aber Stumm von Bordwehr unterbrach sie mit der bescheidenen Bemerkung, er habe sich immer eingebildet, daß Tobsuchtszellen gepolstert sein müßten.
Clarisse wurde unsicher, denn vielleicht hatten die Zellen aus hellem Gummi bestanden, und so schnitt sie den Einwand ab. «Früher vielleicht, » sagte sie entschlossen «in der Zeit der Polstermöbel und Quastenvorhänge mögen auch die Tobsuchtszellen gepolstert gewesen sein. Aber heute, wo man sachlich und räumlich denkt, ist das ganz unmöglich. Die geistige Entwicklung macht eben auch vor Irrenhäusern nicht halt!»
Stumm wollte aber lieber etwas von den Tobsüchtigen erfahren, als sich bei der Frage aufzuhalten, welche Zusammenhänge zwischen ihnen und der Malerei und Architektur beständen, und so erwiderte er:
«Hochinteressant! Aber jetzt bin ich wirklich gespannt, wie es in diesen modernen Räumen zugegangen ist?!»
«Sie werden überrascht sein» erzählte Clarisse: «So still wie auf einem Friedhof!»
«Interessant! Ich erinnere mich, daß es auch auf dem Hof mit den Mördern, die wir gemeinsam gesehen haben, einige Augenblicke so still gewesen ist!»
«Diesmal hat aber nur ein einziger Mann einen gestreiften Leinenkittel angehabt» fuhr Clarisse fort. «Ein schwacher, kleiner alter Mann mit blinzelnden Augen. » Und plötzlich lachte sie laut auf. «Er hat geträumt, daß ihn seine Frau betrügt, und hat sie nach dem Aufwachen am Morgen mit dem Stiefelknecht erschlagen!»
Auch Stumm lachte. «Gleich als er aufgewacht ist mit dem Stiefelknecht? Das ist ausgezeichnet!»
pflichtete er bei. «Der hat es offenbar eilig gehabt! Und die ändern? Warum sagen Sie, daß gerade nur er einen Kittel angehabt hat?»
«Weil die ändern schwarz waren. Sie sind stiller als die Toten gewesen» erwiderte Clarisse, von Ernst ergriffen.
«Und scheinen überhaupt keine lustigen Menschen zu sein!» meinte Stumm.
«Oh, erinnern Sie sich an den Nußknacker!» wandte Clarisse ein.
Der General wußte im Augenblick nicht, wen sie meine.
«An den mit den Nußknackerzähnen, der zu mir gesagt hat, daß Wien eine schöne Stadt sei!»
«Und was haben die Diesmaligen zu Ihnen gesagt?» fragte der General lächelnd.
«Ich habe doch schon erzählt, daß sie stumm waren!»
«Aber Gnädigste, » entschuldigte sich Stumm «das nennt man doch nicht Tobsucht!?»
«Sie haben eben erst auf ihre Anfälle gewartet!»
«Wieso gewartet?! Es ist sonderbar, daß man auf einen Tobsuchtsanfall wartet wie auf einen inspizierenden 651
Korpskommandanten. Und Sie sagen noch dazu, daß sie schwarz angezogen waren: also sozusagen eine Paradeadjustierung? Ich fürchte, Gnädigste, daß Sie da in diesem Augenblick falsch beobachtet haben müssen! Ich bitte untertänigst um Entschuldigung, aber ich pflege mir solche Dinge immer ganz genau vorzustellen!»
Clarisse, der es gar nicht unangenehm war, daß Stumm auf Genauigkeit bestand, denn irgend etwas beschwerte auch sie durch eine Unverständlichkeit, gab zur Antwort: «Dr. Friedenthal hat es mir so erklärt, und ich kann Ihnen nur wiederholen, General, es war so. Drei Herren haben dort gewartet; und alle drei haben schwarze Anzüge angehabt, und ihre Haare und Barte sind schwarz gewesen. Der eine war ein Arzt, der andere ein Rechtsanwalt, und der dritte ein reicher Kaufmann. Sie haben ausgesehn wie politische Märtyrer, die erschossen werden sollen. »
«Warum haben sie so ausgesehn?» fragte der ungläubige Stumm.
«Weil sie weder eine Krawatte noch einen Kragen umgebunden hatten. »
«Vielleicht waren die Herren gerade erst eingeliefert worden?»
«Aber nein, Friedenthal hat doch gesagt, daß sie schon lange in der Anstalt sind!» versicherte Clarisse, sich ereifernd. «Und trotzdem haben sie so ausgesehn, als könnten sie jeden Augenblick aufstehn und ins Büro gehn oder zu einem Patienten. Das ist ja gerade so sonderbar gewesen!»
«Nun, mir kann es ja einerlei sein, gnädige Frau» erwiderte Stumm einlenkend, und doch mit einer Großartigkeit, die neu an ihm war, wobei er seine Stiefel unternehmend mit dem Reitstöckchen klopfte.
«Ich habe schon Narren in Uniform gesehen und halte mehr Leute für verrückt, als man mir zutraut. Aber gerade <Toben> habe ich mir — lebhafter vorgestellt, auch wenn ich einräume, daß man von niemand verlangen kann, daß er ununterbrochen tobt. Und daß gleich alle drei so still gewesen sind -: es tut mir leid, daß ich nicht selbst dabei gewesen bin, denn diesen Doktor Friedenthal halte ich schon für fähig, daß er einem etwas vorschwindelt!»
«Sie haben, wenn er gesprochen hat, ganz stumm aufgehorcht» berichtete Clarisse. «Man hätte überhaupt nicht bemerkt, daß sie krank sind, wenn man sie nicht gerade dort angetroffen hätte. Und denken Sie, als wir weggegangen sind, ist der, der Arzt war, aufgestanden und hat mir mit einer wirklich ritterlichen Gebärde den Vortritt angeboten und hat zu Friedenthal gesagt: <Doktor, Sie bringen so oft Besuch. Immer führen Sie Gäste herum. Heute komme ich auch einmal mit. >»
«Und da haben sich natürlich diese Fleischerhunde, die Lackel von Aufsehern sofort - !» begann der General heftig, wenn er auch vielleicht mehr von der Tragödin als von der Tragödie gerührt war.
«Nein, man hat ihn nicht angepackt» unterbrach Clarisse. «Man hat ihn wirklich mit Respekt daran gehindert, mir zu folgen. Und ich versichere Ihnen, gerade auf solche höfliche und schweigende Art ist alles erschütternd gewesen. So wie mit kostbarem schweren Tuch verhangen ist dort die Welt, und die Worte, die man sagen möchte, haben keinen Klang. Man kann sie schwer verstehn, diese Menschen! Man müßte selbst lange Zeit im Irrenhaus leben, um in ihre Welt eindringen zu können!»
«Eine köstliche Idee! Aber Gott behüte uns davor!» erwiderte Stumm schnell. « Gnädigste wissen, daß ich Ihnen ein ziemliches Verständnis für den Wert einer Auflockerung des bürgerlichen Geistes durch Mord und Krankheit verdanke: aber gewisse Schranken müssen eingehalten werden!»
Sie waren unter diesen Worten an den Hügel herangekommen, dem sie zustrebten, und der General schöpfte Atem, ehe er den pfadlosen Anstieg unternahm. Clarisse •musterte ihn mit einem Ausdruck dankbarer Sorgfalt und etwas zärtlichem Spott, was an ihr selten vorkam. «Einer hat doch getobt!» teilte sie ihm schelmisch mit, wie man ein bis dahin verborgen gehaltenes Geschenk hervorholt.
«Also, also! Nun sehen Sie!» rief Stumm aus, und etwas anderes fiel ihm nicht ein. Aber sein Mund blieb offen und suchte ohne seinen Geist nach einem Wort, und plötzlich klopfte Stumm wieder mit dem Stöckchen gegen die Stiefel. «Aber natürlich, der Schrei!» fügte er hinzu. «Gnädige Frau haben doch gleich im Anfang von Schreien gesprochen, die man gehört hat, und das hat mir bei der Totenstille gefehlt! Aber Sie erzählen so großartig, daß man alles vergißt!»
«Wie wir vor der Türe gestanden sind, aus der bald ein furchtbarer Schrei, bald ein eigentümliches Ächzen gedrungen ist, » begann Clarisse «hat mich Friedenthal noch einmal gefragt, ob ich wirklich eintreten wolle. Ich habe vor Aufregung kaum antworten können, aber die Wärter haben sich nicht darum gekümmert, sondern haben mit dem Aufschließen begonnen. Sie können sich denken, Herr General, daß ich mich in diesem Augenblick heftig gefürchtet habe, denn schließlich bin ich ja nur eine Frau. Ich hatte 652
das Gefühl: wenn die Tür aufgeht, wird sich der Tobsüchtige auf mich stürzen - !»
«Man hört ja auch immer, daß solche Geisteskranke furchtbare Kräfte besitzen sollen!» half der General mit.
«Ja; aber als die Tür offen war, und wir sind alle auf der Schwelle gestanden: da hat er sich überhaupt nicht um uns gekümmert!»
«Nicht gekümmert?!» fragte Stumm. «Nicht im geringsten! Er war fast so groß wie Ulrich und vielleicht so alt wie ich. Er ist in der Mitte der Zelle gestanden, mit vorgeneigtem Kopf und auf auseinandergespreizten Beinen. So!» Clarisse machte es nach.
«Auch schwarz angezogen gewesen?» fragte der General. «Nein, ganz nackt. »
(Der General sieht Clarisse von oben bis unten an. ) «In seinem braunblonden Jungmännerbart ist dicker Speichelschaum gesessen, die Muskeln sind aus seiner Magerkeit förmlich hervorgetreten, er war nackt, und seine Haare, ich meine bestimmte Haare - »
«Gnädigste erzählen so plastisch, daß man alles versteht!» schaltete Stumm beruhigend ein.
«Die sind glanzlos hell gewesen, unverschämt hell; er hat uns damit fixiert wie mit einem Auge, das einen ansieht und zugleich nichts von einem bemerkt!»
(Diese Intimität muß dem General doch zu Kopf steigen. > Clarisse war oben angelangt, der General saß zu ihren Füßen. Man sah von der «Sprungschanze» auf abfallende Wiesen und Weingärten, auf kleine und große Häuser, die ohne Ordnung von unten ein Stück den Hang emporzogen, und an einer Stelle entwich der Blick in die reizvolle Tiefe des Hügellands, das weit hinten an hohe Berge grenzte. Wenn man aber, so wie Stumm, auf einem niedrigen Baumstumpf saß, sah man bloß irgendwelche Waldbuckel, die sich gegen den Himmel krümmten, weiße Wolken in den bekannten, dick dahinschwimmenden Ballen und Clarisse.
Diese stand mit gespreizten Beinen vor dem General und machte ihm den Tobsuchtsanfall vor. Sie hielt einen Arm rechtwinklig abgebogen und steif an den Körper geschlossen, hatte den Kopf vorgeneigt und führte mit dem Oberkörper in regelmäßiger Folge eine flach vorwärtskreisende, ruckartige Bewegung aus, wobei sie einen Finger nach dem ändern abbog, als ob sie zählte. Und jede dieser Bewegungen ließ sie von einem keuchend ausgestoßenen Schrei begleitet sein, dessen Stärke sie aber rücksichtsvoll dämpfte. «Das Eigentliche kann man aber doch nicht nachmachen» erläuterte sie. «Das ist die ungeheuerliche Anstrengung bei jedem Wurf, die einen Eindruck macht, als müßte der Mensch jedesmal seinen Leib aus einem Schraubstock reißen… »
«Aber das ist ja Mora!» rief der General aus. «Kennen Sie nicht dieses Glücksspiel? Wer die richtige Fingerzahl errät, gewinnt. Aber Sie dürfen nicht einen Finger nach dem ändern abbiegen, sondern müssen so viele zeigen, wie Ihnen gerade einfällt! An der italienischen Grenze spielen es alle unsere Bauern. »
«Es ist wirklich Mora» sagte Clarisse, die das schon auf Reisen gesehen hatte. «Und er hat es auch so gemacht, wie Sie es beschreiben!»
«Also Mora» wiederholte Stumm befriedigt. «Aber wie diese Irrsinnigen nur auf ihre Ideen kommen, möchte ich wissen!» fügte er hinzu, und damit begann erst der anstrengende Teil der Unterredung.
Clarisse setzte sich neben den General auf den Baumstumpf, ein wenig abgerückt von ihm, so daß sie ihn, wenn es sein mußte, «ins Auge fassen» konnte, wobei er jedesmal ein lächerlich schreckliches Gefühl hatte, als ob ihn ein Hirschkäfer zwicke. Sie war bereit, ihm das Gefühlsleben der Irren zu erklären, so wie sie es selbst durch vieles Nachdenken verstand. Einen der wichtigsten Plätze nahm darin die Vorstellung ein - mit der sie alles auf sich bezog -, daß die sogenannten Geisteskranken eine Art genialer Wesen seien, die man verschwinden lasse und um ihr Recht bringe, wogegen sie sich aus irgendwelchen Gründen, die Clarisse noch nicht herausgefunden hatte, nicht wehren könnten. Es war nur natürlich, daß der General dieser Auffassung nicht beipflichten konnte, und wunderte weder sie noch ihn.
«Ich will schon zugeben, Gnädigste, daß so ein Narr einmal etwas erraten kann, was unsereiner nicht weiß»
verwahrte er sich. «Derartig stellt man sie sich ja auch vor, sie haben so einen gewissen Nimbus; aber daß sie geradezu mehr denken sollten als wir Gesunde: nein, da darf ich wohl bitten!»
Clarisse beharrte jedoch ernsthaft dabei, daß die geistig Gesunden weniger dächten als die geistig Nichtgesunden. «Sind Sie schon einmal vom Hundertsten ins Tausendste gekommen, General?» fragte sie Stumm, und das mußte er bejahen. «Sind Sie denn auch ein andermal umgekehrt, vom Tausendsten ins Hundertste gekommen?» fragte sie weiter, und das wollte Stumm, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, was es heiße, natürlich noch weniger verneinen, denn es ist ja der Stolz des Mannes, sich 653
sogar bis an das Eine durchzudenken, das man die Wahrheit heißt.
Aber Clarisse folgerte: «Sehen Sie, und das ist nichts als Feigheit, dieses immer ordentliche und überlegte Nachdenken! Die Männer werden es wegen ihrer Feigheit nie zu etwas bringen!»
«Das habe ich noch nie gehört!» versicherte Stumm ablehnend.
Clarisse rückte mit den Augen an ihn heran. «Sicher hat Ihnen schon eine Frau zugeflüstert: Du Gott-Mensch?!»
Stumm erinnerte sich nicht daran, aber das wollte er nicht zugeben, darum vollführte er bloß eine Gebärde, die sowohl heißen konnte: leider nein, als auch: das hört man bis zum Überdruß! Und in Worten antwortete er: «Manche Frauen sind ja sehr exaltiert! Aber wie soll das eigentlich mit unserem Gespräch zusammenhängen? So etwas ist einfach ein übertriebenes Kompliment!»
«Sie erinnern sich an den Maler, dessen Zeichnungen uns der Doktor gezeigt hat?» fragte Clarisse.
«Ja, natürlich. Das war ganz hervorragend, was der gemalt hat!» 196
«Er war unzufrieden mit Friedenthal, weil dieser von Kunst nichts versteht. <Zeig es diesem Herrn!> hat er gesagt und dabei auf mich gewiesen» fuhr Clarisse fort und faßte den General plötzlich wieder ins Auge.
«Glauben Sie denn, daß es auch bloß ein Kompliment gewesen sei, daß er mich als einen Mann angesprochen hat?!»
«Das ist eben so eine von diesen Ideen» meinte Stumm. «Darüber habe ich wirklich nicht nachgedacht. Ich möchte vielleicht annehmen, daß es das ist, was man eine Assoziation nennt, oder eine Analogie, oder so etwas. Er hat halt irgendeine Ursache gehabt, Sie für einen Mann zu halten!» Obwohl Stumm überzeugt war, Clarisse mit diesen letzten Worten etwas erklärt zu haben, wurde er doch durch die Wärme überrascht, mit der sie ausrief: «Ausgezeichnet! Dann brauche ich Ihnen ja bloß zu sagen, daß es die gleiche Ursache hat, wenn in der Liebe von Gott-Mensch geflüstert wird! Die Welt ist nämlich voll Doppelwesen!»
Man darf natürlich nicht glauben, daß es Stumm angenehm war, wenn Clarisse so sprach und dabei aus den zusammengekniffenen Augen einen gespaltenen Blick hervorschoß; er überlegte dann vielmehr, ob es nicht doch richtiger wäre, solche Gespräche nicht in Uniform zu führen und zum nächsten Spaziergang in Zivil zu erscheinen. Aber anderseits hatte der gute Stumm, der Clarisse mit großer Vorsicht, wenn nicht verheimlichtem Schrecken, bewunderte, den ehrgeizigen Wunsch, diese so leidenschaftliche junge Frau zu verstehn und von ihr verstanden zu werden, weshalb er ihrer Behauptung rasch eine gute Seite abgewann.
Er legte sie sich so zurecht, daß am Menschen und in der Welt eben das meiste zweideutig sei, was sich recht gut seinem neuen Pessimismus anschloß, und beruhigte sich des weiteren mit der Annahme, daß denn auch Gott-Mensch und Mann-Frau nicht anders gemeint sein werde, als was man von jedem behaupten könne, daß er ein bissei ein edler Mensch und ein bissei ein Schuft sei. Immerhin zog er es vor, das Gespräch zu der natürlichen Auffassung zurückzuwenden, und begann seine Kenntnisse von Analogien, Vergleichen, symbolischer Ausdrucksweise und ähnlichem zu entwickeln.
«Verzeihen und erlauben gnädige Frau, daß ich für einen Augenblick Ihre Anregung aufnehme und mich in den Gedanken versetze, daß Sie wirklich ein Mann wären, » so fing der vom Schutzengel der Intuition Beratene das an und fuhr in der gleichen Weise fort: «denn dann könnten Sie sich vorstellen, was es bedeutete, wenn eine Dame einen dichten Schleier trägt und nur ganz wenig von ihrem Gesicht zeigt; oder, was beinahe das gleiche ist, wenn sich eine Balltoilette beim Tanzen ein wenig vom Boden hebt und den Beinansatz zeigt: So ist es ja noch vor ein paar Jahren gewesen, ungefähr bis zu meiner Majorszeit; und solche Andeutungen treffen einen nämlich viel stärker, ich möchte beinahe sagen: leidenschaftlicher, als wenn man die Dame bis zum Knie sieht oder sozusagen ohne Hindernisse — ja, gerade Hindernisse ist das richtige Wort! Denn so möchte ich auch das beschreiben, worin eine Analogie oder ein Vergleich oder ein Symbol besteht: sie bereiten dem Denken Hindernisse und erregen es dadurch stärker, als es gewöhnlich der Fall ist. Ich glaube, das meinen Sie, wenn Sie sagen, daß das gewöhnliche Nachdenken etwas Feiges hat!»
Aber Clarisse meinte das ganz und gar nicht. «Der Mensch hat die Pflicht, über die bloßen Andeutungen hinauszugelangen!» forderte sie.
«Überaus merkwürdig!» rief Stumm nun aus, ehrlich berührt. «Der alte Graf Leinsdorf sagt ganz das gleiche wie Sie! Ich habe mich erst unlängst mit dem erlauchtigen Herrn auf das eingehendste über Gleichnisse und Symbole unterhalten, und da hat er in bezug auf die Patriotische Aktion genau das gleiche geäußert wie gnädige Frau, daß wir alle die Verpflichtung hätten, über den Zustand des Gleichnisses hinaus 654
zur Wirklichkeit zu gelangen!»
«Ich habe ihm einmal einen Brief geschrieben und ihn darin gebeten, sich für die Freilassung des Moosbrugger einzusetzen» erzählte Clarisse.
«Und was hat er Ihnen geantwortet? Das könnte er nämlich gar nicht; ich meine: selbst wenn er könnte, könnte er es nicht, weil er ein viel zu konservativer und legaler Herr ist!»
«Sie könnten es aber?» fragte Clarisse.
«Aber nein; was im Irrenhaus ist, soll schon dort bleiben.
Da mag es noch so vieldeutig sein. Wissen Sie, Vorsicht ist die Mutter der Weisheit!»
«Und was ist das?» fragte Clarisse lächelnd, denn sie hatte am Portepee des Generals den eingewebten Doppeladler entdeckt, das Wahrzeichen der kaiserlichen und königlichen Monarchie. «Was ist dieser Doppeladler?»
«Ich verstehe nicht. Was soll der Doppeladler sein? Es ist eben der Doppeladler!»
«Aber was ist ein Doppeladler? Ein Adler mit zwei Köpfen? In der Welt fliegen doch nur einköpfige Adler herum?! Ich mache Sie also darauf aufmerksam, daß Sie an Ihrem Säbel das Symbol eines Doppelwesens tragen! Ich wiederhole Ihnen, Herr General, die bezaubernden Dinge ruhen wahrscheinlich alle auf uraltem Irrsinn!»
«Pst! Das darf ich nicht anhören!» verwahrte sich der General lächelnd…
63 Laubumkränzter Waffenstillstand zwischen Walter und Clarisse
[Entwurf]
Während sie sich ihrer Wohnung wieder näherte, wurde sie von der theatralischen Vorstellung begleitet, ein Mensch zu sein, der von weit her zurückkehrt. Sie hatte ihren Tanz aufgegeben, aber aus irgendeinem Grund summte in ihrem Kopf das Lied: «Mein Vater Parsifal trug seine Krone, sein Ritter, ich, bin Lohengrin genannt. » Als sie die Türe durchschritt und sich mit jähem Wechsel aus der schon hart und warm gewordenen Helle des jungen Morgens in die schlafende Dämmerung des Treppenhauses eintreten fühlte, meinte sie von einer Falle gefangen zu sein. Die Stufen, die sie hinanstieg, gaben unter ihrem leichten Gewicht einen ganz leisen Laut von sich, der wie ein gehauchter Seufzer klang und dem nichts im ganzen Hause antwortete. Clarisse drückte vorsichtig die Klinke des Schlafzimmers nieder; Walter schlief noch! Milchkaffeefarbenes, durch die groben Leinenvorhänge eingedrungenes Licht und der Kinderstubengeruch der endenden Nacht begrüßten sie. Walters Lippen sahen knabenhaft trotzig und warm aus; doch war das Gesicht jetzt einfach, ja verarmt. Es war darin weit weniger zu finden, als es gewöhnlich den Anschein hatte. Bloß ein wollüstiges Machtbedürfnis, das sich sonst nicht zeigte, war jetzt zu beobachten.
Clarisse betrachtete reglos an seinem Lager stehend ihren Gatten; und er ahnte sich durch ihren Eintritt im Schlaf gestört und wälzte sich zur anderen Seite. Sie genoß zögernd die Überlegenheit des wachenden über den schlafenden Menschen; sie bekam Lust, ihn zu küssen oder zu streicheln oder auch zu erschrecken, konnte sich aber nicht entscheiden. Sie wollte sich auch nicht der Gefährdung aussetzen, die mit dem Schlafzimmer verbunden war, und offenbar traf es sie unvorbereitet, Walter noch schlafend zu finden. Sie riß von einem Stück Tütenpapier, das von einem Einkauf auf dem Tisch liegengeblieben war, eine Ecke ab und schrieb mit ihren großen Buchstaben darauf: «Ich habe bei dem Schläfer Besuch gemacht und erwarte ihn im Wald. »
Als Walter bald darauf erwachte und das leere Bett neben dem seinen gewahrte, entsann er sich dumpf, daß während des Schlafes etwas im Zimmer vor sich gegangen sei, sah nach der Uhr, entdeckte den Zettel und streifte rasch die Nachtbefangenheit ab, denn er hatte sich vorgenommen, an diesem Tag besonders früh aufzustehen und zu arbeiten. Da dies nun aber nicht mehr möglich war, erwies es sich nach einiger Betrachtung auch als richtig, die Arbeit noch hinauszuschieben, und obwohl er sich gezwungen sah, sein Frühstück mühsam selbst zusammenzutragen, stand er bald in bester Laune unter den Strahlen der Vormittagssonne. Er setzte voraus, daß Clarisse in einem Hinterhalt stecken und sich in der Form eines Überfalls melden werde, sobald er den Wald betrete; und er zog die gewöhnliche Straße dahin, einen breiten, erdigen Karrenweg, zu dessen Bewältigung es ungefähr einer halben Stunde bedurfte. Es war Halbfeiertag, das heißt einer der Tage, die zwar Feiertage sind, aber amtlich nicht dafür gelten, weshalb merkwürdigerweise an ihnen gerade die Ämter und die sich ihnen anschließenden vornehmen Berufe ganz 655
feierten, während die weniger verantwortlichen Leute und Geschäfte den halben Tag arbeiteten. Es hatte zur Folge, daß Walter einem Privatmann gleich in einer beinahe privaten Natur spazierengehn durfte, in der außer ihm bloß einige unbeaufsichtigte Hühner umherliefen. Er streckte seinen Hals, ob er nicht am Waldrand oder vielleicht gar noch unterwegs ein farbiges Kleid entdecke, aber nichts war zu sehn, und obwohl der Weg anfangs schön war, sank mit der steigenden Wärme bald des Wanderers Lust an der Bewegung.
Das rasche Gehen erweichte seinen Kragen und die Poren seines Gesichts, bis sich jenes unangenehme Gefühl feuchter Wärme einstellte, das den menschlichen Körper zu einem Wäschestück erniedrigt. Walter nahm sich vor, sich wieder besser an die Natur zu gewöhnen; räumte sich die Entschuldigung ein, daß er vielleicht bloß zu warm gekleidet sei; ängstigte sich wohl auch darüber, daß ein Unwohlsein in ihm stecken möchte; und seine Gedanken, die anfangs sehr lebendig gewesen waren, wurden auf diese Weise allmählich unzusammenhängend und schwappten schließlich gleichsam in den Schuhen, indes der Weg nicht enden wollte.
Irgendwann dachte er: «Man denkt wahrhaftig als sogenannter normaler Mensch kaum weniger unzusammenhängend als ein Wahnsinniger!» und dann fiel ihm ein: «Man sagt übrigens auch: es ist wahnsinnig heiß!» Und er lächelte schwach darüber, daß man offenbar nicht ganz ohne Grund so spreche, da doch beispielsweise die Veränderung, die eine Fieberhitze im Kopf anrichte, wirklich etwas Mittleres zwischen den Symptomen der gewöhnlichen Hitze und denen einer Geistesstörung darstelle. Und so, ohne es völlig ernst zu nehmen, ließ sich vielleicht auch von Clarisse sagen, daß sie immer das gewesen sei, was man einen verrückten Menschen nennt, ohne daß es ein kranker sein müßte. Auf diese Frage hätte Walter gerne die Antwort besessen. Der Bruder und Arzt sagte, es bestünde nicht die mindeste Gefahr. Aber Walter glaubte seit langem zu wissen, daß sich Clarisse bereits jenseits einer gewissen Grenze befinde. Es war ihm manchmal zumute, sie umschwebe ihn bloß noch wie ein Abgeschiedener, von denen doch auch gesagt wird, daß sie sich nicht gleich von dem trennen könnten, was sie geliebt hätten. Diese Vorstellung war nicht ungeeignet, seinen Stolz zu heben, denn wenig andere Menschen wären solchem -wie er es nun nannte: schaurig-schönen - Ringen der Liebe mit dem Ungeheuerlichen gewachsen gewesen! Freilich fühlte er sich manchmal auch zaghaft. Ein plötzlicher Stoß oder Zusammenbruch konnte seine Frau ins völlig Abstoßende und Häßliche entrücken, und das wäre noch das mindeste gewesen, denn wie, wenn sie ihn dann nicht abstieße?! Nein, Walter nahm an, daß sie ihn abstoßen müßte, denn der entartete Geist sei häßlich! Und Clarisse müßte dann wohl auch in eine Anstalt gebracht werden, wofür es an Geld fehlte. All das war sehr niederdrückend. Dennoch hatte er sich manchmal, wenn ihre Seele gleichsam schon vor den Fensterscheiben flatterte, so kühn gefühlt, daß er nicht wissen wollte, ob er sie noch zu sich hereinziehen oder sich lieber zu ihr hinausstürzen solle.
Über solchen Gedanken vergaß er den sonniganstrengenden Weg, unterließ es schließlich aber auch zu denken, so daß er wohl lebhaft bewegt verblieb, aber eigentlich ohne Inhalt, oder von schrecklich gewöhnlichen Inhalten erfüllt wurde, die er pathetisch aufnahm; er wanderte wie ein Rhythmus ohne Töne, und als er mit Clarisse zusammenstieß, wäre er beinahe über sie gestolpert. Auch sie war zuerst dem breiten Weg gefolgt, und sie hatte am Waldrand eine kleine Einbuchtung gefunden, wo das ausgegossene Sonnenlicht bei jedem Windhauch den Schatten beleckte wie eine Göttin ein Tier. Der Boden stieg dort sacht an, und da sie am Rücken lag, sah sie die Welt in einem wunderlichen Zwickel. Durch irgendeine gestaltliche Verwandtschaft bemächtigte sich dabei ihres Gemüts auch die unheimliche Stimmung wieder, die sich an diesem Tag besonders leicht in ihre Heiterkeit mengte, und sie begann bei diesem lange dauernden Blick in die waagrecht verschrobene Landschaft Trauer zu empfinden, als ob sie ein Leid oder eine Sünde oder ein Schicksal auf sich nehmen sollte. Eine große Verlassenheit, Verfrühtheit und Opfergewärtigkeit war in der Welt, ähnlich wie sie es bei ihrem ersten Ausgang vorgefunden hatte, als ihr der Tag erst «an die Knöchel reichte».
Unwillkürlich suchten ihre Augen die Stelle, wo hinter entfernteren Hängen, und ihr nicht sichtbar, die ausgedehnten Gebäude des Irrenhauses liegen mußten; und als sie sie gefunden zu haben glaubte, beruhigte sie das, wie es den Liebenden beruhigt, die Richtung zu wissen, in der seine Gedanken die Geliebte finden können. Ihre Gedanken «flogen» aber nicht hin. «Sie hocken jetzt, ganz stumm geworden, wie große schwarze Vögel neben mir in der Sonne», dachte sie, und das damit verbundene groß- und schwermütige Gefühl dauerte an, bis Clarisse von ferne Walters ansichtig wurde. Da hatte sie plötzlich von ihrem Leid genug, versteckte sich hinter den Bäumen, hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund und rief, so laut 656
sie konnte: «Kuk-kuck!» Dann richtete sie sich auf und lief weiter ins Innere des Waldes hinein, änderte aber alsbald ihre Absicht von neuem und warf sich in der Nähe des Wegs, den Walter benutzen mußte, in die warmen Waldkräuter. Dessen Gesicht kam denn auch im Glauben, unbeobachtet zu sein, daher, drückte nichts aus als die leicht bewegte, unbewußte Achtsamkeit auf die Hindernisse des Wegs und war dadurch sehr sonderbar, ja eigentlich männlich entschlossen anzusehn. Als er ahnungslos nahe war, streckte Clarisse den Arm aus und griff nach seinem Fuß, und das war dieser Augenblick, wo Walter fast gefallen wäre und nun, beinahe unter seinem Auge liegend und den Blick lächelnd zu ihm emporgehoben, seine Frau gewahrte, die unerachtet einiger seiner Befürchtungen nicht im mindesten häßlich aussah.
Clarisse lachte, Walter setzte sich neben sie auf einen Baumstumpf und trocknete den Hals mit dem Sacktuch. «Ach du… !» begann er, und dann sagte er erst nach einer Weile: «Ich habe heute eigentlich arbeiten wollen… !»
«Wollen!?» spottete Clarisse. Aber es verletzte diesmal nicht. Das Wort schwirrte von ihrer Zunge und mengte sich in das muntere Geschwirre der Waldfliegen, das wie kleine Metallpfeile durch die Sonne und am Ohr vorbei sauste.
Er erwiderte: «Ich gebe zu, daß ich es in letzter Zeit nicht für richtig gehalten habe zu arbeiten, wenn man ebenso gut die frischen Blumen riechen könnte. Es bleibt eine Einseitigkeit; es geht gegen die Pflicht zur Vollständigkeit!»
Da er eine kurze Pause machte, warf Clarisse einen kleinen Zapfen, der ihr in die Hand geraten war, mehrmals hoch und fing ihn wieder auf.
«Ich weiß natürlich auch, was man dagegen sagen könnte!» versicherte Walter.
Clarisse ließ den Zapfen zu Boden fallen und fragte lebhaft: «Du wirst also doch wieder zu arbeiten beginnen? Man braucht heute eine Kunst mit so großen Pinselstrichen und Tonsprüngen!» Sie machte eine Armbewegung von einem Meter Spanne.
«Ich brauche damit ja nicht gleich anzufangen» wandte Walter ein. «Überhaupt ist mir diese ganze Problematik des Einzelkünstlers noch verdächtig. Wir brauchen heute eine Problematik der Gesamtheit —»
Kaum hatte er aber das Wort «Problematik» ausgesprochen, kam ihm das in der Stille des Waldes ganz überreizt vor. Er fügte darum etwas Neues hinzu: «Im Grunde ist es aber überhaupt eine lebenswidrige Forderung, daß ein Mensch etwas, das er liebt, malen soll; im Falle des Landschaftsmalers die Natur!»
«Aber ein Maler malt doch auch seine Geliebte» warf Clarisse ein. «Teils liebt ein Maler, teils malt er!»
Walter sah seinen schönen letzten Gedanken zusammenschrumpfen. Er war nicht gelaunt, ihm neuen Atem einzuhauchen; immerhin blieb er überzeugt, daß der Gedanke bedeutend gewesen sei und bloß der aufmerksamen Bearbeitung bedurft hätte. Und Finkenschlag, Klopfen des Spechts, Summen der kleinen Kerbtiere: es zog nicht zur Arbeit, sondern eher hinab in eine unendliche Tiefe der Trägheit.
«Wir sind einander ja doch sehr ähnlich, du und ich, » sagte er genußvoll «wie nicht bald ein zweites Paar!
Andere malen, musizieren oder schreiben, und ich verweigere es mir: es ist im Grunde ebenso radikal wie dein Eifer!»
Clarisse drehte sich auf die Seite, stützte den Ellbogen auf und öffnete den Mund zu einer wütenden Entgegnung. «Ich werde dich schon noch ganz befrein!» sagte sie rasch.
Walter blickte zärtlich zu ihr hinab. «Was meinst du eigentlich, wenn du sagst, daß wir von unserer Sündengestalt erlöst werden müßten?» fragte er sie begierig. 204
Clarisse antwortete diesmal nicht. Sie hatte den Eindruck, wenn sie jetzt spräche, ginge es zu schnell auf und davon, und obwohl sie die Absicht hatte zu sprechen, fühlte sie sich durch den Wald verwirrt; denn der Wald war auf ihrer Seite, so etwas läßt sich nicht recht ausdrücken, wohl aber deutlich bemerken.
Walter bohrte in der süßen Wunde herum. «Hast du mit Meingast wirklich wieder darüber gesprochen?»
fragte er ansinnend, aber doch zögernd, ja geängstigt davon, daß sie es getan haben könnte, obwohl er es ihr verboten hätte.
Clarisse log, denn sie schüttelte den Kopf; aber sie lächelte dazu.
«Kannst du dich noch an die Zeit erinnern, als wir Meingasts <Sünden> auf uns genommen haben?»
forschte er weiter. Er nahm ihre Hand. Clarisse ließ ihm aber nur einen Finger. Es ist ein merkwürdiger Zustand, wenn sich ein Mann ebenso widerstrebend wie bereitwillig selbst daran erinnern muß, daß beinahe alles, was seine Geliebte ihm schenkt, schon vorher einem ändern gehört hat; es ist vielleicht das Zeichen einer allzustarken Liebe, vielleicht das einer schwächlichen Seele, und Walter suchte manchmal 657
geradezu diesen Zustand. Er liebte die fünfzehn-bis siebzehnjährige Clarisse, die niemals ganz und restlos von ihm eingenommen war, beinahe mehr als die gegenwärtige, und die Erinnerung an ihre Zärtlichkeiten, die vielleicht der Widerschein von Meingasts Unanständigkeit gewesen waren, erregte ihn eigentümlich tiefer als die im Vergleich damit kühle Unangefochtenheit der Ehe. Es war ihm beinahe angenehm zu wissen, daß Clarisse für Ulrich und vollends nun wieder für den großartig veränderten Meingast gern einen Seitenblick übrig hatte, und die Art, wie diese Männer ungünstig auf ihre Phantasie wirkten, vergrößerte sein Verlangen nach seiner Frau so, wie die Schatten von Ausschweifung und Lust unter einem Auge dieses größer erscheinen lassen. Gewiß, Männer, in denen die Eifersucht nichts anderes neben sich duldet, Vollmänner, werden das nicht erleben; aber seine Eifersucht war voll Liebe, und wenn das so ist, dann wird die Qual so genau, so deutlich, so lebendig, daß sie beinahe eine miterlebte Lust ist. Wenn sich Walter seine Frau in der Hingabe an einen anderen vorstellte, so empfand er stärker, als wenn er sie in seinen eigenen Armen hielt, und er dachte etwas betroffen zu seiner Entschuldigung: «Wenn ich als Maler ein Gesicht mit den feinsten Biegungen seiner Linien sehen soll, so blicke ich es auch nicht unmittelbar, sondern in einem Spiegel an… !» (Wie alle Dilettanten legte er besonderen Wert auf diese Kenntnisse. ) Es stachelte ihn erst recht, daß er sich solchen Gedanken im Wald, in der gesunden Natur hingebe, und die Hände, die Clarissens Finger hielten, begannen zu zittern. Er mußte etwas sagen, aber das, was er dachte, konnte es nicht sein. Etwas gepreßt scherzte er: «Nun willst du also meine Sünden auf dich nehmen, doch wie wirst du das tun?» Er lächelte; aber Clarisse bemerkte, daß sich ein leichtes Zittern auf seinen Lippen ausbreitete.
Das paßte ihr jetzt nicht; obwohl es immer zum Lachen wunderbar ist, dieses Bild, wie ein Mann, einen viel zu großen Ballen unnützer Gedanken mitschleppend, jene kleine Pforte durchschreiten will, zu der es ihn hinzieht. Sie setzte sich jetzt vollends auf, sah Walter mit einem spöttisch ernsten Blick an, schüttelte abermals den Kopf und begann nachdenklich: «Glaubst du nicht, daß in der Welt Zeiten der Manie mit Zeiten der Depression wechseln? Gedrängte, aufgeregte, fruchtbare Aufschwungzeiten, die das Neue bringen, mit mutlosen, niedergeschlagenen, schlechten Jahrhunderten oder Jahrzehnten?» Walter sah sie beunruhigt an. «So ist es doch, und ich kann dir bloß nicht die Jahreszahlen sagen» fuhr sie fort und ergänzte: «Der Aufschwung muß nicht schön sein, er muß sogar vieles abschütteln, was immerhin schön sein mag, er kann wie eine Krankheit aussehn: Ich bin überzeugt, daß die Menschheit von Zeit zu Zeit geisteskrank werden muß, um die Synthese zu erneuern und Höheren[?] Gesundheit zu vollziehn!» Walter wollte nicht verstehen.
Clarisse sprach weiter: «Menschen mit deiner und meiner Empfindlichkeit spüren das! Wir leben jetzt in einer Niedergangszeit und darum kannst du auch nicht arbeiten. Noch dazu gibt es sinnliche Jahrhunderte und Jahrhunderte, die sich von der Sinnlichkeit abwenden. Du mußt dich darauf vorbereiten, daß du leiden wirst… »
Merkwürdig berührte es Walter, daß Clarisse «Ich und Du» sagte. Das hatte sie lange nicht gesagt.
«Und natürlich gibt es Übergangszeiten» trug Clarisse nach. «Und Johannes-Menschen, Vorläufer; vielleicht sind wir zwei Vorläufer. ».
Nun antwortete Walter: «Aber nun hast du doch schon deinen Willen gehabt und bist im Irrenhaus gewesen, nun sollten wir eigentlich wieder einer Meinung sein!»
«Du willst sagen, daß ich nicht wieder hingehn soll?» warf Clarisse ein und lächelte.
«Geh nicht wieder hin!» bat Walter. Aber er bat ohne Überzeugungskraft, das fühlte er selbst, seine Bitte sollte ihn bloß decken.
Clarisse gab zur Antwort: «Alle <Vorläufen klagen über die Unentschiedenheit des Geistes, denn sie haben noch nicht den ganzen Glauben, aber keiner getraut sich der Unentschiedenheit ein Ende zu bereiten! Auch Meingast traut sich nicht» fügte sie hinzu.
Walter fragte: «Was müßte man sich denn getrauen?»
«Verstehst du, ein Volk kann nicht wahnsinnig sein» sagte Clarisse mit noch leiserer Stimme. «Es gibt nur persönlichen Wahnsinn. Wenn alle wahnsinnig sind, sind sie eben die Gesunden. Ist das nicht richtig? Also ist das Volk der Irren das gesundeste Volk; man muß es nur als Volk behandeln, und nicht als Kranke. Und ich sage dir, die Wahnsinnigen denken mehr als die Gesunden, und sie führen ein entschlossenes Leben, wozu wir niemals den Mut haben! Freilich zwingt man sie, es in einer Sündengestalt zu leben, oder sie können noch nicht anders!»
Walter schluckte und fragte: «Aber was ist Sündengestalt? Du sprichst so oft davon, und ebenso oft von 658
Verwandlung, von Sünde-auf-sich-nehmen, von Doppelwesen und vielem anderen, das ich halb verstehe und halb nicht verstehe!»
Clarisse lächelte, und es war ihr verlegenes und etwas aufgeregtes Lächeln. «Das läßt sich nicht mit zwei Worten sagen» erwiderte sie. «Die Kranken sind eben Doppelwesen. »
«Nun ja, das hast du schon gesagt. Aber was bedeutet es denn?» Walter bohrte, er wollte wissen, was sie empfände; ohne Rücksicht auf sie.
Clarisse dachte nach. «Apollo ist in manchen Darstellungen Mann und Frau. Anderseits war der Apollo mit dem Pfeil nicht der Apollo mit der Leier, und die Diana von Ephesus war nicht die von Athen. Die griechischen Götter waren Doppelwesen, und wir haben das verlernt, aber wir sind auch Doppelwesen. »
Nach einer Weile sagte Walter: «Du übertreibst. Natürlich ist der Gott, wenn er Männer tötet, ein anderer, als wenn er musiziert - »
«Das ist gar nicht natürlich» versetzte ihm Clarisse. «Du wärst der gleiche! Du wärst nur verschieden erregt.
Ein wenig bist du auch hier im Wald und dort im Zimmer verschieden, aber du bist kein anderer. Ich könnte sagen, du verwandelst dich niemals vollständig in das, was du tust; aber ich möchte nicht zu viel sagen. Wir haben die Begriffe für diese Vorgänge verloren. Die Alten hatten sie noch, die Griechen, das Volk Nietzsches!»
«Ja, » sagte Walter «vielleicht; vielleicht könnte man ganz anders sein, als wir sind. » Und dann schwieg er.
Knickte ein Zweiglein. Sie lagen jetzt beide auf dem Boden, mit den Köpfen einander zugewandt.
Schließlich fragte Walter: «Was für ein Doppelwesen bin ich denn?»
Clarisse lachte.
Er nahm seinen Zweig und kitzelte sie am Gesicht.
«Du bist Bock und Adler» sagte sie und lachte wieder.
«Ich bin doch kein Bock!» verwahrte sich Walter schmollend.
«Du bist ein Bock mit Adlerflügeln!» ergänzte Clarisse ihre Behauptung.
«Hast du das jetzt im Augenblick erfunden?» fragte Walter.
Es war ihr erst im Augenblick eingefallen, aber sie durfte etwas hinzufügen, was sie schon lange wußte:
«Jeder Mensch hat ein Tier, in dem er sein Schicksal erkennen kann. Nietzsche hatte den Adler. »
«Du meinst vielleicht, was man Totem nennt. Weißt du, daß noch bei den Griechen die Götter bestimmte Begleittiere hatten: den Wolf, den Stier, die Gans, den Schwan, den Hund… »
«Siehst du!» sagte Clarisse. «Das habe ich gar nicht gewußt, aber es ist wahr. » Und plötzlich fügte sie hinzu: «Weißt du, daß die Kranken Schweinereien machen? Ebensolche wie damals der Mann, der unter mein Fenster gekommen war!» Und sie erzählte ihm die Geschichte mit dem Alten im Krankensaal, der ihr entgegengewinkt und sich dann so unanständig betragen hatte.
«Eine schöne Geschichte, das, und noch dazu vor dem General!» wandte Walter mit Eifer ein. «Du darfst wirklich nicht wieder hingehn!»
«Aber ich bitte dich, der General hat doch bloß Angst vor mir!» verteidigte sich Clarisse.
«Warum sollte er denn Angst haben?»
«Das weiß ich nicht. Aber du hast ja auch Angst, und Vater hatte Angst, und Meingast hat auch Angst vor mir» sagte Clarisse. «Wahrscheinlich besitze ich eine verdammte Kraft, so daß sich Männer, mit denen etwas nicht in Ordnung ist, mir anbieten müssen. Und kurz und gut, ich sage dir, die Kranken sind Doppelwesen aus Gott und Bock!»
«Ich habe Angst um dich !» flüsterte Walter mehr, leise und zärtlich, als daß er es sagte.
«Die Kranken sind aber nicht nur Doppelwesen aus Gott und Bock, sondern auch aus Kind und Mann und aus Trauer und Heiterkeit» fuhr Clarisse fort, ohne sich darum zu kümmern.
Walter schüttelte den Kopf. «Alle Männer hängen bei dir mit <Bock> zusammen?!»
«Gott, das ist schon so!» Clarisse verteidigte es ruhig. «Ich selbst trage doch auch die Figur des Bocks in mir!»
«Die Figur!» höhnte Walter ein wenig, aber unwillkürlich; denn das dauernde Wechseln der Vorstellungen machte ihn müde.
«Das Bild, das Vorbild, den Dämon - nenn es, wie du willst!»
Walter bedurfte einer Rast, er wünschte einen Abschnitt zu machen, er erwiderte: «Übrigens gebe ich zu, daß man in vieler Hinsicht wirklich ein Doppelwesen ist. Die neuere Psychologie -»
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Clarisse unterbrach ihn heftig: «Nicht Psychologie! Ihr alle denkt viel zuviel!»
«Aber du hast doch behauptet, daß die Irren noch mehr denken als wir Gesunde?!» fragte Walter unwillkürlich.
«Dann habe ich es falsch gesagt. Sie denken anders. Energischer!» erwiderte sie und fuhr fort: «Es ist doch überhaupt gleichgültig, was man sich denkt; sobald man handelt, wird es gleichgültig, was man zuvor gedacht hat. Darum finde ich es richtig, nicht mehr zu reden, sondern zu den Irren in ihr Haus zu gehn. »
«Einen Augenblick!» bat Walter. «Welches Doppelwesen ist das deine?»
«Ich bin in erster Linie Mann und Frau!»
«Soeben hast du aber noch Bock gesagt?»
«Auch. Auch! Das läßt sich nicht mit Zirkel und Lineal bestimmen. »
«Nein, so geht das nicht!» stöhnte Walter nun plötzlich auf, bedeckte die Augen mit den Händen und ballte die Hände zu Fäusten. Als er verstummt so liegen blieb, kroch Clarisse an ihn heran, schlang die Arme um seine Schultern und küßte ihn von Zeit zu Zeit.
Walter lag ohne sich zu rühren.
Clarisse flüsterte und murmelte etwas an seinem Ohr. Sie erklärte ihm, daß ihr vom Bock jener Mann unter das Fenster geschickt worden sei, und daß der Bock die Sinnlichkeit bedeute, die sich allenthalben vom übrigen Menschen getrennt habe. Alle Menschen kriechen abends zueinander ins Bett, und die Welt lassen sie stehn: diese niedere Lösung der großen im Menschen steckenden Lustkräfte müsse endlich einmal verhindert werden, dann wachse der Bock zum Gott! So hörte Walter sie reden. Und hatte sie denn nicht recht? Wie kam es doch, daß es ihm Freude bereitete? Wie kam es, daß ihm schon lange nichts anderes Freude bereitet hatte? Die Bilder nicht, die er früher bewundert hatte; die Meister der Musik, die er geliebt hatte, nicht; die großen Verse nicht und nicht die mächtigen Gedanken!? Und daß es ihm nun Freude bereitete Clarisse zuzuhören, wenn sie etwas erzählte, das jeder andere für Einbildungen hielte? So fragte sich Walter. Solange sein Leben vor ihm gelegen war, hatte er es voll großer Lust und Phantasie empfunden; seither hatte sich wahrhaftig der Eros davon getrennt. Tat er noch etwas mit ganzer Seele? War nicht alles, was er berührte, unwesentlich? Wahrhaftig, von seinen Fingerspitzen, von seiner Zungenspitze, seinen Eingeweiden, Augen und Ohren hatte sich die Liebe getrennt, und was übrig blieb, war bloß Asche in Lebensform oder, wie er es nun etwas großartig ausdrückte, «Jauche in geschliffenem Glas» -, war der
«Bock»! Und neben ihm, an seinem Ohr, war Clarisse: ein kleiner Vogel, der plötzlich im Wald das zu weissagen begonnen hatte! Er brachte den suggestiven, den Befehlston nicht auf, ihr vorzuhalten, wo sie in ihren Ideen zu weit gehe und wo nicht. Sie war voll durcheinandergeschüttelter Bilder; und so voller Bilder wäre auch er einst gewesen, redete er sich ein. Und auch von diesen großen Bildern weiß man doch nicht, welche sich verwirklichen lassen werden und welche nicht. Jeder Mensch trage also eine Lichtgestalt in sich, behauptete jetzt Clarisse, die meisten beschieden sich aber, in der Sündengestalt zu leben, und Walter fand, daß man von ihm wohl sagen könne, er trage eine Lichtgestalt in sich, obwohl er, vielleicht sogar selbstbüßerisch, jedenfalls freiwillig, in Asche lebe. Auch eine Lichtgestalt der Welt gibt es. Er fand dieses Bild großartig. Zwar erklärte es nichts, aber wozu erklären?! Der aus allen Niederlagen immer wieder aufstrebende Hochwille der Menschheit drückte sich eben darin aus. Und jetzt erst fiel Walter mit einemmal auf, daß ihn Clarisse mindestens ein Jahr lang nicht freiwillig geküßt hatte und es jetzt zum erstenmale täte.
64 Ein Blatt Papier. Ulrichs Tagebuch
Oft dachte Ulrich, daß alles, was er mit Agathe erlebte, eine wechselseitige Suggestion und nur unter dem Einfluß der Vorstellung denkbar wäre, daß sie ein ungewöhnliches Schicksal auserwählt habe. Es stellte sich ihnen bald unter dem Zeichen der Siamesischen Zwillinge dar, bald unter dem des Tausendjährigen Reichs, der Liebe der Seraphen, oder der Mythen des «konkaven» Welterlebnisses. Diese Gespräche wiederholten sich zwar nicht mehr, aber sie hatten in der Vergangenheit den kräftigeren Schatten wirklicher Vorgänge angenommen, von denen einmal die Rede gewesen ist. Man mag das bloß eine halbe Überzeugung nennen, wenn man meint, daß zur Überzeugung ein Denken gehöre, das sich seiner Sache völlig sicher wissen müsse; aber es gibt auch eine volle Überzeugung, die einfach aus dem Fehlen aller Einwände zustande kommt, weil eine stark und einseitig bewegte Gemütsstimmung jeden Zweifel dem 660
Bewußtsein fernhält: Ulrich fühlte sich manchmal beinahe schon überzeugt und wußte nicht einmal, wovon.
Fragte er sich dann aber - denn er mußte wohl voraussetzen, daß er an Einbildungen leide -, was sich Agathe und er zuerst gegenseitig eingebildet haben müßten, das verwunderliche Gefühl füreinander oder die nicht minder merkwürdige Veränderung des Denkens, in der es sich ausdrückte, so ließ sich das wieder nicht entscheiden, denn beides war gleich zu Anfang aufgetreten, und eines war, nahm man es allein, so unbegründet wie das andere.
Das legte ihm manchmal schon nahe, an eine Suggestion zu glauben, und er fühlte dann das unheimliche Bangen, das den selbständigen Willen beschleicht, der sich heimtückisch überfallen und von innen gefesselt sieht. «Was soll ich darunter verstehen? Wie erklärt man diesen Vulgärbegriff der Suggestion, den ich so geläufig gebrauche wie alle, ohne ihn zu verstehn? Ich habe heute darüber nachgelesen» trug Ulrich auf einem Zettel ein. «Die Sprache der Tiere besteht aus Affektäußerungen, die in den Genossen die gleichen Affekte hervorrufen. Warnruf, Futterruf, Liebesruf. Ich darf wohl hinzufügen, daß sie nicht nur den gleichen Affekt, sondern unmittelbar auch das zu ihm gehörige Handeln wecken und durchdringen. Der Schreck-, der Liebesruf fährt in die Glieder! Dein Wort ist in mir und bewegt mich: wäre das Tier ein Mensch, so empfände es dabei eine geheimnisvolle körperlose Vereinigung! Diese affektive Sug-gestibilität soll aber auch beim Menschen noch vollständig vorhanden sein, trotz der entwickelten Verstandessprache. Der Affekt steckt an: Panik, Gähnen. Er ruft leicht die zu ihm passenden Vorstellungen hervor; ein froher Mensch macht fröhlich. Er greift auch auf unpassende Träger über; das kommt in allen Abstufungen vor, von der Albernheit eines Liebespfands bis zu den irrenhausreifen Einfallen der vollen Liebestollheit. Der Affekt versteht es aber auch auszuschließen, was nicht zu ihm paßt, und ruft auf beide Weisen jenes nachhaltige einheitliche Verhalten des Menschen hervor, das dem Zustand der Suggestion die Kraft fixer Ideen gibt. Hypnose ist nur ein Sonderfall dieser allgemeinen Beziehungen. Diese Erklärung gefällt mir, und ich mache sie mir zu eigen. Ein eigenartig nachhaltiges, einheitliches Verhalten, das uns von der Ganzheit des Lebens aber absperrt: das ist unser Zustand!»
Solche Zettel begann Ulrich nun viele zu schreiben. Sie bildeten eine Art Tagebuch, mit dessen Hilfe er seinem Kopf die Klarheit zu bewahren suchte, die er bedroht fühlte. Gleich nachdem er aber die erste seiner Aufzeichnungen zu Papier gebracht hatte, fiel ihm noch diese zweite ein: «Was ich Großmut genannt habe, ist vielleicht auch mit Suggestion verwandt. Indem sie das übergeht, was nicht zu ihr gehört, und das, was ihr dient, an sich reißt, ist sie großmütig. » Als das geschehen war, erschienen ihm natürlicherweise seine Bemerkungen bei weitem nicht so bedeutungsvoll wie vor ihrer Niederschrift, und er ging noch einmal daran, ein unbezweifelbares Merkmal des Zustands zu suchen, in dem er sich mit seiner Schwester befände.
Abermals fand er es darin, daß Denken wie Gefühl in gleichem Sinn verändert seien und nicht nur merkwürdig übereinstimmten, sondern sich auch als etwas Einseitiges, ja fast Hangendes und Süchtiges von dem gewöhnlichen Zustande abhöben, worin sich ohneweiteres Strebungen und Einfälle jeder Art mischen. Waren ihre Gespräche im rechten Schwang - und dafür war die Empfindlichkeit überaus groß —, so machten sie niemals den Eindruck, daß ein Wort ein anderes erzwinge oder eine Handlung die nächste nach sich ziehe, sondern den, daß im Geist etwas erweckt werde, als dessen höhere Stufe dann die Antwort folge. Jede Bewegung des Gemüts wurde zur Entdeckung einer neuen noch schöneren Bewegung, wobei sie sich gegenseitig halfen, auf welche Weise der Eindruck einer nicht endenden Steigerung und der einer sich ohne Senkung hebenden Aussprache entstand. Niemals schien das letzte Wort gesprochen werden zu können, denn jedes Ende war ein Anfang und jedes letzte Ergebnis das erste einer neuen Eröffnung, so daß jede Sekunde wie die aufgehende Sonne strahlte, aber zugleich die friedevolle Vergänglichkeit der untergehenden mit sich brachte. «Wäre ich ein Gottgläubiger, so fände ich jetzt darin die Bestätigung für die schwer verständliche Behauptung, daß uns seine Nähe ebenso eine unaussprechliche Erhöhung wie unsere niederdrückende Ohnmacht fühlen läßt!» zeichnete Ulrich auf.
Er entsann sich, in früher Zeit, bei Antritt seines geistigen Lebens glühenden Sinnes die Beschreibung ähnlicher Empfindungen in allerhand Büchern gelesen zu haben, die er niemals auslas, weil ihn Ungeduld und zur Eigenmächtigkeit drängender Wille daran hinderten, obwohl er sich von ihnen ergriffen fühlte, ja gerade deshalb. Er hatte dann auch nicht so gelebt, wie es zu erwarten gewesen wäre, und als es jetzt geschah, daß er einige dieser Bücher wieder vornahm, denn das war etwas, was er nun gerne tat, kam ihm, die alten Zeugnisse wiederzusehen, so vor, als träte er still durch eine Türe bei sich ein, die er einst hochmütig zugeschlagen hatte. Sein Leben schien unausgeführt hinter ihm zu liegen, oder vielleicht gar 661
noch vor ihm. Nicht ausgeführte Vorsätze können wie die verschmähten Geliebten im Traum sein, die durch viele Jahre schön geblieben sind, während sich der erstaunte Heimkehrer selbst verwüstet sieht: in einer wundersamen Ausdehnung seiner Macht meint man an ihnen wieder jung zu werden, und in dieser zwischen Unternehmungslust und Zweifel geteilten, zwischen Flammenspitze und Asche schwebenden Stimmung befand sich Ulrich jetzt am öftesten. Er las viel. Auch Agathe las viel. Sie war schon damit zufrieden, daß die Leseleidenschaft, von der sie in allen Zuständen ihres Lebens begleitet worden war, nicht mehr der Zerstreuung diente, sondern ein Ziel hatte, und sie hielt mit ihrem Bruder Schritt wie ein Mädchen, dem die flatternden Kleider nicht Zeit lassen, über den Weg nachzudenken. Es ereignete sich, daß die Geschwister nachts aufstanden, nachdem sie sich eben erst zur Ruhe begeben hatten, und sich von neuem bei ihren Büchern trafen, oder daß sie einander trotz vorgerückter Stunde überhaupt nicht schlafen ließen.
Ulrich schrieb darüber: «Es scheint die einzige Leidenschaft zu sein, die wir uns gestatten. Wenn wir auch müde sind, wollen wir doch nicht auseinander gehen. Agathe sagt: <Sind wir denn nicht Geschwister ?> das heißt: Siamesische Zwillinge; denn sonst Ware es zusammenhangslos. Selbst wenn wir zu müde sind zu sprechen, will sie nicht zu Bett gehen, weil wir nicht beisammen schlafen können. Ich verspreche ihr, bis sie einschlafe, neben ihr sitzen zu bleiben, aber sie will sich nicht auskleiden und ins Bett legen, nicht aus Scham, sondern weil sie dann etwas vor mir voraus hätte. Wir ziehen Hauskleider an. Einige Male sind wir schon aneinandergelehnt eingeschlafen. Sie war heiß vor Eifer. Ich hatte, sie zu stützen, und wußte es gar nicht, meinen Arm um ihren Körper geschlungen. Sie hat weniger Gedanken als ich und eine höhere Temperatur. Sie muß eine sehr warme Haut haben. Am Morgen sind wir blaß vor Müdigkeit und schlafen in den Tag hinein. Es kommt übrigens nicht der kleinste geistige Fortschritt dabei heraus. Wir brennen an den Büchern wie der Docht im Öl. Wir nehmen sie eigentlich ohne jede andere Wirkung als diese auf, daß wir brennen… »
Ulrich fügte hinzu: «Der junge Mensch hört nur mit halbem Ohr auf die Stimme der Bücher, die ihm zum Schicksal werden; schon eilt er davon, seine eigene Stimme zu erheben! Denn er sucht nicht die Wahrheit, er sucht sich. So hat es sich auch mit mir verhalten. Folge im Großen: Es gibt immer neue Menschen, und immer die alten Geschehnisse, bloß neu aufgemischt! Moralische Gebrechlichkeit der Zeitalter. Sie sind im wesentlichen wie unser Lesen ein Brennen um seiner selbst willen. Wann habe ich mir das zuletzt gesagt?
Kurz vor Agathes Ankunft. Letzte Ursache dieser Erscheinung? Das Fehlen von System, Grundsätzen, Ziel, also auch von Steigerungsmöglichkeit und Folgerichtigkeit des Menschenlebens. Ich hoffe, dazu noch einiges festhalten zu können, was mir eingefallen ist. Es gehört zum <Generalsekretariat>. Das Sonderbare an meinem gegenwärtigen Zustand ist aber, daß ich so weit entfernt wie noch nie von solcher tätigen Teilnahme am Geistigen bin. Das ist Agathes Einfluß. Es geht Reglosigkeit von ihr aus. Trotzdem hat dieser zusammenhanglose Zustand ein eigentümliches Gewicht. Er ist gehaltvoll. Ich möchte sagen: es ist der große Gehalt an Glückseligkeit, der ihn kennzeichnet, wobei dieser Begriff natürlich ebenso unbestimmt ist wie alles übrige. Zaudernde Einschränkung, die ich mir zuschulden kommen lasse! Unser Zustand ist das andere Leben, das mir immer vorgeschwebt ist. Agathe wirkt dahin und ich frage mich: ist es als wirkliches Leben ausführbar? Unlängst hat mich auch sie danach gefragt… !»
Agathe hatte aber, als sie das tat, bloß ihr Buch sinken lassen und gefragt: «Kann man zwei Menschen lieben, die einander Feinde sind?» Zur Erklärung fügte sie hinzu: «Manchmal lese ich in einem Buche etwas, das dem widerspricht, was ich in einem ändern Buch gelesen habe, und liebe beide Stellen. Dann denke ich daran, daß wir beide, du und ich, einander ja auch in vielem widersprechen. Kommt es nicht darauf an? Oder ist das gewissenlos?»
Ulrich erinnerte sich sofort daran, daß sie ihn ähnliches in dem unverantwortlichen Zustande gefragt habe, wo sie das Testament abänderte. Das erzeugte unter dem Gegenwartszustand eine merkwürdige Tiefe und Höhlung, denn den Hauptstrom seiner Gedanken führte Agathes Äußerung ohne Besinnen auf Lindner zurück. Er wußte, daß sie diesen besuche; sie hatte es ihm zwar niemals mitgeteilt, aber auch keine Anstalten getroffen, es zu verbergen.
Die Antwort auf diese offene Art von Verheimlichung war Ulrichs Tagebuch.
Agathe sollte nichts von diesem Tagebuch wissen. Wenn er daran schrieb, litt er unter dem Gefühl von ihm begangener Untreue. Oder stärkte und befreite sich damit, denn der kühlende Zustand des heimlich begangenen Unrechts zerstörte die geistige Verzauberung, die ebenso gefürchtet wie begehrt war.
Darum hatte Ulrich als Antwort auf Agathes Frage gelächelt und keine andere Antwort gegeben. Und nun 662
hatte Agathe plötzlich gefragt: «Hast du Geliebte?» Zum ersten Male geschah es da, daß sie ihm wieder eine solche Frage stellte. «Du sollst natürlich, » fügte sie hinzu «aber du hast mir doch selbst gesagt, daß du sie nicht liebst?! -» Und dann fragte sie: «Hast du einen ändern Freund als mich?» Das sagte sie leichthin, als erwarte sie nun keine Antwort mehr, aber auch in der Art, leicht und spielend, als hätte sie auf der Hand eine winzige Menge einer sehr kostbaren Substanz liegen und beschäftige sich mit ihr. Ulrich schrieb spät nachts in seinem Tagebuch die Antwort auf, die er gegeben hatte.
65 [Eine Eintragung. Entwurf zur Utopie des motivierten Lebens]
«Es ist nur eine kleine Herausforderung des Lebens gewesen, daß sie mir diese Fragen stellte, und sollte bedeuten: Du und ich leben doch auch noch außerhalb des <Zustands>! Man kann ebenso gut ausrufen:
<Bitte, reiche mir Wasser!> Oder: <Halt! laß das Licht doch brennen!> Es ist eine Augenblicksbitte, etwas Eiliges, Unbeaufsichtigtes und nichts weiter. Ich sage: <nichts weiten, aber weiß doch: es ist nicht weniger als liefe eine Göttin einem Autobus nach, damit er sie noch mitnehme! Eine unmystische Gangart, ein Zusammenbruch des Wahnwitzes! An solchen kleinen Erlebnissen wird es deutlich, wie sehr unser Zustand eine bestimmte einzige Gemütslage zur Voraussetzung hat und augenblicklich umkippt, wenn man sie aus dem Gleichgewicht bringt.
Und doch machen solche Augenblicke erst recht glücklich. Wie schön ist Agathens Stimme! Welches Vertrauen liegt in einer solchen ganz kleinen Bitte, die mitten in einem hohen und feierlichen Zusammenhang auftritt! Sie ist rührend, wie es zwischen einem Strauß kostbarer Blumen ein Wollfaden ist, der vom Kleid der Geliebten hängen geblieben ist, oder ein vorstehendes Stückchen Draht, für das die Hände der Binderin zu schwach waren. In solchen Augenblicken weiß man genau, daß man sich überschätzt, und doch erscheint alles, was mehr ist als man selbst, erscheinen alle Gedanken der Menschheit wie ein Spinngewebe; der Körper gleicht dann einem Finger, der es in jeder Sekunde zerreißt und an dem ein wenig davon haften bleibt.
Soeben habe ich gesagt: die Hände der Binderin, und habe mich dem Schaukelgefühl eines Gleichnisses überlassen, als könnte diese Frau niemals eine fettleibige ältere Person sein. Das ist Mondschein von der falschen Sorte! Und deshalb habe ich auch Agathe eher einen methodischen Vortrag gehalten als eine unmittelbare Antwort gegeben. Aber eigentlich habe ich ihr nur das Leben beschrieben, das mir vorschwebt.
Ich will das wiederholen, und, wenn ich kann, verbessern.
In der Mitte steht etwas, das ich Motivation genannt habe. Im gewöhnlichen Leben handeln wir nicht nach Motivation, sondern nach Notwendigkeit, in einer Verkettung von Ursache und Wirkung; allerdings kommt immer in dieser Verkettung auch etwas von uns selbst vor, weshalb wir uns dabei für frei halten. Diese Willensfreiheit ist die Fähigkeit des Menschen, freiwillig zu tun, was er unfreiwillig will. Aber Motivation hat mit Wollen keine Berührung; sie läßt sich nicht nach dem Gegensatz von Zwang und Freiheit einteilen, sie ist tiefster Zwang und höchste Freiheit. Ich habe das Wort gewählt, weil ich kein besseres fand; es ist wohl verwandt mit dem Ausdruck Motiv der Malersprache. Wenn ein Landschaftsmaler des Morgens mit der Absicht auszieht, ein Motiv zu suchen, so wird er es meist finden, das heißt, etwas, das seine Absicht erfüllt; doch muß man richtiger sagen, das in seine Absicht paßt - so wie ein Wort in jeden Mund paßt, wenn es bloß nicht zu groß ist. Denn etwas, das erfüllt, das ist etwas Seltenes, es überfüllt sogleich, strömt über die Absicht und ergreift den ganzen Menschen. Der Maler, der <etwas> malen wollte, wenngleich in
<persönlicher Auffassung>, malt nun an sich, er malt um sein Seelenheil, und nur in solchen Augenblicken hat er wirklich ein Motiv vor sich, in allen anderen redet er sich das bloß ein. Da ist etwas über ihn gekommen, das Absicht und Wille zerdrückt. Wenn ich sage, es habe mit ihnen überhaupt nicht zu tun, übertreibe ich natürlich. Aber man muß übertreiben, wenn man die Heimat seiner Seele vor sich hat. Es gibt sicher alle Arten Übergänge, aber so wie in der Farbenleiter selbst: Du kommst durch unzählige Vermischungen vom Grün zum Rot, bist du aber erst dort, so bist du es ganz und gar und ohne die geringste Spur mehr von Grün.
Agathe sagte, es sei die gleiche Abstufung wie die, daß man das meiste gewähren lasse, manches aus Neigung tue, und endlich, daß man aus Liebe handle.
Jedenfalls gibt es etwas Ähnliches auch im Sprechen. Man kann deutlich einen Unterschied machen zwischen einem Gedanken, der nur Denken ist, und einem, der den ganzen Menschen bewegt. Dazwischen 663
gibt es alle Arten Übergänge. Ich habe Agathe gesagt: wir wollen nur noch sprechen, was den ganzen Menschen bewegt!
Aber wenn ich allein bin, denke ich daran, wie unklar das ist. Mich kann auch ein wissenschaftlicher Gedanke bewegen. Aber das ist nicht die Art Bewegung, auf die es ankommt. (Anderseits kann mich auch ein Affekt ganz bewegen, und doch bin ich nachher bloß bestürzt. ) Je wahrer etwas ist, desto mehr ist es von uns in einer eigenartigen Weise abgewandt, mag es uns noch so viel angehn. Tausendmal habe ich mich schon nach diesem merkwürdigen Zusammenhang gefragt. Man könnte meinen, je weniger <objektiv> etwas sei, je <subjektiver>, desto mehr müßte es uns dann in der gleichen Weise zugewandt sein; aber das ist falsch; die Subjektivität kehrt unserem inneren Wesen gerade so den Rücken zu wie die Objektivität.
Subjektiv ist man in Fragen, wo man heute so und morgen anders denkt, entweder weil man nicht genug weiß oder weil der Gegenstand selbst von der Willkür des Gefühls abhängt: aber was ich und Agathe einander sagen möchten, ist nicht der vor-oder beiläufige Ausdruck einer Überzeugung, die bei besserer Gelegenheit zur Wahrheit erhoben, ebenso aber auch als Irrtum erkannt werden könnte, und nichts ist unserem Zustand fremder als die Unverantwortlichkeit und Halbfertigkeit solcher geistreichen Einfälle, denn zwischen uns ist alles von einem strengen Gesetz beherrscht, wenn wir es auch nicht aussprechen können. Die Grenze zwischen Subjektivität und Objektivität kreuzt die, an der wir uns bewegen, ohne sie zu berühren.
Oder soll ich mich vielleicht an die aufgewühlte Subjektivität der Redekämpfe halten, die man mit Jugendgefährten ausführt? An ihre Mischung von persönlicher Empfindlichkeit und Sachlichkeit, an ihre Bekehrungen und Aposta-sien? Sie sind die Vorstufe der Politik und Geschichte und der Humanität mit ihrem schwankenden, unbestimmten Inhalt. Sie bewegen das ganze Ich, sie stehen mit seinen Leidenschaften in Verbindung und suchen ihnen die Würde eines geistigen Gesetzes und den Anschein eines unfehlbaren Systems zu verleihen. Was sie uns bedeuten, liegt daran, daß sie uns andeuten, wie wir zu sein haben. Und gut, auch wenn mir Agathe etwas sagt, ist es immer, als ginge ihr Wort durch mich, und nicht bloß durch den Gedankenbereich, an den es sich wendet. Aber was zwischen uns geschieht, hat scheinbar gar nicht große Bedeutung. Es ist so still. Es weicht der Erkenntnis aus. Mir fallen die Worte milchig und opalisierend ein: was zwischen uns geschieht, ist wie eine Bewegung in einer schimmernden, aber nicht sehr durchlässigen Flüssigkeit, die immer ganz mitbewegt wird. Es ist beinahe völlig gleichgültig, was geschieht: alles geht durch die Mitte des Lebens. Oder kommt aus ihr zu uns. Ereignet sich mit dem merkwürdigen Gefühl, daß alles, was wir je getan haben und tun konnten, mitbeteiligt sei. Wenn ich es s, o greifbar wie möglich beschreiben will, muß ich sagen: Agathe gibt mir irgendeine Antwort oder tut etwas, und sogleich gewinnt es für mich ebensoviel Bedeutung wie für sie, ja scheinbar die gleiche Bedeutung oder eine ähnliche. Vielleicht verstehe ich sie in Wirklichkeit gar nicht richtig, aber ich ergänze sie in der Richtung ihrer inneren Bewegung. Wir erraten offenbar, weil wir in der gleichen Erregung sind, das, was diese steigern kann, und müssen unwiderstehlich folgen… Wenn zwei Menschen in Zorn oder Liebe geraten, steigern sie sich gegenseitig auf eine ähnliche Weise. Aber die Eigenart der Erregung und der Bedeutung, die alles in dieser Erregung annimmt, ist eben das Außerordentliche.
Könnte ich sagen, wir werden von dem Gefühl begleitet, in Einklang mit Gott zu leben, es wäre einfach; aber wie soll man voraussetzungslos beschreiben, was uns dauernd erregt? <In Einklang> ist richtig, aber womit ist nicht zu sagen. Wir werden von dem Gefühl begleitet, daß wir die Mitte unseres Wesen erreicht haben, die geheimnisvolle Mitte erreicht haben, wo die Fliehkraft des Lebens aufgehoben ist, wo die unaufhörliche Drehung des Erlebens aufhört, wo das laufende Band der Eindrücke und Ausstöße, das der Seele Ähnlichkeit mit einer Maschine gibt, stillsteht, wo die Bewegung Ruhe ist, daß wir an die Achse des Kreisels gelangt sind. Das sind symbolische Ausdrücke, und ich hasse diese Symbole geradezu, weil sie sich so leicht anbieten und unendlich ausbreiten, ohne etwas zu ergeben. Ich will es lieber noch einmal versuchen, und so nüchtern wie möglich: die Erregung, in der wir leben, ist die der Richtigkeit. Von diesem Wort, das in solcher Anwendung ebenso ungewöhnlich wie nüchtern ist, fühle ich mich ein wenig beruhigt.
Zufriedenheit und Sättigung der Wünsche sind im Gefühl der Richtigkeit enthalten, Überzeugung gehört zu ihm und Stillung, es ist der tiefe Zustand, in den man nach Erreichen seines Ziels verfällt. Wenn ich fortfahre, mir das so darzustellen, und mich frage: welches Ziel ist erreicht? so weiß ich es nicht. Das ist schon wieder der Einklang mit dem unbezeichenbaren <Womit>. Und eigentlich ist es auch nicht ganz richtig, von einem Zustand des erreichten Ziels zu sprechen; zumindest ist es ebenso wahr, daß der Zustand 664
von einem dauernden Eindruck der Steigerung begleitet ist. Aber es ist eine Steigerung ohne Fortschritt.
Ebenso ist es ein Zustand des höchsten Glücks, führt aber nicht über ein schwaches Lächeln hinaus. Wir fühlen uns in jeder Sekunde emporgerissen, verhalten uns aber äußerlich wie innerlich ziemlich reglos; die Bewegung hört niemals auf, aber sie schwingt auf engstem Raum. Auch ist eine tiefe Sammlung mit einer weiten Zerstreutheit verbunden, und das Bewußtsein lebhafter Tätigkeit mit der Überwältigung durch ein Geschehen, das wir nicht genügend verstehen. So endet der Vorsatz, daß ich mich auf das Nüchternste beschränke, sogleich wieder in befremdlichen Widersprüchen. Aber das, was sich dem Geist so zerrissen darstellt, ist als Erlebnis von großer Natürlichkeit. Es ist einfach da; also müßte es auch dem richtigen Verständnis einfach
sein!
Auch besteht zwischen Agathe und mir nicht die geringste Verschiedenheit in der Meinung, daß die Frage:
<Wie soll ich leben?>, die wir uns beide aufgegeben hatten, beantwortet ist: So soll man leben!
Und manchmal erscheint es mir verrückt. »
66 Das Ende der Eintragung. Lebende Gedanken
«Ich sehe die Aufgabe nun doch deutlicher. Etwas gibt im menschlichen Leben dem Glück die Kürze, so sehr, daß Glück und Kürze scheinbar zusammengehören wie Geschwister. Es macht alle großen und glücklichen Stunden unseres Daseins zusammenhanglos, - eine Zeit, die in Stücken in der Zeit treibt, —
und gibt allen anderen Stunden den notwendigen, den Not-Zusammenhang. Dieses Etwas bewirkt, daß wir ein Leben führen, das uns innerlich nicht berührt. Es bewirkt, daß man ebenso leicht Menschen fressen wie Dome bauen kann. Es ist die Ursache davon, daß immer nur <Seinesgleichen> geschieht, das bloß äußerlich Wirkliche. Es hat Schuld daran, daß man von allen seinen Leidenschaften betrogen wird. Es ruft die sich immer wiederholende Vergeblichkeit der Jugend hervor und die sinnlose ewige Umwälzung der Zeiten. Dem ist es zuzuschreiben, daß bloß der Tätigkeitstrieb in Tätigkeit tritt, und nicht der Mensch, daß unsere Handlungen sich so notwendig vollziehen, als gehörten sie mehr zueinander als zu uns, daß unsere Erlebnisse in der Luft liegen, aber nicht in unserem Willen. Dieses Etwas ist gleichbedeutend damit, daß wir mit all dem Geist, den wir hervorbringen, nichts Rechtes anzufangen wissen, es bewirkt auch, daß wir uns selbst nicht lieben, daß wir uns wohl begabt finden mögen, aber alles in allem keinen Zweck darin sehen. Dieses Etwas ist: daß wir immer wieder aus dem Zustand der Bedeutung in das an und für sich Bedeutungslose hinaustreten, um da hinein Bedeutung zu bringen. Wir treten aus dem Zustand des Sinnvollen in den Stand des Notwendigen und Notdürftigen, aus dem Zustand des Lebens in die Welt des Toten. Aber nun, wo ich es niedergeschrieben habe, bemerke ich, daß es eine Tautologie und scheinbar etwas Nichtssagendes ist, was ich sage. Doch bevor ich schrieb, war in meinem Kopf: <Agathe gibt mir irgendeine Antwort, ein Zeichen; es macht mich glücklich>; und dann der Gedanke: <wir treten nicht aus der Welt des Geistes hinaus, um in eine des Ungeistes Geist zu setzen>. Und es schien mir, daß dieser Gedanke vollkommen sei und mit dem Hinaustreten genau das bezeichne, was ich meine. Ich brauche mich auch nur in diesen Zustand zurück zu versetzen, so scheint es mir noch so zu sein.
Ich muß mich fragen, wie mich ein Fremder verstünde. Sage ich Bedeutung, so versteht er gewiß: das Bedeutende. Wenn ich Geist sage, versteht er zuvörderst Angeregtheit, lebhaftes Denken, Aufnehmen und Wollen. Und es erscheint ihm natürlich, daß man aus der Welt des Geistes hinaustreten und ihre Bedeutung ins Leben tragen müsse, ja er hält ein solches Bestreben nach <Vergeistigung> für die würdigste Erfüllung der menschlichen Aufgaben. Wie kann ich es ausdrücken, daß <Vergeistigen> schon Sündenfall ist, und
<Nicht die Welt des Geistigen verlassen> ein Gebot, das keine Grade hat, sondern ganz oder gar nicht erfüllt wird?
Mir ist inzwischen eine bessere Erklärung in den Sinn gekommen. Die Erregung, in der wir uns befinden, Agathe und ich, drängt nicht zu Handlungen und nicht zu Wahrheiten, das heißt: sie bricht nichts vom Rande ab, sondern fließt durch das, was sie hervorruft, wieder in sich selber zurück. Das ist allerdings nur eine Beschreibung der Form des Geschehens. Aber, wenn ich das, was ich erlebe, auf diese Art beschreibe, so erfasse ich die veränderte, ja ganz andere Rolle, die nun mein Verhalten, mein Handeln hat: Was ich tue, ist nicht mehr die Entladung meiner Spannung und die Endform eines Zustands, in dem ich mich befunden habe, sondern es ist ein Durchgang und Relais auf dem Rückweg zur Bedeutung!
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Allerdings hätte ich beinahe gesagt: <Rückweg zu einer Steigerung meiner Spannung> -; aber da fiel mir einer der Widersprüche ein, die unser Zustand aufweist, der nämlich, daß er keinen Fortschritt zeigt, also doch wohl auch keine Steigerung haben kann. Danach glaubte ich <Rückweg zu mir selbst> sagen zu sollen
— so ungenau ist alles das! — aber der Zustand ist gar nicht egoistisch, sondern liebevoll-weltzugewandt.
Und so habe ich eben wieder <Bedeutung> geschrieben, und das Wort steht gut und natürlich in seinem Zusammenhang, ohne daß es mir bisher gelungen wäre, seinen Inhalt herauszuschälen.
So ungewiß das bleibt, hat mir aber immer ein Leben vorgeschwebt, dessen Hauptstück es wäre. Ich hatte bei jeder anderen Lebensführung das unklare Gefühl, es gesehen, vergessen und nicht wiedergefunden zu haben. Es hat mir die Befriedigung an allem, was bloß Rechnen und Denken ist, geraubt, hat mich aber auch nach jedem Abenteuer und von jeder Leidenschaft mit dem schalen Gefühl der Verfehlung nachhause kommen lassen, bis ich schließlich beinahe alle Lust am Wirken verlor. Das ist geschehen, weil ich mich durch nichts zwingen lassen wollte, den Bereich der Bedeutung zu verlassen. Nun könnte ich auch sagen, was <Motiv> ist. Motiv ist, was mich von Bedeutung zu Bedeutung führt. Es geschieht etwas oder es wird etwas gesagt, und das vermehrt den Sinn zweier Menschenleben und verbindet sie durch den Sinn, und was geschieht, welchen physischen oder rechtlichen Begriff es darstellt, bleibt dabei ganz gleichgültig, es gehört überhaupt nicht dazu.
Aber kann ich mir vorstellen, was das in seiner ganzen Ausdehnung besagt, ach, nur in seiner nächsten? Ich muß es versuchen. Ein Mensch tut etwas: nein, ich darf nicht ausweichen, Professor Lindner tut etwas! Er erregt Agathes Neigung. Ich spüre dieses Geschehen, möchte es verderben und widerlegen und - in dem Augenblick, wo ich meiner Abneigung nachgebe, trete ich aus dem Kreis der Bedeutung hinaus. Was ich fühle, kann niemals Motiv für Agathe werden. Meine Brust mag voll Ärger oder Zorn, mein Kopf ein Arsenal spitzer und blitzender Einwände sein - mein Herz ist leer! Mein Zustand ist dann plötzlich negativ!
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Zustand ist nicht mehr positiv! Da ist mir nun wieder ein wunderliches Begriffspaar unter die Finger geraten. Warum komme ich auf die Bezeichnungen <positiv> und <negativ>? Ich erinnere mich unerwartet an einen Tag, wo ich auch vor einem Papier saß und den Versuch machte zu schreiben, -damals hätte es ein Brief an Agathe werden sollen. Und allmählich entsinne ich mich: Ein Zustand des <Tu!> und einer des
<Tu nicht!> als die beiden Mischungsbestandteile jeder Moral, das <Tu> in ihrem Aufstieg vorwaltend, das
<Tu nicht> während ihrer gesättigten Herrschaft, - ist dieses Verhältnis von <Forderung> und <Verbot> nicht das gleiche, was ich heute positiv und negativ nenne? Die Beziehung zwischen Agathe und mir dadurch gekennzeichnet, daß alles Forderung ist und nicht Verbot? Ich erinnere mich, daß ich damals von Agathes leidenschaftlicher, bejahender Güte gesprochen habe, die in einer Zeit, wo man so etwas nicht mehr versteht, wie ein uraltes Laster aussieht. Ich habe gesagt: es ist wie Heimkehr nach längster Zeit und das Wasser aus dem Brunnen seines Dorfes zu trinken! Und Forderung heißt natürlich nicht, daß wir fordern, sondern daß alles, was wir tun, das Höchste von uns fordere.
Den Kreis des Bedeutenden nicht zu verlassen, wäre also das gleiche wie ein Leben in reiner Positivität?
Ich erschrecke beinahe bei dem Gedanken, daß es auch das gleiche ist wie <wesentlich leben>, obwohl ich das erwarten mußte. Denn was sollte wesentlich anderes bedeuten? Das Wort kommt wohl aus der Mystik oder Metaphysik und bezeichnet den Gegensatz zu allem irdischen friedelosen und zweifelvollen Geschehen; aber seit wir uns vom Himmel getrennt haben, lebt es auf Erden als die Sehnsucht, unter tausenden moralischen Überzeugungen die einzige zu finden, die dem Leben einen Sinn ohne Wandel gibt.
Gespräche ohne Ende zwischen mir und Agathe darüber! Ihr jugendliches Verlangen nach moralischer Belehrung neben dem Trotz, worin sie Hagauer töten wollte und ihn wenigstens am Besitz wirklich geschädigt hat! Und das gleiche Suchen nach Überzeugung allenthalben in der Welt; die Ahnung, daß der Mensch nicht ohne Moral leben kann, und die tiefe Beunruhigung darüber, daß seine eigenen Gefühle eine jede zersetzen! Worin liegt die Möglichkeit eines <ganzen> Lebens, einer <vollen> Überzeugung, einer Liebe, die ohne jede Beteiligung von Nichtliebe, ohne einen Rest von Selbst-und Ichsucht ist? Das heißt doch: nur positiv leben. Und es heißt: kein Geschehen ohne <Bedeutung> zulassen wollen, jedesmal wenn ich von einem <nie endenden Zustand> im Gegensatz zur <ewigen vergeblichen Augenblicklichkeit> unseres üblichen Handelns spreche oder von der Zuordnung jedes Augen-blickzustandes zu einem
<Dauerzustand> des Gefühls, die uns die <Verantwortlichkeit> wiedergibt. Ich könnte seitenlang in der Wiederholung solcher Ausdrücke fortfahren, die das, was wir meinten, von irgendeiner Seite bezeichneten.
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Wir haben das als <wesenhaft leben> zusammengefaßt, und auch von anderen so zusammenfassen hören, immer etwas in Verlegenheit wegen des schwülstig-übersinnlichen Beiklangs, den dieses Wort hat, aber wir besaßen keines, das einfacher zu gebrauchen war. Es ist also wohl keine geringe Überraschung, wenn ich das, was ich in den Wolken suchte, mit einemmal beinahe in meiner Hand finde!
Allerdings gehört es zu den Eigentümlichkeiten unseres Zustands, daß jede neue Betrachtung alle älteren in sich aufnimmt, so daß es unter ihnen keine Rangfolge gibt, sie scheinen vielmehr unendlich verstrickt zu sein. Ich könnte fortfahren und unseren Zustand ebensogut großmütig nennen, das habe ich überdies vor Tagen schon getan, wie ich ihn auch als schöpferisch zu kennzeichnen vermöchte, denn Schaffen und Schöpfung ist nur möglich in einem durch und durch positiven Verhalten, und so stimmt auch das überein; schließlich wäre ein solches Leben, wo jeder Augenblick so bedeutend wie möglich sein soll, auch noch jenes <Leben im Sinne der maximalen Forderung>, das ich mir manchmal als die seelische Ergänzung zu der wortkargen Entschlossenheit der wirklichen Wissenschaft vorgestellt habe. Aber ob maximal, großmütig, schöpferisch oder bedeutsam, wesenhaft oder ganz, wie mache ich es, daß meine Empfindungen für Professor Lindner so seien? Das ist die Frage, zu der es zurückzukehren heißt, das Experimentum crucis, der Kreuzweg! Mir fällfein, daß ich ihm die Möglichkeit abgesprochen habe, an Agathe teilzunehmen. Warum? Weil Teilnahme, ja schon Verständnis, niemals durch ein <Sich in den ändern Hineinversetzen möglich ist, sondern nur in der Weise, daß man gemeinsam an etwas Größerem teilhat. Auch ich vermag nicht die Kopfschmerzen meiner Schwester mitzuempfinden; aber ich finde mich mit ihr in einen Zustand versetzt, wo es keinen Schmerz gibt oder wo auch der Schmerz die schwebenden Flügel der Seligkeit hat! Ich bezweifle es, ich sehe die Übertreibung darin. Aber vielleicht geschieht das nur, weil ich nicht der Ekstase fähig bin?
Zu Lindner müßte ich mich auch ungefähr so verhalten, als wäre ich mit ihm in Gott verbunden. Es genügt auch schon ein kleineres Ganzes wie die Nation oder irgendeine andere Bruderschaft. Wenigstens genügt es, um mir mein Verhalten vorzuzeichnen. Selbst eine gemeinsame Idee genügt. Es muß bloß etwas neues Lebendiges sein, das nicht bloß Lindner und ich ist. So lautet ja auch die Antwort auf Agathes Frage, was ein Widerspruch zweier Bücher bedeute, die man beide liebt: niemals eine Rechnung, ein Abwägen, sondern er bedeutet ein drittes Lebendiges, das beide Seiten in sich hüllt. Und so war das Leben, das mir immer, wenn auch selten deutlich, vor Augen stand: Die Menschen verbunden, ich mit den Menschen verbunden durch irgendetwas, das uns auf unsre hundert Abneigungen verzichten macht. Die Widersprüche und Feindseligkeiten, die es zwischen uns gibt, kann man nicht verleugnen, aber man kann sie sich
<aufgehoben> denken, so wie der starke Strom einer Flüssigkeit aufhebt, was er auf seinem Weg trifft.
Zwischen den Menschen gäbe es dann gewisse Empfindungen nicht, und andere gäbe es. Alle unmöglichen ließen sich zusammenfassen als neutrale und negative; als kleinliche, nagende, verengende, niedrige, aber auch als gleichgültige oder bloß in den notwendigen Beziehungen wurzelnde. So sind die verbleibenden groß, schwellend, fordernd, beschwert, bejahend, steigend: Ich kann das in der Eile nicht ausreichend beschreiben, aber es stak wie ein Traum in der Tiefe meines Körpers, und habe ich nicht am Ende einfach alle Menschen und das Leben lieben wollen?! Ich mit meinen Armen, meinen bis zur Bösartigkeit trainierten Muskeln wäre im Grunde nichts als liebebedürftig und liebestoll? Ist dies die Geheimformel meines Lebens? Ich kann mir das vorstellen, wenn ich phantasiere und an die Welt und an die Menschen denke, aber nicht, wenn ich an Lindner denke, den bestimmten, lächerlichen, den Mann, den Agathe morgen vielleicht wieder besucht, um mit ihm zu besprechen, was sie mit mir nicht bespricht. Also bleibt übrig? Daß es zwei ungefähr zu trennende Gruppen von Gefühlen gibt, die ich jetzt wieder nur als positive und negative Zustände bezeichnen möchte, ohne sie damit zu bewerten und bloß nach einer Eigentümlichkeit ihrer Erscheinung; obwohl ich den einen dieser beiden Gesamtzustände aus tiefer (das heißt auch: gut verborgener) Seele liebe. Und es bleibt Wirklichkeit, daß ich mich jetzt in diesem Zustand fast dauernd befinde, und Agathe auch! Vielleicht ist das ein großer Versuch, den das Schicksal mit mir vorhat. Vielleicht ist alles, was ich versucht habe, nur dazu dagewesen, daß ich dieses erlebe. Aber ich fürchte auch, daß sich in allem, was ich bis jetzt zu sehen vermeine, ein Zirkelschluß verbirgt. Denn ich will nicht - wenn ich nun auf das ursprüngliche Motiv zurückgreife — aus dem Zustand der <Bedeutung> hinaus, und wenn ich mir sagen will, was Bedeutung sei, so komme ich immer wieder nur auf den Zustand, wie ich bin und wie ich jetzt bin, das ist eben, daß ich aus einem bestimmten Zustand nicht hinauswill! So glaube ich nicht, die Wahrheit zu sehen; aber bloß subjektiv ist, was ich erlebe, gewiß auch nicht, es greift 667
mit tausend Armen nach der Wahrheit. Es könnte mir deshalb wahrhaftig als eine Suggestion erscheinen.
Alle meine Gefühle sind ja merkwürdig gleichartig oder gleichgerichtet, und die widerstrebenden sind ausgeschaltet, und ein solcher Affektzustand, der das Handeln einheitlich regelt, ist gerade das, was als das Hauptstück einer Suggestion angesehen wird. Aber kann etwas eine Suggestion sein, dessen Vorankündigung, dessen erste Spur ich beinahe mein ganzes Leben zurück zu verfolgen vermag?
Also bleibt übrig? Es ist nicht Einbildung und nicht Wirklichkeit; ich müßte, wenn es auch nicht Suggestion ist, beinahe daraus schließen, daß es beginnende Überwirklichkeit sei. »
67 General von Stumm läßt eine Bombe fallen Weltfriedenskongreß
Ein Soldat darf sich durch nichts abschrecken lassen, und so gelang es General Stumm von Bordwehr als dem einzigen, zu Ulrich und Agathe vorzudringen; vielleicht war er aber auch der einzige, dem sie es nicht ganz unmöglich gemacht hatten, da denn auch Weltflüchtluige vorsehen können, daß ihnen aller vierzehn Tage die Post nachkommt. Und als er sie jetzt durch seinen Eintritt in der Fortsetzung ihres Gesprächs störte, rief er befriedigt aus: «Leicht ist es nicht gewesen, alle Hindernisse des Vorfelds zu überwinden und in die Hauptstellung einzudringen!» küßte Agathe ritterlich die Hand und wandte sich besonders an sie mit den Worten: «Ich werde ein berühmter Mann sein, bloß weil ich Sie gesehen habe! Alle Welt fragt, welches Ereignis die Unzertrennlichen verschlungen habe, verlangt nach Ihnen, und ich bin gewissermaßen der Beauftragte der Gesellschaft, ja des Vaterlands, die Ursache Ihres Verschwindens zu entdecken! Ich bitte, mich damit zu entschuldigen, falls ich zudringlich erscheinen sollte!»
Agathe hieß ihn willkommen, wie es sich gehört; aber weder sie noch ihr Bruder vermochten sogleich, ihre Geistesabwesenheit vor ihrem Besucher zu verbergen, der als die verkörperte Schwäche und Unvollständigkeit ihrer Träume vor ihnen stand; und als General Stumm wieder von Agathe zurückgetreten war, setzte eine merkwürdige Stille ein. Agathe stand an der einen Langseite des Tisches, Ulrich an der anderen, und der General, wie ein von plötzlicher Windstille befallenes Segelschiff, ungefähr in der Mitte des Wegs zwischen ihnen beiden. Ulrich war im Begriff, seinem Besucher entgegen zu gehn, kam aber nicht von der Stelle. Stumm bemerkte jetzt, daß er wirklich gestört habe, und überlegte, wie er die Lage retten könnte. Auf allen drei Gesichtern lag der verzerrte Ansatz eines freundlichen Lächelns. Diese steife Stille dauerte kaum den Teil eines Augenblicks; doch gerade da fiel Stumms Blick auf das kleine Pferdchen aus Papiermasse, das vereinsamt wie ein Monument zwischen ihnen allen in der Mitte des leeren Tisches stand.
Die Hacken zusammenziehend, wies er mit der flachen Hand feierlich darauf und rief erleichtert aus: «Aber was ist denn das?! Ich gewahre in diesem Hause den großen Tiergötzen, das heilige Tier, das angebetete Idol der Reiterei?!»
Bei dieser Bemerkung Stumms löste sich auch Ulrichs Befangenheit, und nun aut ihn zueilend, sich aber doch auch an seine Schwester wendend, versicherte er lebhaft: «Es ist zwar ein Wagenpferd, aber im übrigen hast du es wunderbar erraten! Wir sprechen nämlich wirklich gerade von Idolen und ihrer Entstehung. Und nun sage einmal: Was liebt man, welchen Teil, welche Umformung und Verklärung liebt man, wenn man seinen Nächsten liebt, ohne ihn zu kennen? Inwiefern ist die Liebe also abhängig von der Welt und Wirklichkeit, und inwiefern verhält es sich umgekehrt?»
Stumm von Bordwehr hatte seinen Blick fragend auf Agathe gerichtet.
«Ulrich spricht von diesem kleinen Ding hier» versicherte sie etwas betreten und wies auf das Konditorpferdchen. «Er hat früher einmal eine Leidenschaft dafür gehabt. »
«Das ist aber hoffentlich schon recht lange her» äußerte sich Stumm verwundert. «Denn wenn ich nicht irre, ist es doch eine Bonbonniere!?»
«Das ist keine Bonbonniere!» beschwor ihn Ulrich, der von der lästerlichen Lust gepackt wurde, sich mit ihm darüber zu unterhalten. «Freund Stumm! Wenn du dich in ein Sattelzeug verliebst, das dir zu teuer ist, oder in eine Uniform oder in ein Paar Reitstiefel, die du in einer Auslage siehst: was liebst du da?»
«Du redest schamlos! So etwas liebe ich nicht!» verwahrte sich der General.
«Leugne nicht!» versetzte Ulrich. «Es gibt Leute, die Tag und Nacht von einem Kleiderstoff oder einem Reisekoffer träumen können, den sie in einer Auslage gesehen haben; und ein wenig davon hat jeder schon kennen gelernt; und auch dir ist es zumindest mit deiner ersten Leutnantsuniform ergangen! Und da wirst 668
du wohl zugeben, daß dieser Stoff oder Koffer unbrauchbar sein kann und daß man auch gar nicht in der Lage zu sein braucht, ihn wirklich begehren zu können: also ist keine Erfahrung leichter zu machen als die, daß man etwas liebt, ehe man es kennt und ohne es zu kennen. Darf ich dich übrigens daran erinnern, daß du Diotima gleich auf den ersten Blick geliebt hast?!»
Diesmal blickte der General pfiffig auf. Agathe hatte ihm mittlerweile Platz angeboten und hatte ihn auch mit einer Zigarre versorgt, weil ihr Bruder seiner Pflicht vergaß; er war von blauen Wölkchen umsäumt und sagte unschuldig: «Sie ist seither ein Lehrbuch der Liebe geworden, und Lehrbücher habe ich schon auf der Schule nicht so recht geliebt. Aber ich bewundere und achte diese Frau noch immer» fügte er mit einer würdigen Gelassenheit hinzu, die neu an ihm war.
Ulrich beachtete sie leider nicht gleich. «Alles das sind Idole» fuhr er fort, seine an Stumm gerichteten Fragen zu entwickeln. «Und nun siehst du deren Entstehung. Die in unsere Natur gelegten Triebe brauchen nur ein Mindestmaß an äußerer Begründung und Rechtfertigung; sie sind ungeheure Maschinen, die sich durch einen kleinen Schalter in Bewegung setzen lassen. Sie statten dafür den Gegenstand, dem sie gelten, aber auch nur so weit mit Vorstellungen aus, die einer Prüfung standhalten könnten, als es etwa dem Flackern von Licht und Schatten im Schein einer Notbeleuchtung entspricht - »
«Halt!» bat Stumm aus der Dampfwolke. «Was ist Gegenstand>? Sprichst du jetzt wieder von den Stiefeln und dem Koffer?»
«Ich spreche von der Leidenschaft. Von der Sehnsucht nach Diotima gerade so wie von der nach der verbotenen Zigarette. Ich möchte dir deutlich machen, daß jedes affektive Verhältnis zuerst durch vorläufige Wahrnehmungen und Vorstellungen angebahnt wird, die der Wirklichkeit angehören; daß es sogleich aber auch selbst Wahrnehmungen und Vorstellungen hervorruft, die es in seiner Weise ausstattet.
Kurz, der Affekt rückt sich den Gegenstand zurecht, wie er ihn braucht, ja erschafft ihn, so daß er schließlich einem Gegenstand gilt, der, auf solche Art zustandegekommen, nicht mehr zu erkennen wäre.
Aber er ist ja auch nicht für die Erkenntnis bestimmt, sondern eben für eine Leidenschaft! Dieser aus der Leidenschaft entstehende und in ihr schwebende Gegenstand» schloß Ulrich nun, zum Anfang zurückkehrend «ist natürlich etwas anderes als der Gegenstand, an den sie sich äußerlich heftet und nach dem sie greifen kann, und das gilt also auch von der Liebe. Ich liebe <dich>, ist eine Verwechslung; denn
<dich>, diese Person, von der die Leidenschaft hervorgerufen wird und die man mit Armen greifen kann, glaubt man zu lieben, und die von der Leidenschaft hervorgerufene Person, dieses wildreligiöse Gebilde, liebt man wirklich, aber sie ist eine andere. »
«Wenn man dich hört, » unterbrach Agathe ihren Bruder mit einem Vorwurf, der ihre innere Teilnahme verriet «so sollte man meinen, daß man die wirkliche Person nicht wirklich liebt und eine unwirkliche wirklich -!»
«Genau das habe ich sagen wollen, und ähnliches habe ich auch schon von dir gehört. »
«Aber in Wirklichkeit sind die beiden schließlich doch eins!»
«Das ist ja gerade die Hauptverwicklung, daß die der Liebe vorschwebende Person in jeder äußeren Beziehung von der wirklichen Person vertreten werden muß, ja mit ihr eins ist. Dadurch kommt es zu allen den Verwechslungen, die dem einfachen Geschäft der Liebe etwas so anregend Gespenti-sches verleihen!»,
«Vielleicht wird aber auch die wirkliche Person erst in der Liebe ganz wirklich? Vielleicht ist sie vorher nicht vollständig?!»
«Aber der Stiefel oder Reisekoffer, von dem man träumt, ist in Wirklichkeit doch kein anderer als der, den man auch kaufen könnte!»
«Vielleicht entsteht auch der Reisekoffer erst zu Ende, wenn man ihn liebt!»
«Mit einem Wort, man kommt zu der Frage, was wirklich sei. Die alte Frage der Liebe!» rief Ulrich ungeduldig und doch befriedigt aus.
«Ach, lassen wir den Reisekoffer!» Es war zum Erstaunen der beiden die Stimme des Generals, die ihr Scheingefecht unterbrach. Stumm hatte behaglich ein Bein über das andere gezwängt, was ihm, wenn es einmal gelungen war, große Sicherheit verlieh. «Bleiben wir bei der Person» fuhr er fort und lobte Ulrich:
«Du hast bis jetzt manches wieder hervorragend schön gesagt! Die Menschen glauben ja immer, daß nichts einfacher ist, als einander zu lieben, und dann muß man ihnen jeden Tag vorhalten: <Verehrteste, das ist nicht so einfach, wie bei der Äpfelfrau!>» Höflich wandte er sich zur Erklärung dieses mehr militärischen als zivilen Ausdrucks an Agathe: «Die Äpfelfrau, Gnädigste, zitiert man bei uns, wenn einer sich etwas 669
leichter vorstellt, als es ist. In der Höheren Mathematik, zum Beispiel, wenn beim abgekürzten Dividieren einer gleich so stark abkürzt, daß er, mir nichts, dir nichts, bei einem falschen Resultat ist! Dann hält man ihm die Äpfelfrau vor, und das wird dann halt auch sonst angewendet, wo ein gewöhnlicher Mensch bloß sagen möchte: das ist nicht so einfach!» Nun wandte er sich wieder an Ulrich und fuhr fort: «Deine Wissenschaft von den zwei Personen interessiert mich deshalb so sehr, weil auch ich den Leuten allemal sage, daß man den Menschen nur in zwei Teilen lieben kann: in der Theorie, oder wie du sagst, als vorschwebende Person, soll man ihn meinetwegen lieben; aber in der Praxis muß man streng, und schließlich auch hart, mit ihm verfahren! So ist es zwischen Mann und Frau, und so ist es überhaupt im Leben! Die Pazifisten zum Beispiel, mit ihrer Liebe ohne Schuhsohlen, ahnen davon nicht das mindeste, und ein Leutnant versteht zehnmal mehr von der Liebe als diese Dilettanten!»
Stumm von Bordwehr machte durch seinen Ernst, durch die Abgewogenheit seiner Rede, nicht zuletzt sogar durch die Kühnheit, mit der er, trotz Agathes Gegenwart, die Frau zum Gehorchen verurteilt hatte, den Eindruck eines Mannes, mit dem sich Wichtiges ereignet hat und der sich nicht ohne Erfolg bemüht hat, es zu bemeistern. Aber Ulrich hatte das noch immer nicht erfaßt und schlug vor: «Entscheide also du, welcher Person eine Liebe in Wahrheit gilt und welche Person bloß der Figurant ist!»
«Das war mir zu hoch» versicherte Stumm ruhig, zog Atem aus der Zigarre und fügte gelassen hinzu: «Ich habe mich gefreut, wieder zu hören, wie schön du sprichst; aber im ganzen sprichst du doch so, daß man sich fragen möchte, ob es denn wirklich deine einzige Beschäftigung ist. Ich muß gestehn, daß ich erwartet habe, dich nach deinem Verschwinden bei, weiß Gott, wichtigeren Geschäften anzutreffen!»
«Stumm, das ist wichtig!» rief Ulrich aus. «Denn die Weltgeschichte ist mindestens zur Hälfte eine Liebesgeschichte! Natürlich mußt du alle Arten der Liebe zusammennehmen!»
Der General nickte widerstrebend. «Das mag schon sein. » Er verschanzte sich hinter das Geschäft, eine neue Zigarre zu beschneiden und anzuzünden, und knurrte: «Aber dann ist die andere Hälfte eine Geschichte des Zorns. Und man soll den Zorn nicht geringschätzen! Ich bin seit einiger Zeit ein Spezialist der Liebe und weiß das!»
Jetzt verstand Ulrich endlich, daß sein Freund sich verändert habe, und bat ihn neugierig, zu erzählen, was ihm widerfahren sei.
Stumm von Bordwehr sah ihn eine Weile an, ohne zu antworten, dann sah er Agathe an, und endlich erwiderte er, so daß nicht recht zu unterscheiden war, ob es gereizt oder genußvoll verzögert geschehe: «Oh, es wird dir vielleicht kaum der Rede wert erscheinen im Vergleich mit deinen Beschäftigungen. Bloß das eine ist geschehen: Die Parallelaktion hat ein Ziel gefunden!»
Diese Nachricht von etwas, dem so viel Anteilnahme geschenkt worden war, wenn auch keine echte, hätte selbst einen unaufgelockerten Zustand der Abgeschlossenheit durchschlagen müssen, und als Stumm seine Wirkung sah, war er mit dem Geschick versöhnt und fand seine alte, arglose Mitteilungsfreude für längere Zeit wieder. «Wenn du es vorziehst, kann ich ebenso gut auch sagen: Die Parallelaktion hat ein Ende gefunden!» bot er entgegenkommend an.
Ganz nebenbei war das geschehen: «Wir haben uns alle schon so daran gewöhnt gehabt, daß nichts geschieht, aber immer etwas geschehen soll» erzählte Stumm. «Und da hat auf einmal jemand anstatt eines neuen Vorschlags die Nachricht gebracht, daß heuer im Herbst ein Welt-Friedens-Kongreß tagen wird, und noch dazu hier bei uns!»
«Das ist sonderbar!» meinte Ulrich.
«Wieso sonderbar? Wir haben doch nicht das geringste davon gewußt!»
«Das meine ich ja gerade. »
«Also da hast du ja auch nicht ganz unrecht» pflichtete ihm Stumm von Bordwehr bei. «Es wird jetzt sogar behauptet, daß es eine vom Ausland lancierte Nachricht gewesen sein soll. Der Leinsdorf und Tuzzi haben geradezu vermutet, daß es sich um eine russische Intrige gegen unsere vaterländische Aktion handeln könnte, wenn nicht am Ende gar um eine reichsdeutsche. Denn du mußt bedenken, daß wir doch erst in vier Jahren fertig zu sein brauchen, so daß es ganz gut möglich wäre, daß man uns in etwas hineinhetzen will, das wir gar nicht beabsichtigen. Die Versionen gehen darüber auseinander; aber die Wahrheit hat sich nicht mehr feststellen lassen, obwohl wir natürlich sofort überall hingeschrieben haben, um etwas Näheres zu erfahren. Merkwürdigerweise hat man auch schon überall von diesem pazifistischen Kongreß gewußt - ich versichere dir: in der ganzen Welt! Und bei Privaten gerade so wie in Redaktionen und Staatskanzleien! —
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doch hat man angenommen, oder es ist eben ausgesprengt worden, daß er von uns ausgeht und zu unserer großen Weltaktion gehört, und ist bloß verwundert gewesen, weil von uns auf keinerlei Anfragen und Rückfragen eine vernünftige Antwort gekommen ist. Vielleicht hat sich jemand einen Jux mit uns gemacht; der Tuzzi hat uns ein paar von diesen Einladungen zum Friedenskongreß unauffällig verschaffen können: die Unterschriften waren zwar recht naiv nachgemacht, aber das Briefpapier und der Stil sind wirklich wie echt gewesen! Natürlich haben wir uns dann auch an die Polizei gewandt, und die hat rasch herausgefunden, daß die ganze Ausführung auf einen Ursprung hierzulande zurückweist, und dabei ist auch herausgekommen, daß es wirklich solche Leute hier gibt, die einen Weltfriedenskongreß im Herbst einberufen möchten - weil da nämlich eine Frau, die einen pazifistischen Roman ge schrieben hat, ich weiß nicht wie viel Jahre alt wird oder, falls sie schon gestorben sein sollte, alt geworden wäre: Aber diese Leute haben mit der Ausstreuung, die uns betroffen hat, wie sich bald herausgestellt hat, nachweisbar nicht das geringste zu tun; und auf diese Weise ist der Ursprung also im Dunkel geblieben» meinte Stumm verzichtend, aber mit der Befriedigung, die jede gut zu Ende gebrachte Erzählung gewährt. Die anstrengende Darlegung der Schwierigkeiten hatte sein Gesicht mit Schatten überzogen, doch jetzt brach die Sonne seines Lächelns durch diese Ratlosigkeit hindurch, und mit einem so unbefangenen wie treuherzigen Zug von Verachtung fügte er noch hinzu: «Das Merkwürdigste ist ja, daß alle Welt einverstanden gewesen ist mit so einem Kongreß oder daß wenigstens keiner hat nein sagen wollen! Und jetzt frage ich dich: was bleibt einem da übrig; besonders wenn man schon vorausgesagt hat, daß man etwas unternehmen wird, was der ganzen Welt ein Vorbild sein soll, und immer die Parole der Tat ausgegeben hat?! Wir haben einfach vierzehn Tage wie die Wilden arbeiten müssen, damit das wenigstens hinterdrein so ausschaut, wie es sozusagen unter anderen Umständen im vorhinein ausgeschaut hätte. Und so haben wir uns der organisatorischen Überlegenheit der Preußen - vorausgesetzt, daß es überhaupt die Preußen gewesen sind! - eben gewachsen gezeigt. Wir nennen es jetzt eine Vorfeier. Den politischen Teil behält dabei die Regierung im Auge, und wir von der Aktion bearbeiten mehr das Festliche und Kulturmenschliche, weil das für ein Ministerium einfach zu belastend ist
— »
«Aber eine sonderbare Geschichte bleibt es immerhin!» versicherte jetzt Ulrich ernst, obwohl er über diesen Ausgang lachen mußte.
«Halt ein historischer Zufall» sagte der General zufrieden. «Solche Mystifikationen sind schon oft von Wichtigkeit gewesen. »
«Und Diotima?» erkundigte sich Ulrich vorsichtig.
«Ja, die hat freilich Amor und Psyche schleunigst beiseite stellen müssen und entwirft jetzt zusammen mit einem Maler den Trachtenfestzug. <Die Stämme Österreichs und Ungarns huldigen dem inneren und äußeren Frieden> wird er heißen» berichtete Stumm und wandte sich nun flehend an Agathe, als er bemerkte, daß auch sie die Lippen zum Lächeln verzog. «Ich beschwöre Sie, Gnädigste, wenden Sie nichts dagegen ein und gestatten Sie auch ihm keinen Einwand!» bat er. «Denn der Trachtenfestzug und wahrscheinlich eine Militärparade sind das einzige, was bis jetzt von den Feierlichkeiten feststeht. Es werden die Tiroler Standschützen über die Ringstraße marschieren, denn die geben mit ihren grünen Hosenträgern, den Hahnenfedern und den langen Barten immer ein malerisches Bild ab; und dann sollen auch noch die Biere und Weine der Monarchie den Bieren und Weinen der übrigen Welt huldigen. Aber schon da besteht zum Beispiel noch keine Einigung darüber, ob nur die österreichisch-ungarischen Biere und Weine denen der übrigen Welt huldigen sollen, damit der liebenswürdige österreichische Charakter umso gastlicher hervorkommt, als man auf eine Gegenhuldigung verzichtet; oder ob auch die ausländischen Biere und Weine mitmarschieren dürfen, damit sie den unsrigen huldigen, und ob sie dafür Zoll zahlen müssen oder nicht. Jedenfalls ist das eine sicher, daß es bei uns einen Festzug ohne Menschen, die in altdeutschen Kostümen auf Faßwagen und Bierpferden sitzen, nicht geben kann und noch nie gegeben hat; und ich kann mir bloß nicht vorstellen, wie das im Mittelalter selbst gewesen ist, als die altdeutschen Kostüme noch nicht alt gewesen sind, und nicht einmal älter ausgeschaut haben als heutzutage ein Smoking!?»
Nachdem diese Frage zur Genüge gewürdigt worden war, stellte Ulrich aber eine bedenklichere: «Ich möchte wissen, was unsere nichtdeutschen Nationen zu dem Ganzen sagen werden!»
«Das ist einfach: sie werden mitmarschieren!» versicherte Stumm vergnügt. «Denn wenn sie es nicht tun, so kommandieren wir ein böhmisches Dragonerregiment in den Festzug und machen Hussitenkrieger aus 671
ihm, und ein Ulanenregiment ziehen wir als die polnischen Türkenbefreier Wiens an. »
«Und was sagt Leinsdorf zu diesen Plänen?» fragte Ulrich zögernd.
Stumm stellte das übergelegte Bein neben das andere und wurde ernst. «Der ist allerdings nicht gerade entzückt» gab er zu und erzählte, daß Graf Leinsdorf niemals das Wort «Festzug» in Gebrauch nehme, sondern auf das halsstarrigste daran festhalte, «die Demonstration» zu sagen. «Wahrscheinlich liegen ihm noch die Demonstrationen im Sinn, die er erlebt hat» meinte Ulrich, und Stumm pflichtete ihm bei: «Er hat schon des öfteren zu mir gesagt, » berichtete er «wer das Volk auf die Straße führt, lädt damit eine große Verantwortung auf sich, Herr General! Genau so, als ob ich etwas dafür oder dagegen tun könnte! Dazu müßtest du aber freilich auch wissen, daß wir seit einiger Zeit ziemlich oft beisammen sind, er und ich — »
Stumm setzte aus, als wolle er Zeit für eine Frage lassen, als aber weder Agathe noch Ulrich diese stellten, fuhr er vorsichtig fort: «Es ist Seiner Erlaucht nämlich noch eine Demonstration widerfahren. Auf einer Reise, in B…, ist er in jüngster Zeit sowohl von den Tschechen als auch von den Deutschen beinahe verprügelt worden. »
«Aber warum denn?» rief Agathe teilnehmend aus, und auch Ulrich zeigte seine Neugierde.
«Weil er als Friedensstifter bekannt ist!» verkündete Stumm. «Die Friedens-und Menschenliebe ist nämlich in Wirklichkeit nicht so einfach - »
«Wie bei der Äpfelfrau!» fiel Agathe lachend ein.
«Eigentlich habe ich sagen wollen, wie bei einer Bonbonniere» verbesserte sie Stumm und fügte diesem bedächtigen Tadel für Ulrich noch die Anerkennung für Leinsdorf hinzu: «Trotzdem wird ein Mann wie er, wenn es einmal beschlossen ist, das Amt, das ihm zufällt, voll und ganz ausfüllen!»
«Welches Amt denn?» fragte nun Ulrich.
«Jedes!» versicherte der General. «Er wird auf der Festtribüne neben dem Kaiser sitzen, natürlich nur in dem Fall, daß sich Seine Majestät auf eine Festtribüne setzt; und außerdem entwirft er die Huldigungsadresse unserer Völker, die er dem Allerhöchsten Herrn überreichen wird. Wenn das aber vorläufig selbst alles sein sollte, so bin ich überzeugt, daß es das nicht bleiben wird; denn wenn er keine ändern Sorgen hat, so macht er sich sofort welche: eine so tatkräftige Natur ist er! Jetzt möchte er übrigens dich sprechen» ließ Stumm versuchsweise einfließen.
Ulrich schien es zu überhören, war aber aufmerksam geworden. «Leinsdorf <fällt> doch kein Amt <zu>?!»
fragte er mißtrauisch. «Seit er lebt, ist er immer der Knopf auf der Fahnenstange gewesen!»
«Ja -» meinte General Stumm mit Vorbehalt. «Ich will eigentlich auch nichts gesagt haben; er bleibt natürlich immer ein hoher Herr. Aber schau, da hat mich zum Beispiel der Tuzzi unlängst beiseite genommen und hat vertraulich zu mir gesagt: <Herr General! Wenn mich in einer finsteren Gasse ein Mann anstreift, so trete ich zur Seite; wenn er mich aber in der gleichen Lage freundlich fragt, wieviel Uhr es ist, dann greife ich nicht nur nach der Uhr, sondern taste auch nach der Pistole!> Was sagst du dazu?»
«Was sollte ich dazu sagen? Ich verstehe den Zusammenhang nicht!»
«Das ist eben jetzt die Vorsicht der Regierung» erklärte Stumm. «Sie denkt bei einem Weltfriedenskongreß an alle Möglichkeiten, während der Leinsdorf schließlich doch immer seine eigenen Ideen hat. »
Ulrich begriff plötzlich. «Also mit einem Wort: Leinsdorf soll jetzt von der Spitze verdrängt werden, weil man Angst vor ihm hat?!»
Darauf erwiderte der General nicht unmittelbar. «Er läßt dich durch mich bitten, daß du die guten Beziehungen zu deiner Kusine Tuzzi wieder aufnehmen sollst, damit man erfährt, was vorgeht: Ich sage es gerade heraus, er hat es natürlich zurückhaltender ausgedrückt» berichtete Stumm. Und nach kurzem Zaudern fügte er entschuldigend hinzu: «Sie sagen ihm halt nicht alles! Aber schließlich ist das eben die Gewohnheit der Ministerien: wir sagen uns doch untereinander auch nicht alles. »
«In welchen Beziehungen ist denn mein Bruder eigentlich zu unserer Kusine gestanden?» fragte jetzt Agathe.
Ahnungslos versicherte Stumm, in der freundlichen Täuschung befangen, daß er gefällig scherze: «Er ist eine geheime Liebe von ihr!» und fügte nun gleich auch ermunternd für Ulrich hinzu: «Ich weiß ja nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber sie bedauert es sicher! Sie sagt, du bist ein so unentbehrlich schlechter Patriot, daß du allen Feinden des Vaterlands großartig gefallen müßtest, die sich schließlich bei uns ja wohlfühlen sollen. Das ist doch eigentlich nett von ihr? Nur den ersten Schritt kann sie natürlich nicht tun, nachdem du dich so eigensinnig zurückgezogen hast!»
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Der Abschied wurde von da an etwas einsilbig, und es bedrückte Stumm sehr, nachdem er im Zenit gestanden, glanzlos untergehen zu sollen.
So erfuhren Ulrich und Agathe schließlich etwas, das ihre Züge wieder erheiterte und auch das Antlitz des Generals freundlich rötete. «Den Feuermaul sind wir los!» berichtete er, zufrieden damit, daß es ihm noch rechtzeitig eingefallen sei, und er fügte voll Verachtung für die Menschenliebe des Dichters hinzu: «Das hat jetzt ohnehin keinen Sinn mehr!» Auch der «ekelerregende» Beschluß aus der letzten Sitzung, daß man niemand zwingen dürfe, für fremde Ideen zu sterben, wogegen es jeder für seine eigenen tun solle, auch dieser von Grund auf friedenstiftende Beschluß war, wie sich nun zeigte, gemeinsam mit allem, was der Vergangenheit angehörte, gefallen und auf des Generals Einspruch nicht einmal mehr zu Protokoll genommen worden. «Eine Zeitschrift, die ihn abgedruckt hat, haben wir unterdrückt; solches übertriebene Gerede glaubt ja doch kein Mensch mehr!» ergänzte Stumm diese Mitteilung, was angesichts der Vorbereitungen zu einem pazifistischen Kongreß nicht ganz klar anmutete. Agathe nahm denn auch die jungen Leute ein wenig in Schutz, und selbst Ulrich erinnerte schließlich seinen Freund daran, daß Feuermaul doch nicht an dem Zwischenfall schuld gewesen sei. Da machte Stumm aber keine Schwierigkeiten und gab zu, daß Feuermaul, den er im Haus seiner Schutzherrin kennengelernt habe, ein reizender Mensch sei. «So voll Anteilnahme für alles! Und wirklich geradezu aus freien Stücken gut!» rief er anerkennend aus.
«Aber dann wäre er doch durchaus eine schätzenswerte Bereicherunig für diesen Kongreß!» warf Ulrich abermals ein.
Aber Stumm, der sich inzwischen ernstlich zum Gehen angeschickt hatte, schüttelte lebhaft den Kopf.
«Nein! Ich kann es nicht so kurz ausdrücken, worauf es ankommt» sagte er entschlossen. «Aber der Kongreß soll nicht übertrieben sein!»
68 Beschreibung einer kakanischen Stadt
[Variante zu: General von Stumm läßt eine Bombe fallen Aus einem Entwurf]
Wirklich, während Ulrich und Agathe hinter geschlossenen Kristallplatten lebten - durchaus nicht unwirklich und ohne Ausblick auf die Welt, wohl aber in einem ungewöhnlichen, eindeutigen Licht, badete diese Welt jeden Morgen in dem hundertfältigen Licht eines neuen Tags. Jeden Morgen erwachten Städte und Dörfer, und wo immer sie es tun, geschieht es, weiß Gott, immer auf die gleiche Weise; aber mit dem gleichen Recht auf Dasein, das ein Riesendampfer ausdrückt, der zwischen zwei Kontinenten unterwegs ist, fliegen kleine Vögel von einem Ast zum ändern. Und so geschieht alles in der Welt sowohl gleichförmig und vereinfacht als auch auf unzählige Weisen nutzlos abgewandelt und in einer hilflosen und seligen Fülle, die an die herrlichen und beschränkten Bilderbücher der Kinderzeit erinnert. Ulrich und Agathe fühlten denn auch beide ihr Buch der Welt aufgeschlagen, denn B… war keine andere Stadt als jene, wo sie sich wiedergefunden hatten, nachdem ihr Vater dort gelebt hatte und gestorben war.
«Und gerade in B… hat es dazu kommen müssen!» wiederholte der General behutsam.
«Du bist doch auch einmal dort in Garnison gewesen» sagte Ulrich.
«Und der Dichter Feuermaul ist dort geboren» fügte Agathe hinzu.
«Richtig!» rief Ulrich aus. «Hinter dem Theater! Von daher hat er wahrscheinlich seinen Ehrgeiz, ein Dichter zu sein. Erinnerst du dich noch an dieses Theater? Es muß in den achtziger oder neunziger Jahren einen Baumeister gegeben haben, der in den meisten größeren Städten solche Theaterschatullen hinsetzte, die um und um mit Zierformen und Statuenzierrat beschlagen waren. Und Feuermaul ist richtig in dieser Spinn-und Webstadt auf die Welt gekommen: als Sohn eines wohlhabenden Tuchkommissionärs. Ich erinnere mich, daß diese Zwischenhändler aus mir unbekannten Gründen mehr verdienten als die Fabrikanten selbst; und die Feuermauls gehörten schon zu den reichsten Leuten in B…, ehe der Vater in Ungarn mit Salpeter oder weiß Gott welcher Mordproduktion ein noch größeres neues Leben begann: Du bist doch gekommen, um dich bei mir nach Feuermaul zu erkundigen?» fragte Ulrich.
«Eigentlich nicht» erwiderte sein Freund. «Ich habe erhoben, daß sein Vater große Pulverlieferungen für das Kriegsministerium hat. Damit ist ja der Menschengüte seines Sohnes im vorhinein ein Zügel angelegt.
Der Beschluß bleibt Episode, dafür stehe ich dir gut. »
Aber Ulrich hörte nicht. Es war ihm ein langentbehrter Genuß, sich in einer ganz alltäglichen Weise reden 673
zu hören; und scheinbar ging es Agathe auch so. «Dieses alte B… ist übrigens eine üble Stadt» fing er von neuem an. «In der Mitte liegt auf einem Berg eine alte häßliche Festung, deren Kasematten von der Mitte des 18. bis zu der des 19. Jahrhunderts als Staatsgefängnis gedient haben und berüchtigt waren, und die ganze Stadt ist stolz darauf!»
«Der Lachberg (Spielberg, Gnadenberg)» bestätigte der General höflich.
«Ein netter Lach-Berg!» rief Agathe aus und ärgerte sich über ihr Bedürfnis nach Gewöhnlichkeit, als Stumm das Wortspiel geistvoll fand und ihr versicherte, daß er zwei Jahre in B… garnisoniert habe, ohne auf diesen Zusammenhang gekommen zu sein.
«Das wahre B… ist natürlich die Fabrikstadt, die Tuch-und Garnstadt» fuhr Ulrich fort und wandte sich an Agathe. «Was sind das doch große, schmale, schmutzige Häuserschachteln mit unzähligen Fensterlöchern, Gäßchen, die nur aus Hofmauern und Eisentoren bestehn, Straßen, die sich breit, ausgefahren und trostlos krümmen!» Ein paarmal hatte er nach dem Tod des Vaters dieses Viertel durchstreift. Er sah die hohen Schornsteine wieder, an denen die schmutzigen Fahnen des Reichs hingen, und dann verlor sich seine Erinnerung unvermittelt ins Land, das auch wirklich unvermittelt hinter den Fabrikmauern begann, mit schwerer, fetter, fruchtbarer Erde, die im Frühling schwarzbraun aufbrach, niedrigen, langen, längs der Straße liegenden Dörfern und Häusern, die nicht nur in schreienden Farben angestrichen waren, sondern in solchen, die mit unverständlicher Stimme schrien. Es war ein demütiges und doch fremdgeheimnisvolles Bauernland, aus dem die Industrie (die städtische Geschäftigkeit) ihre Arbeiter und Arbeiterinnen sog, weil es eingeengt zwischen ausgedehnten Zuckerrübenplantagen des Großgrundbesitzes dalag, der ihm nicht die nötigste Wohlhabenheit übrig gelassen hatte. Jeden Morgen riefen die Fabriksirenen aus diesen Dörfern Scharen von Bauern in die Stadt und verstreuten sie zwar des Abends wieder über das Land, aber mit den Jahren blieben doch immer mehr dieser tschechischen, von dem öligen Wollstaub der Fabriken an Gesicht und Fingern dunkelhäutigen Landleute in der Stadt zurück und machten das dort schon vorhandene slawische Kleinbürgertum kräftig wachsen.
Daraus ergaben sich schwierige Verhältnisse, denn die Stadt war deutsch. Sie lag sogar in einer deutschen Sprachinsel, wenn auch auf deren äußersten Spitze, und wußte sich seit dem 13. Jahrhundert in die stolzen Erinnerungen deutscher Geschichte verflochten. Man konnte in ihren deutschen Schulen lernen, daß hierorts schon der Türkenprediger Kapristan wider die Hussiten gepredigt habe, zu einer Zeit, wo gute Österreicher noch in Neapel geboren werden konnten; daß die Erbverbrüderung zwischen den Häusern Habsburg und Ungarn, die 1364 den Grund zur österreichisch-ungarischen Monarchie gelegt hat, nirgends anders abgeschlossen sei, als hier; daß die Schweden im… ? Krieg diese tapfere Stadt einen ganzen Sommer lang belagert hatten, ohne sie erobern zu können, und noch weniger hatten das die Preußen im Siebenjährigen Krieg vermocht. Natürlich war dadurch die Stadt ebenso auch in die stolzen hussitischen Erinnerungen der Tschechen verflochten und in die selb-ständigen geschichtlichen der Ungarn, möglicherweise sogar auch in die der Neapolitaner, Schweden und Preußen, und es fehlte in den nichtdeutschen Schulen der Stadt keineswegs an Hinweisen darauf, daß diese Stadt nicht deutsch sei: «und daß die Deutschen ein Diebsvolk seien, das sich sogar fremde Vergangenheiten aneigne. » Es war merkwürdig, daß es nicht gehindert wurde, aber so gehörte es zur weisen Mäßigung Kakaniens. Es gab dort viele solche Städte, und alle sahen sie auch ähnlich aus. Am höchsten Punkt thronte ein Gefängnis, am zweithöchsten eine Bischofsresidenz, und ringsherum, gut auf die Stadt verteilt, fanden sich ungefähr noch zehn Klöster und Kasernen. War das geordnet, was man auch «die Staatsnotwendigkeiten» nannte, so überspannte man im übrigen die Einheitlichkeit und Einigkeit nicht, denn Kakanien war von einem in großen historischen Erfahrungen erworbenen Mißtrauen gegen alles Entweder-Oder beseelt und hatte immer eine Ahnung davon, daß es noch viel mehr Gegensätze in der Welt gebe, an denen es schließlich zugrundegegangen ist. Sein Regierungsgrundsatz war das Sowohl-als-auch oder noch lieber mit weisester Mäßigung des Weder-noch. Man vertrat in Kakanien also darum die Auffassung, daß es nicht vorsichtig sei, wenn die einfachen Leute, die es nicht nötig haben, zuviel lernen, und man legte auch keinen Wert darauf, daß es ihnen wirtschaftlich unbescheiden gut gehe. Man gab gern denen, die schon viel hatten, weil es da keine Gefahr mehr mit sich bringt, und setzte voraus, wenn in den anderen etwas Tüchtiges stecke, werde es sich selbst zeigen, denn Widerstände sind geeignet Männer zu erziehn.
Und so bewahrheitete es sich auch: unter den Gegnern wurden Männer erzogen, und die Deutschen bekamen, weil Besitz und Bildung in B… deutsch waren, mit Staatshilfe immer mehr Besitz und Bildung.
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Wenn man durch die Straßen in B… ging, konnte man das daran erkennen, daß die erhalten gebliebenen schönen baulichen Zeugnisse der Vergangenheit, von denen es einige gab, zum Stolz der wohlhabenden Bürger zwischen vielen Zeugnissen der Neuzeit standen, die sich nicht bloß damit begnügten, gotisch, Renaissance oder barock zu sein, sondern von der Möglichkeit Gebrauch machten, alles zugleich zu haben.
Unter den großen Städten Kakaniens war B… eine der reichsten und drückte das auch baulich aus, so daß selbst die Umgebung, dort wo sie waldig und romantisch war, die roten Türmchen, schieferblauen Zackendächer und schießschartenähnlichen Mauernkränze wohlhabender Villen abbekam. «Und welche Umgebung!» dachte und sagte Ulrich, heimatfeindlich angehaucht. Dieses B… lag in der Gabel zweier Flüsse, aber das war eine sehr weite und lockere Gabel und die Flüsse waren auch nicht so recht Flüsse, sondern an manchen Stellen waren es breite gemäßigte Bäche, und wieder an anderen waren es stehende Wasser, die dennoch insgeheim flössen. Auch die Landschaft war ja nicht einfach, sondern bestand, sah man von dem zuerst bedachten Bauernland ab, noch aus drei weiteren Teilen. Auf der einen Seite eine weite, sich sehnsüchtig öffnende Ebene, die an manchen Abenden von zarten Silber-und Orangefarben überhaucht war; auf der anderen buschiges, wipfliges, treudeutsches Waldhügelland (aber gerade das war nicht die deutsche Seite), von nahem Grün in fernes Blau führend; auf der dritten eine heroische, nazarenisch karge Landschaft von fast großartiger Eintönigkeit, mit graugrünen, von Schafen beweideten Hügelkuppen und braunen Ackerbreiten, die etwas wie das murmelnde Singen des Tischgebets der Bauern über sich hatten, das aus niedrigen Fenstern dringt.
Also ließe sich zwar rühmen, daß diese traulich-kakanische Gegend, in deren Mitte die Stadt B… lag, sowohl bergig als auch eben, nicht weniger waldig als sonnig und ebenso heldisch wie demütig großartig war, aber es fehlte doch wohl überall daran ein wenig, so daß sie im Ganzen weder so noch so war. Es ließ sich denn auch niemals entscheiden, ob die Bewohner dieser Stadt sie schön oder häßlich fanden. Sagte man zu einem von ihnen, B… sei häßlich, so antwortete er bestimmt: «Aber schaun Sie, der rote Berg, er ist doch ganz hübsch, und gar der gelbe Berg… und die schwarzen Felder… !» Und schon wenn er diese sinnlichen Namen aufzählte, mußte man zugeben, daß sich die Landschaft wohl hören lassen könne. Sagte man aber, sie sei schön, so lachte ein gebildeter B… ‘r und erzählte, daß er soeben von der Schweiz zurückkäme oder aus den Pyrenäen, und daß B… ein armes Nest sei, das nicht einmal den Vergleich mit Bukarest aushalte. Aber auch das war ja nur kakanisch, dieses Zwielicht des Gefühls, worin sie ihr Dasein aufnahmen, diese Unruhe einer zu früh herabgesunkenen Ruhe, in der sie sich geborgen und begraben fühlten. Sagt man es so: diesen Menschen war alles zugleich Unlust und Lust, so bemerkt man wohl wie vorweg-heutig es war, denn der sanfteste aller Staaten stürmte in manchem seiner Zeit heimlich voraus. Die Menschen, die B… bewohnten, lebten von der Erzeugung von Tuchen und Garnen, von der Erzeugung und dem Handel aller Dinge, die von Menschen gebraucht werden, die Tuche und Garne erzeugen oder verkaufen, und schließlich der Erzeugung und Behandlung von Rechtsstreitigkeiten, Krankheiten, Kenntnissen, Vergnügungen und dergleichen, was zu den Bedürfnissen einer großen Stadt gehört. Und alle wohlhabenden unter ihnen hatten die Eigenschaft, daß es in der Welt keinen schönen und berühmten Ort gab, wo einer, der aus dieser Stadt stammte, nicht einen antraf, der auch aus dieser Stadt stammte, und wenn sie wieder zu Hause waren, hatte das zur Folge, daß sie alle ebensoviel von der Weite in sich trugen wie von der ungeheuerlichen Überzeugung, daß alle Größe schließlich doch nur nach B… führt.
Ein solcher Zustand, der von der Erzeugung von Tuchen und Garnen, von Fleiß, Sparsamkeit, einem städtischen Theater, den Konzerten durchreisender Berühmtheiten, von Bällen und Einladungen kommt, wird nicht mit den gleichen Mitteln überwunden. Vielleicht hätte das dem Kampf um die Staatsmacht einer aufsässigen Arbeiterschaft gelingen können oder dem Kampf gegen eine Oberschicht oder einem imperialistischen Kampf um den Weltmarkt, wie ihn andere Nationen führten, kurz nicht dem Verdienen nach Verdienst, sondern einem Rest tierischen Erbeutens, worin sich die Lebenswärme wach hält. In Kakanien aber wurde wohl viel Geld unrecht verdient, aber erbeutet durfte nichts werden, und selbst wenn in diesem Staat Verbrechen erlaubt gewesen wären, so hätte man streng darauf geachtet, daß sie nur von obrigkeitlich zugelassenen Verbrechern begangen werden. Das gab allen solchen Städten wie B… das Aussehen eines großen Saals mit einer niedrigen Decke. Ein Kranz von Pulvertürmen umgab jede größere Stadt, in denen die Armee ihre Schießvorräte aufbewahrte, groß genug, bei einem Blitzschlag ein ganzes Stadtviertel in Trümmer zu legen: aber bei jedem Pulverturm war durch eine Schildwache und einen schwärzgelben Schlagbaum dafür vorgesorgt, daß den Bürgern kein Unheil geschehe. Und die Polizei war 675
mit Säbeln ausgerüstet, die so lang waren wie die der Offiziere und bis an die Erde reichten, niemand wußte mehr warum, es sei denn aus Mäßigung, denn mit einer Hand mußte die Polizei immer ihren Säbel festhalten, damit er ihr nicht zwischen die Beine komme, und konnte nur mit der anderen nach Missetätern fahnden. Niemand wußte auch, warum in wachsenden Städten, auf Baugründen, die Zukunft hatten, vom Staat weit vorausblickend Militärspitäler, Montur-depots und Garnisonsbäckereien errichtet wurden, deren ummauerte Riesenrechtecke später die Entwicklung störten. Keinesfalls durfte das für Militarismus gehalten werden, dessen man das alte Kakainen leichtfertig beschuldigt hat; es war nur Lebensweisheit und Vorsicht, sei es sozusagen schon ihrem Wesen nach in Ordnung: denn Ordnung kann gar nicht anders als in Ordnung sein, während das von jedem anderen staatlichen Verhalten ewig unsicher bleibt. Diese Ordnung war dem Franzisko Josephinischen Zeitalter in Kakanien zur Natur, ja fast schon zur Landschaft geworden, und ganz bestimmt hätten dort bei längerer Andauer der stillen Friedenszeit auch noch die Geistlichen lange Säbel bekommen, da nach den Richtern, Fischinspektoren, Finanzräten und Postbeamten schon die Universitätsinspektoren welche hatten, und wäre nicht eine Weltveränderung zu ganz anderen Auffassungen dazwischengekommen, so hätte sich der Säbel vielleicht in Kakanien zu einer geistigen Waffe entwickelt. - (Geglaubt hat man, das geschieht aus Eifersucht auf Deutschland. Und die fremden Staaten haben geglaubt, aus Militarisierung. >
Als die Unterhaltung, teils im Meinungsaustausch, teils in Erinnerungen, die sie stumm begleiteten, so weit gekommen war, schaltete General Stumm ein: «Das hat übrigens der Leinsdorf schon gesagt, daß nämlich die Priester eigentlich Säbel bekommen müßten, beim nächsten Konkordat und zum Zeichen, daß auch sie ein Amt im Staat bekleiden. Er hat es dann mit der weniger paradoxen Bemerkung eingeschränkt, daß auch kleine Degen genügen möchten, mit Perlmutter-und Goldgriff, weißt du, wie sie früher die Beamten getragen haben. »
«Ist das dein Ernst?»
«Seiner» gab der General zur Antwort. «Er hat mir gezeigt, daß im Dreißigjährigen Krieg in Böhmen die Priester in vergoldeten Meßgewändern geritten sind, die unterhalb aus Leder waren, also richtige Meß-Kürasse. Er ist halt sehr geärgert über die allgemeine Staatsfeindlichkeit und hat sich erinnert, daß in einer seiner Schloßkapellen noch so ein Gewand aufbewahrt ist. Schau, du weißt doch, daß er immer davon redet, wie die Verfassung vom Jahre 61 dem Besitz und der Bildung bei uns die Führung gegeben hat und daß daraus eine große Enttäuschung geworden ist - »
«Wie bist du eigentlich zu ihm gekommen?» unterbrach ihn Ulrich lächelnd.
« Gott, das hat sich so gefügt, wie er von seinen böhmischen Gütern zurückgekehrt ist» meinte Stumm, ohne darauf näher einzugehen. «Überdies hat er dich dreimal zu sich bitten
lassen, ohne daß du hingegangen bist. – <Sie sind doch sein Freund, warum kommt er nicht, wenn ich ihn rufe?» Und mir ist nichts anderes übriggeblieben als ihm anzubieten: <Wenn Sie mir etwas anzuvertrauen wünschen, werde ich es ihm ausrichten!»»
Stumm machte eine Pause.
«Und was -?» fragte Ulrich.
«Nun du weißt, daß es nie ganz einfach zu verstehen ist, was er meint. Zuerst hat er mir von der Französischen Revolution erzählt. Die Französische Revolution hat bekanntlich vielen Adligen die Köpfe abgeschlagen, und das findet er merkwürdigerweise richtig, obgleich er in B… beinahe mit Steinen beworfen worden wäre. Denn er sagt, das Ancien Regime hat seine Fehler gehabt und die Französische Revolution ihre wahren Gedanken. Aber was ist schließlich aus aller Anstrengung entstanden? das fragt er sich. Und da sagte er Folgendes: Heute ist zum Beispiel die Post besser und schneller, aber früher, solange die Post noch langsam war, hat man bessere Briefe geschrieben. Oder: Heute ist die Kleidung praktischer und weniger lächerlich, aber früher, wo sie noch eine Maskerade war, hat man entschieden besseres Material darauf verwendet. Und er gibt zu, daß er für größere Fahrten selbst ein Automobil benutzt, weil es schneller und bequemer ist als ein Pferdefuhrwerk, aber er behauptet, daß diese Federbüchse auf vier Rädern dem Fahren die wahre Vornehmheit genommen hat. Und alles das ist komisch, mein ich, aber es ist wahr. Hast du nicht selbst einmal gesagt, beim menschlichen Fortschritt rutscht immer ein Bein zurück, wenn das andere vorrutscht? Unwillkürlich hat heute jeder von uns etwas gegen den Fortschritt. Und der Leinsdorf hat zu mir gesagt: <Herr General, früher haben unsere jungen Leute von Pferden und Hunden gesprochen, und heute sprechen die Fabrikantensöhne von Pferdestärken und Chassis. So hat der 676
Liberalismus seit der Verfassung von 61 den Adel auf die Seite geschoben, aber alles ist voll neuer Korruption, und wenn wider Erwarten doch einmal die Soziale Revolution kommen wird, so wird sie den Fabrikantensöhnen den Kopf abschlagen, aber besser wird es auch nicht werden!> Man hat den Eindruck, es kocht etwas in ihm über! Bei einem ändern möcht man ja vielleicht meinen, er weiß nicht, was er will!»
«Aber vorderhand sind wir doch erst bei der Nationalen Revolution? Weißt du, was er will?» fragte Ulrich.
«Die Drangsal hat nach der Geschichte in B… versucht, ihm sagen zu lassen: jetzt müßte man sich erst recht zum Menschen bedingungslos hinreißen lassen, und der Feuermaul soll geäußert haben, besser sei es, als Österreicher des Widerstandes der Nationalitäten nicht Herr zu werden, denn als Reichsdeutscher sein Land in einen Truppenübungsplatz zu verwandeln. Darauf erwidert er nur, daß das keine Realpolitik sei. Er verlangt eine Kraftkundgebung; das heißt, natürlich soll es auch eine Liebeskundgebung sein, das war ja die ursprüngliche Idee der Parallelaktion. <Herr General, > das waren seine Worte <wir müssen unsere Einigkeit kundgeben; das ist weniger widerspruchsvoll, als es den Anschein hat, aber auch weniger einfach!»>
Bei dieser Mitteilung vergaß sich Ulrich und gab eine ernstere Antwort. «Sag einmal, » fragte er «kommt dir denn nie das Gerede um die Parallelaktion etwas kindlich vor?»
Stumm sah ihn erstaunt an. «Das schon» erwiderte er zögernd. «Wenn ich so mit dir spreche oder mit dem Leinsdorf, kommt es mir manchmal vor, ich rede wie ein Jüngling oder du philosophierst über die Unsterblichkeit der Maikäfer; aber das kommt doch von dem Thema? Wo es um erhabene Aufgaben geht, hat man ja nie das Gefühl, so reden zu dürfen, wie man wirklich ist!?»
Agathe lachte.
Stumm lachte mit. «Ich lache ja auch, Gnädigste!» versicherte er weltklug, doch dann kehrte in sein Gesicht wieder Wichtigkeit zurück, und er fuhr fort: «Aber streng genommen ist es gar nicht so falsch, was der erlauchtige Herr meint. Was verstehst du zum Beispiel unter Liberalismus?» - mit diesen Worten wandte er sich nun wieder an Ulrich, wartete aber keine Antwort ab, sondern fuhr neuerlich fort: «Ich meine halt so, daß man die Leute sich selbst überläßt. Und es wird dir natürlich auch aufgefallen sein, daß das jetzt aus der Mode kommt. Es ist ein Pallawatsch daraus entstanden, wie man so sagt. Aber ist es nur das? Mir kommt vor, die Leute wollen noch etwas. Sie sind nicht mit sich zufrieden. Ich ja auch; ich war früher ein liebenswürdiger Mensch. Man hat eigentlich nichts getan, aber man war mit sich zufrieden. Der Dienst war nicht schlimm, und außer Dienst hat man Ekarté gespielt oder ist auf die Jagd gefahren, und bei dem allen war eine gewisse Kultur. Eine gewisse Einheitlichkeit. Kommt es dir nicht auch so vor? Und warum ist das heute nicht mehr so? Ich glaube, soweit ich nach mir urteilen darf, man fühlt sich zu gescheit. Will man ein Schnitzel essen, so fällt einem ein, daß es Leute gibt, die keins haben. Steigt man einem schönen Mäderl nach, so fährt ihm plötzlich durch den Kopf, daß er eigentlich über die Beilegung irgend eines Konflikts nachzudenken hätte. Das ist eben der unleidliche Intellektualismus, den man heute niemals los wird, und darum geht es nirgends vorwärts. Und ohne es selbst zu wissen, wollen die Leute wieder etwas. Das heißt also, sie wollen nicht mehr einen komplizierten Intellekt, sie wollen nicht tausend Möglichkeiten zu leben; sie wollen mit dem zufrieden sein, was sie ohnehin tun, und dazu braucht es einfach wieder einen Glauben oder eine Überzeugung oder - also, wie soll man das bezeichnen, was sie dazu brauchen? zu dieser Frage möchte ich jetzt deine Meinung hören!»
Aber das war nur Selbstgenuß des lebhaft angeregten Stumm, denn ehe Ulrich auch nur das Gesicht verziehen konnte, kam schon seine Überraschung: «Man kann es natürlich ebensogut Glauben wie Überzeugung nennen, aber ich habe viel darüber nachgedacht und nenne es lieber: Eingeistigkeit!»
Stumm machte eine Pause, die der Einnahme des Beifalls dienen sollte, ehe er weiteren Einblick in seine Geisteswerkstatt gab, und dann mischte sich in den gewichtigen Ausdruck seines Gesichts noch ein ebensowohl überlegener als auch genußmüder. «Wir haben ja früher öfter über die Probleme der Ordnung gesprochen» erinnerte er seinen Freund «und brauchen uns infolgedessen heute nicht dabei aufzuhalten.
Also Ordnung ist gewissermaßen ein paradoxer Begriff. Jeden anständigen Menschen verlangt es nach innerer und äußerer Ordnung, aber anderseits verträgt man auch nicht zu viel von ihr, ja eine vollkommene Ordnung wäre sozusagen der Ruin alles Fortschritts und Vergnügens. Das liegt sozusagen im Begriff der Ordnung. Und darum muß man sich sagen: was ist denn überhaupt Ordnung? Und wie kommt es denn, daß wir uns einbilden, ohne Ordnung nicht existieren zu können? Und was für eine Ordnung suchen wir denn?
Eine logische, eine praktische, eine persönliche, eine allgemeine, eine Ordnung des Gefühls, eine des 677
Geistes oder eine des Handelns? De fakto gibt es ja eine Menge Ordnungen durcheinander; die Steuern und Zölle sind eine, die Religion eine andere, das Dienstreglement eine dritte, und man wird gar nicht fertig mit dem Aufsuchen und Aufzählen. Damit habe ich mich sehr beschäftigt, wie du weißt, und ich glaube nicht, daß es auf der Welt viele Generale geben wird, die ihren Beruf so ernst nehmen, wie ich es in diesem letzten Jahr habe tun müssen. Ich habe auf meine Weise nach einer umfassenden Idee suchen helfen, aber du selbst hast schließlich verkündet, daß man zur Ordnung des Geistes ein ganzes Weltsekretariat brauchen möchte, und auf eine solche Ordnung, das wirst du selbst zugeben, kann man nicht warten! Aber anderseits darf man auch nicht deshalb jeden gewähren lassen!»
Stumm lehnte sich zurück und schöpfte Luft. Das Schwerste war jetzt gesagt, und er fühlte das Bedürfnis, sich bei Agathe für die finstere Sachlichkeit seines Benehmens zu entschuldigen, was er mit den Worten tat:
«Gnädigste verzeihen schon, aber ich habe mit Ihrem Bruder eine alte und schwere Abrechnung gehabt; jetzt aber wird es auch für Damen geeigneter, denn jetzt bin ich wieder dort, wo ich gewesen bin, daß die Leute keinen komplizierten Intellekt brauchen können, sondern daß sie glauben und überzeugt sein möchten. Wenn man das nämlich analysiert, so kommt man darauf, daß es bei der Ordnung, die der Mensch anstrebt, das letzte ist, ob man sie mit der Vernunft billigen kann oder nicht; es gibt auch völlig unbegründete Ordnungen, zum Beispiel gleich, daß beim Militär, was immer behauptet wird, immer der Vorgesetzte recht hat, das heißt natürlich, so lange nicht ein noch höherer dabei ist. Wie habe ich mich, als ich ein junger Offizier war, darüber aufgehalten, daß das eine Schändung der Ideenwelt ist! Und was sehe ich heute? Heute nennt man es das Prinzip des Führers — »
«Wo hast du das her?» fragte Ulrich, den Vortrag unterbrechend, denn er hatte einen bestimmten Verdacht, daß diese Gedanken nicht nur aus einem Gespräch mit Leinsdorf geschöpft seien.
«Es verlangen doch alle nach starker Führung! Und außerdem aus dem Nietzsche natürlich und seinen Auslegern» entgegnete Stumm flink und wohlbeschlagen. «Da wird doch bereits eine doppelte Philosophie und Moral verlangt: für Führer und für Geführte! Aber wenn wir schon einmal beim Militär sind, muß ich überhaupt sagen, daß sich das Militär nicht nur an und für sich als ein Element der Ordnung bewährt, sondern daß es sich immer auch dann noch zur Verfügung stellt, wenn alle andere Ordnung versagt!»
«Die entscheidenden Dinge vollziehen sich eben über den Verstand hinweg, und die Größe des Lebens wurzelt im Irrationalen!» führte Ulrich aus und ahmte aus dem Gedächtnis seine Kusine Diotima nach.
Der General verstand es sofort, nahm es aber nicht übel. «Ja, so hat sie gesprochen, Ihre Frau Kusine, ehe sie noch die Kundgebung der Liebe sozusagen zu sehr im besonderen suchte. » Er wandte sich mit dieser Erklärung an Agathe. Agathe schwieg und lächelte.
Stumm wandte sich wieder Ulrich zu: «Ich weiß nicht, ob es zu dir der Leinsdorf vielleicht auch schon gesagt hat, jedenfalls ist es hervorragend richtig; er behauptet nämlich, daß es an einem Glauben die Hauptsache ist, daß man immer dasselbe glaubt. Das ist ungefähr das, was ich eben Eingeistigkeit nenne.
<Kann das aber das Zivil ?> habe ich ihn gefragt. <Nein, > habe ich gesagt <das Zivil trägt jedes Jahr andere Anzüge, und alle paar Jahre finden Parlamentswahlen statt, damit es jedesmal anders wählen kann: der Geist der Eingeistigkeit ist viel eher beim Militär zu finden !>»
«Du hast also Leinsdorf überzeugt, daß ein gesteigerter Militarismus die wahre Erfüllung seiner Absichten wäre?»
«Aber Gott bewahre, ich habe kein Wort gesagt! Wir haben uns bloß geeinigt, daß wir auf den Feuermaul künftig verzichten, weil seine Ansichten zu unbrauchbar sind. Und im übrigen hat mir der Leinsdorf eine Reihe Aufträge an dich mitgegeben — »
«Das ist überflüssig!»
«Du sollst ihm rasch eine Verbindung zu sozialen Kreisen verschaffen -»
«Der Sohn meines Gärtners ist ein eifriges Parteimitglied, mit dem kann ich dienen - »
«Aber meinetwegen! Es muß ja ohnehin nur aus Gewissenhaftigkeit geschehn, weil er sich das einmal in den Kopf gesetzt hat. Das zweite ist, daß du ihn so bald wie möglich aufsuchen möchtest - » «Ich reise nächster Tage ab!» «Also eben gleich, wenn du wieder zurück bist — » «Ich komme wahrscheinlich überhaupt nicht zurück!» Stumm von Bordwehr sah Agathe an; Agathe lächelte, und er fühlte sich dadurch ermuntert. «Verrückt?» fragte er.
Agathe zuckte ungewiß die Schultern.
«Also ich fasse es noch einmal zusammen-» sagte Stumm.
678
«Unser Freund hat genug von der Philosophie!» unterbrach ihn Ulrich.
«Das kannst du doch von mir gewiß nicht behaupten!» verteidigte sich Stumm empört. «Wir können bloß nicht auf die Philosophie warten. - - - Ich stehe nicht an zu behaupten, daß eine wirklich gewaltige Lebensanschauung nicht erst auf den Verstand warten darf; im Gegenteil, eine wirkliche Lebensanschauung muß geradezu gegen den Verstand gerichtet sein, sonst kommt sie nicht in die Lage, daß sie ihn sich unterwerfen kann. Und eine solche Eingeistigkeit sucht das Zivil im beständigen Wechsel, das Militär hat aber sozusagen eine dauernde Eingeistigkeit! Gnädigste —» unterbrach Stumm seinen Eifer
«dürfen nicht glauben, daß ich ein Militarist bin; mir ist das Militär, ganz im Gegenteil, immer sogar ein bißl zu roh gewesen: Aber die Logik dieser Gedanken packt einen so, wie wenn man mit einem großen Hund spielt: erst beißt er im Spaß, und dann kommt er hinein und wird wild. Und ich möchte Ihrem Bruder sozusagen eine letzte Gelegenheit einräumen - »
«Und wie bringst du die Kundgebung der Kraft und Liebe damit in Zusammenhang?» fragte Ulrich.
«Gott, das habe ich inzwischen vergessen» erwiderte Stumm. «Aber natürlich sind diese nationalen Ausbrüche, die wir jetzt in unserem Vaterland erleben, irgendwie Kraftausbrüche einer unglücklichen Liebe. Und auch auf diesem Gebiet, in der Synthese von Kraft und Liebe, ist das Militär gewissermaßen vorbildlich. Irgendeine Vaterlandsliebe muß der Mensch haben, und wenn er sie nicht zum Vaterland hat, so hat er sie eben zu etwas anderem. Das braucht man also bloß einzufangen. Als Beispiel dafür fällt mir in diesem Augenblick das Wort Einjährig-Freiwilliger ein: Wer denkt daran, daß ein Einjähriger ein Freiwilliger ist: Er am allerwenigsten. Und doch war er’s und ist er’s nach dem Sinn des Gesetzes. In so einem Sinn muß man die Menschen eben alle wieder zu Freiwilligen machen!»
69 Agathe findet Ulrichs Tagebuch
Dieweil Ulrich dem Fortgehenden selbst das Geleite gab, führte Agathe, dem inneren Tadel zum Trotz, etwas aus, das sie sich blitzartig vorgenommen hatte. In einer Lade des Arbeitstisches waren ihr schon vor der Unterbrechung durch Stumm lose liegende Papiere aufgefallen, und dann ein zweites Mal in seiner Gegenwart; und zwar beidemal durch eine unterdrückte Bewegung ihres Bruders, die den Eindruck hervorgerufen hatte, er wolle sich im Gespräch auf diese Papiere berufen, könne sich aber nicht dazu entschließen, ja verwehre es sich mit Vorsatz. Ihre Vertrautheit mit ihm hatte sie das mehr erahnen als begründet erraten lassen; und auf die gleiche Weise verstand sie auch, daß sich das Verhohlene auf sie und ihn beziehen müsse. Darum öffnete sie die Lade, nachdem er kaum das Zimmer verlassen hatte, und tat dies, mochte es berechtigt sein oder nicht, in einem Gefühl, das rasche Entscheidungen fordert und moralische Bedenken nicht zuläßt. Aber die vielfach durchstrichenen, lose zusammenhängenden und nicht immer leicht zu entziffernden Aufzeichnungen, die ihr in die Hand fielen, zwangen ihrer leidenschaftlichen Neugierde alsbald ein langsames Zeitmaß auf.
«Ist Liebe ein Gefühl? Diese Frage mag im ersten Augenblick unsinnig wirken, so gewiß scheint es zu sein, daß die ganze Natur der Liebe ein Fühlen sei; umso mehr überrascht die richtige Antwort: denn das Gefühl ist wahrhaftig das wenigste an der Liebe! Bloß als solches betrachtet, ist sie - kaum so heftig und mächtig und jedenfalls weniger deutlich ausgeprägt als ein Zahnschmerz. »
Der zweite, ebenso wunderliche Vermerk lautete: «Ein Mann vermag seinen Hund und seine Frau zu lieben.
Ein Kind kann einen Hund zärtlicher lieben als ein Mann seine Frau. Jemand liebt seinen Beruf, ein anderer die Politik. Am meisten lieben wir wohl allgemeine Zustände; ich meine -wenn wir sie nicht gerade hassen
- jenes undurchschaubare Zusammenwirken von ihnen, das ich <das Stallgefühl> nennen mag: wir sind erfreut in unserem Leben zu Hause wie ein Pferd in seinem Stall!
Aber was bedeutet es, alles dieses, das so verschieden ist, mit dem gleichen Wort <lieben> zu verbinden?!
Da hat sich in meinem Kopf, neben Zweifel und Spott, ein uralter Gedanke niedergelassen: Alles in der Welt ist Liebe! Liebe ist das sanfte, göttliche, von Asche verdeckte, aber unauslöschliche Wesen der Welt!
Ich wüßte nicht zu sagen, was ich unter <Wesen> verstehe; aber wenn ich mich ohne Sorge dem ganzen Gedanken überlasse, empfinde ich ihn mit einer merkwürdig natürlichen Gewißheit. Wenigstens für Augenblicke. »
Agathe errötete, denn die nächsten Eintragungen begannen mit ihrem Namen. «Agathe hat mir einmal Bibelstellen gezeigt; ich erinnere mich noch ungefähr an den Wörtlaut und habe mir vorgenommen, ihn 679
aufzuschreiben: <Alles, was in der Liebe geschieht, geschieht in Gott. Denn Gott ist Liebe. > Und eine zweite sagte: <Die Liebe ist von Gott, und wer Gott liebt, der ist von Gott geboren. > Diese beiden Stellen stehen offensichtlich miteinander in Widerspruch: das eine Mal kommt die Liebe von Gott, das andre Mal ist sie Gott selbst!
Die Versuche, das Verhältnis der <Liebe> zur Welt auszudrücken, scheinen also selbst den Erleuchteten nicht wenig Schwierigkeiten zu machen; wie sollte da nicht erst der unbelehrte Verstand versagen! Daß ich sie das Wesen der Welt genannt habe, ist nichts als Ausrede gewesen: es läßt all die Wahl offen, daß ich sage, diese Feder und dieser Tintennapf, mit denen ich schreibe, beständen in Wahrheit aus Liebe oder sie täten es in Wirklichkeit. Denn wie in Wirklichkeit? Bestünden sie dann aus Liebe, oder wären sie deren Folge, ausgestaltende Erscheinung oder Andeutung? Sind sie selbst, schon sie selbst, Liebe, oder ist das erst ihre Gesamtheit? Sollen sie von Natur Liebe sein, oder ist von der Wirklichkeit einer Übernatur die Rede?
Und wie verhält es sich mit dem: in Wahrheit? Ist das eine Wahrheit für den geschärfteren Verstand oder eine für den begnadeten Unverstand? Ist es die Wahrheit des Denkens oder eine unvollständige symbolische Beziehung, die erst in der um Gott versammelten Universalität der Geistesgeschehnisse ihre Bedeutung voll enthüllen wird? Was davon habe ich gesagt? Ungefähr nichts und alles!
Ebensogut hätte ich von der Liebe auch sagen können, daß sie die göttliche Vernunft, der neuplatonische Logos sei. Ebensogut anderes: Liebe ist der Schoß der Welt; der sanfte Schoß des sich selbst nicht begreifenden Geschehens. Und abermals verschieden: O Meer der Liebe, von dem nur der Ertrinkende, nicht der Darüberfahrende weiß! Alle diese hinweisenden Rufe fristen ihre Bedeutung bloß davon, daß einer so wenig Wort hält wie der andere.
Am ehrlichsten ist das Gefühl: wie winzig ist die Erde im Himmelsraum, und wie ist der Mensch, nichtiger als das kleinste Kind, auf Liebe angewiesen! Aber das ist nichts als der nackte Schrei nach ihr, und keine Spur von Antwort!
Doch darf ich vielleicht in dieser Weise sprechen, ohne meine Worte ins Leere überzutreiben: Es gibt einen Zustand in der Welt, dessen Anblick uns verstellt ist, den aber die Dinge manches Mal da oder dort freigeben, wenn wir uns selbst in einem auf besondere Art erregten Zustand befinden. Und nur in ihm erblicken wir, daß die Dinge <aus Liebe> sind. Und nur in ihm erfassen wir auch, was es bedeutet. Und nur er ist dann wirklich, und wir wären dann wahr.
Das wäre eine Beschreibung, von der ich nichts zurücknehmen müßte. Aber ich habe freilich auch nichts, es zu ihr zuzufügen!»
Agathe staunte. Ulrich hielt sich in diesen heimlichen Aufzeichnungen viel weniger als sonst zurück. Und obwohl sie verstand, daß er sich das auch vor sich selbst nur mit dem Vorbehalt des Heimlichen gestatte, meinte sie ihn doch dabei so vor sich zu sehen, daß er unschlüssig und gerührt die Arme gegen etwas öffne.
Die Aufzeichnungen fuhren nun fort: «Auch das ist ein Einfall, auf den beinahe die Vernunft selbst verfallen könnte, allerdings nur eine etwas aus ihrer ruhenden Lage geratene Vernunft: sich den Alliebenden als den Ewigen Künstler vorzustellen. Er liebt die Schöpfung, solange er sie schafft, von den fertigen Teilen wendet sich seine Liebe aber ab. Denn der Künstler muß auch das Hassenswerteste lieben, um es bilden zu können, aber was er bereits geschaffen hat, mag es auch gut sein, erkaltet ihm; es wird so liebeverlassen, daß er sich darin selbst kaum noch versteht, und die Augenblicke sind selten und unberechenbar, wo seine Liebe wiederkehrt und sich an dem weidet, was sie getan hat. Und so wäre denn auch zu denken: Was über uns waltet, liebt, was es schafft; aber dem fertigen Teil der Schöpfung entzieht und nähert sich seine Liebe in langem Abfließen und kurzem Wiederanschwellen. Diese Vorstellung paßt sich der Tatsache an, daß Seelen und Dinge der Welt wie Tote sind, die manchmal für Sekunden auferweckt werden. »
Dann kamen flüchtig einige andere Eintragungen, die wirr aussahen, als wären sie zum Versuch gemacht.
«Ein Löwe vor dem Morgenhimmel! Ein Nashorn im Mondlicht! Du hast die Wahl zwischen Liebesfeuer und Gewehrfeuer. Also sind zumindest zwei Grundzustände anzunehmen: Liebe und Gewalt. Und es ist ohne Zweifel die Gewalt, was die Welt im Gange hält und vor dem Einschlafen bewahrt, nicht die Liebe!
Hier ließe sich freilich auch die Annahme einflechten, daß die Welt sündig geworden sei. Vorher Liebe und Paradies. Das hieße: die fertige Welt Sünde! Die mögliche: Liebe!
Andere verdächtige Frage: Die Philosophen stellen sich Gott als Philosophen vor, als den reinen Geist; sollte es dann nicht den Offizieren naheliegen, sich ihn als Offizier vorzustellen? Aber ich, Mathematiker, 680
stelle mir das Allwesen als Liebe vor? Wie bin ich eigentlich dahin gekommen?
Und wie sollten wir denn auch gleich an einem der intimsten Erlebnisse des Ewigen Künstlers teilhaben!»
Das Blatt brach ab. Aber danach bedeckte sich Agathes Gesicht von neuem mit Röte, als sie, ohne die Augen zu heben, das nächste nahm und weiterlas:
«Wir hatten in letzter Zeit oft ein merkwürdiges Erlebnis, Agathe und ich! Wenn wir unsere Ausgänge in die Stadt unternahmen. In dem besonders schönen Wetter sieht die Welt sehr fröhlich und zusammengehörig aus, so daß man gar nicht dessen acht hat, wie verschieden sie überall nach Alter und Wesen zusammengesetzt ist. Alles steht und läuft mit größter Natürlichkeit. Und doch liegt etwas, das merkwürdig in die Öde geht, etwas wie ein verfehlter Liebesantrag, oder eine ähnliche Bloßstellung, in einem solchen scheinbar unwiderleglichen Gegenwartszustand, sobald man nicht bedingungslos an ihm teilnimmt.
Wir befinden uns unterwegs durch die veilchenblauen Gassen der Stadt, die oben, wo sie sich dem Licht öffnen, wie Feuer brennen. Oder wir treten aus dem plastischen Blau auf einen von der Sonne frei übergossenen Platz hinaus; dann stehen seine Häuser zwar zurückgenommen und gleichsam an die Wand gestellt da, aber nicht weniger ausdrücklich, und so, als hätte sie jemand mit den feinen Linien eines Grabstichels, die alles überdeutlich machen, in eine farbige Helligkeit geritzt. Und wir wissen in einem solchen Augenblick nicht, ob uns alle diese von sich selbst erfüllte Schönheit aufs tiefste erregt oder überhaupt nichts angeht. Beides ist der Fall. Sie steht auf einer messerscharfen Schneide zwischen Lust und Trauer.
Aber hat der Anblick der Schönheit nicht überhaupt diese Wirkung, daß er die Trauer des gewöhnlichen Lebens aufhellt und seine Lustigkeit verdunkelt? Es scheint, daß die Schönheit einer Welt angehört, in deren Tiefe es weder Trauer noch Lustigkeit gibt. Vielleicht gibt es in dieser Welt sogar die Schönheit selbst nicht, sondern irgendeinen fast unbeschreiblichen heiteren Ernst, und ihr Name entsteht erst durch die Brechung seines namenlosen Glanzes in der gewöhnlichen Atmosphäre. Diese Welt suchen wir beide, Agathe und ich, ohne uns noch zu entscheiden; wir bewegen uns an ihren Grenzen entlang und kosten die tiefe Ausstrahlung mit Vorsicht dort, wo sie noch mit den kräftigen Lichtern des Alltags vermengt und kaum zu unterscheiden ist!»
Es machte den Eindruck, daß Ulrich durch seinen Einfall, von einem Ewigen Künstler zu sprechen, darauf gebracht worden war, die Frage nach der Schönheit in seine Betrachtung einzubeziehn, zumal da sie auch für ihren Teil die zwischen den Geschwistern entstandene Überempfindlichkeit ausdrückte. Zugleich hatte er aber die Denkart gewechselt. Er ging in dieser neuen Folge seiner Aufzeichnungen nicht mehr von der im Fluchtpunkt seiner Erlebnisse herrschenden Gedankendämmerung aus, sondern vom Vordergrund, der klarer war, aber an einigen Stellen, die er sich anmerkte, eigentlich überklar, und nun wieder für den Hintergrund beinahe durchlässig.
So fuhr Ulrich denn fort. «Ich habe zu Agathe gesagt: <Wahrscheinlich ist Schönheit nichts anderes als Ge-liebtwordensein. > Denn etwas lieben und es verschönen ist ein und dasselbe. Und seine Liebe zu verbreiten und andere ihre Schönheit finden zu machen ist auch ein und dasselbe. Darum kann alles schön werden, und alles Schöne wieder häßlich werden; und es wird beide Male nicht minder von uns abhängen, als uns von außen bezwingen, weil die Liebe keine Kausalität hat und keine Rechtsfolge kennt. Wieviel ich davon gesagt habe, dessen bin ich nicht sicher, aber es ist damit auch dieser andere Eindruck erklärt, den wir auf unseren Ausgängen so leicht empfangen: Wir schauen uns die Menschen an und wollen an der Freude, die sie im Gesicht tragen, teilhaben, ja wir fühlen uns fast gezwungen, an ihr teilzunehmen; aber es geht davon doch auch ein Unbehagen und beinahe eine unheimliche Abstoßung aus. Auch von den Häusern, Kleidern und allem, was sie für sich geschaffen haben, geht das aus. Als ich mir die Erklärung überlegte, bin ich auf einen weiteren Gedankenkreis gebracht worden und durch ihn wieder zu meinen ersten, scheinbar so phantastischen Notizen zurück.
Eine Stadt wie die unsere, schön und alt, mit ihrem bauherrlichen Gepräge, das im Lauf der Zeiten aus wechselndem Geschmack hervorgegangen ist, bedeutet ein einziges großes Zeugnis der Fähigkeit zu lieben und der Unfähigkeit, es dauernd zu tun. Die stolze Folge ihrer Bauten stellt nicht nur eine große Geschichte dar, sondern auch einen dauernden Wechsel in der Richtung der Gesinnung. Sie ist, auf diese Weise betrachtet, eine zur Steinkette gewordene Wankelmütigkeit, die sich alle Vierteljahrhunderte auf eine andere Weise vermessen hat, für ewige Zeiten recht zu behalten. Ihre stumme Beredsamkeit ist die toter 681
Lippen, und je zauberhafter sie verführt, umso heftiger muß das im tiefsten Augenblick des Gefallens und der Enteignung blinde Abwehr und Schreck hervorrufen.
<Es ist lächerlich und verführerisch> hat mir Agathe darauf erwidert. <Dann müssen also die Schwalbenschwanzröcke dieser Bummler oder die sonderbaren Kappen, die von den Offizieren wie Töpfe auf dem Kopf getragen werden, schön sein, denn sie werden von ihren Besitzern mit großer Entschiedenheit geliebt und zur Liebe ausgestellt und erfreuen sich der Gunst der Frauen!> - Wir haben auch ein Spiel daraus gemacht. In einer Art lustiger Übelgelauntheit haben wir es ausgekostet und haben uns eine Weile auf Schritt und Tritt lebenswidersetzlich gefragt: Was will zum Beispiel jenes Rot dort auf dem Kleid, daß es so rot ist? Oder was tut dieses Blau und Gelb und Weiß auf den Kragen der Uniformen eigentlich?
Und warum sind, in Gottes Namen gefragt, die Sonnenschirme der Damen rund, und nicht rechteckig? Wir haben uns gefragt, was der griechische Giebel des Parlaments mit seinen gespreizten Schenkeln wolle.
<Spagatmachen>, wie es nur eine Tänzerin und ein Reißzirkel zustandebringen, oder klassische Schönheit verbreiten? Wenn man sich dergestalt in einen Vorzustand zurückversetzt, wo man ungerührt bleibt von den Empfindungen, und den Dingen nicht auf die Gefühle eingeht, die sie selbstgefällig erwarten, so zerstört man Treu und Glauben des Daseins. Es ist ähnlich, wie wenn du jemand, ohne seinen Appetit zu teilen, zusiehst, wie er stumm ißt: Du gewahrst plötzlich nur Schlingbewegungen, die keineswegs beneidenswert erscheinen.
Ich nenne das: Sich Der Meinung Des Lebens Verschließen. - Um es näher auszuführen, beginne ich wohl damit, daß wir ohne Zweifel im Leben das Feste so inständig suchen wie ein Landtier, das ins Wasser gefallen ist. Wir überschätzen darum sowohl die Bedeutung des Wissens, des Rechts und der Vernunft als auch die Notwendigkeit des Zwangs und der Gewalt. Vielleicht sollte ich nicht gerade überschätzen sagen; aber jedenfalls beruhen weitaus die meisten Äußerungen unseres Lebens auf geistiger Unsicherheit. Glaube, Vermutung, Annahme, Ahnung, Wunsch, Zweifel, Neigung, Forderung, Vorurteil, Überredung, Beispielnahme, persönliche Ansichten und andere Zustände der Halbgewißheit herrschen unter ihnen vor.
Und weil das Meinen auf dieser Skala ungefähr in der Mitte zwischen Begründung und Willkür liegt, nehme ich seinen Namen für das Ganze. Ist das, was wir in Worten ausdrücken, wenn sie auch noch so großartig sind, meistens nur eine Meinung, so ist es das, was wir ohne Worte ausdrücken, immer.
Ich sage also: Unsere Wirklichkeit ist, soweit sie von uns abhängt, zum größten Teil nur eine Meinungsäußerung, obwohl wir ihr wunder was für eine Gewichtigkeit andichten. Wir mögen unserem Leben im Stein der Häuser einen bestimmten Ausdruck geben, es geschieht immer um einer Meinung willen. Wir mögen töten oder uns opfern, so handeln wir nur auf Grund einer Vermutung. Ich möchte beinahe sagen, daß alle unsere Leidenschaften nur Vermutungen sind; wir irren uns sehr oft in ihnen; wir können ihnen bloß aus Sehnsucht nach Entschiedenheit verfallen! Auch daß wir etwas aus <freiem> Willen tun, setzt eigentlich voraus, daß es bloß auf Veranlassung einer Meinung geschieht. Seit einiger Zeit sind Agathe und ich empfindlich für ein gewisses Geistertreiben im Wirklichen. Jede Einzelheit des Ausdrucks unserer Umgebung, <spricht uns an>. Sie meint etwas. Sie zeigt, daß sie in. einer keineswegs flüchtigen Absicht entstanden ist. Sie ist zwar nur eine Meinung, aber sie tritt wie eine Überzeugung auf. Sie ist bloß ein Einfall, tut aber, als wäre sie unerschütterlicher Wille. Zeiten und Jahrhunderte stehen mit aufgestemmten Beinen da, aber eine Stimme flüstert hinter ihnen: Unsinn! Noch nie hat die Stunde geschlagen, ist die Zeit gekommen!
Es scheint Eigensinn zu sein, aber es läßt mich erst verstehen, was ich sehe, wenn ich dazu anmerke: Dieser Gegensatz zwischen der Selbstinbrunst, die allem von uns Geschaffenen in seiner Pracht die Brust vorwölbt, und dem heimlichen Zug des Verlassen-und Aufgegebenwerdens, der gleichfalls mit der ersten Minute beginnt, stimmt ganz und gar damit überein, daß ich alles bloß eine Meinung nenne. Wir erkennen uns dadurch in einer eigentümlichen Lage. Denn jede Meinung zeigt die gleiche doppelte Eigentümlichkeit: sie macht, so lange sie neu ist, unduldsam gegen jede, die ihr im Wege steht (wenn rote Sonnenschirme an der Zeit sind, sind blaue <unmöglich> - etwas Ähnliches gilt aber auch von unseren Überzeugungen); doch ist es die zweite Eigentümlichkeit jeder Meinung, daß sie trotzdem ganz von selbst und ebenso sicher mit der Zeit preisgegeben wird, wenn sie nicht mehr neu ist. Ich habe einmal gesagt, die Wirklichkeit schaffe sich selbst ab. Es ließe sich nun auch so ausdrücken: Wenn der Mensch hauptsächlich nur Meinungen kundtut, so tut er sich niemals ganz und dauernd kund; wenn er sich aber niemals vollständig ausdrücken kann, so wird er es auf die verschiedenste Weise versuchen, und damit hat er dann eine Geschichte. Nur aus einer 682
Schwäche hat er sie also, scheint mir; obwohl die Historiker begreiflicherweise die Fähigkeit, Geschichte zu machen, für eine besondere Auszeichnung halten!»
Ulrich schien hier etwas abgekommen zu sein, fuhr aber in dieser Richtung weiter fort: «Und dies ist anscheinend der Grund, warum ich das heute vormerken muß: Geschichte wird, Geschehen wird, sogar Kunst wird — aus einem Mangel an Glück. Ein solcher liegt aber nicht an den Umständen, also daß sie uns das Glück nicht erreichen ließen, sondern an unserem Gefühl. Unser Gefühl ist der Kreuzträger der Doppeleigenschaft: es duldet kein anderes neben sich und dauert selbst nicht aus. Dadurch erhält alles, was mit ihm verbunden ist, das Ansehen, für die Ewigkeit zu gelten, und alle haben wir trotzdem die Bestrebung, die Schöpfungen unseres Gefühls zu verlassen und unsere in ihnen ausgedrückte Meinung zu ändern. Denn ein Gefühl verändert sich in dem Augenblick, wo es dauert; es hat keine Dauer und Identität; es muß neu vollzogen werden. Gefühle sind nicht nur veränderlich und unbeständig - wofür sie wohl gelten -, sondern sie würden das erst recht in dem Augenblick, wo sie es nicht wären. Sie werden unecht, wenn sie dauern.
Sie müssen immer von neuem entstehen, wenn sie anhalten sollen, und auch dabei werden sie andere. Ein Zorn, der fünf Tage anhielte, wäre kein Zorn mehr, sondern eine Geistesstörung; er verwandelt sich entweder in Verzeihung oder in Rachebereitschaft, und etwas Ähnliches vollzieht sich mit allen Gefühlen.
Unser Gefühl sucht an dem, was es gestaltet, seinen Halt und findet ihn immer für eine Weile. Aber Agathe und ich fühlen an unserer Umgebung die eingeschlossene Unheimlichkeit, das Auseinanderstreben des beisammen Befindlichen, den Widerruf im Ruf, die Wanderschaft der vermeinten festen Wände; wir sehen und hören das plötzlich. Es erscheint uns als Abenteuer und verdächtige Gesellschaft, <in eine Zeit> geraten zu sein. Wir befinden uns im Zauberwald. Und obwohl wir <unser> Gefühl, dieses andersartige, noch gar nicht übersehen, ja kaum kennen, leiden wir Angst um dieses Gefühl und möchten es festhalten.
Wie aber hält man ein Gefühl fest? Wie könnte man auf der höchsten Stufe der Glückseligkeit verweilen, falls sich überhaupt zu ihr gelangen läßt? Im Grunde beschäftigt uns nur diese Frage. Wir ahnen ein Gefühl, das der Hinfälligkeit der übrigen entrückt ist. Es steht wie ein wunderbarer regloser Schatten im Fließenden vor uns. Aber müßte es nicht die Welt auf ihrem Wege anhalten, um bestehen zu können? Ich komme zu dem Schluß, daß es kein Gefühl sein kann in dem gleichen Sinn wie die übrigen. »
Und plötzlich schloß Ulrich: «So komme ich auch auf die Frage zurück: Ist Liebe ein Gefühl? Ich glaube nein. Liebe ist eine Ekstase. Und Gott selbst müßte sich, um die Welt dauernd lieben zu können, und mit der Liebe des Gott-Künstlers auch das schon Geschehene zu umfassen, dauernd in Ekstase befinden. Nur als ein solcher wäre er zu denken -»
Hier hatte er diese Aufzeichnungen abgebrochen.
70 Große Veränderungen
Ulrich hatte dem General das Geleite selbst gegeben, in der Absicht, auch das zu erfahren, was dieser vielleicht nur unter vier Augen sagen möchte. Die Treppe mit ihm hinabsteigend, trachtete er ihm zunächst eine harmlose Erklärung für sein Abrücken von Diotima und den anderen zu geben, damit die Wahrheit beiseite bleibe. Aber Stumm fragte unbefriedigt: «Bist du beleidigt worden?» «Nicht im mindesten. »
«Dann hast du das Recht nicht dazu!» entgegnete der andere fest.
Doch die Veränderungen in der Parallelaktion, von denen er in seiner Weltabgeschiedenheit nichts geahnt hatte, wirkten nun belebend auf Ulrich ein, als wäre in einem heißen Saal plötzlich ein Fenster aufgestoßen worden, und er fuhr fort: «Trotzdem möchte ich erfahren, was wirklich vor sich geht. Nachdem du es für gut befunden hast, mir die Augen halb zu öffnen, wirst du es gütigst auch noch zur Gänze tun!»
Stumm blieb stehen, stützte den Säbel gegen den Stein der Treppe und schlug den Blick zu dem Gesicht seines Freundes auf; eine große Gebärde, die umso länger dauerte, als dieser eine Stufe höher stand:
«Nichts lieber als das» sagte er. «Zu diesem Zweck bin ich ja gekommen!»
«Wer arbeitet gegen Leinsdorf?» begann Ulrich ihn ruhig zu verhören. «Tuzzi mit Diotima? Oder das Kriegsministerium mit dir und Arnheim -?»
«Lieber Freund, du irrst durch Abgründe!» unterbrach ihn Stumm. «Und an der einfachen Wahrheit gehst du blind vorbei, wie es anscheinend alle geistigen Menschen tun! Vor allem bitte ich dich also überzeugt zu sein, daß ich dir den Wunsch des Leinsdorf, daß du wieder zu ihm und Diotima kommen sollst, nur aus selbstlosester Gefälligkeit ausgerichtet habe - »
683
« Offiziersehrenwort?»
Der General wurde guter Laune. «Wenn du mich an die spartanische Ehre meines Berufs erinnerst, beschwörst du die Gefahr, daß ich dich erst recht anlüge; denn es könnte mich ja ein höherer Auftrag dazu verpflichten. Ich gebe dir also lieber mein Privatehrenwort» sagte er würdig und fuhr erläuternd fort: «Ich beabsichtige dir sogar anzuvertrauen, daß ich mich in letzter Zeit zuweilen gezwungen sehe, über solche Schwierigkeiten nachzudenken; ich lüge jetzt nämlich oft mit einem Behagen, wie sich ein Schwein im Unrat wälzt. » Er wandte sich plötzlich seinem höher stehenden Freund voll zu und schloß die Frage an:
«Woher kommt es, daß das Lügen so angenehm ist, vorausgesetzt, daß man eine Entschuldigung dafür hat?
Bloß die Wahrheit zu sagen, erscheint einem geradezu unfruchtbar und gedankenlos daneben!
Wenn ich das von dir erfahren könnte, wäre es direkt einer der Gründe, warum ich dich aufgesucht habe. »
«Dann teile mir ehrlich mit, was vor sich geht» verlangte Ulrich unnachgiebig.
«Ganz ehrlich, und auch überaus einfach: ich weiß es nicht!» beteuerte Stumm.
«Aber du hast doch einen Auftrag!» forschte Ulrich.
Der General gab zur Antwort: «Ich bin trotz deines wirklich unfreundschaftlichen Verschwindens über die Leiche meiner Selbstachtung weggestiegen, um ihn dir anzuvertraun. Aber es ist ein Teilauftrag. Ein Auftragerl! Ich bin jetzt ein Rädchen. Ein Fädchen. Eine Amorette, in deren Köcher man nur noch einen einzigen Pfeil gelassen hat… !» Ulrich betrachtete die rundliche Figur mit den goldenen Knöpfen. Stumm war entschieden selbständiger geworden; er wartete auch die Entgegnung Ulrichs nicht ab, sondern setzte sich, dem Ausgang zu, in Bewegung, wobei sein Säbel auf jeder Stufe klirrte. Und als sich unten die Halle um die beiden wölbte, deren adelige Anlage ihm sonst jedesmal Ehrerbietung vor dem Hausherrn eingeflößt hatte, sprach er über die Schulter zurück zu diesem: «Du hast offenbar immer noch nicht ganz erfaßt, daß die Parallelaktion jetzt nicht mehr ein Privat-und Familienunternehmen ist, sondern ein Staatsvorgang von internationaler Größenordnung!»
«Also leitet sie jetzt der Außenminister?» gab Ulrich zurück.
«Wahrscheinlich. »
«Und somit Tuzzi?»
«Vermutlich; ich weiß es aber nicht» fügte Stumm rasch hinzu. «Und er tut natürlich auch so, als ob er von nichts wüßte! Du kennst ihn doch: diese Diplomaten stellen sich ja selbst dann unwissend, wenn sie es wirklich sind!» -
Sie durchschritten den Eingang, und der Wagen fuhr vor. - Plötzlich wandte sich Stumm, vertraulich, und komisch flehend, an Ulrich: «Gerade darum sollst du doch wieder ins Haus gehn, damit man quasi eine Vertrauensperson dort hat!»
Ulrich lächelte zu dieser Anzettelung und legte ihm den Arm um die Schulter; er fühlte sich an Diotima erinnert.
«Was macht sie?» fragte er. «Erkennt sie jetzt in Tuzzi den Mann?»
«Was sie macht?» entgegnete der General verdrossen. «Einen gereizten Eindruck macht sie!» Und er fügte gutmütig hinzu: «Für den Blick des Kenners vielleicht sogar eher einen rührenden. Das Unterrichtsministerium läßt ihr doch kaum noch andere Aufgaben über, als zu entscheiden, ob in dem Festzug die vaterländische Gruppe <Wiener Schnitzel> mitmarschieren soll oder auch eine Gruppe
<Rostbratl mit Nockerln> -»
Ulrich unterbrach ihn mißtrauisch. «Nun sagst du Unterrichtsministerium? Und gerade hast du erzählt, daß auf die Aktion das Außenministerium Beschlag gelegt hat!»
«Aber schau, vielleicht sind die Schnitzel sogar Sache des Ministeriums des Innern. Oder des Handelsministeriums. Wer weiß denn das im voraus!» belehrte ihn Stumm. «Der Weltfriedenskongreß als Ganzes gehört aber jedenfalls zum Ministerium des Äußern, soweit er nicht minder zu den zwei Ministerrats-Präsidien gehört. »
Wieder unterbrach ihn Ulrich. «Und das Kriegsministerium kommt in deinen Gedanken überhaupt nicht vor?»
«Aber sei doch nicht so argwöhnisch!» bat Stumm gelassen. «Natürlich nimmt an einem
Weltfriedenskongreß auch das Kriegsministerium auf das lebhafteste Anteil; ich möchte sagen, nicht weniger als die Polizeidirektion von einem internationalen Anarchistenkongreß angezogen würde. Aber du weißt doch, wie diese Zivilministerien sind: nicht das kleinste Platzerl möchten sie unsereinem gönnen!»
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«Und - ?» fragte Ulrich; denn er verdächtigte noch immer Stumms Unschuld.
«Gar kein <und>!» versicherte dieser. «Du überstürzt das! Wenn eine gefährliche Sache mehrere Ministerien betrifft, so will sie entweder eins dem ändern zuschieben, oder es will sie eins dem ändern wegnehmen: in beiden Fällen ist das Ergebnis dieser Bemühungen, daß eine Interministerielle Kommission eingesetzt wird. Du brauchst dich doch bloß zu erinnern, wieviele Ausschüsse und Unterausschüsse die Parallelaktion anfangs hat gründen müssen, als Diotima noch im vollen Besitz ihrer Energie gewesen ist; und ich kann dir dann versichern, daß unser seliges Konzil ein Stilleben gewesen ist im Vergleich mit dem, was heute gearbeitet wird!» - Der Wagen wartete, der Kutscher saß in Strammstellung auf dem Bock, aber Stumm blickte durch das offene Gefährt unentschlossen in den hellgrün aufgeschlagenen Garten. «Kannst du mir vielleicht ein wenig bekanntes Wort mit <Inter> sagen?» bat er und zählte mit nachhelfendem Kopfnicken auf: «Interessant, interministeriell, international, interkurrent, intermediär, Interpellation, interdiziert, intern und einiges andere kenne ich; das kannst du nämlich bei uns am Büffet des Generalstabstrakts jetzt häufiger hören als das Wort Würstel. Aber wenn ich mit einem ganz neuen Wort ankäme, könnte ich darum Aufsehen machen!»
Ulrich lenkte des Generals Gedanken wieder auf Diotima zurück. Es leuchtete ihm ein, daß die oberste Führung beim Ministerium des Äußern sei, woraus mit Wahrscheinlichkeit folgte, daß sich die Zügel in Tuzzis Hand befanden: wie konnte dann aber ein anderes Ministerium der Frau des Mächtigen Kränkungen bereiten? Stumm zuckte bei dieser Frage trüb die Achseln. «Du hast dir halt immer noch nicht genug eingeprägt, daß die Parallelaktion ein Staatsvorgang ist!» gab er zur Antwort. Und fügte aus freien Stücken hinzu: «Der Tuzzi ist schlauer, als wir gedacht haben. Er selbst hätte ihr so etwas niemals zumuten können; aber die interministerielle Technik hat ihm gestattet, seine Frau einem anderen Ministerium auszuliefern!»
Ulrich lachte leise auf. Er konnte sich bei dieser in etwas sonderbare Worte gekleideten Nachricht lebhaft die beiden Menschen vorstellen: Die großartige Diotima - die Lichtanlage, wie sie von Agathe genannt wurde - und den kleineren, mageren Sektionschef, für den er eine schier unerklärliche Sympathie besaß, obgleich er sich von ihm geringschätzt wußte. Es war die Angst vor den Mondnächten der Seele, die ihn zu dem vernünftigen Gefühl dieses Mannes hinzog, das so männlich trocken wie eine leere Zigarrenschachtel war. Und doch hatten diesen Diplomaten die Leiden der Seele, als sie über ihn hereinbrachen, dahin gebracht, daß er in allem und jedem nur noch pazifistische Machenschaften sah; denn Pazifismus, das war für Tuzzi die faßlichste Vorstellung von Seelenhaftigkeit! Ulrich entsann sich, daß er schließlich Arnheims offenbar gewordene Bemühungen um die Ölfeider, ja sogar die um seine eigene schöne Gattin, bloß für ein Degagement gehalten hatte, dazu bestimmt, die Aufmerksamkeit von einem geheimen Vorhaben pazifistischer Natur abzulenken: so sehr hatten Tuzzi die Geschehnisse in seinem Hause verwirrt! Er mußte unerhört gelitten haben, und es war zu verstehen: die geistige Leidenschaft, der er sich unerwartet gegenüber sah, verletzte ja nicht bloß seinen Ehrbegriff, wie es ein körperlicher Ehebruch getan hätte, sondern traf unmittelbar das Be-griffsbildungsvermögen selbst mit Geringschätzung, das bei älteren Männern der wahre Ruhesitz der Manneswürde ist.
Und vergnügt setzte Ulrich seine Gedanken laut fort: «Offenbar hat Tuzzi in dem Augenblick, wo die Vaterländische Aktion seiner Frau zum Ziel einer öffentlichen Fopperei geworden ist, gleich den verlorenen vollen Besitz der behördlichen Geisteskräfte wieder erlangt, die einem hohen Beamten zukommen. Er muß spätestens da wieder erkannt haben, daß im Schoß der Weltgeschichte mehr geschieht, als im Schoß einer Frau Platz hätte, und euer wie ein geheimnisvolles Findelkind aufgetauchter Weltfriedenskongreß wird ihn mit einem Donnerschlag geweckt haben!» Mit rauhem Behagen malte sich Ulrich den geisternden Dämmerzustand aus, der vorangegangen sein mußte, und dann dieses Erwachen, das vielleicht gar nicht einmal mit einem Gefühl des Erwachens verbunden gewesen sein mußte; denn in dem Augenblick, wo die in Schleiern wandelnden Seelen Arnheims und Diotimas wirkliche Folgen hatten, befand sich auch Tuzzi, von jedem Spuk befreit, wieder in jenem Bereich der Notwendigkeiten, worin er sich zeit seines Lebens fast immer befunden hatte. «Er bringt die Welt-rettungs- und Vaterlandshebungsgesellschaft seiner Frau jetzt um? Sie ist ihm immer ein Dorn im Fleische gewesen!»
rief Ulrich lebhaft befriedigt aus und wandte sich fragend an den Gefährten.
Stumm stand noch immer rund und nachdenklich im Torbogen. «Soviel ich weiß, hat er seiner Frau erklärt, daß sie es sich und seiner Stellung schulde, erst recht unter den geänderten Verhältnissen die Parallelaktion zu einem ehrenvollen Ende zu führen. Sie wird eine Auszeichnung erhalten. Aber sie muß sich dem Schutz 685
und den Einsichten des Ministeriums anvertraun, das er dafür bestimmt hat» berichtete er gewissenhaft.
«Und mit euch, ich meine mit dem Kriegsministerium und mit Arnheim, hat er Frieden geschlossen?»
«Es scheint so. Er soll bei der Regierung wegen des Friedenskongresses die rasche Modernisierung unserer Artillerie unterstützt und sich mit dem Kriegsminister über die politischen Folgen verständigt haben. Man sagt, daß er im Parlament die nötigen Gesetze mit Hilfe der deutschen Parteien durchdrücken will und darum innerpolitisch jetzt zum deutschen Kurs rät. Das hat mir Diotima selbst erzählt. »
«Warte einen Augenblick!» unterbrach ihn Ulrich. «Deutscher Kurs! Ich habe alles vergessen!»
«Ganz einfach! Er hat immer gesagt, daß alles Deutsche für uns ein Unglück sei; und jetzt sagt er das Gegenteil. »
Ulrich wandte ein, daß sich Sektionschef Tuzzi niemals so eindeutig ausdrücke.
«Aber gegen seine Frau tut er es» versetzte Stumm. «Und zwischen ihr und mir besteht eine Art Schicksalsverbundenheit. »
«Ja wie steht es denn zwischen ihr und Arnheim?» fragte Ulrich, der in diesem Augenblick mehr an Diotima teilnahm, als an den Regierungssorgen. «Er braucht sie doch jetzt nicht mehr; und ich nehme an, daß seine Seele darunter leidet!»
Stumm schüttelte den Kopf. «Das ist scheinbar auch nicht so einfach!» erklärte er seufzend.
Er hatte bisher gewissenhaft, jedoch teilnahmlos Antwort erteilt, und vielleicht gerade deshalb verhältnismäßig klug. Schon seit der Erwähnung Diotimas und Arnheims sah er aber aus, als wolle er etwas anderes zum besten geben, das ihn wichtiger dünke als Tuzzis Rückkehr zu sich selbst. «Man möchte ja schon lange glauben, » begann er nun «daß Arnheim genug von ihr hat. Aber das sind große Seelen! Du magst wohl auch etwas von solchen verstehn, aber die sind es! Da läßt sich nicht sagen: war etwas zwischen ihnen, oder war nichts zwischen ihnen. Sie sprechen noch heute so wie früher; bloß hat man das Gefühl: jetzt ist bestimmt nichts zwischen ihnen. Sie reden eben sozusagen immer letzte Worte!»
Ulrich erinnerte sich dessen, was ihm die Liebespraktikerin Bonadea von der Theoretikerin Diotima erzählt hatte, und hielt Stumm dessen eigenen, kühleren Ausspruch vor, daß Diotima ein Lehrbuch der Liebe sei.
Der General lächelte gedankenvoll dazu. «Wir beurteilen das vielleicht nicht allseitig genug» holte er umsichtig aus. «Ich will vorausschicken, daß ich vor ihr noch nie eine Frau so habe reden hören; und es legt sich mir wie ein Eisbeutel überall hin, wenn sie damit anfangt. Sie tut es übrigens schon wieder seltener; aber wenn es ihr einfällt, spricht sie auch heute noch zum Beispiel von diesem Weltfriedenskongreß als von einem <panerotischen Humanerlebnis>, und dann fühle ich mich kurzerhand von ihrer Gescheitheit entmannt. Aber» - und er hob die Bedeutung seiner Worte jetzt durch eine kleine Pause - «es muß doch ein Bedürfnis, ein sogenannter Zug der Zeit darin liegen, denn selbst im Kriegsministerium fangen sie jetzt so zu reden an. Seit dieser Kongreß aufgetaucht ist, könntest du Generalstabs-Stabsoffiziere von Friedensliebe und Menschenliebe sprechen hören wie vom Maschinengewehr Muster 7 oder vom Sanitätspackwagen Muster 82! Es ist einfach ekelhaft!»
«Darum hast du dich also vorhin einen enttäuschten Fachmann der Liebe genannt?» warf Ulrich ein.
«Ja, lieber Freund. Du mußt schon entschuldigen: ich habe es nicht ausgehalten, als ich auch dich so einseitig habe reden hören! Aber dienstlich ziehe ich aus alledem ja großen Vorteil!»
«Und hast du gar keinen Eifer mehr für die Parallelaktion, für die Ehrung der großen Ideen und ähnliches?»
forschte Ulrich neugierig.
«Selbst eine so erfahrene Frau wie deine Kusine hat schon genug von der Kultur» gab der General zur Antwort. «Ich meine die Kultur um ihrer selbst willen. Überdies schützt dich auch die größte Idee nicht vor einer Ohrfeige!»
«Aber sie kann bewirken, daß die nächste Ohrfeige der andere kriegt. »
«Das ist richtig» räumte Stumm ein. «Aber nur, wenn du dich des Geistes bedienst, nicht wenn du ihm selbstlos dienst!» Dann blickte er neugierig zu Ulrich auf, um die Wirkung seiner nächsten Worte mitzugenießen, und fügte, in sicherer Erwartung des Erfolgs die Stimme senkend, hinzu: «Aber auch wenn ich das möchte, kann ich doch nicht mehr: man hat mich ja kaltgestellt!»
«Alle Achtung!» rief Ulrich aus, in unwillkürlicher Anerkennung der militärbehördlichen Einsicht. Aber dann folgte er einem ändern Einfall und sagte rasch: «Das hat dir der Tuzzi eingerührt!»
«Aber gar keine Spur!» versicherte Stumm selbstgewiß.
Dieses Gespräch hatte bis dahin immer noch in der Nähe des Tores stattgefunden, und außer den beiden 686
Männern war noch ein dritter daran beteiligt, indem er auf das Ende wartete und so reglos vor sich blickte, daß die Welt für ihn zwischen zwei Paaren Pferdeohren aufhörte. Nur seine in weißen Zwirnhandschuhen steckenden Fäuste, durch die die Zügel liefen, bewegten sich verstohlen, in unregelmäßigen, besänftigenden Rhythmen, weil die Pferde, der soldatischen Disziplin nicht ganz so zugänglich wie der Mensch, des Wartens immer überdrüssiger wurden und ungeduldig am Geschirr ruckten. Diesem Mann befahl der General nun endlich, den Wagen an die Ausfahrt zu bringen und dort die Pferde zu bewegen, bis er einstiege; Ulrich aber lud er jetzt ein, den Weg durch den Garten zu Fuß zurückzulegen, damit er ihm die Geschehnisse der Reihe nach anvertrauen könne, ohne daß es jemand zu hören vermöchte.
Aber Ulrich meinte das, worauf es ankäme, lebhaft vor sich zu sehen, und ließ ihn anfangs nicht zu Wort kommen. «Ob Tuzzi dich aus dem Spiel geschlagen hat oder nicht, ist auch gleichgültig, » führte er aus
«denn du bist in diesem Fall, was du mir verzeihen wirst, nur eine Nebenfigur. Das Wesentliche ist, daß er fast mit dem Augenblick, wo er durch den Kongreß bedenklich geworden ist und mit einer schweren Belastungsprobe zu rechnen begonnen hat, sowohl den staatspolitischen Zustand als auch seinen persönlichen aufs schnellste vereinfacht hat. Er ist vorgegangen wie ein Kapitän bei Ankündigung eines schweren Sturms, der sich nicht von der noch träumenden See beeinflussen läßt. Was ihm bis dahin zuwider gewesen war, Arnheim, eure Militärpolitik, der deutsche Kurs, damit hat er sich jetzt verbündet; und er hätte sich auch mit den Bestrebungen seiner Frau verbündet; wenn es in Ansehung der Umstände nicht nützlicher gewesen wäre, diese zu zerstören. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Liegt es daran, daß das Leben leicht wird, wenn man sich nicht um Gefühle kümmert, sondern sich bloß an sein Ziel hält; oder ist es ein mörderischer Genuß, mit den Gefühlen zu rechnen, statt unter ihnen zu leiden? Mir ist dabei, als fühlte ich dem Teufel nach, wie er in die Himmelsspeise des Lebens eine Faust voll Salz getan hat!»
Der General war Feuer und Flamme. «Das habe ich dir doch schon im Anfang gesagt!» rief er aus. «Ich habe zwar nur von Lügen gesprochen, aber die echte hinterhältige Gesinnung ist in jeder ihrer Formen eine unheimlich anregende Sache! Sogar der Leinsdorf, zum Beispiel, hat jetzt wieder eine Vorliebe für die Realpolitik gefaßt und sagt: Realpolitik ist das Gegenteil von dem, was man tun möchte!»
Ulrich fuhr fort: «Das Entscheidende ist, daß es Tuzzi früher verwirrt hat, was zwischen Diotima und Arnheim geredet worden ist; jetzt aber kann es ihn nur freuen, weil die Redseligkeit von Menschen, die ihre Gefühle nicht zu verschließen vermögen, einem Dritten immer allerhand Anhaltspunkte gibt. Er braucht es jetzt nicht mehr mit dem inneren Ohr anzuhören, was ihm niemals gelingen wollte, sondern nur noch mit dem äußeren; und das macht doch ungefähr den Unterschied aus, ob man eine ekelerregende Schlange schluckt oder erschlägt!»
«Wie?» fragte Stumm.
«Schluckt oder erschlägt!»
«Nein! Das mit den Ohren!?»
«Ich habe sagen wollen: er hat sich zu seinem Glück von der Inseite des Gefühls an die Außenseite zurückbegeben. Aber das wäre dir vielleicht unverständlich geblieben, es ist bloß so eine Idee von mir. »
«Nein, du hast es sehr gut gesagt!» versicherte Stumm.
«Aber warum verwenden wir eigentlich andere als Beispiel? Diotima und Arnheim sind große Seelen, und das wird schon deshalb nie ordentlich klappen!» Sie schlenderten einen Gartenpfad entlang und waren noch nicht weit gekommen; der General blieb stehn: «Auch was mir passiert ist, ist nicht bloß eine Kommißgeschichte!» teilte er seinem bewunderten Freunde mit.
Ulrich sah ein, daß er. ihn nicht zu Wort habe kommen lassen, und entschuldigte sich. «Du bist also nicht über Tuzzi zu Fall gekommen?» fragte er höflich.
«Ein General stolpert vielleicht über einen Zivil-Minister, aber nicht über einen Zivil-Sektionschef»
berichtete Stumm stolz und sachlich. «Ich glaube, ich bin über eine Idee gestolpert!» Und so begann er seine Geschichte zu erzählen.
71 Agathe stößt zu ihrem Mißvergnügen auf einen geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie Währenddem war Agathe an eine neue Folge von Blättern geraten, worin die Aufzeichnungen ihres Bruders auf ganz andere Art weitergingen. Es schien, daß er es jetzt mit einemmal darauf abgesehen hätte, zu ermitteln, was ein Gefühl sei, und zwar dem Begriff nach und auf trockene Art. Er mußte sich auch 687
allerhand ins Gedächtnis zurückgerufen oder es eigens zu seinem Zweck gelesen haben, denn die Papiere waren mit Vermerken bedeckt, die sich teils auf die Geschichte, teils auf die Zergliederung des Gefühlsbegriffes bezogen, und alles zusammen bildete eine Sammlung von Bruchstücken, deren innere Verbindung nicht gleich zu erkennen war.
Einen Hinweis auf das, was ihn dazu bewogen haben mochte, fand Agathe zuerst daran, daß vor Beginn an den Rand das Wort «Sache des Gefühls!» geschrieben stand; denn sie entsann sich nun des Gesprächs, das sie und ihr Bruder darüber in der Wohnung ihrer Kusine geführt hatten, mit seinen tiefen, den Grund der Seele entblößenden Schwankungen. Und wollte man erfahren, was Sache des Gefühls sei, so mußte man sich wohl oder übel auch fragen, was Gefühl sei, das sah sie ein.
Das diente ihr als Wegweiser, denn die Aufzeichnungen begannen damit, daß alles, was unter Menschen geschehe, seinen Ursprung entweder in Gefühlen oder in der Entbehrung von Gefühlen habe; unerachtet dessen wäre aber eine Antwort auf die Frage, was ein Gefühl sei, aus der ganzen unabsehbaren Literatur, die sich damit beschäftigt habe, nicht mit Sicherheit zu gewinnen, denn selbst die Leistungen aus letzter Zeit, die Ulrich wirklich für Fortschritte hielt, bedürften keines ganz geringen Maßes von freiwilligem Zutrauen. Soviel Agathe sehen konnte, hatte er die Psychoanalyse dabei außer Betracht gelassen, und sie wunderte sich anfangs darüber, denn wie alle literarisch angeregten Menschen hatte sie mehr von ihr sprechen hören als von der übrigen Psychologie; aber Ulrich sagte, er ließe sie nicht deshalb beiseite, weil er die Verdienste dieser bedeutenden Theorie nicht anerkenne, die voll neuer Begriffe wäre und als erste vieles zu erfassen gelehrt habe, was durch alle vorangegangene Zeit gesetzlose Privaterfahrung gewesen sei, sondern es hänge damit zusammen, daß gerade bei dem, was er vorhabe, ihre Eigenart nicht so zur Geltung komme, wie es ihres immerhin auch sehr anspruchsvollen Selbstbewußtseins würdig wäre. Als sein Vorhaben aber bezeichnete er es, zunächst die vorhandenen Hauptantworten auf die Frage, was Gefühl sei, miteinander zu vergleichen, und fuhr fort, daß sich im ganzen wohl nur drei unterscheiden ließen, von denen übrigens keine so klar ausgebildet worden sei, daß sie die anderen ganz unmöglich gemacht hätte.
Dann schlössen sich die folgenden Aufzeichnungen an, die das ausführen sollten: «Die älteste, aber noch heute recht regsame Vorstellungsbildung geht von der Überzeugung aus, daß zwischen dem Zustand des Fühlens, seinen Ursachen und seinen Wirkungen deutlich getrennt werden könne; denn sie versteht unter Gefühl eine Gattung innerer Erlebnisse, die sich von den anderen Gattungen - und zwar sind dies nach ihr das Empfinden, Denken und Wollen - bis in den Grund unterscheide. Diese Auffassung ist volkstümlich und seit alters überliefert, und es liegt ihr nahe, das Gefühl als einen Zustand anzusehen; zwar muß das nicht sein, aber es geschieht unter dem Ungewissen Eindruck der Wahrnehmung, daß wir in jedem Augenblick des Gefühls, und inmitten seiner beweglichen Veränderung, nicht nur unterscheiden können, daß wir fühlen, sondern es auch als etwas scheinbar Ruhendes erleben, daß wir im Zustand eines Gefühls beharren.
Die neuere Vorstellungsbildung geht dagegen von der Beobachtung aus, daß das Fühlen aufs innigste mit dem Handeln und dem Ausdruck verbunden ist; und es folgt daraus, daß sie sowohl dazu neigt, das Gefühl als einen Vorgang zu betrachten, als auch, daß sie ihren Blick nicht auf das Fühlen allein richtet, sondern es mitsamt seinen Äußerungen und seinen Ursprüngen als ein Ganzes ansieht. Sie ist zuerst in der Physiologie und Biologie entstanden, und ihr Bestreben ist ursprünglich auf eine körperliche Erklärung der seelischen Vorgänge gerichtet gewesen, oder schärfer betont, auf das körperliche Ganze, dem auch seelische Erscheinungen unterlaufen. Man kann, was sich daraus ergeben hat, als zweite Hauptantwort auf die Frage nach der Natur des Gefühls zusammenfassen.
Eine Richtung der Wißbegierde auf das Ganze statt auf das Element und auf die Wirklichkeit statt auf einen vorgefaßten Begriff unterscheidet aber auch die neueren psychologischen Untersuchungen, die sich mit dem Gefühl beschäftigen, von den älteren, nur sind ihre Absichten und leitenden Gedanken natürlich ihrer eigenen Wissenschaft entnommen. Dadurch ergeben sie eine dritte Antwort auf die Frage, was Gefühl sei, die sich sowohl auf den anderen aufbaut als auch selbständig ist. Diese dritte Antwort gehört aber allermaßen nicht mehr in einen Rückblick, weil mit ihr schon der Einblick in die Vorstellungsbildung beginnt, die gegenwärtig im Gange ist oder möglich erscheint.
Ich will hinzufügen, denn ich habe vorhin auch die Frage erwähnt, ob das Gefühl ein Zustand oder ein Vorgang sei, daß in Wahrheit diese Frage in der angedeuteten Entwicklung so gut wie keine Rolle spielt, es sei denn die einer allen Auffassungen gemeinsamen und vielleicht nicht ganz gegenstandslosen Schwäche.
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Stelle ich mir ein Gefühl, wie es nach älterer Art nahezuliegen scheint, als etwas Beständiges vor, das nach außen und innen wirkt, und auch von beiden Seiten Rückwirkung empfängt, so habe ich offenbar nicht bloß ein Gefühl, vor mir, sondern eine unbestimmte Anzahl wechselnder Gefühle. Die Sprache stellt zwar für diese Unterarten eines Gefühl selten eine Mehrzahl zur Verfügung, sie kennt keine Neide, Zörner oder Trotze, für sie sind das die Abwandlungen eines Gefühls in verschiedenen Spielarten oder in verschiedenen Zuständen seiner Entwicklung; aber ohne Frage deutet auch eine Folge von Zuständen ebenso gut wie eine Folge von Gefühlen auf einen Vorgang hin. Glaubt man hingegen, wie es dem entspräche und auch der heutigen Auffassung näherzuliegen scheint, einen Vorgang vor sich zu haben, so ist wieder der Zweifel, was dann <eigentlich> Gefühl sei und wo etwas aufhöre, zu ihm selbst, und anfange, zu seinen Ursachen, Folgen oder dem begleitenden Gefolge zu gehören, nicht auf geradem Wege zu lösen. Ich werde an einer späteren Stelle darauf zurückkommen, denn ein solcher Zwiespalt pflegt einen Fehler der Fragestellung anzuzeigen; und es wird sich, wie ich meine, herausstellen, daß die Frage, ob Zustand oder Vorgang, eigentlich eine Scheinfrage ist, hinter der sich eine andere verbirgt. Dieser Möglichkeit zuliebe, über die ich nicht entscheiden kann, mag sie hervorgehoben bleiben. »
«Ich fahre nun fort, der ursprünglichen Gefühlslehre zu folgen, die vier Haupthandlungen oder Grundzustände der Seele unterscheidet. Sie reicht auf die Antike zurück und wird vermutlich ein in Würden verbliebenes Seitenstück zu deren Meinung sein, daß die Welt der Körper aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde bestehe: Trotzdem wird noch heute oft von vier besonderen, nicht aufeinander zurückführbaren Klassen von Bewußtseinselementen gesprochen, und in der Klasse Gefühl nehmen dann gewöhnlich die beiden Gefühle <Lust> und <Unlust> eine Vorzugsstellung ein; denn sie gelten entweder als die einzigen oder gelten wenigstens als die einzigen mit nichts andrem vermengten Gefühle. In Wahrheit sind sie vielleicht überhaupt keine Gefühle, sondern nur eine Färbung und Tönung an diesen, in der sich der ursprüngliche Unterschied zwischen Anziehung und Flucht und wohl auch der Gegensatz zwischen Gelingen und Versagen und andere Gegensätze der ursprünglich so symmetrischen Führung des Lebens erhalten haben. Das gelingende Leben ist lustvoll: lange vor Nietzsche und unserer Zeit hat es schon Aristoteles gesagt. Und noch Kant hat gesagt: <Vergnügen ist das Gefühl der Beförderung, Schmerz das einer Hindernis des Lebens. > Und Spinoza hat Lust den <Übergang des Menschen von geringerer zu größerer Vollkommenheit> genannt. Sie ist immer in diesem etwas übertriebenen Ruf einer letzten Erklärung gestanden, die Lust (und nicht zuletzt bei denen, die sie der Täuschung verdächtigten!).
Aber wahrlich zur Heiterkeit kann sich das bei nicht ganz großen, und doch verdächtig leidenschaftlichen Denkern steigern. Ich setze eine schöne Stelle aus einem zeitgenössischen Lehrbuch hierher, von der ich kein Wort vergessen möchte: <Was erscheint verschiedenartiger als zum Beispiel die Freude über eine elegant gelöste mathematische Aufgabe und die über ein gutes Mittagessen! Und doch sind diese beiden Freuden als reines Gefühl ein und dasselbe, nämlich Lust!> Auch eine Stelle aus einer Gerichtsentscheidung, die wahrhaftig erst vor wenigen Tagen gefällt worden ist, setze ich dazu: <Das Schmerzensgeld hat dem Zwecke zu dienen, dem Beschädigten die Möglichkeit zu geben, sich seinen gewohnten Verhältnissen entsprechende Lustgefühle zu verschaffen, die die durch die Verletzung und ihre Folgen ausgelösten Unlustgefühle aufwiegen. Auf den gegenständlichen Fall angewendet, ergibt sich also schon aus der beschränkten Auswahl der dem Lebensalter von zwei ein viertel Jahren entsprechenden Lustgefühle und der leichten Beschaffbarkeit der Mittel hiezu, daß das begehrte Schmerzensgeld zu hoch sei. > Die durchdringende Klarheit, die sich in diesen beiden Beispielen äußert, gestattet die ehrfürchtige Bemerkung, daß sich Lust und Unlust noch lange als das I und A der Gefühlslehre erhalten werden. »
«Blicke ich mich weiter um, so sehe ich, daß diese Lust und Unlust sorgfältig abwägende Lehre unter
<Mischgefühlen> die <Verbindung des Elements der Lust und Unlust mit den anderen Elementen des Bewußtseins> versteht und damit Trauer, Gelassenheit, Ärger und anderes meint, worauf Laien solchen Wert legen, daß sie gern mehr davon erführen als bloß einen Namen. <Allgemeine Gemütszustände> wie Lebhaftigkeit oder Niedergeschlagenheit, <darin Mischgefühle von gleicher Art vorwiegen>, heißt sie
<Einheit einer Gefühlslage>. <Affekt> nennt sie eine Gefühlslage, die sich <heftig und plötzlich> einstellt, und eine überdies <chronische> nennt sie <Leidenschaft>. Sollten Theorien eine Moral haben, so wäre also die Moral dieser Lehre ungefähr mit den Worten auszusprechen: Mache anfangs kleine Schritte, so kannst du später große Sprünge machen!»
«Aber in Unterscheidungen wie diesen: ob es bloß eine Lust und Unlust gebe oder vielleicht doch mehrere 689
Lüste und Unlüste; ob es neben Lust und Unlust nicht auch noch andere Grundgegensätze gebe, und zum Beispiel Lösung und Spannung ein solcher sei (das hat den stattlichen Titel: sin-gularistische und pluralistische Theorie); ob sich ein Gefühl verändern könne oder ob es, wenn es sich verändere, schon ein anderes Gefühl werde; ob ein Gefühl, soll es aus einer Folge von Gefühlen bestehn, sich zu diesen im Verhältnis des Art-zu seinen Gattungsbegriffen oder des Bewirkten zu seinen Ursachen befinde; ob die Zustände, die ein Gefühl durchläuft, angenommen, es selbst sei ein Zustand, Zustände eines Zustands seien oder verschiedene Zustände und damit also verschiedene Gefühle; ob ein Gefühl durch die von ihm hervorgerufenen Handlungen und Gedanken eine eigene Veränderung bewirken könne oder ob in dieser Rede vom <Wirken> eines Gefühls etwas so Uneigentliches und wenig wirklich Gemeintes liege, als werde gesagt, das Auswalzen eines Bleches <bewirke> dessen Verdünnung oder eine Ausbreitung der Wolken die Verschleierung des Himmels: in solchen Unterscheidungen hat die traditionelle Psychologie vieles geleistet, was nicht unterschätzt werden sollte. Freilich ließe sich dann auch fragen, ob die Liebe eine <Substanz> oder eine <Qualität> sei und was es in Ansehung ihrer mit der <Haecceität> und <Quiddität> auf sich habe; aber ist man je sicher, das nicht doch einmal noch fragen zu müssen?»
«Alle solchen Fragen enthalten einen höchst nützlichen Ordnungssinn, obwohl er in Ansehung der unbefangenen Natur des Gefühls ein wenig lächerlich wirkt, und uns in Ansehung dessen, wie die Gefühle unser Handeln bestimmen, wenig zu helfen vermag. Dieser logisch-grammatikalische, wie eine Apotheke mit hunderten Lädchen und Aufschriften ausgestattete Ordnungssinn ist ein Rest der mittelalterlichen, aristotelisch-scholastischen Naturbetrachtung, deren großartige Logik nicht sowohl an den Erfahrungen, die man mit ihr gemacht hat, zuschanden geworden ist als vielmehr an denen, die man ohne sie gemacht hat.
Es ist vornehmlich die Entfaltung der Naturwissenschaften daran schuld gewesen und die ihres neuen Verstandes, der die Frage, was logisch sein müsse, hinter die Frage zurückgesetzt hat, was wirklich sei; doch nicht weniger auch das Unglück, daß die Natur anscheinend bloß auf einen solchen Mangel an Philosophie gewartet hatte, um sich entdecken zu lassen, und mit einer Bereitschaft geantwortet hat, die beiweitem noch nicht zu Ende ist. Trotzdem ist es, so lange diese Entwicklung das neue philosophische Weltenei noch nicht hervorgebracht hat, auch heute noch nützlich, ihr gelegentlich von den Schalen des alten zu fressen zu geben, wie man es Hennen tut, die legen werden. Und das gilt besonders von der Psychologie des Gefühls. Denn sie ist in ihrer geschlossenen logischen Einkleidung schließlich vollkommen unfruchtbar gewesen, aber von den Gefühlspsychologien, die darauf gefolgt sind, ist nur zu sehr das Gegenteil wahr; denn sie sind in Ansehung dieses Verhältnisses zwischen logischem Gewand und Fruchtbarkeit, zumindest in den schönen Jahren der Jugend, nahezu Sansculottinen gewesen!»
«Was habe ich mir aus diesen Anfängen zu allgemeinerem Nutz und Frommen ins Gedächtnis zu rufen?
Vor allem das: Diese neuere Psychologie hat mit dem hilfsbereiten Mitleid begonnen, das die medizinische Fakultät immer für die philosophische übrig hat, und sie hat mit der älteren Ge-fühlspsychologie aufgeräumt, indem sie überhaupt aufgehört hat, von Gefühlen, und angefangen hat, naturwissenschaftlich von <Trieben>, <Triebhandlungen> und <Affekten> zu sprechen. (Nicht als ob die Rede vom Menschen als einem von seinen Trieben und Affekten beherrschten Wesen neu gewesen wäre, aber neue Medizin ist sie dadurch geworden, daß er fortan nur als das betrachtet werden sollte. >
Der Vorzug bestand in der Aussicht, das höher beseelte menschliche Verhalten auf das allgemeine belebte zurückzuführen, das sich auf den naturgewaltigen Nötigungen des Hungers, des Geschlechts, der Verfolgtheit und anderer Grundzustände des Lebens aufbaut, denen die Seele angepaßt ist. Dadurch bestimmte Geschehensabläufe heißen <Triebhandlungen>, entstehen ohne Absicht und Überlegung, sobald sich ein Reiz der ihnen entsprechenden Reizgruppe geltend macht, und werden von allen Tieren der gleichen Art, oft auch von Tier und Mensch, ähnlich ausgeführt. Die persönlichen, aber nahezu unveränderlich erblichen Anlagen dazu heißen <Triebe>; und mit der Bezeichnung <Affekt> wird in diesem Zusammenhang gewöhnlich eine etwas Ungewisse Meinung verknüpft, nach der er das Erlebnis oder die erlebte Seite der Triebhandlung und der ins Handeln gesetzten Triebe sein soll.
Betont oder leise wird dabei meist auch vorausgesetzt, daß alle menschlichen Handlungen Triebhandlungen seien, oder Verbindungen zwischen solchen, und alle unsere Gefühle Affekte oder Teile oder Zusammensetzungen von Affekten. Ich habe heute mehrere Lehrbücher der medizinischen Psychologie durchblättert, um mein Gedächtnis aufzufrischen, aber in ihrer aller Sachverzeichnissen ist das Wort Gefühl auch nicht ein einzigesmal vorgekommen, und es ist wahrhaftig keine geringe Eigenheit einer 690
Gefühlspsychologie, wenn in ihr keine Gefühle vorkommen!»
«So sehr überwiegt noch jetzt in manchen Kreisen eine mehr oder minder betonte Absicht, die zu nichts führende geistige Betrachtung der Seele durch naturwissenschaftliche Begriffe zu ersetzen, die aufs äußerste handgreiflich sein sollen. Und wie man es anfangs am liebsten gesehen hätte, daß die Gefühle nichts als Empfindungen in den Eingeweiden und Gelenken wären, und in der Folge Behauptungen entstanden sind wie die, daß die Furcht aus beschleunigter Herztätigkeit und flachem Atem bestünde, oder daß das Denken ein inneres Sprechen, also eigentlich eine Kehl-kopfreizung wäre, steht heute die geläuterte Absicht in Ansehen und Ehren, das gesamte innere Leben auf Reflexbögen und ähnliches zurückzuführen, und gilt beispielsweise einer großen und erfolgreichen Schule als die einzige erlaubte Aufgabe der Seelenerklärung.
Mag also auch die breite, womöglich eisern-automatische, Verankerung im Naturreich das wissenschaftliche Ziel sein, so mischt sich doch ebenfalls ein eigentümlicher Überschwang hinein, der sich ungefähr durch den Satz ausdrücken ließe: was niedrig steht, steht fest. Das ist einmal, bei der Überwindung der theologischen Naturphilosophie, ein Überschwang der Vereinigung gewesen, eine