ANHANG Nachgelassene Fragmente
[Zum «Problemaufbau»]
[Studien]
Aufbau des zweiten Teils von Band II im Groben — 15. III. 32
Grundidee: Es hat sich herausgestellt, daß der erste Teil zu sehr belastet würde, wenn auch noch auf die in Band I aufgeworfenen Probleme Rücksicht genommen werden müßte. Anderseits lassen sich diese nicht umgehn. Das
Zerlegte muß irgendwie zusammengefaßt werden–—Das
trifft nun damit zusammen, daß Ulrich ohnedies nach der Reise mit Agathe, wo die «Reserveidee» seines Lebens zusammengebrochen ist, sein Leben neu aufbauen muß. Auch von ihm aus ist also die Anknüpfung an die Ideen von Band I und ihre neue Zusammenfassung geboten. Das ist, was immer dazwischen auch geschieht, der Hauptinhalt der zweiten Hälfte.
Grundidee: –—Die Übereinstimmung der heurigen
Geisteslage mit der zur Zeit des Aristoteles. Damals hat man Naturerkennmis und religiöses Gefühl, Kausalität und Liebe vereinen wollen. Bei Aristoteles hat es sich gespalten; da setzt die Forschung ein. So sehr dann das 4. Jahrhundert Vorbild geworden ist, dieses Problem ist nicht rezipiert worden. In gewissem Sinn sind alle Philosophien von der Scholastik bis Kant mit ihren Systemen Zwischenspiel gewesen. -
Überbedeutung des Systems. –—Das ist die historische Situation.
Von heute gilt–—beziehungsweise was Ulrich will: Jede
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Zeit muß ein Richtbild haben, wozu sie da ist, einen Ausgleich zwischen Theorie und Ethik, Gott und so weiter. Dem Zeitalter des Empirismus fehlt das noch. –—
Grundidee: Damit ist Ulrichs Verhältnis zum Sozialen gegeben - -
Grundidee: Immer wieder Zeitschilderung vorschieben. Die Probleme Ulrichs und der Nebenfiguren sind solche der Zeit.
AUS «Korrektur III zu Band II/2» [bezieht sich auf Fortsetzungsband zu Band II, dessen Herausgabe schon vorbereitet war, aber nach Durchsicht der Korrekturfahnen wieder zurückgezogen wurde]: Bei der Korrektur von F[ahne] 42… Wandel [unter Menschen].. ff. den Eindruck empfangen, wie eine Überarbeitung des ganzen Teilbandes und seiner Fortsetzung wünschenswert wäre: Die Form, in der er gesetzt und ergänzt ist, ist aus dem Bedürfnis entstanden, möglichst bald die zentrale Position zu gewinnen und von ihr aus zu gestalten; also die Tagebuch-Theorie zu entwickeln und die Geschwister in ihren Besitz zu setzen.
Darum ist Wandel unter Menschen, Schwierigkeiten, wo sie nicht gesucht werden, Liebe [macht blind]…, General von Stumm läßt eine Bombe fallen…, Tagebuch I als Präludium zusammengedrängt und dabei recht fragwürdig geworden, während das Ende, ab Atemzüge…, recht in der Luft hängt.
Der Hauptfehler lag in der Überschätzung der Theorie. Diese hat sich als unergiebig und nicht tragfähig herausgestellt; jedenfalls ist sie weniger bedeutend, als es vor der Ausführung geschienen hat. Das ist mir schon längere Zeit bewußt, aber nun muß auch die Konsequenz daraus gezogen werden.
Die Konsequenz: Identifiziere dich nicht mit der Theorie, sondern stelle dich gegen sie realistisch (erzählend) ein. Gib nicht dem Unmöglichen eine Theorie, aber laß sie in Stücken einfallen. Lasse sie entstehen und auf Ulrich wirken und erzähle auf Grund dieser Voraussetzung. Blicke aber immer auf das Geschehen und habe nicht den Ehrgeiz einer völligen neuen theoretischen Erkenntnis (deren Mohammed du dann ja sein müßtest!)
Greife zur Auflockerung auf U[lrich] ff. zurück und siehe: das alles ist schon die Geschichte einer Liebe (Erzählung = Erzählung der Geschichte einer Leidenschaft!), die alle diese Fragen hervorkehrt und zu diesen Antworten führt, die ein Ganzes bilden, soweit sie es eben tun. Abwechselnd mit den Fragen und Antworten, kehrt sie auch Erlebnisse hervor.
Nur in der Liebe sind diese zum Teil überspitzten Fragen und Theorien und Erlebnisse möglich und gerechtfertigt, und in ihrer Kontinuität bilden sie auch die Geschichte dieser Liebe.
Alle Eindrücke und Äußerungen sind positiv zu wenden, als Erlebnisse ihrer Liebe. Trachte selbst, sie möglichst schön zu finden, soweit du dich nicht realistisch salvieren [?] mußt–-
Auf diese Weise muß wirklich das Bedürfnis nach Tagebuch entstehn, das heißt nach einer einheitlichen Zusammenfassung, die auch steigernd, wenngleich ebenfalls unsicher ist. Der Ort für den Beginn von Tagebuch muß sich von selbst ergeben.
Wie das ausgelassene ältere Material zu berücksichtigen ist, sind es auch die Kapitel der folgenden Teile, in die es nun viel fließender übergeht (General, Clarisse, Meingast und so weiter werden also wohl vorzuziehen sein); denn die Geschichte der Leidenschaft reicht nun bis zum Unglück und dem letzten Wiederbeisammensein.
Insbesondere dürfte die Reise mit der Kontemplation und ihrer Theorie verflochten werden; nebst quasi-realistischen und entgleisenden Versuchen der Vereinigung.
Daß sich die Gespräche über Liebe so ausgebreitet haben, hat den Hauptfehler, daß der zweite Lebenspfeiler, der des Bösen oder des Appetitiven und so weiter, zu wenig und zu spät in Erscheinung tritt!
Die Teilprobleme, wie sie zwischen Ulrich und Agathe auftauchen, schraube sie auf ihre Kleinheit zurück!
Zum Beispiel spielt Entweder-Oder contra Sowohl-als-auch in der modernen philosophischen Diskussion eine Rolle (Kierkegaards entscheidungsstarkes Entweder-Oder-Denken gegen Hegels
entscheidungsschwaches Sowohl-als-auch-Denken). Denkerisch sind diese Teilprobleme nicht mehr als Mosaikstücke. Können also nicht mehr sein als Teile der Erzählung eines Erlebnisses. Lasse dich also gedanklich nicht zu sehr mit ihnen ein. Benutze dies schon zur Korrektur von Die Ungetrennten und Nichtvereinten (oder wie es heißen wird)! Es muß dieses Auftauchen und Verschwinden und Erleben–-fortsetzen.
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Bei Beginn mit Wandel unter Menschen, einer neuen Reinschrift: Die Schwierigkeiten, die mir durch Jahre 870
alle berührten Probleme bereiten, die immer erneuten Umarbeitungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, haben mich die Sache immer prinzipieller anfassen lassen. Obwohl das nun gedanklich noch beiweitem nicht genügt, hat sich darstellend-stilistisch eine unangenehme Umständlichkeit eingeschlichen. Ich muß unbekümmerter und kürzer schreiben. Das ist der Sinn der irgendwo notierten Bemerkung, daß die Einfalle aphoristischer auszudrücken seien.
Es ist ein Hauptfehler, am Geschriebenen zu haften; es verwickelt in das Augenblickliche bis ins Grammatische. Man muß festhalten, was jeweils gesagt werden soll, und muß ihm so unmittelbar wie möglich an den Leib rücken–-
Zur Technik: Ein Gespräch muß in ein Geschehen münden oder aus einem hervorgehen oder eines begleiten!
Ironischer Erziehungsroman Agathe-Ulrich? Ironische Darstellung des tiefsten Moralproblems; Ironie ist in diesem Fall Galgenhumor. Ironie: Agathe nimmt ernst, was man ihr erzählt: Vater-, Lehrer-und Männerideologie und so weiter. Ironisch: Der zu Gott geneigte Mensch ist individual-psychologisch der mit Mangel an Gemeinschaftssinn. Die Pseudo-Neurotiker.
Was Band II bisher fehlt, ist der geistige Humor. Die General [von Stumm]-Kapitel sind kein Ersatz dafür, daß die Theorie des «anderen Zustand» und die Geschwisterliebe ohne Humor behandelt wird. Erster Ansatz nun im Scheusalkapitel (Kuß). Als Paradigma ist mir eingefallen: Das Duell ist ein Überbleibsel des Brunstkampfes, also auch unsere Ehrbegriffe sind es. Meine Grundlagen sind nun nicht mehr als ein solches Apercu: dieses Bewußtsein muß zu ihrer ernsten Behandlung noch hinzukommen!
Gott: In [Band] II/2 tritt als Hauptsache hinzu die empirische Gottesvorstellung des Kapitels Mondstr.
[ahlen] a. [m] Tage. Sodann die Behandlung eingangs <Atemzüge… > Hauptsache ab jetzt Korr[ektur] III, Bem[erkung] 9: Erzählung der Geschichte einer Leidenschaft. Darin Gott (neben Soz. [ialismus? ekstatische Sozietät?] u[nd] Sex[uali-tät]): ein Versuch, Halt zu geben. U. [nd]
zw. [ar] ein nicht gerade systematisch wiederkehrender Versuch. Statt Geschichte einer Leidenschaft, die unter anderem auch zu Gott führt, ließe sich auch vermuten, daß die Leidenschaft Gottes-Leidenschaft sei.
Der Gottesleidenschaft fehlt der Gegenstand, sie erfindet und glaubt ihn–-Sie ist als Schicksal gegeben. –-Tagebuch ist Psychologie der Gottesleidenschaft.
Gott: ein Mittel, die Gesteigertheit zu erhalten. Es ist der Zustand ohne Lachen; Mystiker lachen nicht.
Es ergibt sich - innerhalb des Tagebuchs die Aufgabe, von der individuellen und sozialen Auffassung zur ausschließlich individuellen (Verbrecher und Gott) zu kommen.
Im Tagebuch drücken sich zwei Hauptrichtungen aus: Motiviertes Leben und das Leben selbst ist mystisch, nämlich dort, wo es nicht Verstand, Gewalt und dergleichen ist.
Ergebnis?: Der Hang zum Motivischen, seine höchste Bewertung, ist aus Ulrichs Leben nicht wegzudenken; aber ausgedacht führt er auf eine Utopie.
Die profane Fassung von Philautia [siehe: Bd. II Kap. 59 Sonderaufgabe eines Gartengitters] ist ungefähr: Gibt es eine aus der Fülle kommende Pflicht, gibt es ein wahres und beseligendes Gesetz, einen tiefen und glücklichen Ernst des Lebens?
Eine bessere Organisation der Menschheit ist nur von der Selbstlosigkeit zu erwarten.
Oberster Gedanke von Anfang Band II an: Krieg; «anderer Zustand »-Krieg dem untergeordnet als Nebenversuch der Lösung des «Irrationalen».
Das Aufbauprinzip der moralischen Probleme bildet doch eigentlich die Moral des Kriegs! Kriege treten nicht wie Epidemien durch äußere Einflüsse auf, sondern von innen!
Von heute gesehen, ist das Problem: der verteidigungsfähige (kriegerische) Mann ist zu erhalten, der Krieg aber zu vermeiden. Oder: Der Mann ohne Eigenschaften, aber ohne Dekadenz.
Der Mann, der alles prüft und sich nach seinem Gewissen entscheidet, ist ein Atavismus.
Der naturwissenschaftliche Mensch ist das Kind, das sein Spielzeug auseinandernimmt, der geisteswissenschaftliche der, der sich an ihm erregt. Ohne und mit Phantasie spielen –—Aber jeder weiß, daß man das Zerlegen nicht mehr
wirklich verbieten kann. Also ist es wichtig, den entscheidenden Unterschied zu isolieren, das Hormon der Phantasie zu gewinnen, und das ist das ganze Bemühen um den «anderen Zustand».
Band II: –—Man wird sagen, in diesem Band seien nur
Minusvarianten des Menschen beschrieben, Lächerliches, Krankes, Entgleisungen. Wenn ich nicht eine 871
Gegenfigur einführen will, kann das nur durch die Art des Vortrags ausgeglichen werden.
Ironische Abwehr des Einwands, daß nur böse Menschen geschildert werden: Die guten Menschen sind für den Krieg. Die bösen gegen ihn!
Im Ganzen muß der Roman wohl das «gute Böse» erfinden und darlegen, da es die Welt mehr braucht als die utopische «gute Güte».
[Frühe Studien und «Ideenblätter»]
Altes Herrschaft über die Welt-Motiv jeder Generation ist auch das Ulrichs. Die Opposition gegen den Vater-Typus treibt ihn zur Technik und von da zur «modernen» Philosophie.
Die Generation der Väter–—behandelte die Generation
Ulrich wohlwollend als Utopisten, die ein wenig unverständlich in ihrem (Dekadenz-) Geschmack sei. –—
Utopie ist alle geistige Forderung; aber sie wird nicht ohne Väterlichkeit abgelehnt, darauf ist zu achten.
Der Optimismus, den man als schaffender Mensch doch immer wieder hat, und der Ekel vor dem was geschieht, sind die beiden Kopfpfeiler des Ganzen.
Erlöseridee: Vor 1910, als Ulrich jung war, gab es fin de siècle, neue Wahrheit Weltaufbau. Mit anderen Worten Analyse und Emersonsche Zuversicht. Morbid und technoid. Alles Morbide war natürlich eine Kraftmode. Noch früher gab es den Naturalismus. Wenn man das hinterdrein analysiert, so sind das sehr verschiedene Dinge. Die Beteiligten bemerkten aber den Unterschied kaum. Es waren eben bloß verschiedene Ausdrucksweisen des gleichen Willens, Kraftgefühls und so weiter. Mit anderen Worten, es gab eine Sekte. Man fühlte sich zusammengehörig, auch wenn man gar nicht zusammenpaßt.
Diese Phase war vom Ausland beeinflußt. Dieses war also vorgeschrittener? Um einige Jahre. Das Problem wurde dort ebenso wenig gelöst. Die Bewegung verflachte auch dort. Nur noch cachiert, weil noch kein Zusammenbruch eintrat.
(Das wäre Erlöser I, II. Dann käme Katakombe [Romanprojekte Musils, die in den Mann ohne Eigenschaften münden], wo die Heilung von der Wurzel aus noch einmal versucht wird. > Bei Ulrich hatte es die spezifische Form des die Welt anders Denkens–—
Die Naturalisten erschienen ihm wie Vorläufer seiner selbst, weil sie keinen Geist hatten, kompakte, wertlose Menschen waren, nichts von Nietzschescher Differenziert-heit der Welt wußten. Nur weil sie unmoralisch waren, erschienen sie ihm gut. Ebenso interessierte ihn an den Morbiden durchaus nicht die Sensation, das subtile Erlebnis, sondern nur der Gegensatz gegen die Normalität hatte seine Sympathie.
Einerseits war das also die stärkere Intellektualität, die ihn schon damals von den Genossen trennte–-Die Vätergeneration war: Intellektualität, aber
ungenügend im Moralischen. Die Negation ist seine ursprüngliche Stellung: Auch im Moralischen ausreichende Intellektualität.
Das Ganze war aber - den Beteiligten unbewußt, weil über das enge historische Blickfeld hinausreichend, -
nur eine Phase in folgendem Prozeß: 1870 hatte sich ein großer europäischer Organismus konstituiert. Bis 1890 zehrte er den übernommenen Ideenfond auf; war im Kampf gegen Grün-dertum, Kriegsnachrausch und dergleichen tugendhaft, bis alle Ideen leer waren. Dann kam um 1890 die geistige Krisis, Wehen einer eigenen Seele. Dieser Versuch mißlingt. Die um 1910 auftretende Erlöseridee ist bereits Resignation, ebenso die Wendung zu Religion und Seele. Die Synthese Seele-Ratio ist mißlungen. Das führt in direkter Linie zum Kriege. Deutsche Geschichte als Paradigma der Weltgeschichte. (Sichtbarer, weil der Organismus neu ist. > Deutschland als Weltvorbild, Weltheiland. Muß also mit einer gewissen Sympathie in aller Ironie geschrieben werden.
Das war - - die geistige Situation vor dem Krieg; sie war ohne innere Direktion. Menschen, die das auf den verschiedenen Linien mitgemacht haben, gehören in den Roman. Auch Vertreter des Georgetypus und so weiter.
Außer diesen geistigen Sphären dann noch die beziehungslosen der Wissenschaft und so weiter.
Der Druck des kommenden wissenschaftlichen, objektiven Zivilisationszeitalters, wo alle Menschen weise und gemäßigt sein werden, lastet schon auf dieser Generation, deren letzte Zuflucht die Sexualität und der Krieg ist.
Erzählungstechnik Katakombe: Ich erzähle. Dieses Ich ist aber keine fingierte Person, sondern der Romancier. Ein unterrichteter, bitterer, enttäuschter Mensch. Ich. Ich erzähle die Geschichte meines Freundes Ulrich. Aber auch, was mir mit anderen Personen des Romans begegnet ist. Dieses Ich kann 872
nichts erleben und erleidet alles, woraus sich Ulrich befreit und woran er dann doch zugrundegeht. Aber tatlos, unvermögend zu einer klaren Erkenntnis und zu einer Aktivität zu kommen, wie es der diffusen, unübersehbaren Situation von heute entspricht. Mit Reflexion von meinem Standpunkt aus. Wie von einem letzten, weise, bitter und resigniert gewordenen Überlebenden der Katakombe aus erzählt.
Erzählungstechnik i[st] a[uch] objektiv, aber wo erwünscht, rücksichtslos subjektiv. Man kann in Schutz nehmen als Mensch, der so etwas zwar nicht selbst täte, aber es ist zweifelhaft, ob mit Recht.
Aber nicht Zeitroman, synthetischer Zeitaufbau, sondern Konflikt Ulrichs mit Zeit. Nicht synthetisch, sondern durch ihn aufspalten!
Doch Ich-Form. Kann, wenn sie rein ist, vermutlich nachträglich ohneweiters umgewandelt werden. Nicht Katakombe - sondern Versuche einen ändern Menschen zu
finden. –—Alles nur so weit verfolgen, wie ich es sehe; das
ist die innere Berechtigung dieser Form, ich soll nicht Fertigsein heucheln, wo ich es nicht bin.
–—Stimmung einer
Jahrhundertwende (1000, 2000 gar!) Man kann alles so kurz sagen, wie es mich freut. Ich kann die Verführung durch Agathe in allen Phasen schildern und den Rest verschweigen. Ich kann das Verbrechen besser motivieren, weil es natürlicher ist, daß ich mich verteidige, als daß es ein anderer tut.
Ich kann alles sagen, was mich interessiert, und warum es das tut.
Eine fingierte Biographie erzählen. Und zwar so, wie wenn ich die Essays schreiben wollte.
Die Geschwisterliebe muß sehr verteidigt werden. Als etwas ganz Tiefes mit seiner Ablehnung der Welt Zusammenhängendes empfindet sie Ulrich. Die autistische Komponente seines Wesens schmilzt hier mit der Liebe zusammen. Es ist eine der wenigen Möglichkeiten von Einheit, die ihm gegeben sind–—
Ich hatte keinen Freund (das Verhältnis zu Walter ist sehr wenig freundschaftlich wird der Leser sagen!).
Das ist ein Grund für Agathe.
Darstellungsart: Gedankenbündel, gewöhnlicher Rest -Auftauchen aus der Gewöhnlichkeit, wenn Stichwort, Wellenlänge kommt. Menschen zeigen, wie sie ganz aus Reminiszenzen zusammengesetzt sind, die sich nicht kennen. Menschen wollen, daß andre handeln, wie es ihrer literarisch typisch bestimmten Vorstellung entspricht, ob diese mögen oder nicht. So Klementine Fischel von Leo
Fischel, daß er der feine und überlegene Financier sei–—
Schmeißer, Hagauer, Lindner von Agathe jeder in seiner Art. Rachel vom romantischen Soliman.
Nicht in Zeitreihe erzählen. Sondern hintereinander, zum Beispiel: ein Mensch denkt a, tut Wochen später das Gleiche, aber denkt b. Oder sieht anders aus. Oder tut das Gleiche in einer anderen Umwelt. Oder denkt das Gleiche, aber es hat eine andere Bedeutung und so weiter. Die Menschen sind Typen, ihre Gedanken, Gefühle sind Typen; nur das Kaleidoskop ändert sich. Dann aber so Zusammengehöriges in continuo erzählen. Vorgreifend. Oder zurück-und nochmals aufgreifend. –—Nicht sich schildern, sich immer versetzen. Nicht sich als erkennendes, sondern als erlebendes, erleidendes, sonderbar fühlendes und wollendes Objekt schildern.
Zeit als unwirklich darstellen. Technik daher holen, daß ich wahrer Zeitschilderung gar nicht fähig bin.
(Parallelaktion müßte zum Beispiel an Eucharistischen Kongreß anknüpfen und dergleichen, wovon ich zu wenig weiß. Aus diesem Fehler unbedingt die Technik machen!)
Schreiben ist eine Verdoppelung der Wirklichkeit. Die Schreibenden haben nicht den Mut, sich für utopische Existenzen zu erklären. Sie nehmen ein Land Utopia an, in dem sie auf ihrem Platz wären; sie nennen es Kultur, Nation und so weiter. Eine Utopie ist aber kein Ziel, sondern eine Richtung. Aber alle Erzählungen fingieren, daß es etwas gibt, das gewesen oder gegenwärtig ist, wenn auch an einem unwirklichen Ort.
Es muß gesagt werden: Ulrich hatte keine Sympathie für die guten Menschen. Gründe: sie sind unwahr, Literaten, man findet sie nicht, sie sind tot, bewegungslos, sie ver-balhornen den seltenen Fall der großen Güte — —
Man hat nur die Wahl: diese niederträchtige Zeit mitzumachen (mit den Wölfen zu heulen) oder Neurotiker zu werden. Ulrich geht den zweiten Weg.
Tempo: Instinktiv liebt Ulrich das Tempo, dieses Zeichen der kommenden Zeit. Vierzehn Tage verlumpen, vierzehn Tage rasende Arbeit, acht Tage rasender Sport. Alles abgeblendet wie eine Autolaterne.
Wenn Ulrich zur Zeit gelebt hätte, wo die deutsche Nation durch Reformation und Gegenreformation 873
gespalten wurde, so wäre er gewiß weder Katholik noch Protestant gewesen.
Wie denkt er sich den Dichter? Jedenfalls nicht aus der Intuition heraus schaffend. Dem in der Eingebung die Gedanken wachsen wie Haare oder Blätter. Sondern aus dem Wissen der Zeit heraus und aus ihren Interessen. Bloß rascher als sie, im Tempo ihr so weit voraus, daß er sich im Gegensatz zu ihr fühlt. Ihr besseres Ich, der Anwalt der Zeit gegen die Zeit. Ihre Privatgefühle entwickeln sich planlos, anarchisch, Aus den Schieberinteressen heraus. Ihre offiziellen Gefühle sind weit hinter ihren Gedanken und Interessen zurück. Der Dichter muß aus dem Schieberkreis so viel annehmen wie die Hochsprache aus dem Argot, wenn sie leben bleiben will. Er muß es aber mit der Mathematik in Einklang setzen. Ulrich will kein Dichter sein, sondern ein Essayist.
Aus den Vorstellungen Ulrichs: es gibt Weltsprachen und Dialekte. Von den Dialekten muß man einen Abguß im Geist nehmen und sie dann weglegen. In weiterer Ferne liegt der Prozeß der Schaffung eines Hochwelt oder Hochirdisch. Nicht ausgeschlossen, den größten Teil der Feinheiten aller Sprachen darin unterzubringen. Auch muß das keine starre Sprache sein, sondern kann aus Weltdialekten, ja sogar aus den Lokaldialekten bereichert werden. Sprachakademie, Schriftstellerkonvent und so weiter. - Mit einer Menschheit, in der sich nicht einmal die Sozialisten einigen können, geht es natürlich nicht. Und damit gibt er sich zufrieden.
Ulrich muß sein oder werden: Gegner des Patriotismus
(Regionalismus–—). Die Landesgrenze als Moralgrenze
anzusehn, liegt dem Deutschen nicht sehr; das macht seine Schwäche und gibt der patriotischen Moral eine gewisse Berechtigung. Richtiger wäre aber doch, das Prinzip zum Rang einer europäischen Angelegenheit zu erheben. Ulrich kann nicht alles machen; das zum Beispiel allein wäre der Inhalt einer Lebensarbeit; es scheint ihm aber für eine bestimmte Art Mensch einfach eine Selbstverständlichkeit zu sein: so sind diese Menschen, die als Geistesrasse unter den Zeitgenossen herumgehen, ohne irgendwo Hand anzulegen.
Um Ulrich «sympathisch» zu machen, muß er Repräsentant der Zeit sein.
[Zum Anfang]
[Abgebrochener Entwurf zu einem Vorwort]
Die Geschichten, die heute geschrieben werden, sind alle sehr schön, bedeutend, tief und nützlich, temperamentvoll oder abgeklärt. Aber sie haben keine Einleitungen.
Darum habe ich beschlossen, diese Geschichte so zu schreiben, daß sie trotz • ihrer Länge eine Einleitung braucht.
Man sagt, daß eine Geschichte nur dann eine Einleitung brauche, wenn der Dichter mit ihrer. Gestaltung nicht zu Rande gekommen sei. Ausgezeichnet! Der Fortschritt der Literatur, der sich heute in dem Fehlen von Einleitungen ausdrückt, beweist, daß die Dichter ihrer Themen und ihres Publikums sehr sicher sind.
Denn natürlich gehört dazu auch das Publikum; der Dichter muß den Mund auftun, und das Publikum muß schon wissen, was er sagen will; sagt er es dann ein wenig anders und überraschend, so hat er sich als neu (schöpferisch) legitimiert. Im allgemeinen herrscht heute also ein gutes Einvernehmen zwischen Autoren und Publikum, und das Bedürfnis nach einer Einleitung zeigt einen Ausnahmefall an. (Eine kleine Variation. Ich möchte aber ja nicht so verstanden werden, als ob sich meiner Ansicht nach in der Größe der Abweichung die Größe des Genies ausdrückte. Im Gegenteil — —).
Wir wollen aber nicht übersehn, daß sich in dem Abfassen von Einleitungen auch ein zu gutes Verhältnis zum Publikum ausdrücken kann; historisch betrachtet ist es sogar meistens so gewesen. Der Autor legt sich in Hemdsärmeln in sein Fenster und lächelt auf die Straße hinunter; er ist sicher, daß man freundlich zu seinem beliebten Gesicht aufblicken wird, wenn er ein paar Worte persönlich sagt. Es genügt, wenn ich sage, daß ich viel zu wenig vom Erfolg verwöhnt worden bin, um auf einen solchen Einfall zu kommen.
Mein Bedürfnis nach einer Vorrede zeigt kein allzu gutes Verhältnis zum Publikum an, und obgleich ich, wie sich schon zeigt, ausgiebig von der Erlaubnis Gebrauch machen werde, in dieser Vorrede von mir zu reden, hoffe ich nicht von einer Privatperson zu sprechen, sondern von einer öffentlichen Angelegenheit.
[Gedanken zu einem «Vorwort»]
Ich widme diesen Roman der deutschen Jugend. Nicht der von heute - geistige Leere nach dem Krieg - ganz amüsante Schwindler —, sondern der, welche in einiger Zeit kommen wird und genau dort wird anfangen müssen, wo wir vor dem Krieg aufgehört haben und dergleichen (darauf beruht auch die Berechtigung, heute einen Vorkriegsroman zu schreiben!!)
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Dieser Roman spielt vor 1914, zu einer Zeit also, welche junge Menschen gar nicht mehr kennen. Und er beschreibt nicht diese Zeit, wie sie wirklich war, so daß man sie daraus kennenlernen könnte. Sondern er beschreibt sie, wie sie sich in einem unmaßgeblichen Menschen spiegelt. Was geht dieser Roman also Menschen von heute an? Warum schreibe ich nicht gleich einen Roman von heute? Das muß begründet werden, so gut es geht.
Es werden sich Leute darauf ausreden — weil sie auf die Gedanken nicht eingehen wollen -, daß hier ebenso viel Essay wie Roman geboten wird.
Frage: Weshalb hört der Mensch heute nicht auf Gedanken in der Kunst, während er sonst doch geradezu lächerliches Interesse für «Lehren» hat?
«Überflüssige», «langschweifige» Erörterungen: das ist ein Vorwurf, den man mir oft gemacht hat, wobei man vielleicht gnädig zugab, daß ich erzählen «könnte». Daß mir diese Erörterungen die Hauptsache sind!
Ulrich hielt sich für einen Menschen, welcher der Welt eine Botschaft zu bringen hat. Bruchstücke hier vorzufinden.
Später urteilt er–-: Man muß bei Lebzeiten eine gute
Wand abgegeben haben und dergleichen, wenn man auch nur posthum wirken will. Er ist nicht bös, läßt bloß ab.
Das ist nun auch seine Entwicklung im Roman. Er schreibt sein Buch nicht, sondern kommt in alle die Geschichten.
Der Erzähler gewissermaßen sein Freund.
Nicht Ulrich als den «wahren-starken» Menschen hinstellen, sondern als eine verloren gegangene wichtige Äußerung.
Stimmung: Es ist die Tragödie des gescheiteren Menschen (Richtiger: des Menschen, der in Gefühls-Verstandesfragen immer um eine Möglichkeit mehr kennt. Denn schlechtweg gescheiter ist er ja nicht), der immer allein ist, zu allem im Widerspruch, und nichts ändern kann. Alles andere ist logische Konsequenz.
[Aus einem Notizbuch (1932)]
Mancher wird fragen: welchen Standpunkt nimmt denn nun der Autor ein und welches ist sein Ergebnis?
Ich kann mich nicht ausweisen. Ich nehme das Ding weder allseitig (was unmöglich ist im Roman), noch einseitig; sondern von verschiedenen zusammengehörigen Seiten. Man darf die Unfertigkeit einer Sache aber nicht mit der Skepsis des Autors verwechseln. Ich trage meine Sache vor, wenn ich auch weiß, daß sie nur ein Teil der Wahrheit ist, und ich würde sie ebenso vortragen, wenn ich wüßte, daß sie falsch ist, weil gewisse Irrtümer Stationen der Wahrheit sind. Ich tue in einer bestimmten Aufgabe das Möglichste.
Dieses Buch hat eine Leidenschaft, die im Gebiet der schönen Literatur heute einigermaßen deplaziert ist, die nach Richtigkeit, Genauigkeit.
Die Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird.
Das Prinzip der Teillösungen, das für meine Aufgabenstellung wichtig ist, auch vorbringen… Grund vieler Mißverständnisse. Das Publikum bevorzugt Dichter, die aufs Ganze gehn.
Die Leser sind gewöhnt zu verlangen, daß man ihnen vom Leben erzähle und nicht vom Widerschein des Lebens in den Köpfen der Literatur und der Menschen. Das ist aber mit Sicherheit nur soweit berechtigt, als dieser Widerschein bloß ein verarmter, konventionell gewordener Abzug des Lebens ist. Ich suche ihnen Original zu bieten, sie müssen also auch ihr Vorurteil suspendieren.
Sich der Unwirklichkeit bemächtigen ist ein Programm, also Hinweis auf Band II, als Abschluß ist es aber fast ein Unsinn.
Band I schließt ungefähr mit dem Höhepunkt einer Wölbung; sie hat auf der anderen Seite keine Stütze.
Was mich zur Veröffentlichung bewegt, ist das, was ich immer getan habe: es kommt auf die Struktur einer Dichtung heute mehr an als auf ihren Gang. Man muß die Seite wieder verstehen lernen, dann wird man Bücher haben.
[Eine verschobene Vorrede]
[Entwurf]
Eine Zeitschilderung? Ja und nein. Eine Darstellung konstituierender Verhältnisse. Nicht aktuell; sondern eine Schicht tiefer (weiter unten). Nicht Haut, sondern Gelenke. Die Probleme haben nicht die Form, in der 875
sie erscheinen? Nein. Die Probleme sehen unmodern aus. Die Probleme der Gegenwart sind unmodern!
Ich habe in den Kapiteln von Oberfläche und Genauigkeit anzudeuten versucht, wie sich das verhält.
Das Grundlegende ist die geistige Konstitution einer Zeit. Hier der Gegensatz zwischen empirischem Denken und Gefühlsdenken.
Ein Blick auf das Leben lehrt uns, daß es anders ist. Ich bin aus Begabung und Neigung kein «Naturalist».
Es ist hier viel von einem Gefühl die Rede, das im heutigen Leben scheinbar nichts zu suchen hat. Wenn die Besucher einer Rennbahn im Nu von einer Unzufriedenheit mit der Rennleitung zum Plündern der Kassen übergehen und hundert Gendarmen kaum ausreichen, die Ordnung wiederherzustellen, was soll dann…
Was soll es ferner in einer Zeit, wo neue Staatsformen mit Gewalt… und ältere mit Gewalt…
Sie werden hier auch den Witz und Gedanken etwas unbeweglicher finden, als es sein könnte, schlecht informiert, mindestens um ein Vierteljahr zurück. Die Bedeutung liegt weniger in den Exempeln als in der Doktrin. (Exempla docent. )
Die Demokratie des Geistes ist zum Beispiel schon bei Emil Ludwig angelangt, während ich noch Arnheim-Rathenau schildere. Die Schule bei Unterrichtsminister [Adolf] Grimm [e] (das Zeitalter der großen Individualitäten ist vorbei), während ich noch bei Kerschensteiner [1854-1931, Reformator des Volksschul-und Fortbildungsschulwesens] bin. Der Literaturbetrieb bei der Suche nach [Ferdinand]
Bruckner. Der Sport bei dem strahlenden Bericht Schäfers [ehemaliger österreichischer Weltmeister im Eiskunstlauf], daß er in der Prominentenliste der Bordzeitung weit vor der Jeritza gestanden habe. - Alles das ist mir nicht ganz entgangen. Aber ich bin langsam. Und ich bin mit Absicht bei meinen alten Beispielen geblieben — dann käme, daß ich aber auch nicht historisch treu sein will -, weil ich glaube, daß die Untersuchung dieser Beispiele das gleiche Ergebnis haben muß. (Ich bringe mich dadurch um Effekt, gewinne aber an Anatomie oder so ähnlich. >
Trotzdem sind auch diese Beispiele nicht vollständig in ihrem Ertrag. Es treten schließlich Hauptlinien oder nur Lieblingslinien hervor, ein ideelles Gerüst, an dem die Gobelins hängen, wenn ich diese Erzählungen wegen ihrer flachen Darstellungsart so nennen darf.
Denke an die Rede von Grimm[e]. Die Welt ist in dieser Weise bewegt und außerdem ist der Kampf der Machtinteressen immer reiner. Deine Kritik, dein Problem wendet sich aber fast nur an die Demokratie.
Wie verteidigst du das? Du vertrittst möglichst rein die Interessen des Geistes und kannst nichts dafür, daß die Demokratie sie zum Teil auch im Programm hat und Phrasen daraus macht. Was du sagst, sind Prolegomena zu jeder Partei, außer natürlich einer nach durchgreifender Veränderung des jahrtausendelang unveränderten Geistes. Du bewegst dich unaufhörlich unter und hinter den Parteien oder wie man früher gesagt hat, über ihnen. Du bemühst dich ja gerade, das Unabhängige zu finden.
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Selbstanzeige
[Entwurf]
Der Aufforderung, eine Selbstanzeige zu schreiben, stellen sich bei einem Buch mit… Seiten,… Kapiteln,…
Personen, und 33 X soundsoviel Zeilen, von denen keine mit Absicht leer ist, solche Hindernisse entgegen, daß ich es vorziehe, zu sagen, was dieses Buch nicht ist.
Es ist nicht der seit Menschengedenken erwartete große österreichische Roman, obwohl…
Es ist keine Zeitschilderung, in der sich Herr… erkennt, wie er leibt und lebt…
Es ist ebenso wenig eine Gesellschaftsschilderung.
Es enthält nicht die Probleme, an denen wir leiden, sondern…
Es ist kein Werk eines Dichters, sofern… Aufgabe hat (zu wiederholen, was… ), sondern sofern…
konstruktive Variation. (Man könnte noch hinzufügen: da dieser im Geist der Gesamtheit liegt, ist dieses Buch idealistisch, analytisch, eventuell synthetisch. >
Es ist keine Satire, sondern eine positive Konstruktion.
Es ist kein Bekenntnis, sondern eine Satire.
Es ist nicht das Buch eines Psychologen.
Es ist nicht das Buch eines Denkers (da es die gedanklichen Elemente in eine Ordnung bringt, die) Es ist nicht das Buch eines Sängers, der…
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Es ist nicht das Buch eines Autors, der Erfolg hat, der keinen Erfolg hat.
Es ist kein leichtes und kein schweres Buch, denn das kommt ganz auf den Leser an.
Ich glaube, ohne weiter so fortfahren zu müssen, danach sagen zu können, daß jeder der nun wissen will, was dieses Buch ist, am besten tut, es selbst zu lesen (sich nicht auf mein oder anderer Leute Urteil zu verlassen und es selbst zu lesen).
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[Zum Nachwort (und Zwischenvorwort)]
[Notizen]
Dieses Buch ist unter der Arbeit und unter der Hand ein historischer Roman geworden, er spielt vor fünfundzwanzig Jahren! Es ist immer ein aus der Vergangenheit entwickelter Gegenwartsroman gewesen, jetzt aber ist die Spanne und Spannung sehr groß, aber das unter der Oberfläche Gelegene, was hauptsächlich eins seiner Darstellungsobjekte gewesen ist, braucht noch immer nicht wesentlich tiefer gelegt zu werden.
Was im Ganzen kurz ist, weil da die ihm angemessene Länge in Erscheinung tritt, wird, einzeln dargeboten, lang ja vielleicht endlos erscheinen können. Und das Tempo stellt sich erst in der Folge heraus.
Was den einen langweilt, ist des anderen Kurzweil; die Breite eines Buchs ist eine Relation zwischen seiner wirklichen Ausführlichkeit und den Zeitinteressen.
Man darf darüber, daß ein bestimmter Abschnitt, ein Abenteuer mit großer Breite erzählt werden muß, nicht vergessen, daß Ulrich seiner Natur nach tatkräftig und ein Mann mit Kampfinstinkten war.
Sollte man mir vorwerfen, daß ich mich zu sehr auf Überlegungen einlasse (Tagebücher), so - ohne daß ich auf das Verhältnis Denken/Erzählen eingehen möchte -: heute wird zu wenig überlegt. —
Es sind zu viele auf der Welt, die genau sagen, was getan und gedacht werden müsse, als daß mich nicht das Gegenteil verführen sollte…
Es scheint, daß manches überflüssig, nur um seiner selbst willen da ist, im ersten Band. Meine Meinung ist, daß erzählte Episoden überflüssig sein dürfen und nur um ihrer selbst willen vorhanden, Gedanken aber nicht. Ich stelle bei einer Komposition die Schlichtheit über den sogenannten Gedankenreichtum, und im Falle dieses Buches sollte nichts überflüssig sein. Die Ausführungen über die Zusammenfügung von Gedanken und Gefühlen, die dieser Teilband enthält, gestatten mir, das so zu begründen: die Hauptwirkung eines Romans soll auf das Gefühl gehn. Gedanken dürfen nicht um ihrer selbst willen darin stehen. Sie können darin, was eine besondere Schwierigkeit ist, auch nicht so ausgeführt werden, wie es ein Denker täte; sie sind «Teile» einer Gestalt. Und wenn dieses Buch gelingt, wird es Gestalt sein, und die Einwände, daß es einer Abhandlung ähnele und dergleichen, werden dann unverständig sein. Der Gedankenreichtum ist ein Teil des Reichtums des Gefühls.
Zu den Kapiteln über Gefühlspsychologie: das ist nicht Psychologie (in der Endabsicht), sondern Weltbeschreibung.
«Ein Affekt kann eine heftige äußere Aktion veranlassen, und auch innerlich kann sich die betreffende Person sehr aufgeregt vorkommen und doch kann es sich um einen sehr oberflächlichen und energiearmen Affekt handeln» (Kurt Lewin, Untersuchungen zur Handlungs-und Affekt-Psychologie I). - Ein Satz wie dieser, ist erst durch das Literarischwerden der Psychologie möglich geworden. Haben wir Dichter aber eine Vortätigkeit zu erfüllen? In der äußeren Natur wären dann unser Messias etwa die Geographen und Botaniker geworden! Das Problem entsteht natürlich erst mit dem Roman. Im Epos, auch im wirklich epischen Roman, ergibt sich der Charakter aus der Handlung. (Das heißt die Charaktere waren viel unverrückbarer in die Handlungen eingebettet, weil auch diese viel eindeutiger waren. > Wie komme ich also dazu, sogar einen Exkurs über Psychologie einzuschieben?! In zehn Jahren kann das eingeholt, und damit überholt, sein. Aber die Schwere des Schrittes, die Verantwortung der Wendung zu Gott zwingen größte Gewissenhaftigkeit auf. Auch der Charakter des Abenteuers im induktiven Weltbild. Auch der der
«letzten» Liebesgeschichte. Und der des Zögerns.
Eines meiner Prinzipien: es kommt nicht darauf an, was, sondern wie man darstellt. Das wird mit den Psychologiekapiteln bis zum Abusus getrieben.
Übrigens kann man in der Kunst von allem auch das Gegenteil tun.
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Entschuldigung der Theorie: wir müssen heute erklären, was wir beschreiben. Wo? (Für einen Fachmann wieder zu wenig scharf!) H. F. Amiel, zitiert von Csokor: «Es gibt keine Ruhe für den Geist als im Absoluten, keine Ruhe für das . Gefühl als im Unendlichen, keine Ruhe für die Seele als im Göttlichen!»
Daß dieses Buch solchen Antworten genau so entgegengesetzt ist wie dem Materialismus.
Aus einem Buch, das Welterfolg hatte (S. Salminen, Ka-trina, aus dem Schwedischen bei Inselverlag):
[folgt Zitat]. Wenn ich mich so ein bißchen daran gewöhnte, könnte ich wohl auch solche Stellen schreiben.
Das ist das Entstehen einer Doppelwelt, einer Doppelperson - erzählt. Aber ich will eben nicht. Jeder Begabte kann diese Tradition fortsetzen. Und so habe ich denn lieber das Ungenießbare versucht. Einer muß einmal Knoten in diesen endlosen Faden machen.
Es handelt sich hier vorläufig noch um die Analyse friedlicher Zeiten (so zum Beispiel Leben/Wissen), die pathologischer hat davon aber ihre Grundlage (in der Folge, gegen Mobilisierung zu, wird sich davon auch noch einiges zeigen. >
Es ist sehr anmaßend: ich bitte mich zweimal zu lesen, im Teil und im Ganzen.
Vermächtnis
[Notizen]
Die unnötige Breite. Eine Funktion des Verständnisses.
Ironie ist: einen Klerikalen so darstellen, daß neben ihm auch ein Bolschewik getroffen ist. Einen Trottel so darstellen, daß der Autor plötzlich fühlt: das bin ich ja zum Teil selbst. Diese Art Ironie - die konstruktive Ironie - ist im heutigen Deutschland ziemlich unbekannt. Es ist der Zusammenhang-der Dinge, aus dem sie nackt hervorgeht. Man hält Ironie für Spott und Bespötteln.
Mystik: Man kann nur jedem Leser raten: leg dich an einem schönen oder auch an einem windigen Tag in den Wald, dann weißt du alles selbst. Es darf nicht angenommen werden, daß ich nie im Wald gelegen bin.
Am schwersten trifft: das heutige Elend. Aber ich muß mein Werk tun, das ohne Aktualität ist, ich muß es zumindest fortführen, nachdem es vorher begonnen wurde.
Warum das Problem nicht abseitig ist.
Die praktische (politischsoziale) Brauchbarkeit eines solchen Buchs (Avantgarde.)
Auch Wilhelm Meister ist wohlhabend gewesen.
Die Leute verlangen, daß Ulrich etwas tut. Ich habe es aber mit dem Sinn der Tat zu tun. Heutige Verwechslung. Natürlich muß zum Beispiel Bolschewismus geschehn; aber a) nicht durch Bücher b) haben Bücher noch andere Aufgaben…
(Es muß an wohlhabenden Menschen etwas sein, das sie Thomas Mann bewundern läßt. An meinen Lesern, daß sie einflußlos sind. )
Das Religiöse heute «verdrängt» (das muß irgendein historischer Prozeß sein). Dieses Buch ist religiös unter den Voraussetzungen der Ungläubigen.
Immer: ein geistiges Abenteuer, eine geistige Expedition und Forschungsfahrt. Partiallösungen nur ein Ausdruck dafür. Hier in der Tat in einem anderen Lebenszustand. Aber ich schreibe es nicht deshalb, sondern weil es eine Grunderscheinung unserer Moral berührt. Ein Dichter kann vielleicht nicht sagen: Grunderscheinung; aber es muß eine tiefere sein als die äußere. Dann ist es unabhängig von Entwicklungen.
Man erzählt um des Erzählens willen, um der Bedeutung der Geschichte willen, um der Bedeutung willen: drei Stufen,
Nachwort: Dieses Buch mußte aus Geldmangel vor dem Höhepunkt abgebrochen werden, und es ist ungewiß, ob es weitergeführt wird.
10 Ich kann nicht weiter
[Abgebrochen]
Ich schreibe von mir selbst, und seit ich Schriftsteller bin, geschieht es zum ersten Mal. Was ich zu sagen habe, steht in der Überschrift. Es ist kältester Ernst. Wer mich persönlich kennt, wird wohl wissen, daß mir diese Sprache schwer fällt.
Was heißt: ich kann nicht weiter? Das heißt: Ich — zwei Personen, Mann und Frau —, scheinbar «der guten Gesellschaft angehörend» — besitze in dem Augenblick wo ich mich entschließe, das zu schreiben,… M….
G. in bar, außerdem vielleicht die Möglichkeit, durch Verkauf aller meiner Besitztümer, wenn ich noch die 878
Zeit dazu hätte,… M. zu gewinnen, und außerdem nichts, denn auf den Ertrag meiner Bücher hat der Verlag seine Hand. Ich glaube, daß man außer unter Selbstmördern nicht viele Existenzen in einem Augenblick gleicher Unsicherheit antreffen wird, und ich werde mich dieser wenig verlockenden Gesellschaft kaum entziehen können. Ich mache hier den einzigen mir möglichen Versuch, mich dagegen zu wehren.
Wie ist es dahin gekommen? Sicher gibt es auch Menschen, die mich fragen werden, wie hast du es dahin kommen lassen?! Ich will es in wenigen Worten erzählen. Ich besaß vor der Inflation ein Vermögen, das es mir in bescheidener Weise gestattete, meiner Nation als Dichter zu dienen. Denn die Nation selbst gestattete mir das nicht in der Weise, daß sie meine Bücher gekauft hätte. Sie las sie nicht. Aber einige Tausende oder Zehntausende lasen allerdings meine Bücher, und unter ihnen befanden sich Kritiker und Laien, die mich in den Ruf brachten, den ich besitze. Dieser wunderliche Ruf! Er ist stark, aber nicht laut.
Ich bin oft gezwungen worden, über ihn nachzudenken: er ist das paradoxeste Beispiel von Dasein und Nichtdasein einer Erscheinung. Er ist nicht der große Ruf, den Schriftsteller genießen, in denen sich der Durchschnitt (wenn auch verfeinert) spiegelt, es ist nicht der Spezialistenruf der literarischen Konventikelgröße. Ich wage von meinem Ruf (nicht von mir) zu behaupten, daß er der eines großen Dichters ist, der kleine Auflagen hat. Es fehlt ihm das soziale Gewicht. Es fehlen ihm die vielen, die von der Möglichkeit eines Betriebs angezogen werden.
Ich habe im ersten Band des Mann ohne Eigenschaften den Satz geschrieben (und wegen seiner Unflätigkeit dann wieder gestrichen, aber heute… ): Man wird erst groß, wenn man die Anziehung auf die Menschen hat, ihren Namen mit seinem zu verbinden, wie es merkwürdigerweise Aussichtspunkte, Bänke und Abortwände haben.
Gewisse Mittlerschichten, die anscheinend unentbehrlich sind, haben sich immer von mir ferngehalten. Es fehlen mir die Zehntausende, die bei anderen gerade noch mitkönnen oder mitmüssen.
11 Vermächtnis [II]
[Aus einem Nachwort-Entwurf]
Daß ich inmitten einer Arbeit, die mit diesem Band ja nicht beendet ist, ein Nachwort schreibe und es Vermächtnis nenne, ist kein Zufall, sondern bedeutet die Erwartung, deren Namen ich ihm geben muß.
Denn sollte sich nicht etwas Unerwartetes ereignen, so werde ich nicht imstande sein, dieses Werk fertig zu machen. Es scheint, daß sich viele Leute einbilden, ich sei ein unabhängiger Mann, der sich schon lange das Vergnügen macht, von Zeit zu Zeit ein Buch zu schreiben, das den Kennern entweder gefällt oder sie ärgert, keinesfalls aber in weite Kreise dringen, dem Publikum, der Nation bekannt werden und das eine Wirkung tun darf. Das ist ein Irrtum. Ich bin in Wahrheit, schon seit ich den Mann ohne Eigenschaften zu schreiben begonnen habe, so arm, und durch meine Natur auch so aller Möglichkeiten des Gelderwerbs entblößt, daß ich nur von dem Ertrag meiner Bücher lebe, richtiger gesagt, von den Vorschüssen, die mir mein Verleger in der Hoffnung gewährt, daß sich dieser Ertrag vielleicht doch noch heben könne. Während ich den ersten Band schrieb, hat es sich auf diese Weise… mal ereignet, daß ich mich von heute auf morgen so ganz ohne Mittel befunden habe, daß ich auch nur die nächsten vierzehn Tage nicht überleben konnte und nur durch das Eingreifen Dritter gewöhnlich am dreizehnten Tag gerettet wurde. Wenn meine Bücher also spröde sind und nicht um Gunst werben, so ist das nicht der Hochmut eines, der es nicht nötig hat. Es liegt vielmehr etwas darin, das mir verhängt zu sein scheint, von Verhängnis also, und die Unbill des Lebens, von der ich heute sprechen muß, hängt dadurch aufs engste mit der Arbeit zusammen, die ich auf mich genommen habe.
Wenn man von sich selbst Rechenschaft gibt, so sind dreißig Jahre wie ein Jahr; die Zusammenhänge des Planens, der Zusammenhang zwischen Plänen und Ausführung bilden ein dichtes Garn in der von Vergeßlichkeit aufgelockerten Zeit. Das Buch, das ich jetzt schreibe, reicht mit seinen Anfängen beinahe, wenn nicht ganz in die Zeit zurück, wo ich mein erstes Buch schrieb. Es hätte mein zweites Buch werden sollen. Ich hatte aber damals das richtige Gefühl, ich könne es noch nicht fertigbringen. Ein Versuch, den ich 2 X machte, die Geschichte dreier Personen zu schreiben, in denen Walter, Clarisse und Ulrich deutlich vorgebildet sind, endete nach einigen hundert Seiten in nichts. Ich war angeregt zu schreiben, wußte aber nicht, wozu ich es tun sollte. Und das geschah mir, nachdem ich bereits Die Verwirrungen des Zöglings Törleß veröffentlicht hatte, also ein Buch, das mich jetzt noch vor zwei Jahren, als ich die Druckbogen einer 879
Neuausgabe durchsehen mußte, durch die Sicherheit, mit der es erzählt ist, mit Genugtuung erfüllt hat, obwohl ich kaum an mich halten konnte, die vielen unreifen Stellen darin nicht zu verbessern. Damals - ich spreche jetzt wieder von der Zeit, wo ich mich mit dem vermeintlichen zweiten Buch zu tragen begann —
hätte auch die Geschichte Tonka hineinkommen sollen, mit der ich inzwischen in dem Novellenband Drei Frauen etwas kurz verfahren bin. Ehe ich mein zweites Buch schrieb (Vereinigungen), hatte ich auch schon mein drittes, das Theaterbuch Die Schwärmer begonnen, und ehe ich dieses veröffentlichte, waren die Drei Frauen dem Material nach nahezu abgeschlossen. Ich bilde mir nicht ein, daß ein solches Übergreifen, eine solche frühe Wahl der Stoffe ungewöhnlich ist. Im Gegenteil, sie dürfte sogar die Regel bilden. ––-
Machen wir hier eine Zwischenbilanz; was hat sich bisher ergeben? Dieser R. M., von dem ich jetzt spreche, als wäre ich nicht er selbst, — ich empfand starke Widerstände dagegen, von mir zu erzählen, obgleich ich mich entschließen mußte, es zu tun; aber so fängt es an, mich zu interessieren, da es mir selbst neu ist —, dieser Schriftsteller ist von großer Gleichgültigkeit gegen seine Stoffe. Es gibt Schriftsteller, die von einem Stoff gepackt werden. Sie fühlen: mit diesem oder keinem; es ist wie die Liebe auf den ersten Blick. Das Verhältnis des R. M. zu seinen Stoffen ist ein zögerndes. Er hat mehrere gleichzeitig und behält sie bei sich, nachdem die Stunden der ersten Liebe vorbei sind oder auch ohne daß sie dagewesen sind. Er tauscht Teile von ihnen willkürlich aus. Manche Teilthemen wandern und kommen in keinem Buch zum Ausdruck. Er hält offenbar das Äußere mehr oder weniger für gleichgültig. Und was bedeutet das? Hier kommt man schon auf das Problem, in welchem Verhältnis Inneres und Äußeres der Dichtung zueinander stehen. Es ist eine Binsenwahrheit, daß sie eine untrennbare Einheit bilden, aber wie sie das tun, ist weniger bekannt, ja es ist teilweise ganz unbekannt. Wir werden hier also sehr vorsichtig sein und vor allem wahrscheinlich mehrere verschiedene Arten dieser Synthese unterscheiden müssen. Auf den ersten Blick sieht es, nach dem, was ich erzählt habe, aus, als ob diese Synthese bei mir besonders schwach wäre; und die Wahrheit ist das Gegenteil davon, soweit ich es beurteilen kann. Bediene ich mich des Biographischen, um in dieser grenzenlosen Frage einen Leitfaden zu haben, so muß ich sagen, daß es zu Anfang, als ich den Törleß schrieb, das Problem für mich überhaupt nicht gegeben hat, daß es sich aber danach ganz plötzlich und mit stärkster Ausdrücklichkeit meiner bemächtigte. Ich erinnere mich noch an das Prinzip, von dem ich mich bei der Niederschrift des Törleß leiten ließ. Ein Prinzip der geraden Linie als der kürzesten Verbindung zwischen zwei Punkten. Keine Bilder gebrauchen, die nicht etwas zum Begriff beitragen, Gedanken -
obwohl es mir sehr auf sie ankam - fortlassen, wenn sie sich nicht mühelos in den Gang der Handlung einfügen. Obwohl ich also auf die Handlung keinen Wert legte, gab ich ihr instinktiv große Rechte. Ich unterwarf mich einer improvisierten — und wie der Erfolg zeigte, richtigen Vorstellung von dem, was Erzählen sei, und begnügte mich, zu meiner Genugtuung gewisse Ideen «einfließen» zu lassen. Ich hatte noch wenig gelesen und kannte kein Vorbild. Hauptmann, der schon sehr berühmt war, hatte für meinen Geschmack eine zu geringe geistige Kapazität, was an Hauptmann bedeutend war, verstand ich damals ebensowenig, wie man es etwa heute versteht, und was an ihm gerühmt wurde, seine geistige Tiefe, war ein lächerlicher Irrtum. Hamsun, der in seinen Frühwerken große geistige Erörterungen bot, legte sie ein, wie man in der alten Oper die Arien in die Handlung einlegte, und nicht viel anders verfuhr d’Annunzio.
Stendhal verstand ich nicht und Flaubert kannte ich nicht. Aber ich kannte Dostojewski, und da ich ihn heiß liebte (ohne übrigens das Bedürfnis zu haben, ihn ganz kennen zu lernen: sonderbar sind junge Leute oder vielleicht Leute überhaupt!), kann ich heute an meinem Verhältnis zu ihm am deutlichsten meinen damaligen Standort und Zustand ermessen: Er kam mir geistig zu ungenau vor: Ich hatte den Eindruck, seine Problembehandlung sei nicht eindeutig genug! Es kam mir zu wenig heraus! Während ich mir selbst also in richtiger Einschätzung meiner geringen Kraft mein Ziel sehr eng steckte, schweiften irgendwie meine Absichten weit darüber
hinaus. ––-
Ich hoffe, man mißversteht diese Art der Überlegung nicht. Ein ehrgeiziger junger Mann rechnet immer mit mehr oder minder großer Naivität mit seinen «Vorgängern» ab (seither habe ich auch schon genug junge Leute getroffen, die es mit mir taten), und es ist ein Zeichen, in welche Richtung ihn seine Unbefangenheit dabei führt. ––—
12 Vermächtnis [III]
880
[Abgebrochen]
Es war nicht meine Absicht, diesen Band herauszugeben, ich wünschte vielmehr, dem vor zwei Jahren erschienenen ersten Buch des Mann ohne Eigenschaften das ganze zweite Buch folgen zu lassen. Was mich zwingt, davon abzusehen, läßt sich beschönigend als wirtschaftliche Verhältnisse bezeichnen. ––-Für die Zeit vom Frühjahr bis zum Spätherbst des kommenden Jahres, die noch nötig wäre, das Ganze in seiner ursprünglich geplanten Gestalt zu vollenden, fehlen ungefähr 5000 Mark und ihretwegen wird mein Buch Fragment bleiben müssen. Denn daß wir jetzt einen Teil von ihm herausgeben, dient wohl dem Versuch, das Unvorhersehbare anzurufen, aber wir knüpfen wenig Hoffnung daran, denn in Fällen wie dem unseren hat das Unvorhersehbare eine fatale Neigung, sich nach der einsehbaren Absatzstatistik zu richten.
Ich selbst bin nicht in der Lage, irgendetwas daran zu ändern, ja das Scheitern des Werks bedeutet für mich persönlich genau das gleiche wie das Scheitern eines Schiffs auf offenem Wasser. Ich habe alles, was es mir gestattete, mich der deutschen Nation als Dichter aufzudrängen, in der Inflation verloren, mein Leben hängt an einem Faden, der jeden Tag abreißen kann––-, und ich habe in den letzten Jahren während der Arbeit am Mann ohne Eigenschaften mehr als einen Augenblick erlebt, wie man ihn seinem Todfeind nicht wünschen soll. Vielleicht bewirkt diese offene Darlegung irgend etwas. Noch immer ist Deutschland ein Land, wo nicht gar wenig Geld zur Förderung geistiger Werke aufgewandt wird. Da es zugleich ein Land der chaotischen geistigen Unterscheidungslosigkeit ist, habe ich freilich wenig Hoffnung.
13 Ulrichs Nachwort. Schlußwort
[Entwurf]
Einfall entstanden Mitte Jänner 42 [drei Monate vor dem Tode Robert Musils]. Gedacht an weltpolitische Situation. Das große gelb-weiße Problem. Der kommende neue Abschnitt der Kulturgeschichte. Die eventuelle Rolle Chinas. In kleinerem Rahmen die russisch-westliche Auseinandersetzung. [Ervin]
Hexners [amerikanischer Staatswissenschaftler, Freund Musils] Frage: wie denken Sie es sich in der Wirklichkeit? wird unaufschiebbar. - Auch der Mann ohne Eigenschaften kann daran nicht vorbeisehn. Das wäre aber ein historischer, philosophischer und so weiter Essayband, oder der letzte der Aphorismenbände.
Ich habe schon vorher notiert: die Arbeit am Rapial [Aphorismensammlung Musils] ist gleichbedeutend mit der Liquidierung von Band I [des Mann ohne Eigenschaften].
Außerdem beeinflußt von dem neuen Interesse, das mir Dostojewski einflößt. Den Eindruck flüchtig als Notiz für meinen Stil notiert. Ich möchte einen Aufsatz über seinen Journalismus schreiben. Über seine Auslegung durch Shna-dow[?], über den Panslawismus, die Puschkinrede und so weiter. Vor dem augenblicklichen Hintergrund ergibt es Gedanken über Rußland, die auszudenken ich noch nicht einmal versucht habe.
In den Band II/2 ist das nicht aufzunehmen, obwohl es ihn sehr berührt.
Auf diese Art dazu gekommen, irgendwie abzuschließen und (statt oder nach Eine Art Ende) ein Nachwort, Schlußwort, Ulrichs zu schreiben.
Der gealterte Ulrich von heute, der den zweiten Krieg miterlebt, und auf Grund dieser Erfahrungen seine Geschichte, und mein Buch, epilogisiert. Das ermöglicht, die Pläne ca. der Aphorismen mit dem aktuellen Buch zu vereinigen. Es ermöglicht auch, die Geschichte und ihren Wert für die gegenwärtige Wirklichkeit und Zukunft zu betrachten.
Ins Lot zu rücken: die romantische oder gar Pirandellosche Ironie des: die Figur über den Autor.
Die Geschichte der Personen, geschichtlich betrachtet.
Wichtig: die Auseinandersetzung mit Laotse, die Ulrich, aber auch meine Aufgabe, verständlich macht, von Ulrich nachträglich durchgeführt. (Abd’dul Hasan Summun und der Sufismus. ) Als eine Geschichte über ihn erzählt, wäre die Geschichte von Agathe und Ulrich eindrucksvoller geworden.