ungeduldige
Geschlechtserregung allmählich zu einer vibrierenden Stimmung abklang, in die sich allerhand Sinnestäuschungen einmengten. Der Mißbrauch starker Mittel hatte ihren Leib unterhöhlt, sie fühlte, wie er unter ihr zusammenzubrechen begann. Beständiger Durchfall; an einem Zahn entstand eine Lücke und beunruhigte sie Tag und Nacht; auf ihrer Hand begann sich eine häßliche kleine Warze zu bilden. (Hier auch die restlichen Bemerkungen über die Wirkung von Kaffee, Tee und so weiter.) Aber gerade dies trieb sie dazu, ihren Geist immer leidenschaftlicher anzuspannen, wie im Rennen vor dem Ziel, wenn man jedes Bein mit dem Willen heben muß. Sie hatte sich Pinsel und Farbtöpfe verschafft, aus Stuhllehne, Bettkante und einem Bügelbrett, das sie vor ihrer Zimmertür gefunden hatte, baute sie ein Gerüst, das sie längs der Wände verschob, und begann die Wände ihres Zimmers mit großen Entwürfen zu bemalen. Es war die Geschichte ihres Lebens, die sie an die kahle Wand kreuzigte, und so groß war dieser Vorgang der inneren Reinigung, daß Clarisse überzeugt war, in hundert Jahren würde die Menschheit zu den Zeichnungen und Aufschriften wallfahren, um die ungeheuren Kunstwerke zu sehn, mit denen die größte Seele ihre Zelle bedeckt hatte.
Vielleicht waren es wirklich große Werke für jemand, der imstande sein müßte, den Beziehungsreichtum, der sich in ihnen zusammengeknäuelt hatte, auseinanderzufalten. (Außerhalb des Romans bemerkt: im Inhalt liegt nie die Größe? In einer Art der Ordnung?) Clarisse schuf sie in einem ungeheuren Spannungsgefühl. Sie empfand sich groß und schwebend. Sie war über den artikulierten Ausdruck des Lebens hinaus, welcher Worte und Formen schafft, die ein für alle angerichtetes Kompromiß sind, wieder bei der zauberhaften ersten Begegnung mit sich selbst angelangt, dem Irrsinn des ersten Staunens über das Göttergeschenk Wort und Bild. Was sie schuf, war verzerrt, war wirr gehäuft und doch arm, war zügellos und doch nur einem steifen Zwang gehorchend; äußerlich. Innerlich war es: zum erstenmal der Ausdruck ihres ganzen Wesens; ohne Absicht, ohne Überlegung, fast ohne Wille, unmittelbar etwas Zweites, Bleibendes, Größeres werdend, die Transsub-stantiation des Menschen zu einem Stück Ewigkeit; endlich die Erfüllung von Clarissens Sehnsucht. Sie sang während sie malte; «von lichten Göttern stamme ich ab!»
sang sie. (Vergleiche: Spuren hinterlassen… )
Als man in ihr Zimmer eindrang, starrten verständnislose Augen wie die Lichter feindseliger Tiere diese Wände an. Clarisse hatte ein Schiffsbillett gelöst, eine Bettdecke und ein zu einem Turban zusammengedrehtes Tuch als ihre kaiserliche Ausstattung zurechtgelegt, um sie mit an Bord zu nehmen.
Dann war ihr eingefallen, daß ein Mensch, der sich auf heiligen Wegen befindet, kein Geld bei sich haben dürfe, ohne einer lächerlichen Inkongruenz zu verfallen, und sie hatte ihren Schmuck und ihr Geld an lachende Gondelführer verteilt. Als sie am Markusplatz vor dem zu ihrer Abreise versammelten Volk eine Rede halten wollte, hatte ihr ein Herr zugesprochen und sie sanft nach Hause gebracht. Da dieser Mann aber die Unvorsichtigkeit beging, sie dem Schutz ihrer Gastgeber zu empfehlen, drangen nun alle bei ihr ein, die Padrona zeterte über angerichteten Schaden, gab Befehl auf Clarissens Eigentum Beschlag zu legen, schimpfte in gemeinen Worten, als kein Eigentum zu finden war, und das Personal kicherte. Eine 853
fürchterliche Grausamkeit starrte Clarisse von allen Seiten an, jener Urhaß der toten Materie, deren ein Teil den anderen vom Platz verdrängt, wenn nicht Verständnis und Anziehung sie aneinander zu einem schlie
ßen. Clarisse nahm schweigend Turban und Mantel, um dieses Land zu verlassen und an Bord zu gehn. An den Stufen des Kanals kam ihr aber das immer freundliche braunschwarze Stubenmädchen nach und bat sie zu warten, da ein Herr sich die Ehre geben wollte, ihr vor der Abreise noch etwas zu zeigen. Clarisse blieb schweigend stehn; sie war müde und hatte eigentlich nicht mehr die Kraft zu reisen. Als die Gondel mit dem Herrn und zwei fremden Männern kam, sah sie dem Mädchen ernst in die freundlichen Augen, die jetzt beinahe in einem nassen Schimmer schwebten, und dachte das schwere Wort Ischariot. (Sie hatte keine Zeit, diesem erschütternden Erlebnis nachzusinnen. > In der Gondel hielt sie ruhig und ernst den fremden Herrn im Auge und hatte den klaren Eindruck, daß er sich vor ihr scheue. Es befriedigte sie. Sie kamen zum Denkmal des Colleone und nun sprach der fremde Herr sie zum erstenmal an. «Wollen wir nicht hier hereingehn?» sagte er, auf ein Gebäude neben der dort stehenden Kirche weisend - «hier ist etwas besonders Schönes zu sehn. » Clarisse ahnte die Falle, welche ihr der Beamte der öffentlichen Sicherheit stellte. Aber dieser Verdacht hatte keinen Wert für sie, sozusagen keine kausale Valenz. «Ich bin müde und krank» sagte sie sich. «Er will mich ins Spital locken. Es ist unvernünftig von mir, daß ich folge. Aber mein Wahnsinn ist bloß, daß ich aus ihrer allgemeinen Ordnung herausfalle und meine Kausalität nicht die ihre ist: nur Störung in einer nebensächlichen von ihnen überschätzten Funktion. Ihr Verhalten ist krassester Unethizismus. (In ihren kausalen Beziehungen ist, was ich tue und wie ich es tue, krank; weil sie das andere nicht sehn. )»
Als sie in das Haus eintrat, verteilte sie den Rest ihres Schmuckes und ihr Tuch an die Wärterinnen, die ihn entgegennahmen, sie ergriffen und an ein Bett schnallten. Nun begann Clarisse zu weinen, und die Wärterinnen sagten «Poverett[a]!>>
123 Nach der Internierung Clarisse als geknickter Prometheus
[Früher Entwurf und Studie]
Diesmal war es Wo. [tan = Siegmund], welcher sie abholte und zurückbrachte; er gab sie in der Klinik des Dr. Fried. [enthal?] ab. Bei der Einlieferung sah sie der diensthabende Arzt bloß an und ließ sie auf die Unruhige Abteilung schaffen. Gleich der erste Schrei eines Irren drängte ihr die Idee der Seelenwanderung auf; die Ideen der Wiedergeburt, des erreichbaren Nirwana lagen in der Nähe davon.
«Mutter! — Mutter!» — so war der Ruf eines mit schrecklichen Wunden bedeckten Mädchens. Clarisse sehnte sich nach ihrer Mutter wegen der vielen Sünden, mit denen sie sie in die Welt entlassen hatte. Die Eltern saßen nun um den Tisch beim Frühstück, Blumen standen im Zimmer; mit ihrer aller Sünden war Clarisse bedeckt, sie fühlten sich wohl: ihre Seelenwanderung begann.
Clarissens erster Gang führte in das Bad, da sie vom Transport aufgeregt war. Es war ein rechteckiger Raum (mit Fliesenboden und einem großen Wasserbecken), ohne Borde mit Wasser gefüllt, von der Türe führten Stufen hinein. Zwei verzehrte Körper hefteten sehnsüchtige Blicke auf sie und schrien nach Erlösung. Es waren ihre besten Freunde Walter und Ulrich in Sündengestalt.
In der Nacht lag der Papst neben ihr. In Frauengestalt. «Kirche ist schwarze Nacht, » sagte Clarisse zu sich
«nun sehnt sie sich nach dem Weibe. » Es dämmerte schwach, die Kranken schliefen, da tastete der Papst an Clarissens Decke und wollte zu ihr ins Bett schlüpfen. Er verlangte nach seinem Weibe, Clarisse war es zufrieden. «Die schwarze Nacht sehnt sich nach Erlösung» flüsterte sie, während sie den Berührungen des Papstes nachgab. Die Sünde des Christentums war getilgt. König Ludwig von Bayern lag ihr gegenüber und so weiter. Es war eine Kreuzigungsnacht. Clarisse sah ihrer Auflösung entgegen; sie fühlte sich frei von jeder Schuld, ihre Seele schwebte licht und hell, indes die Visionen wie Gedichte zu ihrem Bett krochen und davon wieder verschwanden, ohne daß sie die Gestalten greifen und festhalten konnte. Am nächsten Morgen gewährte ihr Nietzsches Seele in Gestalt des Primararztes den herrlichsten Anblick. Schön, gütig, voll tiefen Ernstes, sein buschiger Bart war ergraut, seine Augen blickten wie aus einer anderen Welt, nickte er ihr zu. Sie wußte, er war es, der sie in der Nacht die Sünde des Christentums zu tilgen geheißen hatte; heißer Ehrgeiz, wie der einer Schülerin, schoß in Clarisse auf.
In den nächsten vierzehn Tagen erlebte sie Faust, «II. Teil». Drei Personen stellten Altertum, Mittelalter und Neuzeit dar.
854
Clarisse trat sie mit den Füßen nieder. Das geschah in der Wasserzelle. Drei Tage lang. Schnatterndes Geschrei erfüllte den verschlossenen Raum. Durch den Dunst und tropischen Nebel des Bads krochen nackte Frauen wie Krokodile und Riesenkrebse. Schlüpfrige Gesichter schrien ihr in die Augen.
Scherenarme griffen nach ihr. Beine schlangen sich ihr um den Hals. Clarisse schrie und flatterte über die Leiber, die Nägel ihrer Zehen in das feuchtglatte Fleisch schlagend, wurde gestürzt, erstickte unter Bäuchen und Knien, biß in Brüste, kratzte hängende Wangen blutig, arbeitete sich wieder hoch, stürzte ins Wasser und heraus, stürzte endlich ihr Gesicht in den zottlig nassen Schoß einer großen Frau und brüllte «auf der Muschel der Tritonin» einen Gesang (den Führergesang), bis ihre Stimme in Heiserkeit erstickte.
Man darf nicht glauben, daß der Wahnsinn sinnlos ist; er hat bloß die trübe, verschwimmende, vervielfältigende Optik der Luft über diesem Bad, und zuweilen war es Clarisse ganz klar, daß sie zwischen den Gesetzen einer ändern, aber durchaus nicht gesetzlosen Welt lebte. Vielleicht war der Gedanke, welcher ausdrücklich alle diese Gemüter beherrschte, nichts anderes als das Streben, dem Ort der Entmündigung und des Zwanges zu entrinnen, ein unartikulierter Traum des gegen seinen vergifteten Kopf sich auflehnenden Körpers. Während Clarisse in dem schlüpfrigen Knäuel der Menschen mit den Füßen die weniger behenden niedertrat, war in ihren Gedanken wie die weite weiße Luft vor einem Fenster ein
«sündenloses Nirwana», die Sehnsucht nach einem schmerzenlosen und spannungslosen Ruhn und sie stieß wie ein schwirrendes Tier mit dem Kopf gegen die Wand, welche kranke Leiber um sie aufrichteten, planlos flatternd, von einem Augenblickseinfall zum ändern gehetzt, während wie ein goldener Reif hinter ihrem Kopf, den sie nicht sehn und nicht einmal sich vorstellen konnte, der aber trotzdem da war, die Überzeugung schwebte, daß ein schweres ethisches Problem ihr auferlegt sei, daß sie Messias und Übermensch in einer Person sei, in die Ruhe eingehen werde, nachdem sie die anderen erlöst habe, und sie nur erlösen könne, indem sie sie niederzwang. Drei Tage und drei Nächte lang gehorchte sie dem unwiderstehlichen Willen der Irrengemeinschaft, ließ sich zerren und blutig kratzen, schlug sich auf den Fliesen des Bodens symbolisch ans Kreuz, stieß abgerissene, heisere, unverständliche Worte aus und erwiderte ebensolche Worte mit Handlungen, als ob sie sie nicht nur verstünde, sondern ihr Leben für die Mitteilung einsetzen wolle. Sie fragten nicht, sie brauchten keinen Sinn, der Worte in Sätze füllt und Sätze in den Keller des Kopfes, sie erkannten sich untereinander und unterschieden sich von den Pflegern oder jedem Fremden wie Tiere und ihre Ideen gaben eine wirre gemeinsame Linie, wie beim Aufstand einer Menge, wo keiner den ändern versteht oder kennt, keiner mehr denkt als abgerissene Anfänge und Enden, aber gewaltige Spannungen und Schläge des bewußtlosen gemeinsamen Körpers alle untereinander verbinden. Nach drei Tagen und Nächten war Clarisse erschöpft, ihre Stimme flüsterte nur noch, ihre
«Überkraft» hatte gesiegt, und sie wurde ruhig.
Man brachte sie zu Bett, und sie lag einige Tage in tiefer Müdigkeit, die von Anfällen quälender, gestaltloser Unruhe unterbrochen wurde. Ein «Junger», eine rosigblonde Frau von einundzwanzig Jahren, die sie vom ersten Tag an als Befreier angesehen hat, brachte ihr endlich die erste Erlösung. Sie kam an ihr Bett, sie sagte irgendetwas, für Clarisse hieß es: ich übernehme die Mission. Clarisse erfuhr später, daß die rosige Blonde an ihrer Stelle Tag und Nacht in der Wasserzelle durch Gesang den Teufel ausgetrieben habe.
Clarisse aber blieb im großen Saal, pflegte die Kranken und «lauschte ihre Sünden ab». Es waren Sätze wie Puppen, aus denen der Verkehr zwischen ihr und ihren Beichtkindern bestand, unscheinbare, hölzerne Sätzchen, und nur Gott weiß, was sie ursprünglich damit meinten; aber wenn Kinder mit Puppen spielen und sie würden das Gleiche und etwas Bestimmtes meinen müssen, um sich verstehen zu können, würde niemals das Zauberkunststück gelingen, welches aus einem unförmigen Holz ein Wesen macht, das die Seele mehr erregt als es später die leidenschaftlichsten Geliebten vermögen. — Endlich sprach eines Tages ein gewöhnliches Weib, welches früher ihren Rücken mit Fäusten geschlagen hatte, Clarisse an und sprach also: «Versammle deine Jünger heute zur Nacht und feire dein Abschiedsmahl. Was für Speisen verlangt der hohe Herr? Sag es, damit sie für dich bereitet werden. Wir aber wollen abziehn und nicht mehr unter deinen Augen erscheinen!» Zugleich küßte eine andere, die an Paralyse litt, leidenschaftlich Clarissens Hände und ihr Auge war vom nahenden Tod verklärt wie ein Stern, der in der Nacht alle anderen überstrahlt.
Clarisse fühlte: Es ist wirklich kein Wunder, daß ich geglaubt habe, eine Sendung erfüllen zu müssen, aber trotz dieses schon klareren Gefühls zweifelte sie, was sie zu tun habe. Zu ihrem Glück wurde sie an diesem Tag in die Abteilung der ruhigen Kranken versetzt.
Ruhige Abteilung:
855
In der ruhigen Abteilung erwacht ihr Selbsterhaltungstrieb vollends.
Ihre Gedankenwelt:
Liquidierung der Krankheit.
Gedanken werden klarer und banaler. Aufklärender langweiliger Himmel.
Nur eine tiefe Traurigkeit bleibt.
Es unterscheidet sich eigentlich kaum noch von dem Ideenmischmasch eines durchschnittlichen Intellektuellen.
Eventuell: Ulrich zeigt das Diarium einem solchen. Er hat nur den Einwand: das ist ein Mensch einer älteren Generation, keiner der unsren.
Wahrscheinlich nur abgekürzt wiederzugeben:
Ihr Flug ist gebrochen. Wie bei einem Menschen, dem sein Lebenswerk mißlang. Aber sie erscheint sich als
«eine der mysteriösesten Figuren». Rückfälle (Schimpfen). Sehnsucht
nach Mutterschaft und Walter. ––-Gesteigerte Symbolik.
Anfangsstadium, sie formt noch Figuren, ihr Farben-und Formensinn ist überempfindlich, sie fühlt sich noch mit den Kranken solidarisch. Aber ihre Gedanken sind von einer langweiligen Symmetrie. Sie formt Zahlen aus dem Kot. Sie versucht auf jede Weise - wie eben ein Mensch tut, der weder Genie noch Kenntnisse hat - der Einengung zu entrinnen. Kritik an Ärzten.
Walter sagt sich los. Dämmernde Gesundheit.
Walter läßt ihr–—sagen, daß er sich von ihr trennen lassen wird. Von da an ist sie ihm ergeben. Walter liebt Lilli, eine von zwei Schwestern. «Sie ist eben weiblich», so faßt er es zusammen. –—Offizierstöchter, was ihm imponiert. An Heirat ist nicht zu denken–—Aber er will sich trennen lassen. - - als ihr ihre Situation aufdämmert, ist das erste der feste Entschluß, sobald wie möglich aus der Klinik herauszukommen. So sehr, daß sie nicht genug auf das Unterscheidende ihres Zustandes achtet, um ihn später zu vermeiden; wenigstens leidet sie später unter dieser Vorstellung.
Auf Rat der Ärzte beschäftigt sie sich viel mit sich selbst und schreibt. Es entgeht ihr nicht, daß und warum die Ärzte Wert darauf legen, sie mit Walter wieder zusammenzubringen. Er soll sie wieder in das vernünftige Leben zurückziehen. Aber da er sich scheiden lassen will, nimmt das die Form der Ideen an, wonach sie für ihre Mission geopfert werden muß.
Sonst ist das Zusammenleben wie früher. Über die Krankheit wird gesprochen wie vom Schnupfen. Oder Walter behauptet, daß die moderne Malerei gegenüber der der Renaissance inferior sei, und man belegt es mit Beispielen, die man erst jüngst gesehen hat. Über Klages wird gestritten. Walter schwärmt von Stifter, -
das aber wohl nicht ganz ohne einen Unterton junger Erinnerungen und ohne die zumindest unbewußte Ausspielung dieser einfachen Größe gegen alles Kranke und Komplizierte.
Clarisse tut ihm sehr leid. Er weiß noch nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten soll. Wahrscheinlich bringt ihr nächster Anfall die Lösung. Jetzt hat er noch nicht den Mut, trotzdem ihn Lilli drängt. Er gesteht alles Clarisse. Mit dem Kopf in ihrem Schoß. Sie weint vor Mitfreude. Aber sie schämt sich. Sie fühlt zum erstenmal vielleicht ihr Insuffizienz. Am Tag trifft er Lilli, abends geht er nachhause und verbringt den Abend mit Clarisse. Sie musizieren, alles ist ganz wie sonst, in ihrem Ton zueinander nicht die leiseste Änderung.
Clarisse erinnert sich nur ungefähr an ihre Zustände. Schließlich scheidet sie sich aus und geht sie in die Einsamkeit.
124 Gerdas Rückkehr
[Entwurf]
Gerda war zurückgekehrt. Nach Hans’ Tode hatte sie augenblicklich in der Welt nichts zu suchen. Aber wenn Fischel erwartet hatte, seine Tochter niedergedrückt wiederzufinden, so irrte er sich. Eine junge Dame trat bei ihm ein, die die Brosche der Krankenpflegerinnen vom Roten Kreuz trug und offenbar weitgehende Pläne hatte.
«Ich werde als Krankenpflegerin mitgehen, Papa» sagte Gerda.
«Nicht gleich, nicht gleich, mein Kind!» antwortete Generaldirektor Fischel ergeben. «Man muß abwarten, kein Mensch weiß, was aus dieser Sache wird. »
856
«Wie soll sie werden! Ich habe an den Sammelstellen schon die jungen Männer gesehn. Sie gingen. Ihre Frauen und Bräute begleiten sie. Niemand weiß, wie er zurückkommt. Aber wenn man durch die Stadt geht und den Menschen in die Augen sieht, auch denen, die noch nicht ins Feld gehen, es ist wie eine große Hochzeit. »
Fischel sah über sein Glas hinweg bekümmert seine Tochter an. «Ich wünsche dir eine andere Hochzeit, Gott soll uns behüten. Eine holländische Firma bietet mir ein Schiff mit Margarine an, greifbar Rotterdam Hafen, verstehst du, was das heißt? Fünf Kronen Unterschied auf die Tonne seit gestern! Wenn ich nicht depeschiere, sind es morgen vielleicht sieben Kronen. Das heißt die Preise ziehen an. Die jungen Männer, wenn sie mit beiden Augen aus dem Feldzug zurückkommen, werden beide Augen brauchen, um ihrem Geld nachzusehn!»
«Ach» - sagte Gerda «man spricht von Teuerung, aber das hat es immer anfangs gegeben. Auch Mama ist ganz toll. »
«So? -» fragte Fischel. «Hast du schon mit Mama gesprochen, was tut sie?»
«Sie ist augenblicklich in der Küche» Gerda wies mit dem Kopf gegen die Wand, hinter der es zur Küche ging «und legt wie toll Dauergemüse ein. Vorher hat sie Silbergeld eingewechselt, wie es jetzt alle tun. Und dem Küchenmädchen hat sie gekündigt; weil der Diener ohnedies einrücken muß, will sie das Personal ganz einschränken. »
Fischel nickte befriedigt. «Sie ist für den Krieg. Sie hofft, daß die Roheit aufhören wird und daß die Menschen geläutert werden. Aber sie ist auch eine kluge Frau, sie sorgt vor. » Fischel sagte dies ein wenig spöttisch und ein wenig zärtlich.
«Ach, Papa» fuhr Gerda auf. «Wenn ich so wollte wie du, hätte ich Herrn Glanz geheiratet. Du verstehst mich schon wieder nicht. Ich lasse mich nicht ausschließen, weil meine erste persönliche Erfahrung nicht gut gewesen ist! Du wirst durchsetzen, daß ich an ein Feldspital komme. Die Kranken sollen, wenn sie aus dem Feld kommen, wirkliche, moderne Menschen vorfinden, nicht Betschwestern: Du ahnst ja nicht, wieviel Liebe und Gefühle, wie wir sie noch nie erlebt haben, heute auf allen Straßen (zu sehen) sind! Wir haben gelebt wie die Tiere, die der Tod eines Tages absticht; das ist jetzt anders! Es ist ungeheuer, sage ich dir; alle sind Brüder, selbst der Tod ist kein Feind; man liebt seinen eigenen Tod um der anderen willen; man versteht heute zum erstenmal das Leben!»
Fischel hatte seine Tochter stolz und besorgt angestarrt. Gerda war noch magerer geworden. Scharfe, altjüngferliche Linien zerschnitten ihr Gesicht in einen Augenteil, einen Nasen-Mundteil, eine Kinn-und Halsfläche, die anzogen wie Pferde vor einer zu schweren Last, wenn Gerda etwas sagen wollte, bald der eine, bald der andere, nie alle gleichzeitig, was dem Gesicht etwas Überanstrengtes und Herzergreifendes gab. «Nun hat sie eine neue Verrücktheit» dachte Fischel «und wird wieder nicht in geordnete Verhältnisse kommen… !» Er überschlug ein Dutzend Männer, die man, nachdem Hans Sepp glücklich tot war, als gediegene Bewerber betrachten konnte; aber es ließ sich angesichts der verfluchten Unsicherheit, die hereingebrochen war, von keinem voraussagen, was morgen mit ihm sein würde. Gerdas blondes Haar schien struppiger geworden zu sein, sie hatte ihre Erscheinung vernachlässigt, aber dadurch war ihr Haar dem Fischeis ähnlicher geworden und hatte die weiche dunkelblonde anmaßende Glätte verloren, welche die Haare in der Familie ihrer Mutter auszeichnete. Erinnerungen an einen ungekämmten tapferen Stallpinscher und an sich selbst, der sich emporgekämpft hatte und augenblicklich wieder vor etwas stand, das noch kein Mensch überblickte, über das er aber wegklettern würde, vermengten sich in seinem Herzen mit der tapferen Dummheit seiner Tochter zu einer heißen Zusammengehörigkeit. Leo Fischel richtete sich in seinem Sessel auf und legte die Hand nachdrücklich auf die Schreibtischplatte. «Mein Kind!» sagte er.
«Ich habe ein sonderbares Gefühl, wenn ich dich so reden höre, während die Menschen hurrah schreien und die Preise anziehen. Du sagst, ich ahne nicht; aber ich ahne, nur kann ich selbst nicht sagen was. Glaub nicht, daß ich mich nicht auch ergriffen fühle. Setz dich, mein Kind!»
Gerda wollte nicht, sie war zu ungeduldig; aber Fischel wiederholte mit Stärke seinen Wunsch, so daß sie gehorchte und sich zögernd auf dem äußersten Rand eines Sessels niederließ. «Du bist heute den ersten Tag wieder zurück, hör mich an!» sagte Fischel. «Du sagst, ich verstehe nichts von Liebe und Totschießen und dergleichen; mag sein. Aber wenn dir auch, Gott behüte, im Spital nichts zustoßen wird, solltest du mich doch ein wenig verstehn, ehe wir uns wieder trennen. Ich bin sieben Jahre alt gewesen, wie wir den Krieg gegen Preußen hatten. Auch damals haben zwei Wochen lang alle Tage die Glocken geläutet und im 857
Tempel haben wir Gott um die Vernichtung der Preußen gebeten, mit denen wir heute verbündet sind. Was sagst du dazu? Was soll man überhaupt dazu sagen?»
Gerda wollte nicht antworten. Sie hatte das Vorurteil, daß die gegenwärtigen Tage den jungen begeisterten Menschen gehörten, nicht den vorsichtigen Alten. Und nur widerstrebend, weil ihr Vater sie so forschend ansah, murmelte sie irgendeine Erwiderung. «Man lernt sich eben im Lauf der Zeit besser verstehen!»
Darauf kam ihre Antwort wegen der Preußen hinaus.
Aber Leo Fischel griff ihr Wort lebhaft auf: «Nein! Man lernt sich nicht besser verstehen, im Lauf der Zeit; gerade das Gegenteil ist es, sage ich dir! Wenn du einen Menschen kennen lernst, und er gefällt dir, kann es sein, daß dir vorkommt, du verstehst ihn; wenn du aber fünfundzwanzig Jahre mit ihm zu tun gehabt hast, verstehst du kein Wort! Du denkst, sagen wir, er müßte dir dankbar sein; aber nein gerade in dem Augenblick flucht er auf dich. Immer wenn du denkst, er muß ja sagen, sagt er nein; und wenn du nein denkst, denkt er ja. Das macht, er kann warm sein und kalt sein, hart sein und weich sein, wie es ihm paßt; und glaubst du, es wird ihm dir zuliebe passen, so zu sein, wie du möchtest?! So wenig, wie es diesem Sessel paßt, ein Pferd zu sein, weil du schon ungeduldig bist und fort sein möchtest!»
Gerda lächelte ihren Vater schwach an. Seit sie zurückgekehrt war und die neuen Verhältnisse sah, machte er ihr einen starken Eindruck, sie konnte sich nicht helfen. Und er liebte sie, daran war nicht zu zweifeln, und es tat ihr wohl.
«Was machen wir aber mit den Dingen, denen es nicht paßt, sich von uns verstehen zu lassen?» fragte sie.
Fischel sagte prophetisch: «Wir messen sie, wir wägen sie, wir zerlegen sie in Gedanken, und allen unseren Scharfsinn richten wir darauf, etwas an ihnen zu finden, das sich gleich bleibt, woran wir sie packen können, worauf wir uns verlassen können und womit wir rechnen können! Das sind die Naturgesetze, mein Kind, und wo wir sie herausgefunden haben, dort können wir die Dinge in Serien herstellen und kaufen und verkaufen, wie es uns beliebt. Und nun frage ich dich, was können die Menschen untereinander tun, wenn sie sich nicht verstehen? Ich sage dir, es gibt nur eines! Wenn du sein Begehren reizt oder wenn du es einschüchterst, kannst du einen Menschen genau dorthin bringen, wohin du willst. Wer auf Stein bauen will, muß sich der Gewalt und der Begierden bedienen. Dann wird der Mensch plötzlich eindeutig, berechenbar, fest, und was du mit ihm erlebst, wiederholt sich überall in der gleichen Weise. Mit der Güte kannst du nicht rechnen. Mit den schlechten Eigenschaften kannst du rechnen. Gott ist wunderbar, mein Kind, er hat uns die schlechten Eigenschaften gegeben, damit wir zu einer Ordnung kommen. »
(Nachtrag: Und trotz allem Idealist! einfügen) «Aber dann wäre die Ordnung der Welt nichts als dressierte Niedrigkeit!» flammte Gerda auf.
«Du bist klug! Vielleicht ist es so? Aber wer kann das wissen?! Jedenfalls setze ich einem Menschen nicht das Bajonett auf die Brust, um ihn tun zu lassen, was er richtig findet. Verfolgst du die Zeitungen? Ich bekomme noch ausländische Blätter, obgleich das schon anfängt Schwierigkeiten zu machen. Bei uns und draußen reden sie die gleichen Sachen. In die Schraube nehmen. Die Schraube fest anziehen.
Schraubenpolitik kaltblütig fortsetzen. Bei Anwendung der <starken Methode> vor zerbrochenen Fensterscheiben nicht zurückscheun. - So reden sie bei uns, und draußen nicht viel anders. Sie haben, glaube ich, auch schon das Standrecht verhängt, und wenn wir in die Kriegszone kommen sollten, werden wir mit dem Galgen bedroht. Das ist die starke Methode. Ich begreife ja, daß sie dir Eindruck macht. Sie ist reinlich, exakt und dem Geschwätz abhold. Sie befähigt die Nation zu etwas Großem, indem sie jeden einzelnen, der ihr angehört, wie einen Hund behandelt!» Leo Fischel lächelte.
Gerda schüttelte entschieden, aber freundlich langsam ihren zerzausten Kopf.
«Du mußt dir das klar machen» setzte ihr Fischel weiter zu. «Der Industriellenverband, wenn er eine bürgerliche Gegenpartei der Arbeiter mit einem Wahlfonds ausstattete, oder meine frühere Bank, wenn sie sich irgendetwas durch Geld richtete, haben nie etwas anderes getan. Überhaupt kommt ein Geschäft nur so zustande, daß ich einen anderen entweder zwinge, mir darin entgegenzukommen, weil ihm sonst ein Schaden droht, oder daß ich ihm den Eindruck mache, ein gutes Geschäft vor sich zu haben; dann überliste ich ihn meistens, und das ist auch nur eine Form von meiner Gewalt über ihn. Aber wie fein und anpassungsfähig ist diese Gewalt! Schöpferisch und geschmeidig ist sie. Das Geld gibt dem Menschen Maß.
Es ist geordnete Ichsucht. Es ist die großartigste Organisation der Ichsucht, eine schöpferische Organisation, aufgebaut auf einer richtigen Baissespekulationsidee!»
Gerda hatte ihrem Vater zugehört, aber in ihrem Kopf summten ihre eigenen Gedanken. Sie antwortete: 858
«Papa, ich habe nicht alles verstanden, doch wirst du sicher recht haben. Aber du siehst das natürlich als ein Rationalist an und für mich ist gerade das Irrationale (über alle Berechnung Hinausgehende) an dem, was jetzt geschieht, das Bezaubernde!»
«Was heißt irrational?!» protestierte Generaldirektor Fischel. «Du willst damit wohl sagen, unlogisch und unberechenbar und wild, wie man manchmal im Traum ist? Ich kann dir darauf nur sagen, kaufen und verkaufen ist wie Krieg; du mußt berechnen, und du kannst berechnen: aber zum Schluß entscheidet auch da der Wille, der Mut, die Person oder wie du es sagst, das Irrationale. Nein, mein Kind» schloß er «das Geld ist Selbstsucht ins Verhältnis zur Tüchtigkeit gebracht. Ihr versucht jetzt eine andere Regulation der Selbstsucht. Sie ist nicht neu, ich anerkenne sie, sie ist verwandt. Aber abwarten, wie sie wirkt! Das Kapital ist eine seit Jahrhunderten bewährte Organisation der menschlichen Kräfte, nach der Fähigkeit, Geld zu schaffen; du wirst sehen, wo sein Einfluß verdrängt wird, springt Vorteilsdienerei, Willkür, Protektion und Unüberlegtheit [heraus]. Du kannst von mir aus, wenn du willst, das Geld abschaffen, aber du wirst nicht abschaffen die Übermacht desjenigen, der die Vorteile in der Hand hat. Nur wirst du einen, der nicht mit ihnen umgehen kann, an die Stelle dessen setzen, der es gekonnt hat! Denn du irrst, wenn du glaubst, daß das Geld die Ursache unserer Ichsucht ist, es ist ihre Folge. »
«Ich glaube das ja gar nicht, Papa» sagte Gerda bescheiden. «Ich sage nur, was jetzt geschieht -»
«Und noch dazu» unterbrach sie Fischel «ist es ihre vernünftigste Folge!»
« - was jetzt geschieht, » setzte Gerda ihren Satz weiter fort «erhebt über die Vernunft. So wie ein Gedicht oder die Liebe über die Händel der Welt erheben. »
«Du bist ein tiefes Mädchen!» Fischel schloß sie in seine Arme und entließ sie. Gerdas jugendlicher Eifer gefiel ihm. «Mein Glück!» nannte er sie bei sich und sah ihr zärtlich nach. Eine Aussprache mit einem Menschen, den man liebt und versteht, ist eine Kräftigung. Er hatte lange nicht so philosophiert; es war eine merkwürdige Zeit. Im Gespräch mit diesem Kind war Fischel [sich] über sich selbst klar geworden. Er wollte kaufen. Nicht ein Schiff, mindestens fünf Schiffe. Er ließ seinen Sekretär kommen. «Wir können das nicht selbst machen, » sagte er ihm «es würde nicht gut aussehen, aber wir wollen es durch eine Mittlerfirma machen lassen. » Aber das war Leo Fischel nicht die Hauptsache. Die Hauptsache war, daß er ein Gefühl der Verwandtschaft mit den Geschehnissen gewonnen hatte, und doch auch der Vereinsamung.
Er hatte trotz des Auf und Nieder, das ihn umgab, Ordnung in sich gebracht.
Gerda und der Krieg: Krankenpflegerinnenabsicht; vielleicht auch darum mit Ulrich gegangen, damit er ihr durch General [von Stumm] die Möglichkeit verschafft. Die junge Generation hat das Gefühl: Der Krieg ist für uns da, damit wir zu Tätigkeit und Wichtigkeit kommen; eine neue Zeit beginnt. Manchmal sind ja gerade junge Menschen beklommen (Ulrich sagt: Mit dreißig Jahren ist man tapferer als mit zwanzig, weil man weiß, das Leben bietet nur noch diesen Ausweg oder ähnliches), aber sie haben unrecht, sind lasch.
125 Eine Einschaltung über Kakanien.
Der Herd des Weltkriegs ist auch der Geburtsort des Dichters Feuermaul
[Fragment]
Es darf vorausgesetzt werden, daß das Wort «Der Herd des Weltkriegs», seit es diesen Gegenstand gibt, zwar oft benützt worden ist, stets jedoch mit einer gewissen Ungenauigkeit in der Frage, wo dieser Gegenstand seinen Platz habe. Ältere Leute, die noch persönliche Erinnerungen an jene Zeit besitzen, denken da wohl an Sarajewo, doch fühlen sie selbst, daß diese kleine bosnische Stadt bloß das Ofenloch gewesen sein kann, durch das der Wind einfuhr. Gebildete Leute werden ihre Gedanken auf die politischen Knotenpunkte und Welthauptstädte richten. Noch höher Gebildete dürften mit Sicherheit außerdem die Namen von Essen, Creuzot, Pilsen und der übrigen Zentren der Waffenindustrie im Gedächtnis haben. Und ganz Gebildete werden dem etwas aus der Petroleum-, Kali-und sonstigen Gütergeographie hinzufügen, denn so hat man es oft gelesen. Aus all dem folgt aber bloß, daß der Herd des Weltkriegs kein gewöhnlicher Herd gewesen ist, denn er stand an mehreren Orten gleichzeitig.
Vielleicht sagt man darauf, daß dieses Wort bloß bildlich zu verstehen sei. Aber dem ist in so voller Weise zuzustimmen, daß sich alsbald noch viele größere Verlegenheiten daraus ergeben. Denn gesetzt nun, es wolle Herd in seiner Bildlichkeit ungefähr das gleiche bedeuten wie Ursprung oder Ursache ohne solche, so weiß man zwar, daß der Ursprung aller Dinge und Geschehnisse Gott ist, aber anderseits hat man nichts davon. Denn mit den Ursprüngen und Ursachen ist es so bestellt, wie wenn einer seine Eltern suchen geht: 859
zunächst hat er zwei, und das ist unbezweifelbar; bei den Großeltern aber sind es schon zwei zum Quadrat, bei den Urgroßeltern zwei zur Dritten und so fort in einer sich mächtig öffnenden Reihe, die sich nirgends bezweifeln läßt, aber das merkwürdige Ergebnis hat, daß es am Ursprung der Zeiten schon eine fast unendliche Unzahl von Menschen bloß zu dem Zweck gegeben haben müßte, einen einzigen der heutigen hervorzubringen. Wenn das auch schmeichelhaft ist und der Bedeutung entspricht, die der Einzelne in sich fühlt, so rechnet man heute doch zu genau, als daß man es glauben könnte. Schweren Herzens muß man also auf seine persönliche Ahnenreihe verzichten und annehmen, daß man «ab irgendwo» gruppenweise gemeinsam abstamme. Und das hat verschiedene Folgen. So die, daß die Menschen sich teils für «Brüder»
halten, teils für «Fremd-stämmlinge», ohne daß einer diese Grenze zu bestimmen wüßte, denn das, was man Nation und Rasse heißt, sind Ergebnisse und keine Ursachen. Eine andere Folge, nicht minder einflußreich, wenn sie auch nicht so offen zutage liegt, ist die, daß Herr Beliebig nicht mehr weiß, wo er seine Ursache hat; er fühlt sich infolgedessen wie einen abgeschnittenen Faden, den die fleißige Nadel des Lebens haltlos aus-und einzieht, weil man vergessen hat, ihm einen Knopf zu machen. Eine dritte, jetzt erst aufdämmernde, zum Beispiel die, daß man noch nicht nachgerechnet hat, ob und inwieweit es Herrn Ebenso-Beliebig doppelt und mehrfach gibt; im Bereich des erblich Möglichen liegt das durchaus, bloß weiß man nicht, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß es einem wirklich widerfahren könnte, sich selbst zu begegnen, aber ein dumpfer Druck davon, daß es bei der heutigen Natur des Menschen nicht ganz ausgeschlossen sein kann, liegt sozusagen in der Luft…
Mit anderen Worten: die Ursachenkette ist eine Weberkette, es gehört ein Einschlag zu ihr und alsbald lösen sich die Ursachen in ein Gewirk auf. Längst hat man die Ursachenforschung in der Wissenschaft aufgegeben oder wenigstens stark zurückgedrängt und durch eine funktionale Betrachtungsweise der Zusammenhänge ersetzt. Die Suche nach der Ursache gehört dem Hausgebrauch an, wie die Verliebtheit der Köchin die Ursache davon ist, daß die Suppe versalzen wurde. Auf den Weltkrieg angewendet, hat dieses Forschen nach einer Ursache und einem Verursacher das höchst positive negative Resultat gehabt, daß die Ursache überall und bei jedem war. Es zeigt sich damit, daß man wahrhaftig ebenso gut Herd wie Ursache oder Schuld des Krieges sagen kann; dann aber muß man wohl die ganze Betrachtungsweise durch eine andere ergänzen. Man gehe zu diesem Zweck versuchsweise von der Frage aus, warum in der Parallelaktion mit einem Mal der Dichter Friedel Feuermaul auftauchte und sogar - wenn zwar entscheidenden, aber bloß kleinen Beitrag für ihre Geschichte hinterlassend - alsbald dauernd wieder aus ihr verschwinden werde. Die Antwort ist, daß dies wahrscheinlich notwendig war, daß es sich in keiner Weise hätte umgehen lassen, - denn alles, was geschieht, hat ja einen zureichenden Grund, - daß die Gründe dieser Notwendigkeit aber völlig bedeutungslos sind oder, gerechter gesagt, nur für Feuermaul selbst, seine Freundin Professor Drangsal und deren Neiderin Diotima Wichtigkeit hatten, und auch diese Wichtigkeit nur für kurze Zeit. Es wäre platte Vergeudung, wollte man das erzählen. Würde Feuermaul nicht angestrebt haben, in der Parallelaktion eine Rolle zu spielen, so würde an seiner Statt ein anderer gekommen sein, und wenn es an diesem gefehlt haben sollte, etwas anderes: es gibt in der Verflechtung des Geschehens ein schmales Zwischenstück, wo dies und das mit seinen Unterschieden den Erfolg beeinflußt, auf die Länge vertreten die Sachen einander aber völlig, ja sie vertreten irgendwie auch die Personen bis auf ganz wenige.
Auch Arnheim wäre ebenso zu ersetzen gewesen; vielleicht nicht für Diotima, wohl aber als Ursache ihrer Veränderungen und weiterhin der Wirkungen, die diese ausübten. Diese Auffassung, die man heute fast schon eine natürliche nennen darf, sieht fatalistisch aus, ist es aber nur solange, als man sie selbst als ein Fatum hinnimmt. Ein Fatum waren aber auch die Naturgesetze, ehe man sie erforschte; nachdem das geschehen war, ist es sogar gelungen, ihnen eine Technik überzuordnen. (Hier knüpft an: Feuermaul, wie alle Personen der Erzählung bis auf Ulrich und vielleicht Leo Fischel, leugnet den Wert technischer und ähnlicher Vorhaben. )
Solange dies nicht geschehen ist, kann man auch sagen, daß B…, der Geburtsort des Dichters Feuermaul, auch der Ursprungsort des Weltkriegs gewesen ist. Deshalb geschieht es beiweitem nicht willkürlich; vielmehr bedeutet es soviel wie daß gewisse Erscheinungen, die in der ganzen Welt anzutreffen waren, und zu dem Herd gehörten, der, über den ganzen Erdball erstreckt, überall und nirgends war, sich in B… in einer Weise verdichteten, die den Sinn vor der Zeit zu Tage hob. Statt B… könnte man auch ganz Kakanien setzen, aber in ihm war B… einer der ausgezeichneten Punkte. Diese Erscheinungen bestanden darin, daß sich in B… die Menschen ganz und gar nicht vertrugen, anderseits darin, daß der in ihrer Mitte geborene Dichter 860
Feuermaul als den Grundsatz seines Schaffens die Behauptung wählte, der Mensch sei gut und man müsse sich bloß unmittelbar an die ihm innewohnende Güte wenden. Und das bildet das gleiche.
Es wäre gelogen, wenn man behaupten wollte, daß auch nur das Wenigste von dem damit Beschriebenen in einer aktuellen Weise zur Zeit in Feuermaul vorhanden war oder es zu irgend einer Zeit in solcher Ausführlichkeit gewesen sei. Aber das Leben ist immer ausführlicher als sein Ergebnis; gleichsam Pflanzenkost, Berge von Blättern, um ein kleines Häufchen… zu erzeugen. Das Ergebnis sind ein paar Dispositionen des persönlichen Verhaltens.
126 Der Tischler
[Vielleicht an Stelle der gestrichenen Eifersuchtskapitel]
[Entwurf]
Mobilisationszeit. Agathe hat trotzdem einen Tischler rufen lassen. Er mag etwas unter dreißig sein, ist groß und eigentlich wie ein Schlosser gebaut, das heißt schlank, mit breiten Schultern, trocken; lange wohlgeformte Hände von großer Kraft und sehnige Gelenke. Sein Gesicht ist klug und offen, sein Haar dunkelblond und sehr natürlich. Der Overall kleidet ihn gut. Er spricht Mundart, aber ohne Derbheit.
Agathe mit ihm im Nebenzimmer. Ulrich ist - in Gedanken - weggegangen. Nichts soll ihn mehr kümmern.
Dann ist er aber umgekehrt und über eine Gartenterrasse wieder ins Haus und in sein Zimmer gekommen, ohne daß Agathe es bemerkte.
Er lauscht ins Nebenzimmer. Es fällt ihm der Ausdruck der beiden Stimmen auf. Die des Mannes erklärt etwas: beredt, mit Ruhe und einer gewissen Überlegenheit. Ulrich versteht nicht, was, errät aber aus seinem Vorwissen und Holzgeräusch, daß es sich um einen Rollsekretär Agathes handelt. Er wird auf-und zugerollt. Der junge Meister fordert Agathes Zustimmung zu einer umfassenderen Ausbesserung als ihr recht ist, und sie macht unsichere Einwände. Das alles weiß und versteht Ulrich. Es muß sich um ein Geheimnis der alten Rollvorrichtung drehn.
Und plötzlich löst sich das von der Wirklichkeit los. Denn genau so verliefe das Gespräch, wenn es eine Liebesunterhandlung wäre. Das Überreden, die leichte Überlegenheit, das Als-Nötig-Hinstellen oder Es-ist-nichts-dabei in der Mannesstimme. Als ob es sich um eine sexuelle Improvisation handelte. Und dann die geliebte Stimme! Widerstrebend, eingeschüchtert, unsicher. Sie möchte und will nicht. Sie gibt nach und hält sich noch da und dort fest. Sie sagt halblaut «Ja… » «Ja »… «Aber… » Sie weiß schon längst, daß sie nachgeben wird. Wie Ulrich diese zurückhaltende, tapfere Stimme liebt und die Frau, die alles wie das Dunkel fürchtet und doch alles tut! Er brächte es nicht über sich, mit einer Waffe hineinzustürzen und Rache zu nehmen oder auch nur Rechenschaft zu fordern.
Dann kommt sogar eine Art Seufzer des Nachgebens über Agathes Lippen, und es läßt sich das Knacken von Holz täuschend hören.
Und trotz dieses durchträumten Sich-für-Agathe-Freuens geht Ulrich in den Krieg. Aber durchaus nicht mit Überzeugung.
127 Studie zur Schluß-Sitzung und [zu] anschließendem Ulrich-Agathe
[Mit dem «Tischler» enden die Kapitelentwürfe. Diese letzte kurze Skizze sowie der Entwurf zu «Gerdas Rückkehr» nehmen den vorgesehenen Ausgang des Romans unvermittelt vorweg: die Einmündung in den Krieg. Zur Kapitelfolge des Schlußteils liegt nur ein einzelnes Notizenblatt vor. Danach war als Schlußkapitel, das unmittelbar auf «Clarisse als geknickter Prometheus» folgen sollte, eine
«Schluß-Sitzung» der Parallelaktion geplant. Verbunden damit eine letzte Begegnung Agathe-Ulrich. Die
«Studie» dazu wird ergänzt durch eine, «Schlußteil» überschriebene, Stichwort-Gruppe. Den weiteren Weg der einzelnen Personen deuten außerdem knappe Randbemerkungen an. ]
Agathe befindet sich von der Begegnung mit Ulrich bis gegen Ende der Reise in einer Art Produktionszustand; sie sagt und tut etwas, das etwas macht, formt; sie hat nicht oder bald nicht das Gefühl, es sei eine Fortsetzung ihres anderen Lebens, eher den Eindruck einer einmaligen Blütezeit. (Wenn man diesen Zustand beschreibt, läßt sich aktueller «anderer Zustand» zeigen und theoretisch dadurch ersparen!) Als das vorbei ist, wirft sie sich weg.
861
Galizien: sie muß Verhältnisse haben, müd sein, um nicht wieder den sich verändernden Bruder zu lieben.
Nach der Reise: Der Rechtsanwalt ist der, welcher Sie gegen Hagauer vertritt. Sie hat sich nun also mit Hagauer versöhnt, will aber doch Scheidung. Sie nützt ihre stupide Macht über die Männer aus. Das ist der Weg zu: Galizien,
Ulrich ist ganz einverstanden, aber erträgt es nicht.
Am Telefon. Leo Fischel ruft an - selbstlos, im Schwung - Kaufen Sie Schweizer Franks, Dollars, Hollandgulden. Ware ist zu kompliziert.
Verwunderlich, als Walter anruft. Aber er weiß Rückkunft von General [von Stumm],
Ulrich ruft nach Leo Fischeis Anruf General an, um zu erfahren, was an Mobilisierung oder dergleichen Wahres ist. Eventuell: Ulrich ruft auf Wunsch Gerdas an. Denkt sich ihn in atemraubender Tätigkeit. Aber General - Bildungsreferat und Referat Graf Leinsdorf - hat unendlich viel Zeit. Was er vorher nicht sagt.
Schickt ihm Passierschein.
Kommt Krieg oder nicht? [Ulrich] fragt bei General an. Aussprache mit General. Rest des über die Nebenfiguren zu Erfahrenden. Ulrich fragt den General, ob er etwas über Clarisse gehört habe. Rundes Gesicht, Armbewegung.
Brief von Hagauer. Zögernd geöffnet. Aber jetzt muß man doch. Hagauer ist schon wochenlang hier.
Telefongespräch. Erfährt: Graf Leinsdorf und Hagauer.
Bleibt übrig: Lindner, Peter, Agathe. ––-ironisch weltanschauliches Kapitel durch Aussprache mit Schmeißer.
Wiedersehen mit Agathe. Überstandene Infektion. Muß kein selbständiges Kapitel sein. Vielleicht bloß Zusammentreffen -mit Agathe, die Ulrich zur Sitzung begleitet. Peter zurückgekehrt.
Aufstieg Lindners (Graf Leinsdorf) erzählt General. Triumph Lindner-Hagauer über Ulrich.
Anfang [der Schluß-Sitzung]: Niemand will die Schluß-Sitzung der Parallelaktion bei sich haben. Endlich Graf Leinsdorf: sie soll feierlich sein, nicht bloß ein im Stich lassen, nimmt sie zu sich (oder Arnheim im Hotel? Durch Deutsche Botschaft darum gebeten?) Wieder der Saal und so weiter wie bei der letzten Konferenz [als Kapitelplan nur angedeutet, nicht skizziert]; aber diesmal ohne die Sekretäre. Und er hält die Schlußrede. Vorher versammelt man sich (zeremoniös)
in einem anderen Raum. Das gibt Gelegenheit (oder auch kurze Gespräche im eiligen Weggehn), die anderen Personen aufmarschieren zu lassen.
Dazu - — —. Versöhnungsszene Tuzzi-Diotima. Tuzzi: Nun siegt die Vernunft. Er meint das gegen Pazifismus? Er meint: Nun klärt sich die Lage; vielleicht: die sich bisher unbewußt hinter Pazifismus maskiert hat. Und am tiefsten: Vernunft gehört in den Bereich des Bösen. Moral und Vernunft sind die Gegensätze der Güte. (Das könnte, hinzugetreten, auch Ulrich sagen. >
Dann dominiert: Wir sind im Recht, nach den Regeln der Vernunft und Moral sind wir die Angegriffenen: Vielleicht Graf Leinsdorfs Rede. Alle: wir verteidigen das Unsre (Heimat, Kultur). Arnheim: Die Welt geht vielleicht zugrunde oder in eine lange Hölle. - Aber er ist vielleicht nicht mehr anwesend.
Wer [sagt]?: die Welt wird dann nicht an ihren unmoralischen, sondern an ihren moralischen Bürgern zugrundegehn.
Nachher, Agathe hat auf Ulrich gewartet:
Agathe: Wir leben weiter, als ob das nichts wäre.
Ulrich: Nein. Selbstmord. Ich gehe in Krieg.
Agathe: Wenn dir etwas geschieht: Gift.
Das Schattende des Todes wird plötzlich sichtbar. Des persönlichen Todes, ohne daß man etwas ausgerichtet hat und unerachtet dessen das Leben weiterholpert und seine Vergnügungen weiter entfaltet. In der Mobilisierungsstimmung glauben übrigens alle Leute, dauernd auf Vergnügungen zu verzichten. Ist das Endergebnis für Ulrich nicht etwas wie Askese? «Anderer Zustand» ist mißglückt und Vergnügen gehört zum Wandel der Gefühle? Das wäre also noch einmal ein Gegensatz zum gesunden Leben. Ein Ausklang der Utopien.
Agathe: Man ist nichts, halbfertig entlassen von ihm, wieder eingehaucht.
Häuser - Hauchartige Masse, Niederschlag an sich darbietenden Flächen. Außerhalb der Bindungen deformiert jeder Impuls augenblicklich den Menschen. Der Mensch, der erst durch den Ausdruck wird, formt sich in den Formen der Gesellschaft. Er wird vergewaltigt und erhält dadurch Oberfläche. Er wird 862
geformt durch die Rückwirkungen dessen, was er geschaffen hat. Zieht man sie ab, so bleibt etwas Unbestimmtes, Ungestaltes. Die Mauern der Straßen strahlen Ideologien aus.
Ulrich: Krieg ist das gleiche wie «anderer Zustand»; aber (lebensfähig) gemischt mit dem Bösen.
Arnheim 21. 1. 1936: Im Prinzip der Arbeitsteilung und der Indirektheit liegt: Zwangsläufiges Ergreifenmüssen eines jeden Mehrungsmittels; kennzeichnet die Rüstungs-oder die
Vergnügungsindustrie. Das taucht nun wieder auf–—als ein
Element der Kulturbeschreibung (Übertreibung, Zusammenhanglosigkeit)–—und bildet einen Teil von Arnheims Melancholie, die sich noch einmal in der Schlußansprache ausdrückt. Verbunden mit ihr: Es wird der Firma Arnheim noch eine verbesserte Konzession gewährt. Graf Leinsdorf ist sehr einverstanden damit - bekennt sich zu Deutschland. Tuzzi vermittelt es, das heißt man ist wider Willen Schulter an Schulter. (In gewissem Sinn = jedes Mehrungsmittel muß benutzt werden. >
Um das zu unterstreichen, muß wohl die ursprüngliche Abneigung gegen den Preußen wieder erwähnt werden. Vielleicht Graf Leinsdorf in den Einleitungsworten zur letzten Sitzung - (Erläßt einen Aufruf als Beginn des Zusammenbruchs), oder Diotima.
Die Staatsmaschine geht durch. Arnheim hat nicht Krieg vorhergesehn, wohl aber Vater. Er bekommt einen Auftrag von ihm. Die Maschine, die den Krieg macht, zwingt ihn, ihn herbeizuführen.
1) Sieht den Zusammenbruch der Illusion des Herrenkaufmanns, der kapitalistischen Humanität, voraus.
Er sagt: Es ist die Flucht aus dem Frieden.
2) Arnheims Angebot an Ulrich. Falls es nicht schon früher erinnert wird, kann in der Aussprache bei Graf Leinsdorf nur flüchtige Berührung zwischen Ulrich und Arnheim stattfinden.
3) Arnheim erinnert Diotima: Ich habe es Ihnen vorhergesagt: Grobe materielle Interessen werden sich der Parallelaktion bemächtigen -
Diotima darauf: Oh nein! Es ist die Befreiung der Seele von der Zivilisation, die wir Parallelaktion nur als Aufgabe gesetzt hatten!
Arnheim zu Ulrich:… Was werden Sie tun?
Ulrich: Ich gehe in Krieg… (siehe oben. )
Arnheim:… Sie sollten in die Schweiz gehn, zu mir kommen. Einem Deutschen dürfte ich das nicht sagen!
Ulrich: ?
–—Notiz–-, daß Ulrichs Partiallösungen und so weiter
nicht befriedigen, Gedankengebilde einer ruhigen Zeit seien und dergleichen. Es wäre wohl - besonders verbunden mit Gott - ein großer Glaube. Agathe kann noch an ähnlichem festhalten, weil sie das Geschehen ablehnt. Ulrich aber fühlt, wie der ganze Mensch in Unsicherheit geschleudert ist. Nach Ja und Nein verlangt. Weil dieses Letztere hier am stärksten, gehört das ganze Resümee wohl hierher.
Ulrich: Ich habe Unrecht gehabt und so weiter.
Agathe: Aber gerade du hast doch die unerschütterliche und die ganze Antwort gesucht! (In der Tat hat er ja die Haltung des induktiven Weltbildes gefordert. > Und mit den Häusern und dergleichen hat er doch soeben auch die Unsicherheit auf eine Formel gebracht.
Was ist also die Antwort, die ihn bewegt, in den Krieg zu
gehn?–—Ausklang der Utopien. Das ist aber noch nicht
alles.
[Es] käme hinzu: Die Weltabkehr hat keinen Zweck. Das geht schon daraus hervor, daß sie sich stets Gott zum Ziel setzte, etwas Irreales und Unerreichbares.
Ich befinde mich in einem vollkommen wehrlosen Zustand. Unlösbare Lage des Theoretikers. Man müßte eigentlich Falschmünzer (Spion) werden; wenn man dazu nicht die praktische Energie (Anlage) hat, geht man eben in den Krieg. -
Denke an Staatsanwälte und Verteidiger, Sturmszenen im Parlament und dergleichen: es ist das gleiche wie das Zetern von Hunden, die durch die Gitter getrennt sind. Das Gitter wird jetzt entfernt.
Und weil sie zwar ergriffen sind, aber doch mit Vorbehalten und mit Spekulation, sind sie wie Aussätzige.
Antwort: Die große Rasse der gewöhnlichen Köpfe und die kleine des Genies.
Ulrich: Ich habe immer gesagt, Methodenlehre [dessen, was man nicht weiß], niemand hat geglaubt, daß ich es ernst meinen könnte.
863
26. 1. 36: Die Szene des am Fenster Stehens, während unten aufgeregtes Volk ist, wiederholt sich. Arnheim hat ihm damals die Frage gestellt, wie ernst er seine Behauptungen nehme: Mit einem eingeschränkten Realgewissen leben. Das Leben in Schwebe lassen. Gleichgültigkeit der Wirklichkeit und Geschichte; Wichtigkeit der Typenschaffung. Arnheim sagt, daß ihn diese Gedanken nahe berühren, aber da er ein Mann sei, der stets Entscheidungen treffen müsse, auch ungeheuerlich. Bewußtsein des Versuchs; die verantwortlichen Führer sollen nicht Geschichte machen wollen, sondern Versuchsprotokolle. Nun geschieht aber das Gegenteil, und Ulrich tut halb mit.
Aber wie steht es mit Krieg und Totschlag?
Ulrich: Leben mit perforiertem Ernst (Wohl mit Ernst genommen, aber perforiert. )… Deduktiv - noch nicht induktiv -
27. 1. [36]: Dazu ein Paradoxon: Deduktive Denkart, die logophile, enthält eigentlich Reste einer Phantastik. Sie ist in gewissem Sinn die weniger nüchterne als die reine Tatsachengesinnung. Ihre innerste Zelle besteht aus verknorpelter Phantasie.
–—Arnheim bemerkt, daß Ulrich viel mitgemacht hat. Er
ist abgezehrt und hat neue Züge im Gesicht. Er hat in der Zwischenzeit seine Auffassung versucht (dazu gehören auch die Utopien) und Arnheim kann nun seine Fragen wiederholen. Außerdem ist jetzt die Frage Öllager und Pazifismus erledigt, und die wegen Diotima hat ein anderes Gesicht — —
Aus Studie zum «Schlußteil» - 6. 1. 36 Umfassendes Problem: Krieg.
Seinesgleichen führt zum Krieg. Die Parallelaktion führt zum Krieg!
Krieg als: Wie ein großes Ereignis entsteht.
Alle Linien münden in Krieg. Jeder begrüßt ihn auf seine Weise.
Das religiöse Element im Kriegsausbruch.
Tat, Gefühl und «anderer Zustand» fallen in eins.
— — — Entsteht (wie Verbrechen) aus all dem, was die Menschen sonst in kleinen Unregelmäßigkeiten abströmen lassen.
Ulrich erkennt: entweder ordentliche Zusammenarbeit
(–—induktive Frömmigkeit) oder «anderer Zustand» oder
es muß von Zeit zu Zeit das kommen.
Agathe sagt (wiederholt): Wir sind die letzten Romantiker der Liebe gewesen.
Ulrich eventuell: Bedürfnisse und Lebensform des Genies sind andere als die der Masse. Vielleicht besser:
— — des Genie-und des Massenzustandes.
Geht nicht in die Schweiz, weil er kein Vertrauen in irgendeine Idee hat–—
Die Kollektivität braucht eine feste Geisteshaltung. Ihr erster Versuch.
Ulrich am Ende: Erkennen, arbeiten, fromm sein ohne Einbildung plus Endergebnis der Utopie der induktiven Gesinnung. Fühlt es, entzieht sich aber nicht der Mobilisierung.
Agathe: die Männerwelt ist sie nie etwas angegangen; schrecklich deren Ausbruch bei Mobilisierung.
Gleichschaltung. Nichts ist dem Menschen so wichtig wie eine feste Geisteshaltung.
Der permanente Glaubenskrieg wird endlich aktuell.
Endlich wird das Leben wesentlich, bejahend, es fehlt ihm nichts, man nimmt sich ernst, das Leben mündet nicht ins
Leere, man hat eine Überzeugung, einen Glauben–—: Jeder
kann etwas davon sagen; auch kann es so geschildert werden; Leo Fischel, die Stimme der Vernunft, wird abgekanzelt.
Lindner: das Stahlbad wird die Welt bessern. Die Krankenhausidee am Wege zur Verwirklichung; Krieg steht im Gegensatz zu Caritas und doch in Einheit mit ihr.
Sieg des militärischen Gedankens.
Bonadea von den vielen Männern begeistert.
Der Krieg der alte Gegner des kontemplativen Zustands. Das fühlt Ulrich.
Etwas wie ein religiöses Grauen.
Das Feste ist desavouiert.
Tiefste Feindschaft gegen alle diese Menschen; dabei läuft man mit herum und möchte den nächsten besten umarmen.
864
Der Einzelwille versinkt, eine neue Zeit multipolarer Beziehungen taucht vor dem geistigen Auge auf.
Ulrich sieht, was ein faszinierender Moment ist, der zwischen ihm und Agathe nie ganz zustande kam.
Letzte Zuflucht Sexualität und Krieg: Aber Sexualität dauert eine Nacht, der Krieg immerhin wahrscheinlich einen Monat und so weiter.
Arnheim: der Einzelne ist der Gefoppte.
Nationale Romantik, Verlegung in Sünden-und Liebesböcke. Nationen haben keine Absichten. Gute Menschen können eine grausame Nation bilden. Nationen haben einen unzurechnungsfähigen Geist.
Richtiger: Sie haben überhaupt keinen Geist. Vergleich mit Irrsinnigen. Sie wollen nicht. Aber sie tun einander.
Auch eine Lösung: den Menschen lieben und ihn nicht lieben können.
Die Behauptung, der Mensch sei gut, als Ursache.
Es ist das gleiche, ob man an die Güte des Menschen glaubt, oder ob man sich nicht verträgt. Suggestion.
Rolle der Affekte. Wahnbedürfnis.
Im Ganzen hängen die Mobilisierungs-Kapitel, namentlich darin Ulrich, vom Ausgang der Utopie der induktiven Gesinnung ab, der noch nicht feststeht. Aber wahrscheinlich kommt es hinaus auf: Kämpfen (geistig) und nicht verzweifeln. Ahnen reduziert auf Glauben, und zwar der induktive Gott; unbeweisbar, aber glaubwürdig. Als ein die Affekte in Bewegung haltendes Abenteuer. Leitvorstellung. Kreislauf des Gefühl ohne Mystik. Entdeckung Gottes à la Köhler [Wolfgang Köhler «Die psychischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand», 1920] oder auf Grund anderer Vorstellungen: Realwerden Gottes.
Ahnen, «anderer Zustand»: mag vielleicht ein anderer, besser Geeigneter aufnehmen. Wie man das den Leuten aufnötigen könnte: unvorstellbar. Entweder das gehaßte der Zeit überlassenf[. ] Oder dahinwirken, das ist für ihn: Buch schreiben, also Selbstmord, also in Krieg gehen.
Nochmals oberstes Problem: –-Zusammenbruch der
Kultur (und des Kulturgedankens). Das ist in der Tat das, was der Sommer 1914 eingeleitet hat.
Nun stellt sich heraus, daß dies die große Idee war, die von der Parallelaktion gesucht wurde, und was sich ereignet hat,
ist die unabsehbare Flucht aus der Kultur–—Alle Staaten
geben vor, für etwas Geistiges da zu sein, das unbestimmt ist, und das sie summarisch Kultur nennen. Es erweist sich auch in meinen Ansätzen als utopisch. Und das ist es, worin kein Vertrauen mehr besteht. - Das kann bilden: ein letztes Tagebuch-Blatt, ein Gespräch mit Arnheim oder mit Diotima, eventuell auch mit Agathe.
Zum Ausdruck muß auch gebracht werden, daß diese letzten Fassungen der Problematik hinter jeder politischen Lösung kommen.
In gewissem Sinn ist auch das ganze real-moralische Problem das der Triebe. Ihres ergebnislosen Trieblaufs, ihres Unfugstiftens; sie müssen beherrscht werden, damit es nicht Mord, Wucher und so weiter gebe. Aber die Gegenproblematik der Beherrschtheit ist die Triebschwäche, das Verblassen des Lebens und daß sich die Kompensation dazu nicht deutlich vorstellen läßt.
Aber auch: der beginnende Untergang Kakaniens!–—
Österreich als besonders deutlicher Fall der modernen Welt.
Irgendwie, weil man kein Vertrauen in die Kultur hatte, Flucht aus dem Frieden. Wenn das, dann ist Peter
[der Sohn Lindners], der ganz Unkultivierte, als Vorbild der Zeit nach dem Kriege zu rechnen.
128 Die Utopie der induktiven Gesinnung oder des gegebenen sozialen Zustands
[Studien]
[Als gedankliches Fazit des Romans war das «Endergebnis der Utopie der induktiven Gesinnung»
vorgesehen. Den letzten Hinweis darauf gaben die Bemerkungen zum «Schlußteil». Ähnliche Notizen sind in verschiedene andere Studien unter verschiedenen Daten eingestreut. Zwei undatierte «Studienblätter»
fassen das geplante Schluß-Resümee zusammen. Sie tragen die Überschriften «Zeit und Krieg» und «Moral und Krieg». ]
Aus «Studienblatt: Moral und Krieg»: Währenddessen eingefallen: Ulrich-Agathe ist eigentlich ein Versuch des Anarchismus in der Liebe. Der selbst da negativ endet. Das ist die tiefe Beziehung der 865
Liebesgeschichte zum Krieg. (Auch ihr Zusammenhang mit dem Moosbrugger-Problem. > Was bleibt am Ende aber übrig? Daß es eine Sphäre der Ideale und eine der Realität gibt? Richtbilder und dergleichen?
Wie tief unbefriedigend! Gibt es keine bessere Antwort?
Aus «Studienblatt: Zeit und Krieg»: Der Individualismus geht zu Ende. Ulrich liegt nichts daran. Aber das Richtige wäre hinüberzuretten.
Ulrichs System ist am Ende desavouiert, aber auch das der Welt.
Ulrich hatte Hilfe an dem Gedanken gefunden, daß Europa entartet sei. Autor: Jede Angelegenheit, auch die geistige Entwicklung, sinkt schon zurück, wenn man ihr nicht besondere Anstrengungen zuwendet.
Das Gewirr ist so verwickelt, daß viele Menschen lieber an ein Geheimnis: Zeit glauben.
15. 3. 32: Ulrich ist zum Schluß Verlangender nach Gemeinsamkeit, bei Ablehnung der gegebenen Möglichkeiten –-Individualist mit dem Bewußtsein der Schwäche.
Im Großen Teilung vor und nach der Reise: Danach vor der Reise vorwaltend Ulrich antisozial, negierend.
Nach Zusammenbruch der «Reserveidee» neu aufbauend. Im einzelnen ist das noch zu überlegen.
Die Utopien sind zu keinem praktikablen Ergebnis gekommen. Der «andere Zustand» gibt keine Vorschriften für das praktische Erleben.
Wahrscheinlich doch die Idee des induktiven Zeitalters zur Hauptsache machen.
Die Utopie des a[nderen] Z[ustands] wird abgelöst durch die der induktiven Gesinnung. - Induktion braucht Vor-Annahmen, aber diese dürfen nur heuristisch gebraucht werden und nicht für unveränderlich gelten.
Der Fehler der Demokratie war das Fehlen jeder Deduktionsgrundlage; sie war eine Induktion, die nicht der gründenden Geisteslage entsprach.
Gott, die starke Annäherung der Gedanken an ihn, war eine Episode.
15. 11. 36 [38?]: Utopie der induktiven Gesinnung: Die Aussprache mit Walter [siehe: «Abrechnung Walters mit Ulrich»] kann Ulrich zur Niederschrift bewegen.
Aus «Studienblatt: Moral und Krieg» und «Studienblatt: Zeit und Krieg» (Fortsetzung): ––-Es ergab sich als Symbol fürs Ganze: Der Möglichkeitsmensch Ulrich läßt sich auf die Wirklichkeits-Bank Heimat nieder mit der Ahnung, daß er bald wieder aufstehen wird… Pseudoobjektiviert: Dem Möglichkeitsmenschen entsprechen «die noch nicht erwachten Absichten Gottes»–-Von Anfang an ist die
Beziehung auf Gott also einfach da. Es liegt also in Ulrich eine religiöse Tendenz. Er sucht Anschluß und unterlegt -merkwürdigerweise! - zunächst seiner rationalen Er-klärungsund Systematisierungstendenz die Berufung auf eine gleichsinnige Gottesvorstellung!
Ein Hauptthema fürs Ganze ist also: Auseinandersetzung des Möglichkeitsmenschen mit der Wirklichkeit.
Sie ergibt drei Utopien: Die Utopie der induktiven Gesinnung oder des gegebenen sozialen Zustands. Die Utopie des anderen (nicht ratioïden, motivierten und so weiter) Lebens in Liebe. Auch Utopie des Essayismus II. Die Utopie des reinen «anderen Zustands» mit ihrer Mündung in oder Abzweigung zu Gott.
[Zwei und drei] = Utopie des Tausendjährigen Reichs, die sich also noch einmal spaltet. Sie haben noch als Utopien verschiedene Wirklichkeitsgrade. Außerdem ist zu bemerken, daß die Utopie der induktiven Gesinnung das Böse, Metrische und so weiter einbezieht, die Utopie der Liebe dagegen nicht. Das ist wohl ihr Grundunterschied. –-
Zwischenbilanz: –-Von diesen ist die der induktiven Gesinnung in gewissem Sinne die ärgste Utopie!: das wäre, literarisch, der einzunehmende Standpunkt (der die beiden anderen Utopien rechtfertigt). Eine Zwischenzusammenfassung wahrscheinlich: Museumskapitel. Dieser Nachweis oder die dazugehörige Darstellung vollendet sich aber erst mit dem Ende (Krieg). Die Reise ins Tausendjährige Reich stellt die beiden anderen Utopien in den Vordergrund und erledigt sie, soweit wie möglich. Immerhin kommt auch von der Utopie der induktiven Gesinnung vieles vor, in den General [von Stumm]-, in den Parallelaktion-, in den Lindner-, Schmeißer-und Meingast-Kapiteln. Es ist also nicht nötig, die Utopie der induktiven Gesinnung in der Gegend der Tagebuch-Kapitel schon bis ins letzte zu beherrschen, wohl aber ist es nötig, sie in den maßgeblichen großen Zügen zu kennen.
Schema für die Behandlung der Utopie der induktiven Gesinnung:
Grundsätzliche Trennung: 1) Induktive Gesinnung für