Das Bild, unter dem sie sich ihm darbot, war meistens das einer verbrecherischen Nachlässigkeit. Auch die Soziale Frage, die das ein und alles Schmeißers bildete, erschien ihm nicht als Frage, sondern bloß als eine unterlassene Antwort, aber er konnte ein Hundert anderer solcher «Fragen» anführen, über die im Geist die Akten abgeschlossen waren und die, wie sich sagen ließe, vergeblich auf die manipulative Behandlung im Büro der Expedition warteten. Und wenn er das tat und Schmeißer milde gestimmt war, so sagte dieser:
«Lassen Sie bloß erst einmal uns an die Macht kommen!»
Dann aber sagte Ulrich: «Sie sind zu gütig gegen mich, denn es stimmt ja gar nicht, was ich behaupte. Fast alle geistigen Menschen haben dieses Vorurteil, daß die praktischen Fragen, von denen sie nichts verstehen, einfach zu lösen wären, aber bei der Durchführung zeigt sich natürlich, daß sie bloß nicht alles bedacht haben. Anderseits, darin gebe ich Ihnen recht, bedächte der Politiker alles, so käme er nie zum Handeln.
Vielleicht hat die Politik darum ebensoviel vom Reichtum der Wirklichkeit wie von Armut des Geistes (oder Mangel an Vorstellungen) - »
Das gab Schmeißer Gelegenheit zu einer frohlockenden Unterbrechung mit den Worten: «Menschen wie Sie kommen nicht zum Handeln, weil sie die Wahrheit nicht wollen! Der bürgerliche sogenannte Geist ist 726
in seiner Gänze nur eine Verzögerung und Ausrede!»
«Warum wollen Menschen wie ich aber nicht?» fragte Ulrich. «Sie könnten doch wollen, Reichtum, zum Beispiel, ist ja nichts, was sie wirklich begehren. Ich kenne zwar kaum einen wohlhabenden Mann, der nicht davon eine kleine Schwäche trüge, mich inbegriffen, aber ich kenne auch keinen, der das Geld um seiner selbst willen liebte, außer Geizhälse, und Geiz ist eine Störung des persönlichen Verhaltens, die es auch in der Liebe gibt, in der Macht und in der Ehre: die krankhafte Natur des Geizes beweist geradezu, daß Geben seliger ist als Nehmen. Glauben Sie übrigens, daß Geben seliger ist denn Nehmen… ?» fragte er.
«Diese Frage können Sie in einem schöngeistigen Salon aufwerfen!» gab Schmeißer zur Antwort.
«Und ich befürchte, » behauptete Ulrich: «alle Ihre Anstrengungen werden zwecklos bleiben, solange Sie nicht wissen, ob Geben oder Nehmen seliger ist oder wie sie sich ergänzen!»
Schmeißer höhnte: «Sie beabsichtigen wohl die Menschheit in Güte zu überreden? Übrigens wird das rechte Verhältnis von Geben und Nehmen im Sozialen Staat eine Selbstverständlichkeit sein!»
«Dann behaupte ich, » ergänzte Ulrich lächelnd seinen Satz «daß Sie eben an etwas anderem scheitern werden, zum Beispiel daran, daß wir imstande sind, jemand Hund zu schimpfen, auch wenn wir unseren Hund mehr lieben als unsere Mitmenschen!?»
Ein Spiegel beruhigte Schmeißer, indem er ihm das Bild eines jungen Mannes zeigte, der eine scharfe Brille unter einer harten Stirn trug. Antwort gab er keine.
80 Für und In
[Früher Entwurf]
Cand. ing. Schmeißer lebte in einem Haus mit Agathe. Er unter der Erde, sie oben im Licht - wie er mit grimmiger lyrischer Befriedigung feststellte. Sein Anzug hatte zu schmale Schultern und zu kurze Ärmel, an den Ellbogen und Knien bildete er Bäuche. Sein Körper war unterernährt und überanstrengt, er war niemals gut bewegt worden; zum erstenmal dämmerte Schmeißer etwas auf: er trat abends vor einen kleinen Spiegel, den er mit vieler Mühe so aufstellte, daß er seine ganze Figur sehen konnte, und betrachtete sich nackt. Er war häßlich. Der Traum vom Sonnenbad, vom Herausschlüpfen aus der kapitalistischen Kleiderhierarchie in eine Welt der natürlichen Schönheit war erschüttert. Agathe aber schwebte wie eine Wolke die Treppen hinab; eine schwere Wolke, aber auch solche sind wolkenleicht. Die kleinen Geräusche des bewegten Kleides zuckten wie winzige Blitze darin. Das Parfüm war ganz anders als das der weiblichen kleinen Leute, mit denen er zu tun hatte, es war überhaupt nichts Hinzugetanes, sondern eine Ausstrahlung.
In einem fürstlichen Park stand eine Fontäne. Schlank bewegt, wiegend im Wind fiel ihr Strahl in ein Marmorbecken. Unendlichkeit des Auges und des Ohrs. Der kleine Proletarierknabe hatte damals die Fingerspitze auf den geglätteten Rand gelegt und war rund um den Kreis gegangen, marmorn gleitend, immer wieder, ohne satt werden zu können, wie Tantalus.
Schmeißer erklärte heftig, seine Liebe sei der Sozialismus. Es war nicht wahr. Seit er denken konnte, lebte er für ihn. Wenn er hungerte oder gedemütigt wurde, wenn er den Mund spülte oder einen abgerissenen Knopf suchte; es war Etappe auf dem Weg einem Ziel zu. Es tat ihm keinen Abbruch, daß er das Erreichen dieses Ziels kaum erleben würde; vielleicht vermochte er auch nicht, es sich genau vorzustellen: aber alles, was er tat, diente einem Zweck und hatte das feste Gleichgewicht einer Bewegung, welche nicht schwankt.
Auf der ändern Seite der Welt stehend als Professor Lindner, glich er ihm dadurch, daß Gott für diesen ein Ziel war, dem man respektvoll ausweicht, um sich mit den kleinen, aber sicheren Zwischenzielen zu begnügen, welche man dadurch gewinnt, daß man sich so benimmt, wie einer, welcher von den anderen Menschen verlangt, daß sie sich benehmen, wie wenn man den Möglichkeiten zu begegnen sicher ist.
Seit Schmeißer aber Agathe sah, fiel seine Sicherheit der Zerrüttung anheim. Er kämpfte gegen die Empfindungen, welche diese Frau in ihm hervorrief, welche er wegen ihrer großbürgerlichen Herkunft gerne verachtet hätte. Er sagte ihr, daß die Überschätzung der Liebe ein Stigma der kapitalistischen Welt sei.
Aber wenn er sich vergaß, nachsann, was diese junge Frau, die, wie er wußte, ihren Mann verlassen hatte, hier tun möge, und ohne es zu merken, von seiner Phantasie an einen fernen Punkt geführt wurde, wo Agathe ihre Arme um die Hüften des cand. ing. Schmeißer schlang, war ihm zumute, wie einem Wesen, das bisher nur in einer Fläche gelebt hat und zum erstenmal das Geheimnis des Raums kennenlernt. Professor Lindner würde gesagt haben, dies sei der gleiche Unterschied, wie wenn man immer für Gott gelebt habe, 727
aber plötzlich in Gott zu leben anfange - - - wenn Professor Lindner solche Gedanken sich gestattet hätte.
81 Warum die Menschen nicht gut, schön und wahrhaftig sind, sondern es lieber sein wollen
[Entwurf]
Diesen jungen Mann hatte Ulrich für den General ausersehen und schlug ihm vor, mit dem General gemeinsam Meingast zu besuchen, denn Schmeißer wußte von diesem Propheten, und wenn es auch ein falscher war, so war es Schmeißer doch nichts Neues, auch die Versammlung von Gegnern zu besuchen; von seinem Freund Stumm aber hatte Ulrich richtig erraten, daß er ohnehin zuweilen heimlich bei Clarisse Eindrücke sammelte und durch sie auch den Meister kennengelernt hatte, von dem er keinen geringen Eindruck empfing. Als Ulrich seinen Plan Agathe mitteilte, wollte sie jedoch nichts davon wissen.
Ulrich begann zu scherzen. «Ich wette, daß dich dieser Schmeißer heimlich liebt, » behauptete er «und von Lindner ist es ja kein Geheimnis. Beide sind Für-Männer. Und auch Meingast ist ein Für-Mann. Am Ende eroberst du ihn auch. » Agathe wollte nun natürlich (doch) wissen, was Für-Männer seien.
«Lindner ist ein guter Mensch, nicht wahr?» fragte Ulrich. Agathe bejahte es, obwohl sie diese Überzeugung längst nicht mehr so begeisterte wie zu Anfang.
«Aber er lebt mehr für die Religion als im religiösen Zustand?»
Das bestritt nun Agathe vollends nicht mehr. «Eben das ist ein Für-Mann, » erläuterte Ulrich «die ausgebreitete Tätigkeit, die er seinem Glauben angedeihen läßt, ist vielleicht das wichtigste Beispiel, aber eben doch nur eins der Technik, die immer angewendet wird, um Ideale für den Alltagsgebrauch verwendbar und haltbar zu machen. » So erklärte er ihr ausführlich seinen aus dem Stegreif erfundenen Begriff des Für-und-In-etwas-Lebens.
Das menschliche Leben ist anscheinend gerade so lang, daß man darin, wenn man für etwas lebt, die Laufbahn vom Nachläufer zum Vorgänger zurücklegen kann, und dabei kommt es für die menschliche Zufriedenheit weniger darauf an, wofür man lebt, als daß man überhaupt für etwas zu leben hat: ein Nestor der deutschen Weinbranderzeugung und der Pionier einer neuen Weltanschauung genießen außer ähnlichen Ehren auch noch den gleichen Vorteil, der darin besteht, daß das Leben trotz seinem fürchterlichen Reichtum keine einzige Frage enthält, die nicht einfacher würde, wenn man sie mit einer Weltanschauung, aber auch ebenso, wenn man sie mit der Weinbranderzeugung in Verbindung bringt. Ein solcher Vorteil ist genau das, was man mit einem neueren Wort Rationalisierung nennt, nur werden dabei nicht Handgriffe rationalisiert, sondern Ideen, und wer vermöchte nicht schon heute zu ermessen, was das bedeutet. Noch im geringsten Fall ist dieses Leben «Für etwas» mit dem Besitz eines Notizbuchs zu vergleichen, worin alles eingetragen und Erlebtes ordentlich durchstrichen wird. Wer das nicht tut, lebt unordentlich, wird mit den Dingen nicht fertig, und wird von ihrem Kommen und Gehen geplagt; wer dagegen ein Notizbuch hat, gleicht dem ökonomischen Hausvater, der jeden Nagel, jedes Stück Gummi, jeden Fetzen Stoff aufhebt, weil er weiß, daß ihm solcher Fund eines Tags in der Wirtschaft dienen wird. Ein solches bürgerliches «Für etwas», wie es als Zusammenfassung würdigen Schaffens oft auch als Steckenpferd oder heimliches Pünktchen, das einer beständig im Auge hat, von der Väterzeit überliefert worden, stellte aber damals eigentlich schon etwas Veraltetes dar, denn eine Neigung ins Große, ein Hang zur Entwicklung des Füretwas-Lebens in mächtigen Verbänden hatte sich bereits an seine Stelle gesetzt.
Dadurch gewann das, was von Ulrich im Scherz begonnen worden war, unter dem Sprechen ernstere Bedeutung. Die Unterscheidung, die er getroffen hatte, verlockte ihn vor unerschöpfliche Aussichten und wurde für ihn in diesem Augenblick zu einer von jenen, an denen die Welt wie ein durchschnittener Apfel am Messer auseinanderfällt und ihr Inneres darbietet. Agathe wandte ihm ein, daß man doch oft auch sage,
«einer gehe ganz in etwas auf, oder er lebe und webe darin», obwohl es sicher sei, daß nach Ulrichs Na-mengebung solche eifrige Leber und Weber es für ihre Sache täten; und Ulrich gab es zu, daß man wohl genauer verführe, etwa zwischen den Begriffen «Sich im Zustand seines Ideals befinden» und «Sich im Zustand des Wirkens für sein Ideal befinden» zu unterscheiden, wobei aber das zweite In entweder ein uneigentliches sei, und in Wahrheit eben ein Für, oder das gemeinte Verhältnis zum Wirken ein ungewöhnliches und ekstatisches sein müßte. Im übrigen habe die Sprache ihre guten Gründe so genau nicht zu verfahren, denn Für etwas leben ist der Zustand des weltlichen Daseins. In dagegen immer das, wofür man jenes zu leben vorgibt und vermeint, und das Verhältnis dieser beiden Zustände zueinander ist ein 728
äußerst verstocktes. Weiß der Mensch doch im Geheimen von der wunderbaren Tatsache, daß alles, «wofür es sich zu leben lohnt», etwas Unwirkliches, wenn nicht gar Absurdes wäre, sobald man ganz darin eingehen wollte, ohne das man es natürlich zugeben dürfte. Die Liebe stünde nimmermehr von ihrem Lager auf, in der Politik müßte der geringste Beweis von Aufrichtigkeit schon auf die tödliche Vernichtung des Gegners hinauskommen, der Künstler dürfte jeden Verkehr mit unvollkommeneren Wesen als Kunstwerken verschmähen, und die Moral müßte nicht aus perforierten Vorschriften bestehn, sondern in jenen kindlichen Zustand der Liebe zum Guten und des Abscheus vor dem Bösen zurückführen, der alles wörtlich nimmt. Denn wer das Verbrechen wirklich verabscheut, dem wäre die Anstellung ausgebildeter Berufsteufel nicht zu wenig, die Gefangenen wie auf alten Bildern des Höllenfeuers zu martern, und wer die Tugend restlos liebte, der dürfte von nichts als vom Guten essen, bis ihm der Magen in die Kehle stiege.
Das Bemerkenswerte ist, daß es ja wirklich zuweilen dahin kommt, daß aber solche Zeiten der Inquisition oder ihres Gegenteils, der menschenvertraulichen Schwärmerei, in schlechtem Gedenken bleiben.
Darum ist es das Lebenerhaltende schlechthin, daß es der Menschheit gelungen ist, anstatt dessen «wofür, es sich wirklich zu leben lohnt», das «Dafür» leben zu erfinden, oder mit anderen Worten, an die Stelle ihres Idealzustands den ihres Idealismus zu setzen. Es ist ein Davor-Leben; anstatt zu leben «strebt» man nun, und ist seither ein Wesen, das mit allen Kräften ebensowohl zur Erfüllung hindrängt, als es auch des Anlangens enthoben ist. «Für etwas leben» ist der Dauerersatz des «In». Alle Wünsche, und nicht nur die der Liebe, sind ja nach der Erfüllung traurig; aber in dem Augenblick, wo sich der Tausch des Wünschens mit der Tätigkeit Für den Wunsch vollzogen hat, wird das auf eine sinnreiche Weise aufgehoben, denn nun tritt das unerschöpfliche System der Mittel und Hindernissse an die Stelle des Ziels. Selbst wer ein Monomane ist, lebt da nicht eintönig, sondern hat beständig Neues zu tun, und gar wer in seinem Lebensinhalt überhaupt nicht leben könnte - ein Fall, der heute häufiger ist als man denkt, so ein Professor der Landwirtschafts-Hochschule, von dem der Pflege des Stallmists und der Jauche neue Wege gewiesen werden — lebt Für diesen Inhalt ohne Beschwerden und genießt das Anhören von Musik oder ähnliche Erlebnisse, wenn er ein tüchtiger Mensch ist, immer gleichsam zu Ehren der Stallwirtschaft. Dieses «zu Ehren von etwas» etwas anderes tun, ist übrigens von dem Etwas noch ein wenig weiter entfernt (oft nur noch ein beruhigendes Summen) als das Für, und stellt darum die am meisten angewandte, weil sozusagen billigste Methode dar, im Namen eines Ideals alles das zu tun, was sich mit ihm nicht vereinbaren läßt.
Denn der Vorteil alles Für-und-Zu-Ehren-von besteht nicht zuletzt darin, daß durch den Dienst am Ideal alles wieder ins Leben hineinkommt, was durch das Ideal selbst ausgeschlossen wird. Das klassische Beispiel dafür haben schon die fahrenden Ritter der Minne aufgestellt, die über jeden Gleichen, der ihnen begegnet ist, wie die tollen Hunde hergefallen sind, zu Ehren eines Zustands in ihren Herzen, der so weich und duftig war wie tropfendes Kirchenwachs. Aber auch die Gegenwart läßt an kleinen Eigenheiten keinen Mangel, die damit verwandt sind. So etwa, daß sie Prachtfeste veranstaltet zur Linderung der Not. Oder die große Zahl der strengen Menschen, die auf der Durchführung öffentlicher Grundsätze bestehn, von denen sie sich ausgenommen wissen. Auch das Scheinzugeständnis, daß der Zweck die Mittel heilige, gehört daher, denn in Wirklichkeit sind es die immer bewegten, abwechslungsreichen Mittel, denen zuliebe gewöhnlich die Zwecke in Kauf genommen werden, die moralisch und reizlos sind. Und mögen solche Beispiele noch spielerisch aussehn, so verstummt dieser Einwand vor der unheimlichen Beobachtung, daß das zivilisierte Leben zweifellos eine Neigung zu den rohesten Ausbrüchen hat, und daß diese nie roher sind, als wenn sie zu Ehren großer und heiliger, ja sogar zarter Gefühle erfolgen! Werden sie da als entschuldigt gefühlt? Oder ist das Verhältnis nicht vielmehr das umgekehrte?
So kommt man auf vielerlei zusammenhängenden Wegen dahin, daß die Menschen nicht gut, schön und wahrhaftig sind, sondern es lieber sein wollen, und ahnt, wie sie unter dem einleuchtenden Vorwand, daß das Ideale seiner Natur nach unerreichbar sei, die schwere Frage verschleiern, warum es so ist. Und ungefähr so sprach auch Ulrich und sparte nicht mit Ausfällen gegen Lindner und den Lindnerschen Gutsinn, die sich daraus von selbst ergaben. Es sei sicher, behauptete er, daß jener zehnmal gewisser vom Einmaleins oder von den Regeln der Sittlichkeit überzeugt sei als von seinem Gott, aber sich, indem er für seine Gottesüberzeugung wirke, dieser Schwierigkeit größtenteils entziehe. Er bringe sich dazu in den Zustand des Glaubens, einer Verfassung, worin das, wovon er überzeugt sein möchte, so geschickt mit dem vermengt ist, wovon er überzeugt sein kann, daß er es selbst
nicht mehr zu trennen vermöge - - –-
729
Hier bemerkte Agathe, daß alles Wirken fragwürdig sei. Sie erinnerte sich an die paradoxe Behauptung, daß wirklich und im Innersten gut nur solche Menschen bleiben, die nicht viel Gutes täten. Es schien ihr nun erweitert, und so neuerdings bestätigt zu sein, durch die ihr genehme Möglichkeit, daß der Zustand der Tätigkeit grundsätzlich die Verfälschung eines anderen Zustands sei, von dem er ausgehe und dem er zu dienen vorgebe.
Ulrich bejahte es noch einmal. «Auf der einen Seite haben wir nun» wiederholte er zusammenfassend «die Menschen, die für und - ohne das Wort genau zu nehmen — in etwas leben, die sich beständig regen, die streben, die weben, ackern, säen und ernten, mit einem Wort, die Idealisten, denn all diese heutigen Idealisten leben doch wohl für ihre Ideale.
Und auf der ändern Seite befinden sich jene, die in einer Weise in ihren Göttern leben möchten, für die es noch nicht einmal ein Wort gibt - »
«Was ist dieses In?» forschte Agathe nachdrücklich.
Ulrich zuckte die Achseln, dann machte er ein paar Andeutungen. «Man könnte Für und In mit dem in Beziehung bringen, was man Konvex-und Konkaverleben genannt hat. Vielleicht ist die psychoanalytische Legende, daß die Menschenseele in den zärtlich geschützten intraute-rinen Zustand vor der Geburt zurückstrebe, ein Mißverständnis des In, vielleicht auch nicht. Vielleicht ist In die geahnte Herrschaft alles Lebens (aller Moral) von Gott. Vielleicht ist die Erklärung aber auch einfach in der Psychologie zu finden; denn jeder Affekt trägt den Totalitätsanspruch in sich, allein zu herrschen und gleichsam das In zu bilden, worin alles andere getaucht sei. Kein Affekt vermag sich aber lange in der Herrschaft zu halten, ohne sich schon dadurch zu verändern, und so verlangt er geradezu nach widerstrebenden Affekten, sich an ihnen neu zu beleben, was ein ziemliches Spiegelbild unseres unentbehrlichen Für ist - Genug! und gewiß ist das eine, daß alles gesellige Leben aus dem Für entsteht und die Menschheit ein Zweckverband ist, scheinbar für etwas zu leben; sie verteidigt diese Zwecke unerbittlich; was wir heute an politischer Entwicklung sehen, sind alles Versuche, an die Stelle der verlorenen religiösen Gemeinschaft andere Für zu bringen; das Für etwas leben des einzelnen Menschen ist mit der Hausvater-und Goethezeit zurückgeblieben, die bürgerliche Religion der Zukunft wird sich vielleicht begnügen, die Massen zu einem Glauben zusammenzufassen, wobei der Inhalt des Glaubens völlig wird fehlen können, um desto mächtiger das Gleichgerichtetsein werden wird -» (Für = Gleichschaltung) —
Es war zweifellos, daß Ulrich einer Entscheidung (der Frage) auswich, denn was kümmerte Agathe die politische Entwicklung!
82 Schmeißer und Meingast
[Aus einem Entwurf]
Ulrich wollte Meingast noch einmal sehen; dieser Adler, der sich aus Zarathustras Bergen in das Familienleben von Walter und Clarisse gesenkt hatte, machte ihn neugierig. Und einem plötzlichen Einfall folgend lud er Schmeißer ein, mit ihm zu kommen; er dachte wohl durch den Eindruck seiner Freunde Milderungsgründe für sich in seinem Ankläger zu erwirken. Agathe sagte er nichts von dem Ausflug; er wußte, sie würde doch nicht mitkommen.
Als Meingast hinabging, schloß sich ihm Walter an, und es wurde, ohne die Gäste viel zu fragen, beschlossen, daß man gemeinsam zu dem Hügel mit den Kiefern gehe, der mittwegs zwischen dem Haus und der Waldgrenze lag. Als sie dort angelangt waren, zeigte sich Meingast entzückt. Die Kiefernwipfel schwebten auf ihren korallenfarbenen Stämmen als dunkelgrüne Inseln im glühendblauen Meer des Himmels: harte anspruchsvolle Farben schafften sich Platz und Geltung nebeneinander; Vorstellungen, die in Worten so unmöglich sind wie Inseln auf Korallenstämmen, daß man sich sie nicht ohne frohes Lächeln zu denken getraut, waren Augenschein und Wirklichkeit. Meingast wies mit dem Finger hinauf und sprach mit Nietzsche: «Ein Ja, ein Nein; eine gerade Linie: Formel meines Glücks!» Clarisse, die sich auf den Rücken geworfen hatte, verstand ihn aufs Wort und antwortete, mit den Augen im Blau, die Worte zwischen den Zähnen festhaltend, wie eine Person im letzten Akt, wo schon unzusammenhängend gesprochen wird: «(Lichtschauer des Südens!) Heitere Grausamkeit! Das Verhängnis über sich!» Was bedurfte es klebender (geklebter) Sätze, wenn die Natur wie eine tönende Bühne war; sie wußte, daß Meingast sie verstehe! Auch Walter verstand sie. Aber er verstand wie immer nur noch eines mehr. Er sah 730
die weibliche Wachheit seiner Frau in der weiblichen Wachheit der Landschaft liegen; denn rundherum fielen Wiesen zu Tal, in sanften Wogen, und ein kleiner Felsbruch darin war außer der Kieferngruppe das einzig Heroische inmitten gutmütiger Leiblichkeit, die ihn zu Tränen rührte, weil Clarisse nichts davon sah und nichts von sich wußte, sondern sich unbedingt die einzige Stelle hatte wählen müssen, wo die Landschaft in schwierigem Widerspruch zu sich selbst stand. Walter war eifersüchtig auf Meingast; aber er war nicht in gewöhnlicher Weise eifersüchtig, er war ebenso stolz wie Clarisse auf den neuen alten Freund, der doch gewissermaßen als ihr eigener in die Welt entsendeter Bote mit Ruhm beladen zurückkehrte.
Ulrich bemerkte, daß Meingast in der kurzen Zeit auf Clarisse mächtigen Einfluß gewonnen hatte, und daß die Eifersucht auf Meingast Walter viel ärger quälte als seinerzeit die auf ihn, denn Walter fühlte die Überlegenheit Meingasts, und hatte niemals eine Überlegenheit Ulrichs gefühlt außer der körperlichen.
Jedenfalls schienen diese drei Menschen tief in ihre Angelegenheit verstrickt zu sein; sie waren schon tagelang in Gesprächen, und ihre Gäste vermochten sie so wenig einzuholen wie Menschen, die in einen Urwald gegangen sind. Meingast schien auf die Verständigung mit dem Neuen auch keinen Wert zu legen, denn er fuhr ohne alle Rücksicht dort zu sprechen fort, wo das Gespräch vor Stunden oder Tagen abgebrochen worden sein mochte.
Die Musik, erklärte er, die Musik sei eine überseelische Erscheinung. Nicht die Kapellmeister-oder Musikautomatenmusik natürlich, die das Theater beherrscht; und auch nicht die Musik der Erotiker, worauf eine blitzschnelle Erläuterung folgte, wie ein solcher Erotiker sei in großem Zickzack von den Anfängen der Kunst bis zur Gegenwart sondern die absolute Musik. «Absolute Musik ist plötzlich, wie ein Regenbogen, von einem Ende zum ändern, in der Welt; sie ist strahlend gewölbt, ohne Vorankündigung; eine Welt auf klirrenden Flügeln, eine Welt von Eis, die wie ein Hagelschlag in der anderen schwebt. »
Clarisse und Walter horchten geschmeichelt auf. Clarisse legte überdies die Vorstellungsverbindung Musik-eisig-Hagelschlag beiseite, um sie bei dem nächsten hausmusikalischen Kampf gegen Walter zu gebrauchen.
Meingast erklärte sich ihnen einstweilen, in Eifer geraten, an Beispielen der alten, italienischen noch gesunden Musik.
Er pfiff es ihnen vor. Er war etwas zur Seite getreten und stand wie ein Pfahlfetisch in den Wiesen, langgliedrig die beschreibende Hand, das Wort wie eine Türkenpredigt. Das war nun längst nicht mehr bloß Kunst oder ästhetischer Meinungsaustausch, sondern Meingast pfiff metaphysische Beispiele, absolute Gestalten und Erscheinungen aus Tönen, die nur in der Musik vorkommen und sonst nirgends in der Welt.
Er pfiff schwebende Kurven oder ungreifbare Bilder, aus Trauer, Zorn, Liebe, Heiterkeit, forderte das Ehepaar auf, zu prüfen, inwieweit es dem gleiche, was man im Leben unter diesem Namen verstehe, und erwartete von Clarisse und Walter, daß sie, ihre eigenen Empfindungen verfolgend, an das Ende einer abbrechenden Brücke gelangen sollten, von wo aus sie erst die absolute melodische Figur in ihrer ganzen Unfaßbarkeit davonschweben sehen würden.
Was auch, wie es schien, geschah, und einen starren Glücksschauder auf die drei verbreitete. «Einmal aufmerksam gemacht, fühlt ihr selbst, » sagte Meingast «daß Musik nicht aus uns allen stammen kann. Sie ist das Bild ihrer selbst und eben darum nicht bloß das Bild eurer Gefühle. Also überhaupt kein Bild. Nichts, das sein Dasein erst durch das Dasein von etwas anderem empfangen würde. Sie ist einfach selbst Dasein, Sein, jede Begründung verachtend. » Und nun schob Meingast die Kunst mit einer Handbewegung weit hinter sich, wo sie das Fragment von etwas Größerem wurde, «denn» sagte er «die Kunst idealisiert nicht, sondern sie realisiert. Man muß, um an das Wesentliche zu kommen, ganz brechen mit der Ansicht, daß Kunst irgendetwas in uns emporhebe, verschönere oder dergleichen. Genau umgekehrt ist es. Nehmt Trauer, Größe, Heiterkeit oder was ihr wollt: es ist nur die hohle, irdische Bezeichnung für Vorgänge, die weit mächtiger sind als der lächerliche Faden, den unser Verstand von ihnen erfaßt, um sie daran herunterzuziehn. In Wahrheit sind alle unsere Empfindungen unausdrückbar. Wir pressen ihnen einen Tropfen aus und meinen, dieser Tropfen seien sie gewesen. Aber sie sind die dahineilende Wolke! Alle unsere Erlebnisse sind mehr, als wir von ihnen erleben. Ich könnte nun einfach das Beispiel der Musik darauf anwenden; alle unsere Erlebnisse waren dann vom Wesen der Musik, wenn nicht ein noch größerer Kreis das umschlösse. Denn — »
Hier trat jedoch eine Störung ein, denn Schmeißer, dessen Lippen sich schon längst trocken begattet hatten, konnte die Geburt eines Einwands nicht länger zurückhalten. Er sagte laut: «Wenn Sie die Geburt der Moral 731
aus dem Geiste der Musik ableiten, so vergessen Sie, daß alle Gefühle, von denen Sie sprechen mögen, ihren Sinn aus bürgerlichen Gewohnheiten und unter bürgerlichen Voraussetzungen empfangen!»
Meingast drehte sich dem jungen Mann freundlich zu. «Als ich vor zehn Jahren zum erstenmal nach Zürich gekommen bin, » sagte er langsam «hat so etwas noch für revolutionär gegolten. Damals hätten Sie mit Ihrem Zwischenruf bei uns Erfolg gehabt. Ich darf Ihnen mitteilen, daß ich dort im linken Flügel Ihrer Partei, wo er aus aller Herren Ländern zusammengesetzt war, meine erste geistige Ausbildung empfangen habe. Aber es ist uns heute klar, daß die schöpferische Leistung der Sozialdemokratie» - er betonte den Bestandteil Demokratie - «bisher Null geblieben ist, und niemals darüber hinauskommen wird, die Kulturinhalte des Liberalismus neu revolutionär anzustreichen!»
Schmeißer hatte nicht die Absicht, darauf zu antworten. Es genügte, mit einem Ruck der Nackenmuskeln das Haar nach hinten zu werfen und mit streng geschlossenen Lippen zu lächeln. Vielleicht konnte man auch sagen: «Oh bitte, lassen Sie sich durch mich nicht stören!» Er dachte daran, daß ein paar Zeilen im
«Schuhmacher», ein paar saftig gespitzte Glossen, jederzeit am rechten Ort sein würden, um wieder einmal vor diesen Bürgerlichen zu warnen, die es nie lange in der Bewegung aushalten. Aber Ulrich rief dazwischen: «Spießen Sie ihm nur kein Marxzitat in den Leib; Herr Meingast würde mit Goethe antworten, und wir kämen heute nicht mehr nach Hause!» Und Schmeißer ließ sich hinreißen, doch etwas zu antworten.
Da der Kampfwille fehlte, geriet es zu bescheiden; er sagte einfach: «Die neue Kultur, die der Sozialismus in die Welt gesetzt hat, ist das Solidaritätsgefühl… » Die Antwort folgte nicht gleich; Meingast schien sich Zeit zu lassen, er erwiderte langsam: «Das ist richtig. Aber es ist herzlich wenig. » Nun riß Schmeißers Geduld: «Die sogenannte Universitätswissenschaft» rief er aus «hat seit langem das Recht verloren, ernst genommen zu werden, als geistiges Zentrum! In Altertümern zu stieren, Abhandlungen über die Gedichte irgendeines Dichterlings zu schmieren, römisches Unrecht zu pauken: das züchtet nur leeren Hochmut. Die wirklichen geistigen Arbeiter bildet längst die zielbewußte Arbeiterbewegung aus, die zielbewußten Klassenkämpfer, die die Barbarei der Ausbeutung beseitigen werden, und die werden dann die Grundlage einer zukünftigen Kultur schaffen!»
Nun war es Walter, der sich empörte; er hatte schon jahrelang nicht so warm für die gegenwärtige Kultur empfunden wie angesichts dieses Zukunftskämpfers. Aber Meingast schnitt mit einer gütigen Bewegung den Gegenangriff ab. «Wir sind gar nicht so weit voneinander entfernt, wie Sie glauben; » antwortete er Schmeißer «auch ich halte wenig von der Universitätswissenschaft, und auch ich glaube, daß ein neues Gemeinschaftsgefühl, eine Abkehr vom Individualismus der letzten Aera, das wichtigste bedeutet, was heute im Werden ist. Aber -» und nun stand Meingast wieder wie ein Pfahlfetisch in den Wiesen, langgliedrig die das Wort mitbeschreibende Hand, und konnte genau dort fortfahren, wo er unterbrochen worden war. Das aber war vor seiner neuen Lehre vom Willen geschehen. Man darf unter Wille natürlich nicht etwa den Vorsatz verstehn, ein bestimmtes Geschäft aufzusuchen, weil dort das Zeichenpapier billiger ist. Oder ein Gedicht zu machen, das arhythmisch sein soll, weil alle anderen Gedichte bisher rhythmisch waren. Auch einen Vordermann niederzutreten, um selbst emporzukommen, zeigt nicht Willen an. Im Gegenteil, das ist bloß Willensschaum, den die vielen Hindernisse verursachen, die dem Willen heute im Wege liegen, ist also gebrochener Wille. Daß man auf so etwas das Wort Wille anwendet, ist ein Zeichen, daß sein wahrer Sinn überhaupt nicht mehr erlebt wird. Meingasts Patent war der ungebrochene kosmische Willensstrom. Er erläuterte seine Erscheinung an großen Männern wie Napoleon. (Vgl. Shaw’s Behauptung, daß nur die großen Männer etwas tun, und die vergeblich. > Der Wille solcher Menschen ist Tätigkeit ohne Unterbrechung, eine Art Verbrennung wie das Atmen, muß unaufhörlich Wärme und Bewegung erzeugen, und für solche Naturen sind Stillstand und Umkehr gleichbedeutend mit Tod. Ebenso kann man das aber auch am Willen der mythischen Urzeiten erläutern; als das Rad erfunden wurde, die Sprache, das Feuer und die Religion: das waren Aufbäumungen, mit denen sich nichts Späteres mehr vergleichen läßt. Höchstens im Homer finden sich vielleicht noch die letzten Spuren dieser großen Willenseinfachheit und zusammengefaßten Schöpfungskraft. Nun faßte Meingast diese zwei verschiedenen Beispiele mit außerordentlicher Kraft zusammen: Es war nicht Zufall, daß sie von einem Staatsmann und von einem Künstler sprachen. «Denn, wenn ihr euch erinnert, was ich euch von der Musik gesagt habe, so ist das ästhetische Phänomen das, was keiner Ergänzung außer seiner selbst bedarf, was schon als Erscheinung alles das ist, was es überhaupt sein kann, also der rein verwirklichte Wille! (Wille gehört nicht zur Moral, sondern zur Ästhetik, den unbegründeten Erscheinungen. ) Drei Schlüsse werden 732
daraus zu ziehen sein: Die Welt ist nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen; jeder Versuch, sie moralisch zu begründen, ist ja auch bisher mißlungen, und wir werden nun verstehen, warum das so sein mußte.
Zweitens: unsere Staatsmänner müssen, wie das schon die Urweisheit Platons verlangt hat, wieder Musik lernen; und Platon hat seine Anregungen dazu in den Weistümern des Orients geschöpft. Drittens: Nur systematisch geübte Grausamkeit bleibt als das Mittel, über das die vom Humanitarismus verblödeten europäischen Völker noch verfügen, um ihre Kraft wiederzufinden!»
Mochte dieses Gespräch auch für Ohr und Verstand manchmal etwas Unverständliches haben, mit Auge und Gefühl verhielt es sich anders; aus einer philosophischen Höhe, wo ohnehin alles eins ist, stürzte es sich herab, und Clarisse fühlte das Sausen. Es begeisterte sie. Alle Gefühle waren in ihr aufgerührt und schwammen, wenn man so sagen darf, noch einmal in Gefühl. Sie hatte sich eine Weile lang unfern von Meingast in die Wiesen gestellt, um besser zu hören und ihre Erregung hinter einem scheinbar in die Weite zerstreuten Blick verbergen zu können. Aber das innere Brennen der Welt, von dem Meingast sprach, eröffnete ihr Gedanken wie Nüsse, aus denen Flammen schlagen. Sonderbare Dinge wurden ihr klar: Sommermittage, fröstelnd vor Lichtfieber; Sternnächte, stumm wie Fische mit Goldschuppen; Erlebnisse ohne Überlegung und Vorbereitung, die manchmal über sie kamen und ohne Antwort, ja eigentlich ohne Inhalt blieben; Spannung, wenn sie Musik machte, gewiß heute noch schlechter als irgendein Konzertspieler, aber so gut sie es vermochte und deutlich mit dem unheimlichen Gefühl, daß sich etwas Titanenhaftes, namenlose Erlebnisse, ein noch namenloser Mensch, größer als es die größte Musik fassen kann, gegen die Grenzen ihrer Finger preßten. Nun verstand sie ihre Kämpfe mit Walter; das waren Augenblicke plötzlich, wie wenn ein Boot über eine unendlich tiefe Stelle weggleitet; den Worten nach vielleicht für niemand anderen zu verstehn. Clarissens Finger-und Armgelenke begannen kaum merklich mitzuspielen; man sah, wie die junge Frau die Weisheit des Propheten in ihren eigenen, leibhaften Willen übersetzte. Die Wirkung, die er auf sie ausübte, war dem Wesen eines Tanzes verwandt, einem tanzenden Wandern. Die Füße lösten sich aus der verarmten und verhärteten Gegenwart; die Seele löste sich aus der Instinktunsicherheit und Schwäche; die Ferne bäumte sich auf; sie hielt eine Blume mit drei Köpfen in der Hand: Meingast nachfolgen, Nachfolge Christi, Walter erlösen, das waren die drei Köpfe, und waren es nicht, denn Clarisse dachte das nicht wie man zählt oder liest, von links nach rechts, sondern wie einen Regenbogen von einem Ende zum ändern, aus dem Regenbogen stieg der Geruch des Schrankes auf, worin sie ihre Reisekleider verwahrte, dann bestand die Blume aus den drei Worten Ich suche, Ichsuche, Ichsucht, Clarisse hatte schon vergessen, woraus die Blume früher bestand, Walter war ein Stengel, selbst Meingast war bloß ein Stengel, Clarisse wuchs aus den Fußsohlen immer höher empor, das vollzog sich schwindelnd schnell, ehe man den Atem anhalten konnte, und Clarisse warf sich, erschreckt von ihrer Begeisterung für sich selbst, ins Gras nieder. Ulrich, der dort schon lag, hatte ihre Bewegungen mißverstanden und kitzelte sie gedankenlos mit einem Halm. Clarisse funkelte vor Abscheu.
Walter hatte Clarisse beobachtet, aber etwas, worüber er sprechen mußte, zog ihn stärker zu Meingast hin.
Das war Homer. Homer schon eine Verfallserscheinung? Nein, der Verfall begann erst mit Voltaire und Lessing! Meingast war wohl der bedeutendste Mensch, dem man heute begegnen konnte, aber was er über Musik sagte, bewies nur, welches Unglück es war, daß Walter sich durch sein Leben zu geschwächt fühlte, seine eigenen Auffassungen in einem Buch niederzulegen. Er konnte Clarisse so gut begreifen; er sah schon längst, wie sie von Meingast gepackt war; sie tat ihm so leid; sie irrte sich, setzte das Fortissimo ihres Enthusiasmus trotz allem doch beim Unwichtigen ein; diese schicksalsschwere Paarung machte seine Gefühle für sie in großen Flammen aufschlagen. Während er auf Meingast zuschritt, Clarisse im Gras hingestreckt, Ulrich zur Seite, der nie das geringste begriff, und lediglich den optischen Schwerpunkt des Bildes durch sein Daliegen etwas gegen sich hin verschob, hatte Walter ganz das Gefühl des Schauspielers, der über die Bühne geht; sie spielten hier ihr Geschick, ihre Geschichte, er fühlte die Sekunde, ehe er zu Meingast sprach, herausgehoben und zu eisigem Schweigen erstarrt, Darsteller und Dichter seiner selbst.
Meingast sah ihn kommen. Vier Schritte weit wie vier zu durchschreitende Weltalter. Er hatte Walters Ohnmacht erst unlängst die einer Demokratie von Gefühlen genannt; er hatte ihm damit den Schlüssel zu seinem Zustand gegeben, aber er hatte keine Lust, diese Auseinandersetzung weiterzuführen, und ehe Walter ihn erreichte, wandte er sich dem streitsüchtigen Fremden zu.
«Sie sind vielleicht Sozialist, » erwiderte ihm Schmeißer «aber Sie sind ein Feind der Demokratie!»
«Nun, Gott sei Dank, daß Sie es bemerken!» Meingast wandte sich ganz ihm zu, und es gelang ihm, Walter 733
und Clarisse zu vergessen: «ich war, wie Sie gehört haben, auch Sozialist. Aber Sie sagen, aus der Arbeiterbewegung werde von selbst eine neue Kultur entstehen; und ich sage Ihnen: auf dem Wege, auf dem sich der Sozialismus bei uns befindet, niemals!»
Schmeißer zuckte die Achseln. «Dadurch, daß man von Kunst, Liebe und dergleichen redet, wird der Sozialismus (die Welt) gewiß nicht auf einen besseren Weg kommen!»
«Wer redet von Kunst?! Sie haben mich, wie es scheint, nicht im geringsten verstanden. Ich bin der gleichen Meinung wie Sie, daß der jetzige Zustand nicht mehr lange dauern wird. Die bürgerlich individualistische Kultur wird zugrundegehn, wie alle Kulturen bisher zugrundegegangen sind. Woran? Ich kann es Ihnen sagen: An der Steigerung aller Quantitäten ohne entsprechende Steigerung der zentralen Qualität. Am Zuvielwerden der Menschen, der Dinge, der Auffassungen, der Bedürfnisse, der Willen. Die festigenden Kräfte, die Durchdrungenheit der Gemeinschaft von ihrer Aufgabe, ihr Wille zum Aufstieg, ihr Gemeinschaftsgefühl, das verbindende Zwischengewebe der öffentlichen und privaten Einrichtungen: alles das wächst nicht im gleichen Tempo, es bleibt weit mehr dem Zufall überlassen und gerät immer weiter in Rückstand. In jeder Kultur kommt der Punkt, wo dieses Mißverhältnis zu arg wird. Von da an ist sie anfällig wie ein geschwächter Organismus, und es bedarf nur des Stoßes zum Zusammenbruch. Die wachsende Kompliziertheit der Verhältnisse und Leidenschaften ist heute kaum noch zu halten - »
Schmeißer schüttelte den Kopf. «Den Stoß werden wir geben, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. »
«Gekommen ist! Er wird nie kommen! Die materialistische Geschichtsauffassung erzieht zur Passivität! Es ist der Zeitpunkt vielleicht morgen da. Vielleicht ist er heute schon da?! Sie werden ihn nicht ausnutzen, denn mit der Demokratie richten Sie alles zugrunde! Die Demokratie erzieht weder Denker noch Tatmenschen, sondern Schwätzer. Fragen Sie sich doch, was die kennzeichnenden Schöpfungen der Demokratie sind? Das Parlament und die Zeitung! Welch ein Einfall, » rief Meingast aus «aus der ganzen verachteten bürgerlichen Ideenwelt gerade die lächerlichste Idee, die der Demokratie zu übernehmen!»
Walter war einen Augenblick unschlüssig gestanden und hatte sich dann, da ihn Politik abstieß, zu Clarisse und Ulrich gesellt. Ulrich sagte: «So eine Theorie funktioniert nur dann, wenn sie falsch ist, aber dann ist sie eine ungeheure Glücksmaschine! Die zwei kommen mir vor wie ein Fahrkartenautomat, der mit einem Schokoladenautomaten streitet. » Aber er fand keinen Anklang.
Schmeißer hatte Meingast lächelnd standgehalten, ohne zu antworten. Er sagte sich, daß es ganz gleichgültig sei, was ein einzelner denke.
Meingast sagte: «Eine neue Ordnung, Gliederung, Kraftzusammenfassung tut not; das ist richtig. Der pseudoheroische Individualismus und Liberalismus hat abgewirtschaftet; das ist richtig. Die Masse kommt; das ist richtig. Aber: ihre Zusammenballung muß groß, hart und zeugungskräftig sein!» Und als er das gesagt hatte, sah er Schmeißer prüfend an, drehte sich um, pflückte ein Büschel Gras und ging schweigend davon.
Ulrich fühlte sich überflüssig und machte sich mit Schmeißer auf den Weg. Schmeißer sprach kein Wort.
«Da tragen wir» dachte sich Ulrich «nebeneinander zwei Glasballons auf unseren Hälsen. Beide durchsichtig, andersfarben und schön in sich geschlossen. Um Gotteswillen nicht stolpern, damit sie nicht brechen!»
Walter und Clarisse blieben allein auf ihrer «Bühne» zurück.
83 Warum Ulrich unpolitisch ist
[Studien]
[Die mit Schmeißer verknüpfte Nebenhandlung bricht -nach der Begegnung Schmeißer-Meingast -
unvermittelt ab. Nach den «Studiejiblättern» zu Teil 2 des zweiten Bandes waren zwei weitere Kapitel dafür vorgesehen. Das eine wird als «Museumskapitel» bezeichnet, das andere sollte «Stumm und die Propheten» heißen. Ausgearbeitete Entwürfe liegen nicht dazu vor. Die Vorstudien sind im wesentlichen auf einem «Studienblatt Soziale Fragestellung» zusammengefaßt. Der Problemkreis des Museumskapitels steht dabei im Vordergrund. Die Hinweise auf den zweiten Plan beschränken sich auf knappe Notizen. Sie deuten darauf hin, daß der Kapitelentwurf «Schmeißer und Meingast», der im Manuskript keine Überschrift trägt, als eine erste Fassung des Prophetenkapitels anzusehen ist. ]
Aus « Korrektur zu Band II 2 »: Grundthema des II. Bandes 2. Teil? Vielleicht doch die Utopie des 734
«anderen Zustand»,
26. XII. 31: Hauptthema der Ulrich-Agathe-Gespräche ist der «andere Zustand», denn er bildet ja die Handlung. Moral, Überzeugung und so weiter von ihm aus. Da « anderer Zustand» zu individualistisch, gleich die soziale Problematik hinzunehmen.
––-An breiten Moralkapiteln mit Ulrich und Agathe hängen wenige Kapitel mit den übrigen Personen, und diese sind lediglich aus der Gesamtgeschichte bestimmt–-Es muß also das «Ganze» ein anderes Gesicht bekommen.
–-Schilderung der auf den Krieg zutreibenden Zeit muß die Unterlage geben, auf der Ulrich/Agathe spielt, die Problematik des «anderer Zustand»-Kreises muß in stärkere Beziehung zu der Zeit gesetzt werden, damit man sie versteht und nicht bloß für eine Extravaganz hält.
Aus «Umfassende Aufbaugedanken» — 1. I 32: Immanente Schilderung der Zeit, die zur Katastrophe geführt hat, muß den eigentlichen Körper der Erzählung bilden, den Zusammenhang, auf den sie sich immer zurückziehen kann, ebensowohl wie den Gedanken, der bei allem mitzudenken ist. Alle die Probleme wie Suchen nach Ordnung und Überzeugung, Rolle des « anderen Zustand », Situation des wissen. Menschen und so weiter sind auch Probleme der Zeit und haben abwechselnd als das geschildert zu werden.
Aus «Studienblatt Soziale Fragestellung»: Das ist das richtige Gegenproblem zu Ulrichs Liebe und möglichem Leben!–- Die Notizen darüber sind bisher zerstreut. Zwang zu Zusammenfassung–—Sofort zeigt sich, daß das Kapitel mit Schmeißer und Meingast–—erhöhte Bedeutung und eine gewisse Aufgabe erhält.
18. August 33! 34?: In den–—General [von Stumm] - und so weiter Kapiteln läuft Fülle mit, im Museumskapitel geht es um die Entscheidung. Das heißt es ist einfach Ulrichs Wissen ums Soziale zu dokumentieren. Fast das gesamte Material–—ist auf ein paar Grundgedanken zu reduzieren.
Das Soziale Erlebnis ist erst in den Wiederanfängen und ist unendlich viel unentwickelter als das individuelle. Daraus folgt letzten Endes die Unmoral, die Verbrechensgesinnung der besseren Einzelnen.
Das spricht Ulrich aus. Immer hat ja schon ein Kontrast zum Sozialen, eine ergänzende Problemstellung bei den Geschwistern mitgewirkt. Es gehört außerdem dazu: Gott und antisozial. Seinesgleichen geschieht, als Aspekt für Ulrichs Zeitschilderung. Steuerung durch unzählige harmonisierende Um-und Inweltfaktoren, die zu Krieg führen, wenn ihre Unstimmigkeit einmal bewußt wird. (Die geistige «Erneuerungs»-kraft, die stimmungsmäßigen Wechsel der Geschichte gehn auf unbestimmten Rest in jedem moralischen Erlebnis zurück. ) Der Halt für die Gefühle führt zum induktiven Verfahren. Moral - im ganzen mehr ein Problem Ulrich-Agathe - ist sozial nur in der Bedeutung zusammenzufassen: Wir brauchen eine. Und es kann nur eine induktive sein. Ulrich verlangt induktives Verfahren mit Gefühl. ––-Wobei «Alles ist moralisch, nur die Moral nicht» ungefähr heißt: es ist an der Zeit eine moralische Moral zu bilden, das heißt eine, die selbst den Kriterien genügt, die sie auferlegt. Das ist eine Angelegenheit Ulrichs und gehört wahrscheinlich ins Museumskapitel. (Das hier dazu angegebene Material ist aber nur ein Teil. >
Das übrige läßt sich in einer neuen Auffassung so sehen: das Leben ist eine dauernde Oszillation zwischen Verlangen und Überdruß. Hat man eine Weile etwas getan, so will man sein Gegenteil. (So muß es auch heißen: Gefühle verlangen Dogmatisierung und vertragen keine. > Das gilt von den Trieben, aber auch von den höheren Beschäftigungen. Die Frage ist nun einfach: Gibt es etwas, das man dauernd tun kann? gibt es ein bleibendes Verhalten? Anscheinend kann nur der « andere Zustand » der Periodik von Aufbau und Zerstören Einhalt tun… (Bemerkenswerterweise ist Aufbau und Zerstören dasselbe, was Agathe Ulrich vorwirft. )
- - Die «merkwürdige Erscheinung des Nichtfrisch-bleibens des Gefühls» wird durch den Hinweis zu erklären versucht, daß alle Vorstellungen verdorren, deren Erlebnis nicht reaktualisiert wird (zum Beispiel Worte). Die Folgerung wäre: Gott als Empirismus. Außerdem wird beschuldigt die Umwandlung des Ahnens, das man erlebt, in einen Glauben, den man nicht erlebt. Daraus schlösse: alle Streitigkeiten kommen vom Glauben. (Ähnlich ist die Konsequenz der vorhin erwähnten Periodik: man dürfe Sehnsucht und Befriedigung nicht voll übernehmen. Sondern à la Möglichkeitssinn. Aber dann, sagt Agathe, besteht doch die Gefahr, daß das Leben nur eine Tändelei, ein Snobismus, ohne Leidenschaft ist. Ulrich: Ja, diese Gefahr besteht. >
Forderung einer Systematik des Zusammenlebens, einer Psychotechnik der Kollektive als 735
Minimalforderung. Das Zeitalter des Individualismus geht zu Ende als Gegensatz zum Individualismus Ulrichs und Agathes.
«Studie zum Museumskapitel»: Letzter Einfall: mit General [von Stumm]. General fährt fort, Ulrich zu bereden. Ulrichs Hauptantwort darauf. Etwa:
General: Dieses Zeitalter verlangt nach Tat, weil die Ideologie oder das Verhältnis der Ideologie zu den anderen Mächten versagt.
Ulrich: Die Auffassung des Lebens als Partiallosung. (Was ihn bewegt, sind Utopien. > Gegen das Verlangen des Zeitalters nach Tat. Gegen Überschätzung der Tat und so weiter. Es fehlt heute nicht an Tatmenschen, sondern an Menschentaten. Mann ohne Eigenschaften gegen Tat: Mann, dem keine der vorhandenen Lösungen genügt.
Agathe dagegen modifiziert das übrige: man will Entscheidung, Ja und Nein! (Denke dabei an Tat gegen Intellekt im Nationalsozialismus. An Wunsch der heutigen Jugend, Entscheidung zu finden und so weiter.
Entscheidung: ein Synonym für Tat. Ebenso: Überzeugung. Hans Sepp und sein Kreis erhalten von hier Bedeutung. )
Ulrich: (Die Antwort ist bisher) Weltsekretariat der Genauigkeit und Seele. Keiner glaubt es mir! Gegen Glauben: Methodenlehre dessen, was man nicht weiß. Ahnen. (Vielleicht so: Ulrich wiederholt diese Antwort von Zeit zu Zeit, und keiner glaubt sie ihm oder nimmt es auch nur ernst. > Alle menschlichen Kontroversen spielen sich auf dem Gebiet des Glaubens ab. Er ist die gefährliche Mittelform. Moral steht zwischen Ethos und Wissen; ist eine Glaubensform. Darum Abwendung von der Moral. Weil die Menschheit sich nicht auf Ahnen und Wissen verlegt, sondern die meisten Aufgaben in der Form des Glaubens löst, entstehen Streitigkeiten und Krieg.
Agathe dagegen: Glücklich sind nur Menschen, die überzeugt sind.
(Volle Überzeugung ist auch identisch mit Glück–-Von dieser Seite ist auch «anderer Zustand» plausibler zu nehmen als durch Theorie. Theorie des «anderen Zustand» vermeiden. Agathe und Ulrich suchen eine Überzeugung. Die Zeit sucht eine. Hinblick auf: im Bolschewismus kommt eine, aber nicht die im letzten Grunde, so daß auch er aufhören wird, Glück zu geben, und nicht definitiv ist. >
General stimmt ihr zu.
Ulrich: Von Wissen zu oberstem Gesetz. Versuch einer natürlichen Moral des induktiven Zusammenarbeitens. Idee des induktiven Zeitalters. Induktion braucht Vor-Annahmen; aber diese dürfen nicht «geglaubt» werden––— (Die Auffassung des Lebens als Partiallösung und dergleichen als unzeitgemäß. Stammt aus der Vorkriegszeit, wo das Ganze relativ fest auch für den erschien, der nicht daran glaubte. Heute ist die ganze Existenz in Unordnung geschleudert; Erörterungen, Beiträge, Abhandlungen und Abwandlungen frommen nicht - — Das Lehrmoment des Buchs ist zu verstärken, eine praktische Formel aufzustellen –—)
Aus «Studienblatt Soziale Fragestellung» (Fortsetzung) — 26. VIII. [33! 34?]: Nach den einleitenden Worten des Kapitels über Schmeißer auf die Aufgabe gestoßen: –-
Soziale Beschuldigung und Verteidigung Ulrichs beziehungsweise: Warum Ulrich unpolitisch ist. Das ist nun einesteils eine Ergänzung der noch ausständigen Antwort, die Ulrich der Aufforderung Stumms hätte geben sollen (und die er Agathe gibt), andernteils geht es darüber hinaus ins Problem Politik.
3. IX.: Schon während Schmeißers Unterhaltungen… zeigt sich der Zusammenhang mit dem Nationenkapitel [«Beschreibung einer kakanischen Stadt»] und weiteren General [von Stumm]-Kapiteln, so daß von der Frage, warum sich Ulrich nicht für Politik interessiert, das ganze Politikproblem ausgeht.
Eigentlich reduziert sich Ulrichs Verhältnis zur Politik auf Folgendes: Wie alle Menschen, die sachlich oder persönlich ihre eigene Aufgabe haben, wünschte er von der Politik möglichst nicht gestört zu werden.
Daß das, was ihm wichtig sei, durch sie gefördert werden könnte, erwartete er nicht. Daß immerhin auch im bestehenden Zustand schon ein gewisses Maß an Förderung liege, mit anderen Worten daß es auch viel schlechter noch kommen könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Ein Politiker galt ihm als ein Spezialist, der sich der gewiß nicht leichten Aufgabe der Interessenvereinigung und Interessenvertretung widmet. Er wäre auch bereit gewesen, sich bis zu einem erträglichen Grad unterzuordnen und Opfer zu übernehmen.
Daß zum Begriff der Politik das Moment der Macht gehort, übersah Ulrich nicht, der sich doch oft die Frage vorgelegt hatte, ob etwas Gutes überhaupt ohne den «stützenden» Antrieb des Bösen zustande kommen könne. Politik ist Befehl. Merkwürdigerweise sein eigener Lehrer Nietzsche: Wille zur Macht! Er 736
hatte es aber ins Geistige sublimiert. Macht steht in Widerspruch zu den Prinzipien (Lebensbedingungen) des Geistes. Hier konkurrieren zwei Machtansprüche. Macht in der Weise der Politik schwand aus seinem Gesichtsfeld, ebenso wie Macht in der Weise des Kriegs. Diese Naivität kommt ihm jetzt zu Bewußtsein.
Es mag vorkommen, aber im Grunde ist es rückständig wie eine Knabenprügelei.
Der Marasmus der Demokratie kam dem entgegen. Die stillschweigende Voraussetzung des Parlamentarismus war, daß aus dem Geschwätz der Fortschritt hervorgehe, daß sich eine steigende Annäherung an das Wahre ergebe. Es sah nicht so aus. Die Zeitungen und so weiter. Der grauenvolle Begriff der «Weltanschauungen. » Der Gesinnung. Es gibt heute nur unehrlich erworbene Überzeugungen.
Die Politisierung des Geistes dadurch, daß nur das Genehme gilt. Darüber die dünn und mürbe gewordene Fiktion der Kultureinheit. (Repräsentiert durch die Monarchie. Der Demokratie war noch nicht die Haut
[der Monarchie] abgezogen. > Was gut in diesem Leben war, geschah von Einzelnen. Wenn Ulrich von seinem «anderer Zustand» -Abenteuer absieht, das Verhältnis von Macht und Geist wird immer bleiben, aber es kann sublimierte Formen annehmen (Und wird es vielleicht tun, nachdem es eine Reihe kollektiver Versuche durchlaufen hat, die jetzt erst beginnen).
Wenn Ulrich sich das praktisch vorstellte: man müßte mit der Schule beginnen, nein, man weiß nicht womit nicht! Das
ist das verlassene–-Gefühl des Einzelnen, das ihn zu
seinem Experiment und Verbrechen führt.
Anders: Ein Geist herrscht, ohne ins letzte durchgebildet zu sein. Dann kommt jemand und zwingt etwas Anderes auf. Mit anderen Worten vielleicht: die Gesamtheit verändert sich durch einen Einzelnen (Produziert ihn, sagen manche). Es erscheint den Menschen als Unsinn, Wahnsinn, Verbrechen. Nach kurzer Zeit passen sie sich dem an. Zuckerbrot-Peitsche, die berüchtigte Charakterlosigkeit und Verächtlichkeit der Menschen, was ist das eigentlich? Und Geist ist immer nur eine Zimmerdekoration, das Zimmer kann man ihm vorschreiben. Darum wird er nie haltbar und wechselt mit der Macht.
Zusammenhängend damit: Nietzsche hat es vorausgesagt. Der Geist hat ungefähr die Lebensart einer Frau, er unterwirft sich der Kraft, wird hingelegt, widerstrebend, und findet dann doch sein Vergnügen dabei.
Und verschönt, macht Vorwürfe, beredet im einzelnen. Bereitet Vergnügen. Auf welches Bedürfnis stützt er sich da?
«Wenn Europa sich nicht zusammenschließt, so wird die europäische Kultur durch die gelbe Rasse in absehbarer Zeit vernichtet werden… » und so weiter. Man könnte es auf die Formel bringen: sie richten ihre eigene Kultur lieber selbst zugrunde! Denn es ist komisch, dieses heiße, plötzliche und zweifellos im Augenblick nicht unehrliche Gefühl für die Kultur. - Nebenbei liegt dem natürlich auch die Erfahrung zugrunde, daß abhängige Staaten rücksichtslos behandelt werden. Gerade so wie abhängige Menschen. —
Es ist das Gefühl für den eigenen Schlendrian. Der Fortschritt wäre ja gemeinsam und vereinigend. - Sie verteidigen die Kultur, statt sie zu besitzen.
Der Mensch der Kultur ist in der ganzen Welt einsam.
Es gibt nur die beiden Auffassungen: Kultur! Dann ist alles, was geschieht, verkehrt. Oder: Macht! oder ähnliches. Kampf von Tierrassen. Von auserwählten Völkern. Eine unter Umständen große Vision, aber völlig unfundiert, da die Völker kein Ziel haben, außer der Selbstbehauptung.
Nachtrag (16. II. 36): Wie kann sich jemand, den das Schwester-Problem beschäftigt, für Politik interessieren?!
Wie wäre zusammenzufassen und zu ergänzen? Pol. [itik] gehört zum Problem h[ausse] - b[aisse], Liebe -
Gewalt, Path[ein] - Ag. [ein] u[nd] d[er]gl. [eichen, ] u. [nd] z. [war] zum aktiven, bösen Teil. Kann also nur durch Vernunft melioriert werden. Im Kreislauf des Gefühls gehört es zum Außenteil. Die utopische Antwort weiß Ulrich also. Interessiert ihn die andere nicht? Er haßt die Politik mit ihrem verkehrten Anspruch, daß die Wahrheit eine Degeneration des politischen Anspruchs sei. Es begänne hier Flucht aus der Welt, bewußte «Verbrechens »gesinnung?
Aus «Studie zum Prophetenkapitel»: Das Kapitel steht jetzt im Zug von Ulrich-Politik-Tat, das bis Museumskapitel reicht, und im Zug von Kultur, das bis ans Ende reicht. Seine nähere Umgebung ist die Untätigkeitsgruppe [Ulrich und Agathe]. Dazu stehen die aktiven Figuren Schmeißer und Meingast in Kontrast. –-Bei «(Wie anders als Ulrich!)»
eingefallen: eine Aufgabe dieses Kapitels ist eben die Propheten zu zeigen. Alles ist mehr, als es ist, und 737
ähnliches. –-
Direkte Anknüpfung Meingast und Schmeißer: Besitz und
Bildung versagen. ––—
Randnotiz: –-Schmeißer (eventuell und Rotbart) ist der
neue Sekretär des Grafen Leinsdorf, von Ulrich empfohlen.
(Rotbart der von Tuzzi empfohlene)–-Rotbart und Hans
Sepp in eins ziehen? Hans Sepp wäre auch von Ulrich empfohlen. Beide Sekretäre sehr anspruchsvoll und respektlos (wie es der kommenden Entwicklung entspricht. >
84 Agathe bei Lindner
[Entwurf]
In dieser ganzen Zeit setzte Agathe ihre Besuche bei Lindner fort. Das Konto für unvorhergesehene Zeitverluste wurde dadurch übermäßig beansprucht, und allzu oft bedeutete seine Überschreitung einen Abstrich an allen anderen Unternehmungen. Außerdem verlangte das Mitgefühl mit dieser jungen Frau auch noch viel Zeit, wenn sie nicht da war.
«Ist Ihnen mein Besuch denn peinlich?» hatte sie ihn bei der ersten Wiederholung gefragt.
«Und was sagt Ihr Herr Bruder dazu!?» erwiderte Lindner jedesmal ernst.
«Ich habe ihm noch nichts davon gesagt» teilte Agathe zutraulich mit. «Denn am Ende könnte es auch ihm nicht recht sein. Sie haben mich ängstlich gemacht».
Nun, man darf seine Hand einem Hilfesuchenden nicht verweigern.
Aber Agathe verspätete sich jedesmal, wenn sie sich verabredet hatten. Vergeblich war ihr gesagt, daß Unpünktlichkeit das gleiche sei wie Vertragsuntreue oder Gewissensmangel. «Es läßt darauf schließen, daß Sie sich auch sonst in einem schläfrigen Zustand des Willens befinden und sich zufällig auftauchenden Gelegenheiten traumhaft hingeben, statt sich mit gesammelter Energie rechtzeitig loszulösen!» warf ihr Lindner vor.
«Wäre es nur traumhaft!» erwiderte Agathe.
Lindner aber erklärte heftig: «Ein solcher Mangel an Selbstbeherrschung läßt eben jede Unzuverlässigkeit auch befürchten!»
«Wahrscheinlich. Ich fürchte auch» war Agathes Antwort.
«Haben Sie denn keinen Willen?!»
«Nein».
«Sie sind phantastisch und ohne Disziplin!»
«Ja». Und nach einer kleinen Pause fügte sie lächelnd hinzu: «Mein Bruder sagt, ich sei ein Fragmentmensch, das ist hübsch, nicht wahr? auch wenn nicht feststeht, was es bedeutet. Man kann an einen unvollendeten Band unvollendeter Gedichte denken. »
Lindner schwieg unwillig.
«Mein Mann dagegen behauptet jetzt unhöflich, ich sei pathologisch, eine Neuropathin oder dergleichen»
fuhr Agathe fort.
Und darauf rief dann doch Lindner höhnisch aus: «Nein, was Sie sagen! Wie gefällt es den heutigen Menschen, wenn sich moralische Aufgaben scheinbar auf medizinische zurückführen lassen! Aber so bequem kann ich es Ihnen nicht machen. »
Den einzigen Erziehungserfolg, den Lindner erreichte, verdankte er dem Grundsatz, daß er fünf Minuten vor dem immer vorher angesetzten und verabredeten Ende eines solchen Besuches unerachtet des verspäteten Beginns und wie sehr ihn auch das Gespräch fesseln mochte, zu verstummen begann und Agathe zu verstehen gab, daß seine Zeit nun anderen Pflichten gehöre. Diese Ungezogenheit begrüßte Agathe nicht nur mit Lächeln, sondern nahm sie dankbar hin. Denn diese wenigstens an einer Seite genau wie von einem Metallrand eingefaßten und scharf anschlagenden Minuten des Gesprächs teilten auch dem Rest des Tags etwas von ihrer Bestimmtheit mit. Nach den maßlosen Gesprächen mit Ulrich wirkte das, wie wenn man sich schlank fühlt und mit einem Riemen eng umgürtet.
Als sie es aber einmal Lindner sagte und ihm eine Annehmlichkeit zu erweisen gedachte, versäumte er sofort eine Viertelstunde und war am nächsten Tag sehr ungehalten über sich.
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Unter diesen Umständen war er ein strenger Lehrer für Agathe.
Aber Agathe war eine sonderbare Schülerin. Noch immer flößte ihr dieser Mann, der etwas zu ihren Gunsten wollte, obgleich er neuestens mit sich selbst nicht zustandkam, Vertrauen und sogar Trost ein, wenn sie an dem Fortschritt mit Ulrich verzweifeln wollte. Sie suchte dann Lindner auf, und nicht nur deshalb, weil er aus irgendwelchen äußeren Gründen Ulrichs Gegner war, sondern auch, ja desto mehr, aus dem Anlaß, weil er so deutlich wie unwillkürlich die Eifersucht merken ließ, in die es ihn schon versetzte, wenn bloß Ulrichs Name genannt wurde. Das war offenbar keine persönliche Nebenbuhlerschaft, denn Agathe wußte, daß sich die beiden Männer kaum kannten, sondern eine geistiggattungsmäßige, ähnlich dem, daß Tiergattungen ihre besonderen Feinde haben, die sie schon kennen, wenn sie ihnen zum erstenmal begegnen, und deren geringste Annäherung sie in Aufregung versetzt. Und merkwürdigerweise konnte sie Lindner verstehen; denn etwas, das Eifersucht genannt werden mochte, fand sich auch unter ihren Gefühlen für Ulrich vor, ein Nicht-Schritthaltenkönnen oder kränkendes Müdewerden, vielleicht auch, einfach gesagt, eine weibliche Eifersucht auf seine männliche Gedankenlust, und es machte sie gerne zuhören und mit schaurigem Behagen, wenn Lindner irgendwelche Anschauungen bestritt, die Ulrichs sein konnten, was er immer mit besonderer Vorliebe tat. Sie konnte sich umso gefahrloser darauf einlassen, als sie sich Lindner besser gewachsen fühlte als ihrem Bruder, denn mochte er noch so kriegerisch auftreten, ja mochte er sie sogar einschüchtern, so blieb in ihr doch immer ein heimliches Mißtrauen am Werk und war manchmal von der Art, wie es Frauen gegen die Bestrebungen anderer Frauen empfinden.
Noch immer bekam Agathe Herzklopfen, wenn sie einen Augenblick allein in der Lindnerschen Umgebung saß, so als wäre sie dem Aufsteigen von Dämpfen ausgesetzt, die ihr den Kopf verzauberten. Die Versuchung, das Mißbehagen, das sie empfand, sich behagen zu lassen, die gaukelnde Möglichkeit, daß es geschähe, riefen in ihr immer die Geschichte eines entführten Mädchens hervor, das, unter fremden Menschen erzogen, gleichsam in sich selbst vertauscht und eine fremde Frau wird: es war das eine der Geschichten, die, auf ihre Kindheit zurückreichend und ohne ihr sonderlich wichtig zu sein, manchmal eine Rolle in den Versuchungen ihres Lebens und in deren Entschuldigungen gespielt hatten. Aber Ulrich hatte ihr eine eigene Deutung für diese Geschichten gegeben, aus denen man sonst leicht bloß eine mangelhafte Seelenverfassung herauslesen konnte, und sie glaubte leidenschaftlicher an seine Auslegung als er selbst.
Denn Gott hat der Breite und Länge der Zeit nach nicht nur dieses eine Leben geschaffen, das wir gerade führen, es ist in keiner Weise das wahre, es ist einer von seinen vielen hoffentlich planvollen Versuchen, er hat für uns vom Augenblick nicht Verblendete keine Notwendigkeit hineingelegt, und derart von Gott sprechend und die Unvollkommenheit der Welt, das Ziellose, sinnlos Tatsächliche ihres Wandels, die durchschaute Pose ihrer Ordnung als die eigentliche Vision Gottes und die aussichtsreichste Annäherung an ihn darstellend, lehrte sie Ulrich auch die Bedeutung des Reizes, unsicher in sich, schattenhaft planend neben sich ein anderer zu sein, in diesem Sinne verstehen.
So spürte Agathe doch Ulrich in der Nähe, während sie aufmerksam die Wände Lindners betrachtete, die mit Bildern göttlichen Inhalts behangen waren. Es fiel ihr auf, daß sie wohl Raffael, Murillo, Bernini in Stichen an den einzelnen Wänden vorfand, aber schon Tizian nicht und schon gar nichts aus der Gotik; dagegen überwogen in vielen Abbildungen heutige Nachahmungen in jenem Barockstil, der wie eine fette Omelette unendliche Mengen von Zucker in sich aufgesogen hat. Wenn man den Wänden entlang nur diesen Bildern folgte, wirkte die Häufung geblähter Gewänder und emporgehobener, leerer, ovaler Gesichter und süßlich nackter Leiber beängstigend. Agathe sagte: «Es ist soviel Seele darin, daß das Ganze als eine ungeheuerliche Entseelung wirkt. Und sehen Sie doch: die Aufwärtswendung ist derart zur Konvention geworden, daß die ganze, nicht zu unterdrückende menschliche Lebendigkeit sich in die weniger geachteten Einzelheiten geflüchtet und in ihnen versteckt hat. Finden Sie nicht, daß diese Kleidersäume, Schuhe, Beinstellungen, Arme, Gewandfalten und Wolken von aller sonst zu kurz gekommenen Sexualität überladen sind? Ja, das ist nicht weit von Fetischismus!»
Nun, Agathe sollte dieses Phänomen der Überladung kennen. Dieses sehnsüchtige sich auf einem Balkon in die Leere Hinauslehnen. Oder, es ist eigentlich umgekehrt: ein unendliches Herandrängen. Mit Schrecken konnte man es hier auf der Grenze zwischen krankhafter Schrulle und Erhebung sehn.
Lindner hatte keine Ahnung davon. Aber er war von dem Vorwurf erschreckt und versuchte zunächst, geringschätzig von der Schönheit zu sprechen. Der Künstler müsse sich des Stofflichen und Fleischlichen bedienen und hafte daran; daraus folge ein niederer Rang der Kunst. Agathe überschätze sie. Die großen 739
Erlebnisse des Menschen könne die Kunst wohl propagieren, aber nicht zum Erlebnis bringen.
Agathe hielt ihm ärgerlich vor, daß er dann zuviel solcher Bilder besitze. Die Freiheiten, die man nach seinem Ausspruch der niederen Menschlichkeit im Künstler zugestehen müsse, schienen danach doch auch ihm selbst etwas zu bedeuten. «Was?» fragte Agathe.
In die Enge getrieben, sprach Lindner seine Ansicht der Kunst aus. Wahre Kunst ist Beseelung des Stoffes.
Sie dürfe das Nackte nur darstellen, wenn die Übermacht der Seele über den Stoff aus der Darstellung spreche.
Agathe wandte ihm ein, daß er sich täusche, denn nicht die Übermacht der Seele, sondern die der Konvention spreche.
Und plötzlich brach er aus: Oder ob sie meine, daß sich der Nacktkultus der Maler und Bildhauer für einen ernsten Menschen rechtfertigen lasse? «Ist denn der nackte Mensch wirklich etwas so Schönes?! Etwas so Unerhörtes?! Sind die Entzückungen der Kunstmenschen nicht einfach lächerlich, auch wenn man von der Anwendung ernster Moralbegriffe (auf sie) noch gar nicht Gebrauch macht?!» Agathe: «Der nackte Körper ist schön!» Du lieber Himmel, es war eine Lüge, nur dazu bestimmt, ihr Gegenüber zu erzürnen. Agathe hatte niemals auf die Schönheit männlicher Körper geachtet. Frauen betrachten heute den Manneskörper meist nur als ein Gestell zur Anbringung des Kopfes. Männer pflegen von Schönheit etwas mehr zu halten.
Aber man sollte einmal alle nackten Leiber, mit denen sie unsere Museen und Ausstellungen gefüllt haben, auf einen Platz bringen, und dann sollte einer aus dem Gewirr weißer Raupen [?] die heraussuchen, die wirklich schön sind. Man würde sofort bemerken, daß der nackte Körper gewöhnlich nur nackt ist; nackt wie ein Gesicht, das durch Jahrzehnte einen Bart getragen hat und plötzlich rasiert wird. Aber schön? Daß die Welt stehen bleibt, wenn ein wirklich schöner Mensch erscheint, zeigt Schönheit als ein Geheimnis; weil Schönheit = Liebe und Liebe eben ein Mysterium ist, stimmt es ins Ganze. Ebenso, daß man den Begriff der Schönheit verloren hat (Kunstbetrieb). So sitzt sie da, und Ulrich spricht aus ihr.
Aber Lindner fällt sofort auf die Herausforderung herein. «So!» rief er aus. «Oh, natürlich, der moderne Leibeskultus erregt die Phantasie einseitig und erhitzt sie mit Ansprüchen, die das Leben nicht erfüllen kann! Sogar die übertriebene Körperpflege, die uns die Amerikaner beschert haben, ist eine große Gefahr!»
«Sie sind ein Gespensterseher» sagte Agathe gleichgültig. Lindner darauf: «Viele reine Frauen, die ohne Lebensbekenntnis solche Dinge begrüßen und mitmachen, bedenken nicht, daß sie damit Geister beschwören, die vielleicht noch ihr eigenes Leben und das ihrer Nächsten zerstören können!»
Agathe antwortete scharf: «Soll man etwa nur alle vierzehn Tage baden? Die Nägel abbeißen? Flanell tragen und nach Frostsalbe riechen?!» Es war ein Angriff auf diese Umgebung, zugleich aber fühlte sie sich eingekerkert und lächerlich bestraft damit, daß sie über solche Gemeinplätze streiten mußte.
Ihre Gespräche nahmen oft die Form an, daß Agathe spottete und reizte, damit er sich ereifere und «belle».
So erwiderte sie auch jetzt und Lindner nahm den Angriff an. Eine wirklich männliche Seele werde nicht nur der bildenden Kunst, sondern auch dem ganzen Theaterwesen mit größter Zurückhaltung gegenüberstehen und dabei ruhig den Hohn und Spott derer über sich ergehen lassen, die zu weichlich sind, um sich konsequent jedem Sinnenkitzel zu versagen! behauptete er und bezog gleich auch die Romanliteratur mit der Bemerkung ein, daß auch die meisten Romane unverkennbar die sinnliche Unfreiheit und Überreizung ihrer Autoren atmen und die niederen Seiten des Lesers gerade durch die poetische Illusion anregen, mit der sie alles beschönigen und verhüllen!
Er schien vorauszusetzen, daß Agathe ihn als unkünstlerisch verachte, und war um seine Überlegenheit bestrebt. «Es ist ja ein Dogma, » rief er aus «daß man alles gehört und gesehen haben müsse, um darüber mitreden zu können! Aber wieviel besser wäre es, ließe man andere schwätzen und wäre stolz auf seine Unbildung! Man rede sich nicht ein, daß es zur Bildung gehöre, Schmutz bei elektrischem Lichte zu sehen!»
Agathe blickte ihn lächelnd an, ohne zu antworten. Seine Bemerkungen waren so trostlos unverständig, daß ihre Augen feucht wurden. Unsicher sah er diesen naß-spöttischen Blick.
«Alle diese Bemerkungen richten sich natürlich nicht gegen die große und wahre Kunst» schränkte Lindner ein.
Da Agathe weiter schwieg, gab er noch einen Schritt nach. «Das ist nicht Prüderie» verteidigte er sich.
«Prüderie wäre selbst nur ein Zeichen verdorbener Phantasie. Aber die nackte Schönheit ruft Tragik im inneren Menschen hervor und zugleich geistige Kräfte, die diese zu entsühnen und zu lösen trachten: 740
verstehen Sie, was ich fühle?» Er blieb vor ihr stehen. Er wurde wieder von ihr festgehalten. Er sah sie an.
«Darum muß man das Nackte entweder verhüllen oder so mit der höheren Sehnsucht des Menschen verbinden, » fuhr er fort «daß es nicht knechtend und erregend, sondern beruhigend und befreiend wirkt. »
So sei es auch auf den Höhepunkten der Kunst immer versucht worden, in den Gestalten des Parthenonfrieses, in Raffaels verklärten Figuren. Michelangelo verbinde die verklärten Leiber mit der übersinnlichen Welt, Tizian binde die Begehrlichkeit durch einen Ausdruck der Gesichter, der nicht aus der Welt der Naturtriebe stamme.
Agathe stand vor ihm. «Einen Augenblick!» sagte sie. «Sie haben einen Wollfaden im Bart» und sie faßte schnell hinein und schien etwas zu entfernen; Lindner konnte nicht wahrnehmen, ob es Wirkliches oder Vorgetäuschtes sei, da er unwillkürlich und mit Zeichen keuschen Erschreckens zurückfuhr, während sie sich gleich wieder setzte. Er ärgerte sich maßlos über seine tölpische Unbeherrschtheit und suchte das durch einen rauhen Ton zu maskieren. Wie ein Sonntagsreiter ritt er weiter auf dem schlecht zu ihm passenden Worte Tragik herum. Er habe gesagt, daß die nackte Schönheit Tragik im inneren Menschen hervorrufe, und ergänzte es nun damit, daß sich diese Tragik in der Kunst wiederhole, deren Kräfte trotz allem nicht zur vollen Spiritualisierung ausreichten. Es war nicht sehr einleuchtend, aber ganz klar kam es darauf hinaus, daß die Seele des Menschen kein Schutz gegen die Sinne sei, sondern deren gewaltiges Echo. Ja, die Sinnlichkeit erlange ihre Gewalt erst dadurch, daß ihre Vorspiegelungen seine Seele erobern und erfüllen.
«Soll das ein Geständnis sein?» fragte Agathe unverschämt trocken.
«Wieso ein Geständnis?» rief Lindner aus. Und er setzte hinzu: «Welche arrogante Auffassung Sie haben!
Welcher Cäsarenwahnsinn! Und überhaupt: was denken Sie von mir ?!» Aber er floh, er wich aus dem Felde, er wich wahrhaft räumlich von Agathe zurück.
Nichts errät der Mensch so schnell wie die innere Unsicherheit eines anderen und fällt darüber her, wie die Katze über einen krabbelnden Käfer: es war eigentlich die launische Technik des Mädcheninstituts mit seinen Liebschaften . zwischen bewunderten Großen und verliebten Kleineren, die ewige Grundform des seelischen Hörigkeitsspiels, die Agathe gegen Lindner anwandte, indem sie ebenso verständig und innig auf seine Worte einzugehen schien, als sie ihn kalt überfiel und abschreckte, wenn er sich in dem beiderseitigen Gefühl sicher glaubte.
Aus der Ecke des Raumes orgelte nun seine Stimme, der er künstlich Unerschrockenheit und Tiefe verlieh, und tat so, als ob er sich im Angriff befände, indem er vorschlug: «Lassen Sie uns einmal ohne Schonung darüber reden. Machen Sie sich klar, wie unzulänglich und unbefriedigend der ganze Zeugungsprozeß als bloße Naturerscheinung ist. Selbst die Mutterschaft! Ist ihr physiologischer Mechanismus wirklich so unbeschreiblich wunderbar und vollkommen? Wieviel schreckliches Leiden bringt er mit sich, wieviel sinnlosen und unerträglichen Zufall! Wir wollen also die Naturvergötterung ruhig denen überlassen, die nicht wissen, wie das Leben ist, und öffnen unsere Augen für die Wirklichkeit: Der Zeugungsprozeß wird nur dadurch geadelt und über dumpfe Knechtschaft überhoben, daß man ihn durch Treue und Verantwortlichkeit weiht und den geistigen Idealen unterstellt!»
Agathe schien nachdenklich zu schweigen. Dann fragte sie unerbittlich: «Warum sprechen Sie zu mir vom Zeugungsprozeß?»
Lindner mußte tief Luft holen: «Weil ich Ihr Freund bin! Schopenhauer hat uns gezeigt, daß das, was wir für unser persönlichstes Erlebnis halten möchten, die allerun-persönlichste Erregung ist. Ausgenommen von diesem Betrug des Gattungstriebes sind aber die höheren Gefühle, Treue zum Beispiel, reine selbstlose Liebe, Bewunderung und Dienen… »
«Warum?!» fragte Agathe. «Gewisse Gefühle, die Ihnen passen, sollen einen überirdischen Ursprung haben und andere bloß Natur sein!?»
Lindner zögerte, er kämpfte. «Ich kann nicht wieder heiraten» sagte er leise und heiser. «Das bin ich meinem Sohn Peter schuldig. »
«Aber wer verlangt es denn von Ihnen? Ich verstehe Sie jetzt nicht» versetzte Agathe.
Lindner zuckte zurück: «Ich wollte sagen, auch wenn ich könnte, täte ich es nicht» verteidigte er sich. Er nahm einen neuen Anlauf: «Freundschaft zwischen Mann und Frau erfordert überdies eine Höhe der Gesinnung, die sich damit gar nicht vergleichen läßt. Sie kennen meine Grundsätze, also müssen Sie es auch verstehen, wenn ich Ihnen danach anbiete, daß ich nichts lieber als Ihnen brüderlich dienen, gleichsam im Weibe selbst das Gegengewicht gegen das Weib erwecken, die Maria in der Eva bestärken möchte… !»
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Er war nahe einem Schweißausbruch, so anstrengend war es, die strenge Linie seiner Vorsätze zu verfolgen.
«Sie bieten mir also eine Art ewige Freundschaft an» sagte Agathe still. «Das ist schön von Ihnen. Und Sie wissen doch wohl, daß Ihr Geschenk im voraus angenommen war. »
Sie ergriff seine Hand, wie es sich in einem solchen Augenblick gehört, und erschrak ein wenig über dieses hautige Stück fremder Mensch, das in dem Schoß der ihren lag. Auch Lindner vermochte seine Finger nicht zurückzuziehen, denn es schien ihm wohl, daß er es tun solle, doch aber auch, daß er es lassen könnte.
Sogar Ulrichs Unentschlossenheit übte manchmal diesen Naturreiz aus, mit ihr zu spielen, aber Agathe verzweifelte auch, wenn sie es sich mit Erfolg tun sah, denn die Macht der Koketterie gehört mit Bestechung, List und Zwang in einen Begriff, und nicht mit der Liebe; und indem sie sich an Ulrich erinnert fühlte, sah sie dem schwanken Menschen, der in sich jetzt wie ein Kork auf-und niedertanzte, mit einer den Tränen nahen, von bösen Einfallen durchzuckten Stimmung zu.
«Ich möchte, daß Sie mir Ihr trotziges und verschlossenes Herz öffnen» sagte Lindner zaghaft, warm und komisch. «Denken Sie nicht als einen Mann an mich. Ihnen hat die Mutter gefehlt!»
«Gut» erwiderte Agathe. «Aber werden Sie es ertragen? Wären Sie bereit, mir auch dann Ihre Freundschaft zu bewahren, » - sie zog ihre Hand zurück - «wenn ich Ihnen sagte, ich hätte gestohlen und ich hätte Blutschande auf dem Gewissen, oder irgendetwas, weswegen man ganz aus der Gemeinschaft der anderen ausgestoßen wird?!»
Lindner zwang sich zu einem Lächeln. «Das ist allerdings stark, was Sie vorbringen, es ist sogar äußerst unweiblich, » tadelte er «einen solchen Scherz zu wagen. Ach, was! wissen Sie, woran Sie mich in solchen Augenblicken erinnern? An ein Kind, das darauf ausgeht, einen Älteren zu ärgern! Aber dazu ist jetzt doch nicht der Augenblick» fügte er gekränkt hinzu, weil er sich in diesem Augenblick daran erinnerte. Plötzlich hatte aber Agathe ein Etwas in der Stimme, wovon das Gespräch bis auf den Grund durchteilt wurde, als sie sagte: «Sie glauben an Gott, verraten Sie mir: auf weiche Weise gibt er Ihnen Antwort, wenn Sie ihn vor einer schweren Sünde um Rat und Entscheidung bitten?!»
Lindner wies diese Frage mit der ängstlich empörten Strenge zurück, die ein anständiger Schloßbediensteter zur Schau trägt, wenn er nach dem Eheleben der Allerhöchsten Herrschaften befragt wird.
Agathe: Gott in Verbindung mit Verbrechen, und zwar der Augustinische, der Abgrund. Etwa wirklich möglichst au-gustinisch: «Ich sehe keine Möglichkeit, aus eigener Kraft gut zu sein. Ich verstehe nicht, wann ich Gutes, wann Böses tue, nur seine Gnade kann mich emporreißen… » Setzt wohl voraus, daß sie sich vor nicht langem darüber Sorgen gemacht hat. Bleibt vorderhand offen.
Lindner fühlte wohl etwas von der Leidenschaft ihrer Worte, darum seine Antwort sanft und beichtväterlich:
«Ich kenne Ihr Leben nicht, Sie haben mir bloß einige Andeutungen gemacht. Aber ich halte es für möglich, daß Sie ähnlich handeln können, wie es ein schlechter Mensch täte. Sie haben nicht im Kleinen gelernt, das Leben ernst zu nehmen, und werden es vielleicht darum in großen Entscheidungen nicht treffen. Sie sind wohl imstande, aus gar keinem anderen Grund Böses zu tun und sich über alles Maß hinwegzusetzen, weil es Ihnen gleichgültig ist, wie dem anderen zumute ist, das aber nur, weil Sie zwar den Wunsch nach dem Guten fühlen, aber nicht wissen, wieviel Weisheit und Gehorsam dazu gehört. » Nun ergriff er ihre Hand und bat: «Sagen Sie mir die Wahrheit. »
«Die Wahrheit ist ungefähr das, was ich Ihnen bereits gesagt habe» wiederholte Agathe nüchtern und nachdenklich.
«Nein!»
«Ja. » In diesem schlichten Ja war etwas, das Lindner plötzlich die Hand zurückstoßen machte.
Agathe sagte: «Sie wollten mich doch besser machen? Bin ich also wie ein verbogenes Goldstück, das Sie zurückbiegen möchten, so bin ich doch ein Goldstück, oder - ? Aber Sie verlieren den Mut. Die Ihnen durch meine Person überbrachte Forderung (Gottes?) kollidiert mit Ihrer konventionellen Einteilung der Handlungen in Licht und Finsternis. Und ich sage Ihnen: Gott mit einer menschlichen Moral zu identifizieren, ist Blasphemie!»
Die Stimme, mit der sie das ausrief, hatte, zumindest für Lindner, Posaunenklang, eigen Erregtes; auch er bekam Agathes wilde jugendliche Schönheit zu spüren und litt doch ohnehin schon, wenn er ihr Vorwürfe machte, jedesmal unter einer unsäglichen Angst und Einflüsterung. Denn seine Grundsätze, wo waren seine 742
Grundsätze? Rings um ihn waren sie, aber weit fort. Und in den leeren Raum, dessen mittelste Leere nun seine Brust war, regte sich etwas, das verächtlich, aber so lebendig war wie ein Korb voll junger Hunde. Er wollte ja diese verstockte junge Frau wohl nur ins Herz treffen, um ihr einen Dienst zu erweisen, aber das Herz, auf das er zielte, sah wie ein Stückchen Blumenfleisch aus. Seit Lindner Witwer war, lebte er als Asket und vermied Prostituierte und leichtsinnige Frauen grundsätzlich, aber um es gerade heraus zu sagen, je mehr er sich um Agathes Rettung ereiferte, desto begründeter wurde seine Angst, sich eines Tags dabei in einem Zustand unerlaubter Erregung erleben zu müssen. Darum zählte er in den Augenblicken des Zornes wie der Liebe innerlich oft rasch bis SO. Aber der Erfolg war ein merkwürdiger, je mehr er dadurch seine Erregung von ihrem angemaßten Angriffspunkt vertrieb, desto mehr Erregung sammelte sich in seinem ganzen Leib, und sein Leib schien mitunter innerlich zu leuchten. Und mit einer erschreckenden Deutlichkeit, für die man keine Worte finden kann, wurde er davon an jenes fürchterlich erhebende Erlebnis erinnert, das ihn in seiner Jünglingszeit ein für alle Mal vor der Macht des Gefühls gewarnt hatte.
Lindner fühlte sich von bitterer Verachtung für sich gestraft, wenn er bedenken sollte, daß das, was sich damals mit teuflischer Tücke in die Erscheinung Gottes gekleidet hatte, nun in reifen Jahren als gemeine Fleischeslust hervorkam, genau so, wie es die seichte Auffassung der Aufklärer behauptet.
«Gehen Sie doch nicht mit dieser Lüge von mir fort!» bat er.
«Das Testament?» sagte Agathe. «Es ist keine Lüge. Ich habe ein Testament gefälscht. »
Lindner packte sie im plötzlichen Zorn am Arm wie einen Schüler und rief: «Fort!»
«Nein» erwiderte Agathe. «Wir haben in unserem Kampf gegeneinander das geheime Übereinkommen, uns gegenseitig den Teufel hervorzutreiben. »
«Sie sind hochmütig und eitel!» rief Lindner aus. «Aber dahinter verbirgt sich Leid und Enttäuschung und Demütigung!» Und beinahe traf er wieder das Richtige. Aber er traf es eben doch nur beinahe, und Agathe wurde dessen (seiner) plötzlich müde und ließ ihn stehen.
Nachtrag: Obwohl das Kapitel eine breite Vorgeschichte in sich enthält, ist die Gipfelung: «Ich liebe meinen Bruder!» Was darauf folgt, bedarf wohl der Erweiterung: etwa…: Lindner führt alles an, was vom Standpunkt einer sozialen Moral vorzuwerfen ist, und Agathes Antworten drehen sich um den Einwand: Warum kann ich nicht meinen Bruder als Mann lieben, wenn Sie als Mann mir Bruderliebe antragen.
85 Traum
[Entwurf]
Das Verhalten ihres Bruders, die Beunruhigung, die der Besuch bei Lindner noch in ihr gesteigert hatte, regten Agathe in einer Stärke auf, die ihr selbst verborgen blieb. Sie wußte nicht, wie es geschehen war, noch wann, plötzlich war ihre Seele aus dem Körper getreten, und sah sich neugierig in der ihr fremden Welt um.
Agathe träumte.
Auf dem Bett lag ihr Leib, ohne sich zu bewegen, und atmete. Sie sah ihn an und hatte eine marmorglatte Freude an seinem Anblick. Dann betrachtete sie die Gegenstände, die weiter fort in ihrem Zimmer standen, sie erkannte sie alle, aber es waren doch nicht die Dinge, die sonst ihr gehörten. Denn auch die Gegenstände lagen so außer ihr wie ihr Leib, den sie dazwischen ruhen sah. Das bereitete ihr einen süßen Schmerz!
Warum tat es weh? Wahrscheinlich weil es etwas Todgleiches hatte; sie konnte nicht wirken und sich nicht rühren, und ihre Zunge war wie abgeschnitten, so daß sie auch nichts darüber zu sagen vermochte. Aber sie fühlte eine große Kraft dabei. Worauf nur ihre Sinne fielen, das begriff sie sofort, denn alles war zu sehen und erglänzte, wie Sonne, Mond und Sterne in einem Wasser Widerscheinen. Agathe sagte zu sich: «Ihr habt meinen Körper mit einer Rose verwundet» — und wandte sich dem Bett zu, um zu ihrem Leib zu flüchten.
Da entdeckte sie, daß es der Leib ihres Bruders war. Auch er lag in dem widerscheinenden herrlichen Licht wie in einer Gruft, sie sah ihn nicht genau, aber viel eindringlicher als gewöhnlich und betastete ihn in der Heimlichkeit der Nacht. Damit hob sie ihn empor; er lastete schwer in ihren Armen, doch hatte sie trotzdem die Kraft ihn zu tragen und zu halten, und diese Umarmung war von übernatürlicher Annehmlichkeit.
Der Körper ihres Bruders schmiegte sich so liebreich und gütig an sie, daß sie in ihm ruhte; wie er in ihr; nichts bewegte sich in ihr, auch die schöne Begierde nicht mehr. Und weil sie in dieser Ruhe eines waren 743
und ohne Scheidungen, auch so ohne Scheidungen in sich selbst, daß ihr Verstand wie verloren war und ihr Gedächtnis sich auf nichts besann und ihr Wille kein Tun hatte, stand sie in dieser Ruhe wie vor einem Sonnenaufgang und ging mit ihren irdischen Einzelheiten in ihm unter. Während das mit größter Freude langsam geschah, gewahrte Agathe aber rings um sich eine wilde Menge von Menschen, die sich, wie es schien, in großer Furcht um sie befand. Sie rannten aufgeregt hin und her und gebärdeten sich warnend und unwillig. Das geschah nach der Art des Traums nahe bei ihr und ging ihr doch nicht nahe, aber nur bis der Lärm und Schreck mit einemmal gewaltig in ihre Sinne drang. Da fürchtete sich Agathe und trat schnell wieder in ihren schlafenden Leib zurück; sie wußte aber in keiner Weise, wie sich alles geändert hätte, und unterließ eine Weile das Träumen.
Nach einiger Zeit begann sie es aber doch wohl von neuem.
Sie verließ abermals ihr Fleisch; diesmal begegnete sie aber gleich ihrem Bruder. Und wieder lag ihr Leib nackt auf dem Bett, und sie sahen ihn beide an, ja die Haare über dem Schamteil dieses ohnmächtig zurückgelassenen Körpers brannten wie ein kleines goldenes Feuer auf einem Grabmal aus Marmor. Weil es das Du und das Ich zwischen ihnen nicht gab, war dieses Dreisein nicht verwunderlich. Ulrich sah sie so mild und ernst an, wie sie ihn nicht kannte. Sie blickten sich auch gemeinsam in ihrer Umgebung um, und es war ihr Haus, worin sie sich befanden, aber obgleich Agathe alle Gegenstände gut erkannte, hätte sie nicht sagen können, in welchem Zimmer das geschah, und das war wieder eine seltsame Annehmlichkeit, denn es gab nichts Rechts noch Links oder Früher und Später, sondern wenn sie etwas gemeinsam anblickten, entstand ein Vereintsein wie von Wasser und Wein, das mehr golden oder mehr silbern war, je nachdem dareingeschüttet wurde. Agathe wußte sofort: «Das ist es jetzt, wovon wir so oft gesprochen haben, die Ganze Liebe», und sie paßte genau auf, damit ihr nichts entgehe. Es entging ihr aber doch immer, wie das geschah. Sie sah darauf ihren Bruder an, aber auch er blickte mit einem steifen und verlegenen Lächeln vor sich hin. In diesem Augenblick hörte sie irgendwo eine Stimme sagen, und diese Stimme war so übermäßig schön, daß sie gar nicht irdischen Dingen gleichen mochte: «Wirf alles, was du hast, ins Feuer, bis zu den Schuhen; und wenn du nichts mehr hast, denk nicht einmal ans Leichentuch und wirf dich nackt ins Feuer!» Und während sie dieser Stimme zuhörte und sich erinnerte, daß sie diesen Satz kenne, stieg ein Glanz in ihre Augen und drang aus ihnen hinaus, der die genaue irdische Bestimmtheit auch von Ulrich fortnahm, und sie hatte dabei nicht den Eindruck, daß ihm nun etwas fehle, sondern jedes Glied an ihr empfing davon in der Weise seiner besonderen Lust große Gnade und Seligkeit. Unwillkürlich tat sie einige Schritte auf ihren Bruder zu. Da kam er ihr von der anderen Seite in der gleichen Weise entgegen.
Nun war nur noch ein schmaler Abgrund zwischen ihren Körpern, und Agathe fühlte, es müsse etwas getan werden. An dieser Stelle ihres Traums begann sie auch mit aller Anstrengung wieder nachzudenken.
«Wenn er etwas liebt und es empfängt und genießt, » sagte sie sich «so ist er nicht mehr er, sondern seine Liebe ist meine Liebe!» Sie hatte wohl ein Empfinden dafür, daß dieser Satz so, wie sie ihn aussprach, irgendwie verwachsen und verstümmelt wäre, aber sie verstand ihn doch durch und durch, und da nahm er eine alles erklärende Bedeutung an. «Im Traum» erläuterte sie es sich «darf man nicht überlegen, da geschieht alles!» Denn alles, was sie überlegte, glaubte sie geschehen zu sehn oder vielmehr, was geschah und an der Wollust des Stoffes teilhatte, hatte auch an der Wollust des Geistes teil, die als Gedanke in sie drang, wie es tiefer nicht möglich ist. Es schien ihr das eine große Überlegenheit über Ulrich zu geben; denn während dieser nun wieder hilflos dastand, ohne sich zu regen, stieg nicht nur der gleiche Glanz in ihre Augen wie vorhin und füllte sie, sondern sein feuchtes Feuer brach mit einemmal auch aus ihren Brüsten und hüllte alles, was ihr gegenüber war, in ein unbeschreibliches Empfinden. Von diesem Feuer wurde nun ihr Bruder erfaßt und begann darin zu brennen, ohne daß das Feuer weniger oder mehr würde. «Nun siehst du!» dachte Agathe. «Man hat es immer falsch gemacht! Man baut immer eine Brücke aus hartem Stoff und kommt immer nur an einer Stelle zu einander hinüber: man muß aber den Abgrund an allen Stellen überschreiten!» Sie hatte ihren Bruder an den Händen erfaßt und wollte ihn an sich ziehen: da löste sich, während sie zog, aber ohne eigentlich verändert zu werden, der brennende nackte in einen Busch oder eine Wand herrlicher Blumen auf und kam in dieser Gestalt lose näher. In Agathe schwanden alle Absichten und Gedanken; sie lag ohnmächtig vor Wollust auf ihrem Bett, und während die Wand durch sie hindurchschritt, glaubte sie auch, daß sie weiter große Bäche von weichhäutigen Blüten durchwandern müsse, und sie ging, ohne den Zauber vergehen machen zu können. «Ich bin ja verliebt!» dachte sie, wie einer einen Augenblick findet, wo er Luft zu schöpfen vermag, denn sie konnte ihre ungeheure Erregung, die nicht enden wollte, 744
kaum noch ertragen. Sie sah auch ihren Bruder nicht mehr seit der letzten Verwandlung, aber er war nicht verschwunden.
Und damit wachte sie auf, daß sie ihn suchte; aber sie fühlte, daß sie noch einmal zurückwollte, denn das Glück hatte eine solche Steigerung erreicht, daß es immer mehr wurde.
Sie war ganz verwirrt, als sie aus dem Bett stieg: in ihrem Kopf war die beginnende Wachheit und in allen anderen Teilen ihres Körpers noch der nicht beendete Traum, der scheinbar kein Ende haben wollte.
86 Z u viel Süße oder Die drei Schwestern
[Entwurf und Studie]
Seit dem Traum war ein Vorsatz in Agathe, ihren Bruder zu einem tollen Versuch zu verleiten. Er war ihr selbst noch nicht klar.
Ulrich fragte: «Was willst du von mir, meine Kleider, meine Bücher, mein Haus, meine Aussichten auf die Zukunft? Was soll ich dir schenken? Ich möchte dir alles geben, was ich habe. »
Agathe erwiderte: «Schneide dir einen Arm für mich ab oder wenigstens einen Finger!»
Sie hielten sich zu ebener Erde im Besuchszimmer auf, dessen hohe, schmale, oben runde Fenster das junge, weiche Vormittagslicht, vermischt mit Baumschatten in den spiegelnden Fußboden fallen ließen. Blickte man an sich hinunter, so war das ähnlich auszunehmen, als erblickte man unter seinen Füßen den entfärbten Himmel mit Helligkeit und Wolken durch ein bräunliches Glas. Die Geschwister hatten sich so sehr zurückgezogen, daß kaum noch die Gefahr bestand, sie könnten durch einen Besuch gestört werden.
«Du bist zu bescheiden!» fuhr Ulrich fort. «Verlange doch mein Leben! Ich glaube, daß ich es für dich von mir streifen könnte. Aber Finger? Ich muß bekennen: ein Finger, das liegt mir gar nicht!»
Er lachte. Seine Schwester mit ihm; aber ihr Gesicht behielt doch den Ausdruck des Menschen, der einen anderen über etwas scherzen sieht, das ihm selbst ernst ist.
Nun kehrte Ulrich den Spieß um: «Wenn man liebt, schenkt man, man behält nichts für sich, man will nichts allein besitzen: warum willst du Lindner für dich allein besitzen?» fragte er.
«Ich besitze ihn doch überhaupt nicht!» erwiderte Agathe. «Du besitzt deine heimlichen Gefühle für ihn und deine heimlichen Gedanken über ihn. Deinen Irrtum über ihn!»
« Und warum schneidest du dir denn nicht einen Arm ab ?!» fragte Agathe herausfordernd.
«Wir werden ihn abschneiden» gab nun Ulrich zur Antwort. «Aber im Augenblick frage ich mich noch, welches Leben daraus entstehen müßte, wenn ich wirklich alle Selb-stigkeit aufgäbe und die anderen ebenso täten? Alle sich selbst mit allen gemeinsam hätten; nicht nur den Eßnapf und das Bett, sondern wirklich sich selbst, so daß jeder den Nächsten liebte wie sich selbst und keiner sich selbst am nächsten wäre. »
Agathe sagte: «Irgendwie müßte das möglich sein. » «Kannst du dir denken, daß du einen Geliebten mit einer anderen Frau gemeinsam hättest?» fragte Ulrich.
«Ich kann es mir denken, » behauptete Agathe. «Ich kann es mir sogar sehr schön denken! Ich kann mir bloß die Frau dazu nicht denken. » Ulrich lachte.
Agathe machte eine abwehrende Bewegung dagegen. «Ich habe eine besondere persönliche Abneigung gegen Frauen» sagte sie.
«Eben! Eben! Und ich liebe Männer nicht!» Agathe war ein wenig beleidigt durch seinen Spott, weil sie fühlte, daß er nicht unberechtigt war, und sie sagte das nicht mehr, was sie zu sagen vorgehabt hatte.
Ulrich begann in die entstehende Leere hinein, um sie aufzumuntern, etwas zu erzählen, das er, in dem abgelenkten Zustand während des Rasierens, unlängst zusammengeträumt hatte: «Du weißt doch, daß es Zeiten gab, wo vornehme Damen, » sagte er «wenn ihnen ein Sklave gefiel, diesen verschneiden lassen konnten, so daß sie an ihm ihre Lust hatten, aber die Vornehmheit ihrer Nachkommenschaft nicht gefährdeten. »
Agathe wußte es nicht, aber sie zeigte das nicht. Dagegen erinnerte sie sich nun, einmal gelesen zu haben, daß bei irgendwelchen ungesitteten Völkern jede Frau auch alle Brüder ihres Mannes mit heirate und ihnen in allem dienen müsse, und jedesmal wenn sie sich solche sklavische Erniedrigung vorstellte, zog sie ein unwilliger, und doch nicht ganz unwillkommener, Schauder zusammen. Aber auch davon zeigte sie ihrem Bruder nichts.
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« Ob so etwas oft vorgekommen ist oder nur als Ausnahme, weiß ich nicht, das spielt auch keine Rolle, »
war Ulrich unterdessen fortgefahren «denn ich habe, wie ich jetzt wohl gestehen muß, nur an den Sklaven gedacht. Ich habe, genau gesagt, an den Augenblick gedacht, wo er zum erstenmal das Krankenlager verläßt und der Welt wieder gegenübersteht. Zunächst wird sich natürlich der am Eingang der Ereignisse erstarrte Wille zur Auflehnung und Abwehr wieder regen und auftauen. Aber dann muß das Bewußtsein kommen, daß es zu spät ist. Der Zorn will sich empören, aber da kommen nacheinander hinzu: Erinnerung an erlittenen Schmerz, feiges Erwachen einer Angst, der bloß das Bewußtsein entzogen worden war, schließlich jene Demut, die unwiderruflich gewordene Demütigung bedeutet, und diese Gefühle halten jetzt den Zorn nieder, so wie man den Sklaven selbst niedergehalten hat, während man den Eingriff an ihm vornahm. » Ulrich unterbrach diese sonderbare Darstellung und suchte nach Worten, seine Augenlider waren nachdenklicherweise gesenkt. «Bloß körperlich könnte er sich ja zweifellos noch ermannen, » fuhr er fort «aber eine merkwürdige Beschämung wird ihn daran hindern, es zu tun, denn er muß erkennen, daß es in einer alles umfassenden Weise zwecklos ist, er ist ja kein Mann mehr, er ist in ein mädchenhaftes Dasein erniedrigt, in das Dasein eines Handtuches, eines Taschentuches, einer Tasse, irgendwelcher Wesen, die, nicht ohne Zärtlichkeit, dienen dürfen. Ich möchte den Augenblick kennen, wo er dann, zum erstenmal wieder, vor seine Peinigerin gerufen wird und das, was sie mit ihm vorhat, in ihren Augen liest… »
Agathe lachte spöttisch auf. «Recht seltsame Gedanken hast du dir gemacht, Ulo! Und wenn ich denke, daß dein Sklave vor seiner Entmannung vielleicht ein Metzger oder fescher Hausdiener gewesen ist… ?»
Ulrich lachte harmlos mit. «Dann fände ich wohl selbst meine Schilderung seiner Seelenerweckung beunruhigend komisch» gab er zu. Er war selbst froh darüber, daß diesem anrüchigen Gefühlsbericht ein Ende bereitet wurde. Denn es müßte ihm wohl unversehens verschiedenes in den Kopf gekommen sein, was nicht dahin gehörte: so als ob etwas von den mythologischen ihre Anbeter verzehrenden Göttinnen oder den Siamesischen Zwillingen bis zum Masochismus oder zum Kastrationskomplex mit dem Fingernagel über das zweifelhafte Tastenwerk der zeitgenössischen Seelenlehre gefahren wäre! Als er zu lachen aufhörte, machte er unvermittelt ein erbittertes Gesicht.
Agathe legte die Hand auf seinen Arm. In ihren grauen Augen zuckten die winzigen Schatten einer verhohlenen Erregung. «Aber warum hast du mir das erzählt?» fragte sie.
«Ich weiß nicht» sagte Ulrich.
«Ich glaube, du hast an mich gedacht» behauptete sie.
«Unsinn!» wehrte Ulrich ab, und nach einer Weile fragte er: «Weißt du, daß heute wieder ein Brief von Hagauer gekommen ist?» und begann scheinbar damit von etwas anderem zu sprechen.
Die Briefe Hagauers, die damals eintrafen, wurden von einem zum anderen bedrohlicher. «Ich verstehe nicht, warum er sich unter diesen Umständen nicht auf die Bahn setzt und herkommt, um eine Aufklärung zu erzwingen» fuhr Ulrich fort.
«Er wird keine Zeit dazu finden» sagte Agathe.
Und so verhielt es sich auch. Hagauer war anfangs einigemal dazu entschlossen gewesen, aber da war jedesmal etwas dazwischen gekommen, und dann hatte er sich etwas an das Alleinsein gewöhnt. Es schien ihm ganz gut zu sein, eine Weile ohne Frau zu leben: der Mann soll nicht allzu glücklich sein oder es allzu bequem haben, - es ist das eine heroische Lebensauffassung. So trat Hagauer seinem Mißgeschick tatkräftig entgegen und hatte die Genugtuung wahrzunehmen, daß nicht nur die Zeit Wunden zu heilen vermag, sondern auch der Zeitmangel. Das hinderte ihn aber natürlich nicht, in der Forderung fortzufahren, daß Agathe zurückkehre, ja er konnte sich dieser Ordnungsfrage mit dem ungestörten Verstande eines Mannes widmen, der die Kinder seines Gefühls zu Bett geschickt hat. Er nahm gründlich noch einmal Einsicht in alle Dokumente, die er wohl geordnet aufbewahrte, und las Abend für Abend alle persönlichen Schreiben seines verstorbenen Schwiegervaters durch, ohne auch nur in einem dieser Schriftstücke eine Andeutung der Überraschung zu finden, mit der man ihm aufgewartet hatte. Und daß ein Mann, den er immer als Vorbild hatte verehren dürfen, im letzten Augenblick seinen Sinn geändert haben könnte oder durch Jahre sein Testament mit Nachlässigkeit nicht veränderten Umständen angepaßt haben sollte, erschien Hagauer desto unwahrscheinlicher, je öfter er die Bändchen gelöst und die Aufschriftzettel entfernt hatte, mit denen er seinen Briefwechsel und andere schriftliche Angelegenheiten in Ordnung hielt. Er vermied es, darüber nachzudenken, wie dann das Ergebnis zustandegekommen sei, das schließlich vorlag, und kam mit sich überein, daß irgendein Irrtum, irgendeine Flüchtigkeit, irgendeine schuldhafte oder schuldlose 746
Fahrlässigkeit, irgendein ad-vokatorischer Kniff dahinterstecken müsse. In dieser Auffassung, die es ihm erlaubte, sein Gemüt noch zu schonen, ohne darüber seine Zeit zu versäumen, begnügte er sich damit, genaue Aufstellungen und Belege zu fordern, und als diese nicht kamen, einen Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen, denn er setzte nun als ordnungsliebender Mensch voraus, daß Agathe und Ulrich in ihrem verstockten Bestreben offenbar schon das Gleiche getan haben müßten, und [er] dürfte nicht hinter ihnen zurückbleiben. Nun übernahm der Rechtsanwalt das Briefeschreiben und wiederholte die Forderung der Aufklärung und verband mit ihr die der Rückkehr Agathes, teils weil es Hagauer so wünschte, der das Verhalten seiner Frau auf den Einfluß ihres Bruders schob, teils weil es in dieser unklaren und vielleicht düsteren Angelegenheit gegeben zu sein schien, daß man sich zunächst an den sicheren Tatbestand des
«böswilligen Verlassens» halte; das andere sollte der Zukunft und vorsichtiger Auswertung der sich ergebenden Angriffspunkte überlassen bleiben.
Von da an las Ulrich wieder die gegnerischen Briefe und verbrannte sie nicht. So oft er aber seither seiner Schwester vorhielt, daß es unaufschiebbar werde, sich gleichfalls rechtskämpferisch auszurüsten, hatte sie nichts davon wissen wollen, ja sie mochte nicht einmal seine Berichte anhören, und er hatte schließlich den ersten Schritt sogar ohne sie tun müssen, zuletzt bis sein eigener Rechtsanwalt darauf bestand, daß er Agathe selbst hören und seine Vollmachten von ihr empfangen müsse. Das war es, was ihr Ulrich jetzt mitteilte, alles auf einmal und hinzufügend, daß es ein recht unangenehmer juristischer Brief sei, was er zunächst schonend bloß ein «Schreiben Hagauers» genannt hätte. «Es ist wahrscheinlich sogar unvermeidlich und unversehens höchste Zeit geworden, daß wir unserem Anwalt mit aller Vorsicht und Zurückhaltung etwas von der gefährlichen Geschichte des Testaments anvertrauen» vollendete er.
Agathe sah ihn lange und unentschlossen mit einem von innen geblendeten Blick an, ehe sie ihm darauf leise die Worte: «Das habe ich nicht gewollt… !» zur Antwort gab.
Ulrich führte mit den Armen eine entschuldigende Bewegung aus und lächelte. Es ließ sich im Feuer der Güte leben auch ohne Brandstiftung, und der verbrecherische Kunstgriff, den sie am Vermächtnis ihres Vaters vorgenommen hatte, war längst überflüssig geworden: aber er war eben geschehn und ließ sich nicht ändern, ohne daß man sich eine Blöße gab. Ulrich verstand die Verbindung von Abwehr und Verzagtheit in der Antwort seiner Schwester. Agathe war indessen aufgestanden und hatte sich zwischen den Gegenständen des Zimmers hin und her bewegt ohne zu sprechen; jetzt ließ sie sich auf einem entfernteren Platz nieder und sah ihren Bruder noch immer schweigend an. Ulrich wußte, daß sie ihn in das Schweigen zurückziehen wollte, das wie eine Ruhematte aus kleinen Flammenspitzen war, und ein süßes Martertum forderte sein Herz zurück.
Ähnlich wie in der Musik oder im Gedicht, an einem Krankenlager oder in einer Kirche war der Kreis dessen, was ausgesprochen werden konnte, eigenartig eingeengt, und es hatte sich in ihrem Verkehr deutlich ein Unterschied zwischen Gesprächen herausgebildet, die statthaft waren, und solchen, die man nicht führen konnte. Es geschah aber nicht durch Feierlichkeit oder sonst eine gehobene Erwartung, sondern hatte seinen Ursprung scheinbar außerhalb des Persönlichen. Sie zögerten beide. Was sollte das nächste Wort sein, was sollten sie tun? Die Unsicherheit glich nun einem Netz, worin sich alle unausgesprochenen Worte gefangen hatten: das Geflecht bog sich wohl auseinander, aber sie vermochten nicht hindurchzubrechen, und in diesem Wortmangel schienen Blicke und Bewegungen weiter zu reichen als sonst, und die Umrisse, Farben und Flächen ein unaufhaltsames Gewicht zu haben: eine geheime Hemmung, die sonst in der Anordnung der Welt liegt und der Tiefe der Sinne Grenzen setzt, war schwächer geworden oder setzte zeitweilig aus. Und unabwendbar kam dann der Augenblick, wo das Haus, darin sie sich befanden, einem Schiff glich, das auf eine unendliche, nur dieses Schiff widerspiegelnde Einöde hinausgleitet: die Geräusche der Ufer werden immer schwächer, und schließlich erstirbt alle Bewegung; die Gegenstände werden dann ganz stumm und verlieren die unhörbare Stimme, mit der sie den Menschen ansprechen; die Worte fallen, ehe sie noch gedacht sind, wie kranke Vögel aus der Luft und ersterben; das Leben hat nicht einmal mehr die Kraft, die kleinen, flinken Entschlüsse hervorzubringen, die so wichtig wie unbedeutend sind: aufzustehen, einen Hut zu nehmen, eine Tür zu öffnen oder etwas zu sagen. Zwischen dem Haus und der Straße lag dann plötzlich ein Nichts, durch das weder Agathe noch Ulrich hindurch konnten, aber im Zimmer war der Raum zu einem höchsten Glanz geschliffen, der geschärft und gebrechlich wie alles Höchstvollendete war, wenn ihn das Auge auch nicht unmittelbar wahrnahm. Das war die Angst der Liebenden, die auf der Höhe des Gefühls nicht mehr wußten, welche Richtung aufwärts und 747
welche abwärts führt. Sahen sie jetzt einander an, so konnte sich das Auge in süßer Qual nicht von dem Anblick zurückziehen, den es sah, und versank wie in einer Blumenwand, ohne auf Grund zu stoßen. «Was mögen jetzt die Uhren machen?» fiel Agathe mit einemmal ein und erinnerte sie an den kleinen, idiotischen Sekundenzeiger von Ulrichs Uhr mit seinem genauen Vorrücken den engen Kreis entlang; die Uhr stak in der Tasche unter dem letzten Rippenbogen, als wäre dort die letzte Rettungsstelle der Vernunft, und Agathe sehnte sich danach, sie hervorzuziehen. Ihr Blick löste sich von dem ihres Bruders: wie schmerzhaft war dieser Rückzug! Sie fühlten beide, daß es hart ans Komische streifte, dieses gemeinsame Schweigen unter dem Druck eines schweren Berges von Seligkeit oder Ohnmacht.
Und plötzlich sagte Ulrich, ohne daß er sich vorher überlegt hätte, gerade das zu sagen: «Die Wolke des Polonius, die bald als Schiff, bald als Kamel erscheint, ist nicht die Schwäche eines nachgiebigen Höflings, sondern bezeichnet ganz und gar die Art, in der uns Gott geschaffen hat!»
Agathe konnte nicht wissen, was er meine; aber weiß man es immer bei einem Gedicht? Wenn es gefällt, öffnet es die Lippen und macht lächeln, und Agathe lächelte. Sie war schön mit den geschwungenen Lippen, aber Ulrich hatte dabei Zeit, und nach und nach besann er sich auf das, was er gedacht hatte, ehe er das Schweigen brach. Natürlich hatte er viel gedacht. Er hatte sich zum Beispiel vorgestellt, Agathe trage eine Brille. Damals galt eine Frau mit einer Brille noch als komisch und sah wirklich zum Lachen oder auch bedauerlich aus; aber es bereitete sich auch schon die Zeit vor, wo sie damit, wie noch heute, unternehmungslustig, ja geradezu jung aussah. Dem liegen die fest erworbenen Gewohnheiten des Bewußtseins zugrunde, die wechseln, aber in irgendeiner Verbindung immer da sind und die Schablone bilden, durch die alle Wahrnehmungen hindurchgehen, ehe sie zu Bewußtsein kommen, so daß in gewissem Sinne immer das Ganze, das man zu erleben glaubt, die Ursache von dem ist, was man erlebt. Und selten macht man sich eine Vorstellung davon, wie weit das reicht und daß es von schön und häßlich, von gut und böse, wo es noch natürlich zu sein scheint, daß des einen Morgenwolke des anderen Kamel sei, über bitter und süß oder duftig und übelriechend, die schon etwas Sachliches haben, bis zu den Sachen selbst reicht, mit ihren genau und unpersönlich zugewiesenen Eigenschaften, deren Wahrnehmungen scheinbar ganz unabhängig von geistigen Vorurteilen ist und es in Wahrheit nur zum großen Teil ist. In Wahrheit ist das Verhältnis der Außen-zur Innenwelt nicht das eines Stempels, der in einen empfangenden Stoff sein Bild prägt, sondern das eines Prägestocks, der sich dabei deformiert, so daß sich seine Zeichnung, ohne daß ihr Zusammenhang zerrisse, zu merkwürdig verschiedenen Bildern verändern kann. Also daß auch Ulrich, wenn er zu denken vermochte, daß er Agathe mit einer Brille vor sich sehe, ebenso denken konnte, daß sie Lindner oder Hagauer liebe, daß sie seine «Schwester» sei oder «das zwillinghaft halb mit ihm vereinte Wesen», und keinmal war es eine andere Agathe, die vor ihm saß, sondern ein anderes Dasitzen, eine andere sie umschließende Welt, so wie eine durchsichtige Kugel, die in ein unbeschreibliches Licht taucht.
Und es schien ihnen beiden, daß der tiefste Sinn des Halts, den sie aneinander suchten und den überhaupt ein Mensch am anderen sucht, darin liege. Sie glichen ja zwei Menschen, die Hand in Hand aus dem Kreis, der sie fest umschlossen hat, herausgetreten sind, ohne schon in einem anderen Kreis zu Hause zu sein.
Darin lag etwas, das sich den gewöhnlichen Begriffen des Zusammenlebens nicht unterordnen ließ…
Sie hatten sich vorgenommen, so zu leben wie Geschwister, wenn man dieses Wort nicht im Sinne einer standesamdichen Urkunde, sondern in dem eines Gedichts nimmt; sie waren nicht Bruder und Schwester, noch Mann und Frau, ihre Wünsche waren wie weißer Nebel, in dem ein Feuer brennt. Aber das genügte, um ihrer Erscheinung für einander zuweilen den Halt an der Welt zu nehmen. Die Folge war, daß die Erscheinung dann sinnlos stark wurde. Solche Augenblicke enthielten eine Zärtlichkeit ohne Ziel und Schranken. Auch ohne Namen und Hilfe. Jemandem etwas zuliebe tun, enthält im Tun tausend Verknüpfungen mit der Welt, jemandem eine Freude machen, enthält im Machen alle Überlegungen, die uns mit anderen Menschen verbinden. Eine Leidenschaft dagegen ist ein Gefühl, das sich selbst, frei von allen Vermengungen, nicht genug tun kann. Sie ist zugleich das Gefühl einer Ohnmacht in der Person und das einer von ihr ausgehenden Bewegung, welche die ganze Welt ergreift.
Und es soll nicht geleugnet werden, daß Agathe in Gesellschaft ihres Bruders die bittere Süße einer Leidenschaft schmeckte. Man verwechselt heute oft Leidenschaft und Laster. Zigarettenrauchen, Kokain und das lebhaft geschätzte wiederkehrende Bedürfnis coeundi sind weiß Gott keine Leidenschaften. Agathe wußte das; sie kannte den Leidenschaftsersatz und sie erkannte die Leidenschaft im ersten Augenblick daran, daß nicht nur das Ich brennt, sondern auch die Welt; es ist wie wenn alle Dinge hinter der Luft 748
stünden, die über der Spitze einer Flamme ist. Sie hätte dem Schöpfer auf den Knien danken mögen dafür, daß sie es wieder erlebte, obgleich es ebenso sehr das Gefühl einer Zerstörung wie das eines Glücks ist.
Ulrich rang oft nach einem Wort, nach einem Scherz; es wäre einerlei, wovon man spräche, es müßte nur etwas Gleichgültiges und Wirkliches sein, das im Leben häuslich und heimatberechtigt ist. Das die Seelen in einen Zusammenhang der Wirklichkeit zurückversetzt. Man kann ebenso gut gleich vom Rechtsanwalt sprechen, wie von irgendeiner klugen Beobachtung. Nur ein Verrat am Augenblick müßte es sein; das Wort fallt dann in die Stille, und im nächsten Augenblick blinken rings herum andere Wortleichen auf, wie die toten Fische massenhaft emporsteigen, wenn man Gift ins Wasser wirft!
Wenn Ulrich sich wehrte: «Aber wir haben doch eine Aufgabe und Tätigkeit in der Welt!» so antwortete Agathe: «Ich keine, und du bildest dir deine gewiß auch nur ein. Wir wissen ungefähr, was wir zu tun haben: beisammen zu sein! Was ist schon das, was in der Welt vorwärts gebracht wird ?!»
Ulrich pflichtete ihr nicht bei und versuchte, sie ironisch von der Unmöglichkeit dessen zu überzeugen, das ihn in Fesseln hielt. «Es gibt nur eine Erklärung für das Nichtstun, die einigermaßen befriedigt: in Gott ruhen und in Gott eingehen. Man kann statt Gott auch ein anderes Wort gebrauchen: das Ureine, das Sein, das Unbedingte… es gibt einige Dutzend Worte, alle ohnmächtig. Sie setzen alle dem Erschrecken vor dem süßen Aufhören der Menschlichkeit die Versicherung entgegen: du bist an den Saum von etwas geraten, das mehr als Menschlichkeit ist. Philosophische Vorurteile besorgen dann das Übrige. » Agathe erwiderte: «Ich verstehe nichts von Philosophie. Aber hören wir doch einfach auf zu essen! Versuchen wir, was daraus wird?» Ulrich bemerkte, daß in der hellen Kinderei dieses Vorschlags ein feiner schwarzer Strich war.
«Was soll daraus werden!?» Er beantwortete ausführlich: «Erst Hunger, dann Ermattung, dann wieder Hunger, rasende Freßphantasien und schließlich eben entweder essen oder sterben!»
«Das kann man nicht wissen, wenn man es nicht versucht hat!»
«Aber Agathe, das ist doch tausendfach versucht und erprobt worden!»
«Von Professoren! oder von verkrachten Spekulanten. Weißt du, sterben muß gar nicht so sein wie man sagt. Ich bin schon einmal beinahe gestorben: das war anders. »
Ulrich zuckte die Achseln. Er hatte keine Ahnung davon, wie nahe beisammen in Agathe die beiden Gefühle waren, mit einem Aufschwung über alle verlorenen Jahre hinwegzusetzen oder, wenn es wieder mißlang, aufhören zu wollen. Sie hatte nie wie Ulrich das Bedürfnis gekannt, die Welt besser zu machen, als sie ist; sie lag gern irgendwo, während Ulrich immer auf den Beinen war: diesen Unterschied hatte es zwischen ihnen schon als Kindern gegeben, und es blieb ein Unterschied bis zum Tod. Ulrich fürchtete ihn weniger als daß er ihn wie eine Schande betrachtete, die als letzter Preis auf alles Streben gesetzt ist. Agathe hatte sich immer vor dem Tod gefürchtet, wenn sie sich ihn, wie das jeder junge und gesunde Mensch tut, in der unerträglichen und unverständlichen Form vorstellte: jetzt bist du noch, aber irgendwann bist du nicht mehr! Aber zugleich hatte sie schon in früher Jugend jenes allmähliche Loslösen kennen gelernt, das sich in die kleinste Zeitspanne einzuschieben vermag, jenes trotz aller Langsamkeit rasend schnelle Abgewendetwerden vom Leben, und seiner müde Werden, und seiner gleichgültig Werden und zutraulich in das kommende Nichts Hineinstreben, das sich einstellt, wenn der Körper durch eine Krankheit schwer verletzt wird, ohne daß sich die Sinne trüben. Sie hatte Vertrauen in den Tod. Vielleicht ist er nicht so schlimm, dachte sie. Es ist schließlich doch immer etwas Natürliches und Angenehmes aufzuhören; bei allem, was man tut. Die Verwesung aber, und was es da sonst noch Gräßliches gibt; du lieber Himmel, ist man es nicht gewohnt, daß mit einem allerhand geschieht, während man gar nichts damit zu tun hat?!
«Weißt du, Ulrich, » schloß sie das Gespräch ab «du bist so: wenn man dir Blätter und Äste gibt, du nähst sie immer wieder zu einem Baum zusammen; ich aber möchte einmal versuchen, was daraus wird, wenn wir zum Beispiel die Blätter an uns festnähen?»
Und doch fühlte auch Ulrich: sie hatten nichts anderes zu tun, als beisammen zu sein. Wenn Agathe durch die Zimmer rief: «Laß das Licht noch brennen!» ein Ruf, schnell, ehe Ulrich im Hinausgehen das Zimmer verfinsterte, in das Agathe noch einmal zurückkehren wollte, so dachte Ulrich: «eine Bitte, eilig, was weiter?
Ach, was weiter? Nicht weniger, wie wenn Buddha einer Elektrischen nachlaufen würde, um noch mitzukommen! Eine unmögliche Gangart. Ein Zusammenbruch des Wahnwitzes. Aber trotzdem, wie schön war Agathes Stimme! Welches Vertrauen lag in der kurzen Bitte, welches Glück, daß ein Mensch dem anderen so etwas zurufen darf, ohne mißverstanden zu werden. Gewiß war solch ein Augenblick wie ein Stück irdischen Fadens mitten zwischen geheimnisvollen Blumen, aber er war zugleich rührend wie ein 749
Wollfaden, den man einer Geliebten um den Hals legt, wenn man nichts anderes ihr mitzugeben hat. Und wenn sie dann auf die Straße traten und, nebeneinander gehend, nicht viel von einander sehen konnten, nur die zarte Kraft ungewollter Berührung fühlten, so gehörten sie wie ein Ding zusammen, das in einem weiten Raum steht. Es liegt in der Natur solcher Erlebnisse, daß sie zum Erzählen hin drängen. Sie enthalten in der geringsten Menge von Geschehen ein Äußerstes an inneren Vorgängen, das sich Bahn ins Freie schaffen muß. ––—Es läßt sich mit dem merkwürdigen Vorgang vergleichen, durch den man in der Jugend geistige Einflüsse aufnimmt; man nimmt da auch nicht jede beliebige Wahrheit in sich auf, sondern eigentlich nur solche, der aus dem eigenen Innern etwas entgegenkommt, die also in einem gewissen Sinn nur erweckt wird, so daß man sie in dem Augenblick schon kennt, wo man sie kennen lernt. Es gibt in dieser Zeit Wahrheiten, die für uns bestimmt sind, und solche, die es nicht sind; Erkenntnisse sind heute wahr und morgen falsch, Gedanken leuchten auf oder verlöschen, - nicht weil wir unsere Meinung ändern, sondern weil wir mit unseren Gedanken noch durch unser ganzes Leben zusammenhängen und, von den gleichen unsichtbaren Quellen gespeist, uns mit ihnen heben und senken. Sie sind wahr, wenn wir uns in dem Augenblick, wo wir denken, steigen fühlen, und sie sind falsch, wenn wir uns fallen fühlen. Es gibt etwas Unausdrückbares in uns und der Welt, das dabei gemehrt oder gemindert wird. In späteren Jahren ändert sich das; die Gefühlslagerung wird unveränderlicher, und der Verstand wird zu jenem außerordentlich beweglichen, festen, unzerbrechlichen Werkzeug, als das wir ihn kennen, wenn wir uns von keinerlei Gefühl beeinflussen lassen. In diesem Zeitpunkt hat sich dann die Welt schon geteilt; auf der einen Seite in die der Dinge und verläßlichen Empfindungen von ihnen, der Urteile und, so auch zu sagen, anerkannten Gefühle oder Willen; auf der anderen Seite in die der Subjektivität, das heißt der Willkür, des Glaubens, des Geschmacks, der Ahnung, der Vorurteile und aller jener Unsicherheiten, zu denen sich zu verhalten, wie sie mag, eine Art Privatrecht der Person bildet, ohne öffentlichen Anspruch. Wenn das geschehen ist, mag die persönliche Betriebsamkeit alles oder nichts ausschnüffeln und in sich aufnehmen, selten geschieht es in der hartgebrannten Seele, daß sich in der Glut des Eindrucks auch die Wände noch dehnen und bewegen.
Aber erlaubt dieses Verhalten wirklich, sich so sicher in der Welt zu fühlen, wie es das glauben macht?
Schwebt nicht die ganze feste Welt, mit allen unseren Empfindungen, Häusern, Landschaften, Taten auf unzähligen kleinen Wölkchen? Unter jeder Wahrnehmung ist Musik, Gedicht, Gefühl. Aber es ist gefesselt, unveränderlich gemacht, ausgeschaltet, weil wir die Dinge wahr-, das heißt ohne Gefühl nehmen wollen, um uns nach ihnen zu richten, statt sie nach uns, was, wie man weiß, soviel bedeutet, wie daß wir endlich, sehr plötzlich und wirklich fliegen gelernt haben, statt nur vom Fliegen zu träumen, wie das die Jahrtausende vor uns getan haben. Diesem in den Dingen gefesselten Gefühl entspricht auf der persönlichen Seite jener Geist der Sachlichkeit, der alle Leidenschaft in den gar nicht mehr wahrnehmbaren Zustand zurückgedrängt hat, daß in jedem Menschen ein Gefühl von seinem Wert, seinem Nutzen und seiner Bedeutung schlummert, das nicht berührt werden darf, ein Grundgefühl des Gleichgewichts zwischen ihm und der Welt. Dieses Gleichgewicht braucht jedoch bloß an irgendeinem Punkt gestört zu werden, so fliegen überall die gefesselten Wölkchen auf. Ein wenig Ermüdung, ein wenig Gift, ein wenig Übermaß an Erregung, und der Mensch sieht und hört Dinge, an die er nicht glauben will, das Gefühl hebt sich, die Welt gleitet aus ihrer mittleren Lage in einen Abgrund oder steigt beweglich, einmalig, visionär und nicht mehr begreiflich an!
Oft kam Ulrich alles, was Agathe und er unternahmen, oder was sie sahen und erlebten, nur wie ein Gleichnis vor. Dieser Baum und jenes Lächeln sind Wirklichkeit, weil sie die sehr bestimmte Eigenschaft haben, nicht bloß Illusion zu sein; aber gibt es nicht viele Wirklichkeiten? Ist es nicht erst gestern gewesen, daß wir Allongeperücken trugen, sehr unvollkommene Maschinen besaßen, aber ausgezeichnete Bücher schrieben? Und erst vorgestern gewesen, daß wir Pfeil und Bogen trugen und zu den Festen Goldhauben aufsetzten, über Wangen, die mit dem Blau des Nachthimmels bemalt waren und orangegelben Augenhöhlen? Ein Ungewisses Verständnis dafür zittert heute noch in uns nach. So vieles war wie heute und so vieles anders, wie wenn das eine Sprache in Bildern sein wollte, von denen keines das letzte ist.
Folgt nicht daraus, daß man auch dem gegenwärtigen nicht zu sehr vertrauen soll? Was heute böse ist, wird morgen vielleicht zum Teil schon gut sein, und das Schöne häßlich, unbeachtete Gedanken werden zu großen Ideen geworden sein, und würdevolle der Gleichgültigkeit verfallen. Jede Ordnung ist irgendwie absurd und Wachsfigurenhaft, wenn man sie zu ernst nimmt, jedes Ding ist ein erstarrter Einzelfall seiner 750
Möglichkeiten. Aber das sind nicht Zweifel, sondern es ist eine bewegte, elastische Unbestimmtheit, die sich zu allem fähig fühlt.
Es ist aber eine Eigentümlichkeit dieser Erlebnisse, daß sie fast immer nur in einem Zustand des Nichtbesitzes erlebt werden. So verändert sich die Welt, wenn sich der Entbrannte nach Gott sehnt, der sich ihm nicht zeigt, oder der Verliebte nach der fernen Geliebten, die ihm genommen ist. Sowohl Agathe wie Ulrich hatten das so gekannt, und es in gegenseitiger Gegenwart zu erleben, bereitete ihnen manchmal geradezu Schwierigkeit. Unwillkürlich rückten sie Gegenwart von sich fort, indem sie einander zum erstenmal die Geschichten ihrer Vergangenheit erzählten, worin das vorgekommen war. Aber diese wirkten wieder verstärkend auf das Wunderbare des Zusammentreffens zurück und endeten im Halblicht, in einer zögernden Berührung der Hände, Schweigen und dem Zittern eines Stroms, der durch die Arme floß.
Es ist ein Zustand voll ungeheurer Macht des Inneren, die ganz mit der Macht der Welt in einem liegt. Aber Herr dieses Erlebnisses (Zustandes) werden zu wollen, kam Ulrich jetzt oft ganz lächerlich vor. Ich bin ja seine Frau geworden — sagte er sich —. Wir sind drei Schwestern, Agathe, ich und dieser Zustand.
Oder: Aber Ulrich dachte manchmal auch ganz anderes.
Oder: Aber das war nur eine der unzähligen Seiten, von denen aus man einige Schritte weit eindringen konnte, und nicht weiter.
Manchmal hatte Ulrich auch ganz sonderbare Eingebungen.
Machen wir eine Annahme, - sagte er sich zum Beispiel, um sie später wieder auszuschalten - und setzen wir den Fall, Agathe würde vor der Männerliebe Abscheu empfinden. So müßte ich mich doch, wenn ich ihr als Mann gefallen wollte, wie eine Frau benehmen. Ich müßte zärtlich zu ihr sein, ohne sie zu begehren.
Ich müßte ebenso gut zu allen Dingen sein, um ihre Liebe nicht zu erschrecken. Ich dürfte nicht einen Stuhl (Stein) fühllos aufheben, um ihn an eine andere Stelle eines nervenlosen Wesens Raum zu bringen; denn ich darf ihn ja nicht aus einem gleichgültigen Einfall heraus berühren, sondern was ich tue, muß etwas sein und an diesem geistigen Vorgang (Sein) hat er teil wie ein Darsteller, der einer Idee seinen Körper leiht.
Das ist lächerlich? Nein, das ist nichts anderes als festlich. Denn das ist der Sinn heiliger Zeremonien, wo jede Gebärde ihre Bedeutung hat. Das ist der Sinn aller Dinge, wenn sie am Morgen mit der Sonne zum erstenmal wieder unseren Augen heraufkommen. Nein, das Ding ist uns nicht Mittel. Es ist eine Einzelheit, der kleine Nagel, ein Lächeln, ein krauses Haar an unserer dritten Schwester. Ich und du sind ja auch nur Dinge. Aber wir sind Dinge, die miteinander in Signalaustausch stehn, und das gibt uns das Wunderbare; es fließt etwas zwischen uns hin und her, ich kann dein Auge nicht ansehn wie einen toten Gegenstand, wir brennen an zwei Enden. Aber wenn ich dir zuliebe handeln will, ist auch das Ding kein toter Gegenstand.
Ich liebe es, das heißt, zwischen mir und ihm geht etwas vor, und ich will nicht übertreiben, ich will keineswegs behaupten, daß das Ding lebt wie ich (und fühlt und mit mir spricht), aber es lebt mit mir, wir stehen immer in Beziehung zueinander.
Ich habe gesagt, wir sind Schwestern. Du hast nichts dagegen, daß ich die Welt liebe, aber ich muß sie lieben wie eine Schwester, nicht wie einen Mann, oder wie ein Mann eine Frau. Ein wenig empfindsam; du und sie und ich machen einander Geschenke. Ich nehme nichts fort von der Zärtlichkeit, die ich dir schenke, wenn ich auch der Welt schenke; im Gegenteil, jede Verschwendung vermehrt unseren Reichtum. Wir wissen, daß wir jeder unsere getrennten Beziehungen zueinander haben, die man nicht einmal ganz offenbaren könnte, wenn man wollte, aber diese Geheimnisse erregen keine Eifersucht. (So leben Schwestern miteinander. > Eifersucht setzt voraus, daß man aus der Liebe einen Besitz machen will. Aber ich darf im Gras liegen, an den Schoß der Erde gepreßt, und du wirst die Süße dieses Augenblicks mitempfinden. Nur wie ein Künstler darf ich die Erde nicht betrachten oder wie ein Forscher: da mache ich sie mir zu eigen, und wir bilden ein Paar, das dich als dritten ausschließt.