«Halte deine Großmutter zum Narren!» knurrte der General vorsichtig, der im Zweifel war, ob er seinen Ohren oder dem genossenen Wein nicht trauen sollte.
«Du bist vorschnell» beharrte Ulrich. «Wissenschaft ist nur dort möglich, wo sich die Geschehnisse wiederholen oder doch kontrollieren lassen, und wo gäbe es mehr Wiederholung und Kontrolle als beim Militär? Ein Würfel wäre kein Würfel, wenn er nicht um neun Uhr so rechteckig wäre wie um sieben. Die Gesetze der Planetenbahnen sind eine Art Schießvorschrift. Und wir könnten uns überhaupt von nichts einen Begriff oder ein Urteil machen, wenn alles nur einmal vorüberhuschte. Was etwas gelten soll und einen Namen tragen, das muß sich wiederholen lassen, muß in vielen Exemplaren vorhanden sein, und wenn du noch nie den Mond gesehen hättest, würdest du ihn für eine Taschenlampe halten; nebenbei bemerkt, die große Verlegenheit, die Gott der Wissenschaft bereitet, besteht darin, daß er nur ein 203
einzigesmal gesehen worden ist, und das bei Erschaffung der Welt, ehe noch geschulte Beobachter da waren. »
Man muß sich in Stumm von Bordwehr versetzen; seit der Kadettenschule war ihm alles vorgeschrieben worden, von der Form der Kappe bis zum Heiratskonsens, und er verspürte wenig Neigung, seinen Geist solchen Erklärungen zu öffnen. - «Lieber Freund, » entgegnete er tückisch «das mag alles sein, aber es geht mich eigentlich nichts an; du machst ja ganz gute Witze, wenn du sagst, daß wir beim Militär die Wissenschaft erfunden haben, aber ich rede nicht von der Wissenschaft, sondern, wie deine Kusine sagt, von der Seele, und wenn sie von der Seele spricht, dann möchte ich mich am liebsten nackt ausziehen, so wenig paßt das zu einer Uniform!»
«Lieber Stumm, » fuhr Ulrich unbeirrt fort »sehr viele Menschen werfen der Wissenschaft vor, daß sie seelenlos und mechanisch sei und auch alles, was sie berühre, dazu mache; aber wunderlicherweise bemerken sie nicht, daß in den Angelegenheiten des Gemüts eine noch weit ärgere Regelmäßigkeit steckt als in denen des Verstandes! Denn wann ist ein Gefühl recht natürlich und einfach? Wenn sein Auftreten bei allen Menschen in gleicher Lage geradezu automatisch zu erwarten ist! Wie könnte man von allen Menschen Tugend verlangen, wenn eine tugendhafte Handlung nicht eine solche wäre, die sich beliebig oft wiederholen ließe?! Ich könnte dir noch viele andere solche Beispiele nennen, und wenn du vor dieser öden Regelmäßigkeit in die dunkelste Tiefe deines Wesens fliehst, wo die unbeaufsichtigten Bewegungen zuhause sind, in diese feuchte Kreaturtiefe, die uns vor dem Verdunsten am Verstande schützt, was findest du? Reize und Reflexbahnen, Ein-bahnung von Gewohnheiten und Geschicklichkeiten, Wiederholungen, Fixierung, Einschleifung, Serie, Monotonie! Das ist Uniform, Kaserne, Reglement, lieber Stumm, und es hat die zivile Seele merkwürdige Verwandtschaft mit dem Militär. Man könnte sagen, daß sie sich an dieses Vorbild, an das sie nie ganz heranreicht, anklammert, wo sie nur kann. Und wo ihr das nicht möglich ist, ist sie wie ein Kind, das man allein gelassen hat. Nimm bloß die Schönheit einer Frau zum Beispiel: was dich an Schönheit überrascht und überwältigt, wovon du glaubst, daß du es zum erstenmal in deinem Leben erblickst, das hast du innerlich längst schon gekannt und gesucht, davon war immer ein Vorglanz in deinen Augen, der jetzt bloß zur vollen Tageshelle verstärkt wird; dagegen, wenn es sich wirklich um Liebe auf den ersten Blick, um Schönheit handelt, die du noch nie wahrgenommen hast, so weißt du einfach nicht, was du damit anfangen sollst; dem ist nichts Ähnliches vorangegangen, du weißt keinen Namen dafür, du hast kein Gefühl als Antwort, du bist einfach grenzenlos verwirrt, geblendet, in ein blindes Staunen, in einen trottelhaften Stumpfsinn versetzt, der mit Glück kaum noch etwas gemeinsam zu haben scheint — »
Hier unterbrach der General lebhaft seinen Freund. Er hatte ihm bisher mit jener Geübtheit zugehört, die man auf dem Exerzierplatz an dem Tadel und den Belehrungen seiner Vorgesetzten erwirbt, die man nötigenfalls wiederholen können muß und doch nicht in sich aufnehmen darf, weil man sonst ebensogut auf einem ungesattelten Igel nachhause reiten könnte; jetzt hatte ihn aber Ulrich getroffen, und er rief heftig aus:
«Der Wahrheit die Ehre, das beschreibst du hervorragend richtig! Wenn ich mich so recht in die Bewunderung für deine Kusine versenke, so löst sich alles in mir in nichts auf. Und wenn ich mich ganz angestrengt zusammennehme, damit mir endlich eine Idee einfalle, mit der ich ihr nützen könnte, so entsteht ebenfalls eine äußerst unangenehme Leere in mir; trottelhaft darf man das wohl nicht nennen, aber sehr ähnlich ist es bestimmt. Und du meinst also, wenn ich dich recht verstanden habe, daß wir Militärs ganz ordentlich denken; daß der Zivilverstand — also daß wir sein Vorbild sein sollen, das muß ich ablehnen, das ist wohl nur ein Witz von dir! - aber daß wir den gleichen Verstand haben, das denk ich mir auch manchmal; und was darüber hinausgeht, meinst du, also alle diese Dinge, die uns Soldaten so ungemein zivilistisch vorkommen, wie Seele, Tugend, Innigkeit, Gemüt - der Arnheim kann unglaublich geläufig damit umgehn, aber du meinst, daß das zwar Geist ist, ja natürlich, du sagst ja wohl, daß gerade das diese sogenannten Rücksichten höherer Natur sind, aber du sagst eben auch, daß man ganz blöd davon wird, und das stimmt alles ausgezeichnet, aber schließlich ist der Zivilgeist doch der überlegene, und das willst du doch gewiß nicht bestreiten, und jetzt frage ich dich, wie stimmt denn das?»
«Ich habe vorhin erstens gesagt, und das hast du vergessen; ich habe erstens gesagt, daß der Geist beim Militär zu Hause ist, und nun sage ich zweitens: beim Zivil das Körperliche - »
«Aber das ist doch Unsinn?» lehnte sich Stumm mißtrauisch auf. Die körperliche Überlegenheit des Militärs war ein Dogma genau so wie die Überzeugung, daß der Stand des Offiziers dem Thron am nächsten stehe; und wenn sich Stumm auch nie für einen Athleten gehalten hatte, so meldete sich in dem 204
Augenblick, wo man daran zu zweifeln schien, doch die Gewißheit, daß ein Zivilbauch, bei gleichem Vorhandensein, noch um einiges weicher sein müsse als der seine.
«Nicht mehr oder weniger Unsinn als alles andere» verteidigte sich Ulrich. «Aber du mußt mich ausreden lassen. Siehst du, es mögen ungefähr hundert Jahre her sein, da haben die führenden Köpfe des deutschen Zivils geglaubt, daß der denkende Bürger die Gesetze der Welt an seinem Schreibtisch sitzend aus seinem Kopf herleiten werde, so wie man die Sätze von den Dreiecken beweisen kann; und der Denker war damals ein Mann in Nankinghosen, der das Haar aus der Stirn schleuderte und noch nicht die Petroleumlampe, geschweige denn die Elektrizität oder ein Phono-gramm kannte. Diese Überhebung ist uns seither gründlich ausgetrieben worden; wir haben in diesen hundert Jahren uns und die Natur und alles sehr viel besser kennen gelernt, aber der Erfolg ist sozusagen, daß man alles, was man an Ordnung im einzelnen gewinnt, am Ganzen wieder verliert, so daß wir immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung haben. »
«Das stimmt zu meinen Untersuchungen» bestätigte Stumm.
«Bloß ist man nicht so eifrig wie du, eine Zusammenfassung zu suchen» fuhr Ulrich fort. «Nach den vergangenen Anstrengungen sind wir in einen Zeitabschnitt des Zurücksinkens geraten. Stell dir bloß vor, wie das heute vor sich geht: Wenn ein bedeutender Mann eine Idee in die Welt setzt, so wird sie sogleich von einem Verteilungsvorgang ergriffen, der aus Zuneigung und Abneigung besteht; zunächst reißen die Bewunderer große Fetzen daraus, so wie sie ihnen passen, und verzerren ihren Meister wie die Füchse das Aas, dann vernichten die Gegner die schwachen Stellen, und über kurz bleibt von keiner Leistung mehr übrig als ein Aphorismenvorrat, aus dem sich Freund und Feind, wie es ihnen paßt, bedienen. Die Folge ist eine allgemeine Vieldeutigkeit. Es gibt kein Ja, an dem nicht ein Nein hinge. Du kannst tun, was du willst, so findest du zwanzig der schönsten Ideen, die dafür, und wenn du willst, zwanzig, die dagegen sind. Man könnte fast schon glauben, es ist wie in der Liebe und im Haß und beim Hunger, wo der Geschmack verschieden sein muß, damit jeder zum Seinen kommt. »
«Ausgezeichnet!» rief Stumm, wieder gewonnen, aus. «Etwas Ähnliches habe ich selbst schon Diotima gesagt! Aber bedenkst du nicht, daß man in dieser Unordnung die Rechtfertigung des Militärs sehen müßte, und ich schäme mich doch, auch nur einen Augenblick daran zu glauben!»
«Ich würde dir raten, » meinte Ulrich «Diotima den Tip-zu geben, daß Gott, aus Gründen, die uns noch unbekannt sind, ein Zeitalter der Körperkultur heraufzuführen scheint; denn das einzige, was den Ideen einigermaßen Halt gibt, ist der Körper, zu dem sie gehören, und dabei hättest du als Offizier überdies einen gewissen Vorsprung. »
Der kleine, dicke General zuckte zurück. «Ich bin, was Körperkultur betrifft, nicht schöner wie ein geschälter Pfirsich» sagte er nach einer Weile mit einer bitteren Genugtuung. «Und ich muß dir auch sagen,
» fügte er hinzu «daß ich an Diotima nur auf eine ordentliche Weise denke und auf ebensolche Art vor ihr zu bestehen wünsche. »
«Schade, » meinte Ulrich «deine Absicht wäre eines Napoleon würdig, aber du wirst kein geeignetes Jahrhundert dafür vorfinden!»
Der General steckte den Spott mit der Würde ein, die ihm der Gedanke verlieh, für die Dame seines Herzens zu leiden, und sagte nach einigem Nachdenken: «Ich danke dir jedenfalls für deine interessanten Ratschläge. »
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Der Königskaufmann und die Interessenfusion Seele-Geschäft Auch: Alle Wege zum Geist gehen von der Seele aus, aber keiner führt zurück
Zu dieser Zeit, wo des Generals Liebe vor seiner Bewunderung für Diotima und Arnheim zurücktrat, hätte Arnheim längst schon den Beschluß gefaßt haben müssen, nicht mehr wiederzukehren. Statt dessen traf er Anstalten zu längerem Aufenthalt; er behielt die Zimmer, die er im Hotel bewohnte, dauernd bei, und sein bewegtes Leben machte den Eindruck, stillzustehen.
Die Welt wurde damals von allerlei erschüttert, und wer gegen das Ende des Jahres
neunzehnhundertdreizehn gute Nachrichten besaß, hatte das Bild eines kochenden Vulkans, wenn auch die 205
von der friedlichen Arbeit ausgehende Suggestion, dieser könne niemals wieder ausbrechen, allgemein war.
Sie war nicht allgemein gleich stark. Die Fenster des schönen alten Palais am Ballhausplatz, wo Sektionschef Tuzzi waltete, warfen oft noch spät abends Licht in die kahlen Bäume des gegenüberliegenden Gartens, und gebildete Bummler, wenn sie nachts vorbeikamen, faßte Schauer an.
Denn so wie der heilige Josef den gewöhnlichen Zimmermann Josef durchdringt, durchdrang der Name
«der Ballhausplatz» den dort stehenden Palast mit dem Geheimnis, eine des halben Dutzends mysteriöser Küchen zu sein, wo hinter verhängten Fenstern das Geschick der Menschheit bereitet wurde. Dr. Arnheim war von diesen Vorgängen ziemlich gut unterrichtet. Er erhielt chiffrierte Depeschen und von Zeit zu Zeit den Besuch eines seiner Beamten, der mit persönlichen Informationen aus der Zentrale kam, die Fenster seiner Hotelwohnung waren auch oft in Front erleuchtet, und ein einbildungskräftiger Beobachter hätte glauben können, hier nächtige eine zweite, eine Gegenregierung, eine moderne apokryphe Kampfanlage der wirtschaftlichen Diplomatie.
Übrigens vernachlässigte es Arnheim niemals, einen solchen Eindruck selbst hervorzurufen; denn ohne die Suggestionen der Äußerlichkeit ist der Mensch nur eine süße wässerige Frucht ohne Schale. Schon beim Frühstück, das er aus diesem Grunde nicht allein, sondern in dem allen zugänglichen Raum des Hotels einnahm, gab er mit der Regierungsgeübtheit des erfahrenen Herrschers und der höflich stillen Haltung des Mannes, der sich beobachtet weiß, die Tagesanordnungen seinem Sekretär, der sie stenographisch festhielt; keine von ihnen hätte genügt, um Arnheim Freude zu bereiten, aber indem sie den Platz in seinem Bewußtsein nicht nur untereinander teilten, sondern darin auch noch durch die Reize des Frühstücks eingeschränkt wurden, hoben sie sich in die Höhe. Wahrscheinlich braucht menschliche Begabung — und das war einer seiner Lieblingsgedanken — überhaupt eine gewisse Einengung, um sich entfalten zu können; der wirklich fruchtbare Streifen zwischen übermütiger Gedankenfreiheit und mutloser Gedankenflucht ist, wie jeder Kenner des Lebens weiß, überaus schmal. Außerdem war er aber auch noch davon überzeugt, daß es sehr darauf ankomme, wer einen Gedanken habe; denn man weiß, daß neue und bedeutende Gedanken selten einen einzigen Finder haben, und andererseits bringt das Gehirn eines Menschen, der zu denken gewohnt ist, unaufhörlich Gedanken von verschiedenem Wert hervor: den Abschluß, die wirksame, erfolgreiche Form müssen Einfalle darum immer von außen erhalten, nicht nur aus dem Denken, sondern aus den ganzen Lebensumständen der Person. Eine Frage des Sekretärs, ein Blick auf einen Nebentisch, der Gruß eines Eintretenden, irgendetwas von dieser Art erinnerte Arnheim jedesmal im rechten Augenblick an die Notwendigkeit, aus sich eine eindrucksvolle Erscheinung zu machen, und diese Einheit der Erscheinung übertrug sich denn auch sogleich auf sein Denken. Er hatte diese Lebenserfahrung in die zu seinen Bedürfnissen passende Überzeugung gefaßt, daß der denkende Mensch immer zugleich auch ein handelnder sein müsse.
Trotz solcher Überzeugung maß er aber seiner augenblicklichen Tätigkeit keine sehr große Bedeutung bei; wenngleich er damit ein Ziel verfolgte, das unter Umständen überraschend lohnend sein konnte, fürchtete er, daß er seinem Aufenthalt Opfer an Zeit bringe, die nicht zu rechtfertigen seien. Er rief sich wiederholt die alte kühle Weisheit «Divide et impera» ins Gedächtnis: sie gilt von jedem Verkehr mit Menschen und Dingen und fordert eine gewisse Entwertung jeder einzelnen Beziehung durch die Gesamtheit aller, denn das Geheimnis der Stimmung, in der man erfolgreich handeln will, ist das gleiche wie das des Mannes, den viele Frauen lieben, während er keine ausschließlich bevorzugt. Doch nützte das nichts; sein Gedächtnis stellte ihm die Forderungen vor, welche die Welt einem zu großer Tätigkeit geborenen Mann auferlegt, er konnte sich aber, nach vielfach wiederholter Befragung seines Inneren, trotzdem nicht dem Ergebnis verschließen, daß er liebte. Und das war eine sonderbare Sache, denn ein Herz, das gegen fünfzig Jahre alt ist, ist ein zäher Muskel, der sich nicht mehr so einfach ausdehnen mag wie der eines Zwanzigjährigen in der Zeit der Liebesblüte, und es bereitete ihm beträchtliche Unannehmlichkeiten.
Er stellte zunächst mit Besorgnis fest, daß seine ausgebreiteten Weltinteressen wie eine der Wurzel beraubte Blume abwelkten und unbedeutende Eindrücke des Alltags, bis zu einem Sperling am Fenster oder zum freundlichen Lächeln eines Kellners hinunter, geradezu aufblühten. An seinen moralischen Begriffen, die sonst ein großes System des Rechthabens darstellten, dem nichts entschlüpfte, bemerkte er, daß sie beziehungsärmer wurden, dagegen etwas Körperliches ansetzten. Man konnte es Hingabe nennen, aber das war gleich ein Wort, das sonst einen viel weiteren und jedenfalls auch anderen Sinn hatte, denn ohne sie kommt man nirgends aus; Hingabe an eine Pflicht, an einen Höheren oder Führer, auch die an das 206
Leben selbst, in seinem Reichtum und seiner Mannigfaltigkeit, war sonst, als männliche Tugend verstanden, für ihn der Inbegriff eines aufrechten Verhaltens gewesen, das bei aller Aufgeschlossenheit mehr Zurückhaltung als Hinausgabe enthielt. Und gleiches ließe sich von der Treue sagen, die, auf eine Frau beschränkt, einen engen Beigeschmack hat; von Ritterlichkeit und Sanftmut, Selbstlosigkeit und Zartgefühl, alles Tugenden, die wohl gewöhnlich in Verbindung mit der Frau vorgestellt werden, aber dabei ihren besten Reichtum verlieren, so daß sich schwer, saugen läßt, ob auch das Erlebnis der Liebe nur zu ihr, wie Wasser an die tiefste und gewöhnlich nicht einwandfreie Stelle zusammenströmt oder ob das Erlebnis der Frauenliebe die vulkanische Stelle ist, von deren Wärme alles lebt, was auf der Erdoberfläche blüht. Ein sehr hoher Grad von männlicher Eitelkeit fühlt sich darum in der Gesellschaft von Männern wohler als in der von Frauen, und wenn Arnheim seinen in die Sphären der Macht getragenen Ideenreichtum mit dem durch Diotima bewirkten Zustand der Glückseligkeit verglich, so konnte er sich des Eindrucks einer rückläufigen Bewegung, die mit ihm vor sich gegangen sei, durchaus nicht erwehren.
Er hatte zuweilen das Bedürfnis nach Umarmungen und Küssen wie ein Knabe, der sich, wenn sein Wunsch nicht erfüllt wird, leidenschaftlich zu Füßen der Versagenden stürzt, oder er ertappte sich bei dem Verlangen, zu schluchzen, Worte hervorzustoßen, welche die Welt herausfordern sollten, und schließlich gar die Geliebte auf seinen eigenen Händen zu entführen. Nun weiß man ja wohl, daß am verantwortungslosen Rand der bewußten Person, von wo die Märchen und Gedichte kommen, auch allerhand kindische Erinnerungen zu Hause sind und sichtbar werden, wenn ausnahmsweise der leichte Rausch einer Ermüdung, das fessellose Spiel des Alkohols oder irgendeine Erschütterung diese Bezirke durchhellen; und leibhaftiger als solche Schemen waren auch Arnheims Anwandlungen nicht, so daß er nicht Ursache gehabt hätte, sich über sie aufzuregen (und durch solche Erregung die ursprüngliche gewichtig zu verstärken), wenn ihn diese infantilen Rückwandlungen aufdringlich davon überzeugt hätten, daß sein Seelenleben voll von verblaßten Moralpräparaten sei. Das Allgemeingültige, das er immer seinen Handlungen zu geben bestrebt war, als ein vor ganz Europa lebender Mensch, zeigte sich ihm mit einemmal als etwas Uninnerliches. Vielleicht ist das nur natürlich, wenn etwas für alle gelten soll; das Befremdliche war aber die Umkehrung dieses Schlusses, die sich Arnheim gleichfalls aufdrängte, denn wenn das Allgemeingültige uninnerlich ist, dann ist umgekehrt der innere Mensch das Ungültige, und so verfolgte Arnheim jetzt nicht nur auf Schritt und Tritt der Drang, irgend etwas unrichtig Schmetterndes, unvernünftig Illegitimes zu tun, sondern auch noch die Belästigung, daß dies im Sinne irgendeiner Übervernunft das Richtige wäre. Seit er das Feuer wieder kennengelernt hatte, das ihm die Zunge verdorrte, überwältigte ihn das Gefühl, er habe einen Weg, den er ursprünglich gegangen, vergessen, und die gesamte Ideologie eines großen Mannes, die ihn erfüllte, sei nur der Notersatz für etwas, das ihm verlorengegangen war.
Auf diese Weise erinnerte er sich in natürlicher Folge seiner Kindheit. Auf seinen Jugendbildnissen hatte er große, schwarze, runde Augen, wie man den Knaben Jesus malt, wenn er im Tempel mit den Schriftgelehrten disputiert, und er sah alle Erzieherinnen und Erzieher in einem Kreis um sich versammelt stehn und sich über seine Geistesgaben wundern, denn er war ein kluges Kind gewesen und hatte immer kluge Erzieher gehabt. Er hatte sich aber auch als glühendes, gefühlvolles Kind bewährt, das kein Unrecht leiden konnte; da er selbst viel zu behütet gewesen, als daß ihm eins hätte geschehen können, nahm er sich auf der Straße fremden Unrechts an und warf sich seinetwillen in Kämpfe. Das war eine sehr bedeutende Leistung, wenn berücksichtigt wird, wie sehr man ihn daran hinderte, so daß niemals mehr als eine Minute verstrich, ohne daß jemand herbeistürzte, um ihn von seinem Gegner zu trennen. Und weil auf diese Weise solche Kämpfe gerade lange genug dauerten, um die eine oder andere schmerzliche Erfahrung zu sammeln, aber rechtzeitig genug unterbrochen wurden, um in ihm den Eindruck ungebeugter Tapferkeit zu hinterlassen, dachte Arnheim noch heute mit Einverständnis an sie zurück, und die Herreneigenschaft vor nichts zurückscheuenden Mutes überging später auf seine Bücher und Überzeugungen, wie es ein Mensch braucht, der seinen Zeitgenossen zu sagen hat, wie sie sich zu verhalten haben, um würdig und glücklich zu sein.
Dieser Zustand seiner Kinderzeit war ihm also verhältnismäßig lebhaft erhalten geblieben, aber ein anderer, der sich etwas später und teilweise als die umbildende Fortsetzung eingestellt hatte, zeigte sich dem Betrachter entschlafen oder, richtiger gesagt, versteint, wenn man erlaubt, dabei unter Steinen Brillanten zu verstehen. Es war der, nun in der Berührung mit Diotima zu neuem Leben aufschreckende der Liebe, und das Bezeichnende war, daß ihn Arnheim in seiner Jünglingszeit ursprünglich, ganz ohne Frauen, überhaupt 207
ohne bestimmte Personen, kennengelernt hatte, und daran war etwas Verwirrendes, womit er sein Leben lang nicht fertiggeworden, obgleich er im Lauf der Zeit die modernsten Erklärungen dafür kennenlernte.
«Was er meinte, war vielleicht nur das unbegreiflich Hergekommene von etwas noch Abwesendem, wie jene seltenen Mienen in Gesichtern, die gar nicht mit diesen, sondern mit irgendwelchen anderen, plötzlich jenseits alles Gesehenen vermuteten Gesichtern zusammenhängen, waren kleine Melodien mitten in Geräuschen, Gefühle in Menschen, ja es gab in ihm Gefühle, die, wenn seine Worte sie suchten, noch gar keine Gefühle waren, sondern nur, als hätte sich etwas in ihm verlängert, mit den Spitzen sich schon hineintauchend, benetzend, wie die Dinge manchmal sich verlängern, an fieberhellen Frühlingstagen, wenn ihre Schatten über sie hinauskriechen und so still und nach einer Richtung bewegt stehen wie Spiegelbilder im Bach. » So hatte es, freilich viel später und mit anderem Akzent, ein Dichter ausgedrückt, den Arnheim schätzte, weil es für ein Zeichen von Eingeweihtheit galt, von diesem, dem Gesicht des Publikums entzogenen, heimlichen Mann zu wissen; ohne daß er ihn übrigens selbst verstand, denn Arnheim verband solche Andeutungen mit den Reden vom Erwachen einer neuen Seele, wie sie zu seiner Jugendzeit im Schwange gewesen waren, oder mit den langen mageren Mädchenkörpern, die man damals im Bilde liebte und durch ein Lippenpaar auszeichnete, das wie ein fleischiger Blütenkelch aussah.
Damals, es war um das Jahr achtzehnhundertsiebenund-achtzig - «du lieber Gott, also fast vor einem Menschenalter!» dachte Arnheim - zeigten seine eigenen Photographien einen modernen, «neuen»
Menschen, wie man das zu jener Zeit nannte, das heißt, er trug auf ihnen eine hochgeschlossene schwarze Atlasweste und eine breite Kragenbinde aus schwerer Seide, die an die Mode der Biedermeierzeit anknüpfte, der Absicht nach aber an Baudelaire erinnern sollte, was durch eine Orchidee unterstützt wurde, die als neue Erfindung zauberhaft bösartig in einem Knopfloch stak, wenn Arnheim jun zu Tafel gehn und seine junge Person in einer Gesellschaft von robusten Kaufleuten und Freunden seines Vaters durchsetzen mußte. An Werktagen dagegen zeigten die Bilder gerne einen Zollstab als Schmuck, der aus einem weichen englischen Strapazanzug guckte, zu dem recht komisch, aber die Bedeutung des Kopfes erhöhend, ein viel zu hoher steifer Stehkragen getragen wurde. So hatte Arnheim ausgesehen und vermochte noch heute nicht, seinem Abbild ein gewisses Maß von Wohlwollen zu versagen. Er spielte gut und mit dem Eifer einer noch ungewöhnlichen Leidenschaft Tennis, das man in jener ersten Zeit auf Grasplätzen betrieb; besuchte zum Staunen seines Vaters und allen sichtbar Arbeiterversammlungen, denn er hatte während eines Studienjahrs in Zürich die anstößige Bekanntschaft der sozialistischen Ideen gemacht; bedachte sich aber auch nicht, ändern Tags rücksichtslos zu Pferd durch ein Arbeiterdorf zu sprengen. Kurz, alles das war ein Wirbel von widerspruchsvollen, aber neuen geistigen Elementen gewesen, welche die bezaubernde Einbildung erweckten, zur rechten Zeit geboren worden zu sein, die so wichtig ist, wenngleich man später natürlich erkennt, daß ihr Wert nicht gerade in ihrer Seltenheit liegt. Ja Arnheim war, späterhin immer mehr Raum konservativen Erkenntnissen gebend, sogar im Zweifel, ob dieses sich beständig erneuernde Gefühl, der zuletzt Gekommene zu sein, nicht eine Verschwendung der Natur darstelle; er gab es jedoch nicht preis, weil er nur sehr ungern überhaupt etwas preisgab, was er einmal besessen, und sein sammelndes Wesen sorgfältig alles in sich aufbewahrt hatte, was es damals gegeben. Nur kam ihm heute vor, so abgerundet und mannigfaltig sein Leben sich ihm auch darstellte, es hätte darin von allem doch gerade das eine ihn ganz anders nachwirkend ergriffen, was zuerst unter allem als das Unwirklichste erschienen war: eben jener romantisch ahnungsvolle Zustand, der ihm eingeflüstert hatte, nicht nur der lebhaft bewegten Welt, sondern noch einer anderen anzugehören, die wie ein angehaltener Atem in ihr schwebte.
Diese schwärmerische Ahnung, die ihm nun durch Diotima wieder in ihrer ganzen Ursprünglichkeit gegenwärtig war, gebot jeder Tätigkeit und Regsamkeit Stille, der Tumult der jugendlichen Widersprüche und die hoffnungsvollen wechselnden Aussichten machten dem Tagtraum Platz, daß alle Worte, Geschehnisse und Forderungen in ihrer von der Oberfläche abgewandten Tiefe ein und dasselbe seien. In solchen Augenblicken schwieg selbst der Ehrgeiz, die Ereignisse der Wirklichkeit waren fern wie der Lärm vor einem Garten, ihn dünkte, die Seele sei aus ihren Ufern getreten und nun erst wahrhaft anwesend. Man kann nicht lebhaft genug versichern, daß dies keine Philosophie war, sondern ein ebenso körperhaftes Erlebnis, wie wenn man den vom Tageshimmel überstrahlten Mond stumm im Vormittagslicht hängen sieht. In diesem Zustand speiste zwar schon der junge Paul Arnheim beherrscht in einem vornehmen Restaurant, ging sorgfältig gekleidet in jede Gesellschaft und tat überall das, was zu tun war; aber man konnte sagen, daß es dabei von ihm zu ihm ebensoweit war wie zum nächsten Menschen oder Ding, daß die Außenwelt 208
nicht an seiner Haut aufhörte und die Innenwelt nicht bloß durch das Fenster der Überlegung hinausleuchtete, sondern daß sie beide sich zu einer ungeteilten Abgeschiedenheit und Anwesenheit vereinten, die so mild, ruhig und hoch war wie ein traumloser Schlaf. In moralischer Beziehung zeigte sich dann eine wahrhaft große Gleichgültigkeit und Gleichwertigkeit; es war nichts klein und nichts groß, ein Gedicht und ein Kuß auf eine Frauenhand wogen ebensoviel wie ein mehrbändiges Werk oder eine politische Großtat, und alles Böse war so sinnlos, wie im Grund auch alles Gute in diesem Umfangensein von der zärtlichen Urverwandtschaft aller Wesen überflüssig wurde. Arnheim benahm sich also ganz wie gewöhnlich, nur schien es in einer ungreifbaren Bedeutung zu geschehen, hinter deren zitternder Flamme der innere Mensch unbeweglich stand und dem äußeren zusah, der vor ihr einen Apfel aß oder sich vom Schneider gerade einen Anzug anmessen ließ.
War das nun eine Einbildung oder der Schatten einer Wirklichkeit, die man niemals ganz verstehen wird?
Es kann darauf nur erwidert werden, daß alle Religionen in gewissen Zuständen ihrer Entwicklung behauptet haben, es sei Wirklichkeit, desgleichen alle Liebenden, alle Romantiker und alle Menschen, die eine Neigung für den Mond haben, den Frühling und das selige Sterben der ersten Herbsttage. In der Folge verliert sich das aber wieder; es verflüchtigt sich oder trocknet ein, das läßt sich nicht unterscheiden, jedoch eines Tags stellt man fest, daß anderes an seiner Stelle da ist, und man vergißt es so rasch, wie man nur unwirkliche Erlebnisse, Träume oder Einbildungen vergißt. Da dieses Ur-und Weltliebeserlebnis zumeist gleichzeitig mit der ersten persönlichen Verliebtheit aufzutreten pflegt, glaubt man überdies später auch beruhigt zu wissen, wie es einzuschätzen sei, und rechnet es zu den Torheiten, die man sich nur vor Erlangen des politischen Wahlrechts gestatten darf. So war dies also beschaffen, aber da es sich bei Arnheim niemals mit einer Frau verbunden hatte, konnte es auch nicht in der natürlichen Weise mit ihr aus seinem Herzen verschwinden; dafür wurde es von den Eindrücken überdeckt, die sein Wesen erfuhr, sobald er nach Vollendung seiner Studien-und Freizeit in die Geschäfte seines Vaters eintrat. Da er nichts halb tat, entdeckte er dort alsbald, daß das schaffende und recht beschaffene Leben beiweitem ein größeres Gedicht sei als alle, die Dichter in ihren Schreibstuben ersannen, und das war nun etwas ganz anderes.
Dabei zeigte sich zum erstenmal seine Begabung zur Vorbildlichkeit. Denn das Gedicht des Lebens hat vor allen übrigen Gedichten voraus, daß es gleichsam in großen Buchstaben gesetzt ist, wie immer sein Inhalt sonst beschaffen sein möge. Um den kleinsten Volontär, der in einem Weltgeschäft tätig ist, kreist die Welt, und Erdteile gucken ihm über die Schulter, so daß nichts, was er tut, ohne Bedeutung ist; um den einsamen Verfasser in seinem Zimmer kreisen dagegen höchstens die Fliegen, er mag sich anstrengen, wie er will.
Das ist so einleuchtend, daß vielen Menschen in dem Augenblick, wo sie anfangen, in Lebensmaterial zu schaffen, alles, was sie früher bewegt hat, «nur Literatur» zu sein scheint, das heißt, es übt bestenfalls eine schwächliche und verworrene, meistens aber eine widerspruchsvolle, sich selbst aufhebende Wirkung aus, die in gar keinem Verhältnis zu dem Aufheben steht, das man von ihrer Veranstaltung macht. Nicht ganz so ging das natürlich bei Arnheim vor sich, der weder die schönen Regungen der Kunst verleugnete, noch irgendetwas, das ihn einmal heftig bewegt hatte, als Torheit oder Einbildung anzusehen vermochte; sobald er die Überlegenheit seiner männlichen Verhältnisse über die träumerisch jugendlichen erkannte, ging er daran, unter Führung der neuen Manneserkenntnisse eine Verschmelzung beider Erlebnisgruppen zu bewerkstelligen. Tatsächlich tat er damit eben das, was alle die vielen und die Mehrzahl der Gebildeten ausmachenden Menschen tun, die nach dem Eintritt ins Erwerbsleben ihre früheren Interessen nicht ganz verleugnen wollen, ja im Gegenteil jetzt erst ein ruhiges, reifes Verhältnis zu den schwärmerischen Antrieben ihrer Jugend finden. Die Entdeckung des großen Gedichtes des Lebens, an dem sie sich mitarbeiten wissen, schenkt ihnen den Mut des Dilettanten wieder, den sie zur Zeit, wo sie ihre eigenen Gedichte verbrannten, verloren hatten; sie dürfen sich, am Leben dichtend, wahrhaft als geborene Fachleute ansehen und gehen daran, ihr tägliches Tun mit geistiger Verantwortung zu durchdringen, fühlen sich vor tausend kleine Entscheidungen gestellt, damit es sittlich und schön sei, nehmen sich an der Vorstellung ein Muster, daß Goethe so gelebt habe, und erklären, daß sie ohne Musik, ohne Natur, ohne Betrachtung des unschuldigen Spiels von Kindern und Tieren und ohne ein gutes Buch das Leben nicht freuen würde. Dieser so durchseelte Mittelstand ist unter Deutschen noch immer der Hauptkonsument der Künste und aller nicht zu schwierigen Literatur, aber seine Mitglieder sehen auf Kunst und Literatur, die ihnen früher als Vollendung ihrer Wünsche vorgekommen waren, begreiflicherweise und wenigstens mit einem Auge so herab wie auf eine Frühstufe - wenn diese auch in ihrer Art vollendeter ist, als es ihnen 209
gegönnt war, -oder sie halten davon, was etwa ein Eisenblechfabrikant von einem Gipsfigurenbildhauer halten müßte, wenn er die Schwäche besäße, dessen Produkte schön zu finden.
Diesem Mittelstand der Bildung glich nun Arnheim wie eine prächtige gefüllte Gartennelke einer dürftigen, am Wegrand entstandenen Steinnelke. Niemals kam für ihn geistiger Umsturz, grundsätzliche Neuerung in Frage, sondern stets nur Verflechtung ins Bestehende, Besitzergreifung, sanfte Korrektur, moralische Neubelebung des verblaßten Privilegs der in Geltung befindlichen Mächte. Er war kein Snob, kein Anbeter des ihm überlegenen Teils der Vornehmen; bei Hof eingeführt und in Berührung mit dem Hochadel wie mit den Spitzen der Bürokratie getreten, suchte er sich keineswegs dieser Umgebung als Nachahmer, sondern nur als Liebhaber konservativ feudaler Lebensgewohnheiten anzupassen, der seine bürgerliche, sozusagen Frank-furterisch-Goethesche Herkunft weder vergißt, noch vergessen machen will. Aber mit dieser Leistung war seine Gegenstellung erschöpft, und ein größerer Gegensatz wäre ihm schon lebensungerecht erschienen. Er war wohl innerlich überzeugt, daß die schaffenden Menschen - und an ihrer Spitze, sie zu einem neuen Zeitalter zusammenfassend, die das Leben lenkenden Kaufleute — berufen seien, die alten Mächte des Seins irgendwann in der Herrschaft abzulösen, und das gab ihm einen gewissen stillen Hochmut, dem die seither eingetretene Entwicklung das Zeugnis der Berechtigung ausgestellt hat; aber wenn man diesen Herrschaftsanspruch des Geldes auch als gegeben voraussetzt, so war doch noch die Frage offen, die angestrebte Macht richtig anzuwenden. Die Vorgänger der Bankdirektoren und Großindustriellen hatten es leicht, sie waren Ritter und machten aus ihren Gegnern Hirschsuppe, wofür sie die Waffen des Geistes dem Klerus überließen; der zeitgenössische Mensch dagegen besitzt zwar im Geld, wie Arnheim es verstand, die heute sicherste Methode der Behandlung aller Beziehungen, aber wenn sie auch hart und genau wie ein Fallbeil sein kann, kann sie auch so empfindlich wie ein Rheumatiker sein - man denke bloß an das Ziehen und Lahmen in den Kursen beim geringsten Anlaß! — und hängt auf das zarteste mit allem zusammen, was von ihr beherrscht wird. Durch dieses zarte Zusammenhängen aller Lebensgebilde, das nur blinder Ideologenhochmut vergessen kann, kam Arnheim dazu, im königlichen Kaufmann die Synthese von Umsturz und Beharren, Macht und bürgerlicher Zivilisiertheit, vernünftigem Wagnis und charaktervollem Wissen zu erblicken, zuinnerst aber eine Symbolgestalt der sich vorbereitenden Demokratie; durch rastlose und strenge Arbeit an seiner eigenen Persönlichkeit, geistige Organisation der ihm zugänglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und durch Gedanken über Führung und Aufbau des ganzen Staats wollte er einer neuen Zeit in die Arme wirken, wo die durch Geschick und Natur ungleichen Gesellschaftskräfte richtig und fruchtbar geordnet sind und das Ideal an den notwendigerweise einschränkenden Realitäten nicht zerbricht, sondern sich reinigt und befestigt. Um das mit sachlichem Anklang auszudrücken, hatte er also die Interessenfusion Seele-Geschäft durch Ausbildung der Dachvorstellung KönigsKaufmann zur Durchführung gebracht, und das Gefühl der Liebe, das ihn einstens empfinden geheißen, alles sei im Grunde nur eines, lag jetzt als Kern in seiner Überzeugung von Einheit und Harmonie der Kultur und der menschlichen Interessen.
Ungefähr zu dieser Zeit begann Arnheim auch seine Schriften zu veröffentlichen, und das Wort Seele tauchte in ihnen auf. Man kann vermuten, daß er es wie eine Methode, einen Vorsprung, als Königswort gebrauchte, denn sicher ist, daß Fürsten und Generale keine Seele haben, und von Finanzleuten war er der erste. Gewiß ist auch, daß dabei ein Bedürfnis eine Rolle spielte, sich gegen seine sehr vernünftige engere Umwelt, namentlich gegen die im Geschäftlichen überlegene Führernatur seines Vaters, neben dem er allmählich die Figur des alternden Kronprinzen zu spielen begann, in einer dem Geschäftsverstande unzugänglichen Weise zu verteidigen. Und ebenso gewiß ist es, daß sein Ehrgeiz, alles Wissenswerte zu beherrschen, — ein Hang zur Polyhistorie, dem in solchem Ausmaße, wie es seinem Bedürfnis entsprach, kein Mensch gewachsen wäre - in der Seele ein Mittel fand, um alles, was sein Verstand nicht beherrschen konnte, zu entwerten. Denn er war darin nicht anders wie sein ganzes Zeitalter, das nicht aus religiöser Bestimmung eine starke religiöse Neigung neu entwickelt hat, sondern nur, wie es scheint, aus einer weiblich reizbaren Auflehnung gegen Geld, Wissen und Rechnen, denen es leidenschaftlich unterliegt.
Aber fraglich und ungewiß war es, ob Arnheim, wenn er von Seele sprach, selbst an sie glaubte und dem Besitz einer Seele die gleiche Wirklichkeit zuschrieb wie seinem Aktienbesitz. Er benützte sie als einen Ausdruck für etwas, wofür er keinen anderen hatte. Hingerissen von seinem Bedürfnis - denn er war ein Redner, der nicht leicht einen anderen zu Wort kommen ließ; späterhin, nachdem er von dem Eindruck, den er in anderen zu erregen fähig war, Kenntnis genommen hatte, auch immer häufiger in seinen Schriften -
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brachte er die Rede auf sie, als wäre ihr Dasein so sicher anzunehmen, wie man das des Rückens voraussetzt, obgleich man ihn nicht sieht. Es faßte ihn eine wahre Leidenschaft, in dieser Weise von etwas Ungewissem und Ahnungsvollem zu schreiben, das in das Allzugewisse der Weltgeschäfte verflochten ist wie ein tiefes Schweigen in lebhafte Worte; er leugnete nicht den Nutzen des Wissens, ja im Gegenteil, er machte selbst Eindruck durch sein emsiges Zusammentragen, wie es nur ein Mann vermag, dem dazu alle Mittel zu Gebote stehn, aber nachdem er diesen Eindruck gemacht hatte, erklärte er, daß sich über dem Bereich des Scharfsinns und der Genauigkeit ein Reich der Weisheit befinde, das nur noch seherisch erkannt werden könne; er beschrieb den Willen, der Staaten und Weltgeschäfte gründet, um verstehen zu lassen, daß er bei aller Größe nichts sei wie ein Arm, der von einem im Unsichtbaren schlagenden Herzen bewegt werden muß; er erklärte seinen Zuhörern die Fortschritte der Technik oder den Wert der Tugenden in der allergewöhnlichsten Weise, wie es jeder Bürger sich vorstellt, um aber hinzuzufügen, daß solcher Gebrauch der Natur-und Geisteskräfte doch nur verhängnisvolle Unkenntnis bleibe, wenn man nicht ahne, daß sie die Erregungen eines Ozeans sind, der tief unter ihnen liege und von den Wellen kaum geritzt werde.
Und er trug solche Äußerungen im Stil von Erlassen des Statthalters einer vertriebenen Königin vor, der seine Weisungen von ihr persönlich empfangen hat und die Welt nach ihnen ordnet.
Vielleicht war dieses Ordnen seine eigentliche und heftigste Leidenschaft, ein Machtdrang, der weil alles überschritt, was selbst ein Mensch in seiner Stellung sich gewähren konnte, und unmittelbar dazu führte, daß der in den Bezirken der Wirklichkeit so mächtige Mann mindestens einmal im Jahr sich auf sein Schloß in der Mark zurückziehen und seinem Sekretär ein Buch ins Stenogramm diktieren mußte. Jene sonderbare Ahnung, die zuerst und am lebhaftesten in seinen schwärmerischen Jugendstunden hervorgekommen war, hatte sich diesen Weg gebahnt, aber sie suchte ihn zuweilen auch noch unmittelbar, wenngleich mit geschwundener Kraft, heim. Inmitten der Weltgeschäfte befiel es ihn dann wie eine süße Lähmung und Klostersehnsucht, die ihm zuflüsterte, daß alle Widersprüche, alle großen Ideen, alle Welterfahrungen und
-anstrengungen nicht nur so Eines seien, wie man es ungenau als Kultur und Humanität versteht, sondern auch in einer wild-wörtlichen und flimmernd untätigen Bedeutung, so wie man an einem kränkelnd schönen Tag die Hände kreuzen, über Fluß und Wiesen hinschauen und nimmer sich lösen mag. In diesem Sinne war sein Schreiben ein Kompromiß. Und weil es nur eine Seele gibt und diese nicht greifbar, sondern im Exil und von dort sich nur auf eine einzige, so merkwürdig undeutliche oder vieldeutige Weise meldend, dagegen unzählige, schlechthin unendlich viele und alle Fragen der Welt, auf die man diese königliche Botschaft anwenden kann, so entstand mit den Jahren jene ernste Verlegenheit für ihn, in die alle Le-gitimisten und Propheten geraten, wenn es zu lange dauert. Arnheim brauchte sich nur in der Einsamkeit zum Schreiben hinzusetzen, so führte die Feder geradezu mit gespenstischer Ergiebigkeit seine Gedanken von der Seele zu den Problemen des Geistes, der Tugenden, der Wissenschaft und der Politik, die, aus unsichtbarer Quelle bestrahlt, in einer deutlichen und magisch einheitlichen Beleuchtung erschienen.
Dieser Ausdehnungsdrang hatte Berauschendes, dafür war er aber an jene Spaltung des Bewußtseins gebunden, die bei vielen die Voraussetzung der schriftlichen Schöpfung ist, indem der Geist alles ausschaltet und vergißt, was ihm nicht ins Konzept paßt; im Angesicht eines Unterredners sprechend und durch dessen Person den Beziehungen der Erde verbunden, würde sich Arnheim niemals so weit ausgelassen haben, aber über ein Papier gebeugt, das bereitlag, seine Anschauung widerzuspiegeln, ließ er es sich mit Freuden an einem gleichnishaften Ausdruck von Überzeugungen genug sein, die nur zum geringsten Teil fest, zum größeren ein Nebel von Worten waren, dessen einziger, übrigens nicht unbeträchtlicher Wirklichkeitsanspruch darin bestand, daß er unwillkürlich an immer den gleichen Stellen aufstieg.
Wer ihn deshalb tadeln möchte, sollte bedenken, daß eine doppelte geistige Persönlichkeit zu besitzen, schon längst nicht mehr ein Kunststück ist, das nur Narren fertigbringen, sondern daß im Tempo der Gegenwart die Möglichkeit politischer Einsicht, die Fähigkeit, einen Zeitungsartikel zu schreiben, die Kraft, an neue Richtungen in Kunst und Literatur zu glauben, und unzähliges andere ganz und gar auf der Begabung gegründet ist, für bestimmte Stunden gegen seine Überzeugung überzeugt zu sein, von dem vollen Bewußtseinsinhalt einen Teil abzuspalten und diesen zu einem neuen Vollüberzeugtsein auszubreiten. Es bedeutete auf diese Weise noch einen Vorzug, daß Arnheim ganz ehrlich niemals von dem überzeugt war, was er sagte. Als er sich auf der Höhe der Mannesjahre befand, hatte er sich zu allem und jedem, was es gab, geäußert, besaß ausgebreitete Überzeugungen und sah keine Grenze, an der er hätte auf211
hören müssen, auch in Zukunft neue, harmonisch, aus den alten entwickelte Überzeugungen zu gewinnen, wenn er in der gleichen Weise weiter fortfuhr. Einem so wirksam denkenden Mann, der in anderen Bewußtseinszuständen Rentabilitätsberechnungen und Bilanzen durchsah, konnte es nicht entgehen, daß das ein Tun ohne Ränder und Lauf war, wenn es sich auch schier unerschöpflich ausbreitete; es fand seine einzige Umgrenzung in der Einheit seiner Person, und obgleich Arnheim viel Selbstgefühl vertrug, war das doch für seinen Verstand kein befriedigender Zustand. Er schob wohl die Ursache auf den irrationalen Rest, den das Leben dem unterrichteten Betrachter allerorten zeigt; er suchte sich auch achselzuckend damit zu beruhigen, daß in der gegenwärtigen Zeit alles ins Uferlose gehe, und da niemand sich ganz über die Schwächen seines Jahrhunderts hinausheben kann, erspähte er darin sogar eine wertvolle Möglichkeit, die allen großen Männern eigene Tugend der Bescheidenheit zu üben, indem er neidlos Erscheinungen wie einen Homer oder Buddha, weil sie in günstigeren Zeitaltern gelebt hatten, über sich setzte: aber mit der Zeit, wo sein literarischer Erfolg auf die Höhe kam, ohne daß sich in seinem Kronprinzenleben Entscheidendes geändert hatte, wuchs jener irrationale Rest, wuchsen der Mangel greifbarer Ergebnisse und das Mißbehagen, sein Ziel verfehlt und seinen ersten Willen vergessen zu haben, drückend an. Er überblickte sein Werk, und wenn er auch mit ihm zufrieden sein durfte, so glaubte er sich nun doch manchmal durch alle diese Gedanken bloß einem sehnsüchtig nachwirkenden Ursprung wie durch eine Mauer von Brillanten entrückt zu sehen, die täglich dicker wurde.
Es war ihm von solcher Art gerade in der letzten Zeit etwas Unangenehmes widerfahren, das ihn tief berührt hatte. Er hatte die Muße, die er sich jetzt öfter als sonst gönnte, dazu benützt, seinem Sekretär einen Aufsatz über die Übereinstimmung von Staatsbauten und Staatsauffassung in die Maschine zu diktieren, und hatte einen Satz «Wir sehen das Schweigen der Mauern, wenn wir diesen Bau betrachten» nach dem Worte Schweigen unterbrochen, um für einen Augenblick das Bild der römischen Cancelleria zu genießen, das soeben ungerufen vor seinem inneren Gesicht aufgestiegen war; aber als er wieder ins Manuskript blickte, bemerkte er, daß der Sekretär, gewohnheitsmäßig voraneilend, schon niedergeschrieben hatte:
«Wir sehen das Schweigen der Seele, wenn -». An diesem Tag diktierte Arnheim nicht weiter, und am folgenden ließ er den Satz streichen.
Was wog nun gegen Erlebnisse solcher Ausdehnung und Tiefe des Hintergrunds das etwas gewöhnliche der körperlich an eine Frau geknüpften Liebe? Arnheim mußte sich leider gestehen, daß es genau so viel wog wie die sein Leben zusammenfassende Erkenntnis, daß alle Wege zum Geist von der Seele ausgehen, aber keiner zurückführt! Gewiß hatten sich schon viele Frauen naher Beziehungen zu ihm glücklich geschätzt, aber wenn es nicht parasitäre Naturen waren, so waren es tätige, studierte Frauen und Künstlerinnen, denn mit der ausgehaltenen und der selbst erwerbenden Gattung Frau konnte man sich auf Grund klarer Verhältnisse verständigen; die moralischen Bedürfnisse seiner Natur hatten ihn immer in Beziehungen geführt, wo der Instinkt und die ihn begleitenden unvermeidlichen Auseinandersetzungen mit Frauen an der Vernunft einen gewissen Halt hatten. Aber Diotima war das erste Weib, das sein hintermoralisches, geheimeres Leben ergriff, und er sah sie deshalb manchesmal geradezu mit Scheelsucht an. Sie war schließlich nichts als eine Beamtengattin, von bestem Stil zwar, aber doch ohne jene höchste menschliche Bildung, die nur die Macht verleihen kann, und er hätte Anspruch auf ein Mädchen aus der amerikanischen Hochfinanz oder dem englischen Hochadel besessen, wenn er sich ganz binden wollte. Er hatte Augenblicke, wo ein ganz ursprünglicher Unterschied der Kinderstube, ein grausam naiver Kinderhochmut oder das Entsetzen des gepflegten Kindes, das zum erstenmal in die öffentliche Schule geführt wird, in ihm zum Vorschein kam, so daß ihm seine wachsende Verliebtheit wie eine drohende Schande erschien. Und wenn er in solchen Augenblicken seine Geschäfte mit einer eisigen Überlegenheit aufnahm, wie sie nur ein abgestorbener und zurückgekehrter Geist hat, so erschien ihm die kühle, von nichts zu verunreinigende Vernunft des Geldes im Vergleich mit der Liebe als eine außerordentlich saubere Macht.
Aber das bedeutete nichts, als daß für ihn die Zeit gekommen war, wo der Gefangene nicht begreift, wie er sich die Freiheit hat rauben lassen können, ohne sie bis auf den Tod zu verteidigen. Denn wenn Diotima sagte: «Was sind Weltereignisse? Un peu de bruit autour de notre âme… !» — so fühlte er das Gebäude seines Lebens erzittern.
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Moosbrugger tanzt
Moosbrugger saß indessen noch immer in einer Untersuchungszelle des Landesgerichts. Sein Verteidiger hatte frischen Wind in die Segel bekommen und bemühte sich bei den Behörden, die Causa nicht so rasch zum letzten Federstrich kommen zu lassen.
Moosbrugger lächelte dazu. Er lächelte aus Langweile.
Die Langweile wiegte seine Gedanken. Gewöhnlich löscht , sie sie ja aus; aber die seinen wiegte sie; diesmal; es war ein Zustand, wie wenn ein Schauspieler in der Garderobe sitzt und auf seinen Auftritt wartet.
Wenn Moosbrugger einen großen Säbel gehabt hätte, würde er ihn jetzt genommen und dem Stuhl den Kopf abgeschlagen haben. Er würde dem Tisch den Kopf abgeschlagen haben und dem Fenster, dem Kübel und der Türe. Er würde dann allem, dem er den Kopf abschlug, seinen eigenen aufgesetzt haben, denn es gab in dieser Zelle nur seinen eigenen Kopf, und das war schön. Er konnte sich ihn vorstellen, wie er auf den Dingen saß, mit dem breiten Schädel, dem Haar, das sich wie ein Fell vom Scheitel in die Stirn zog. Er hatte die Dinge dann gern.
Wenn der Raum nur größer gewesen wäre und das Essen besser!
Er war recht froh, daß er keine Menschen sehen konnte. Menschen waren für ihn schwer erträglich. Sie hatten oft eine Art, auszuspucken oder die Schulter hochzuziehen, daß man ganz hoffnungslos wurde und sie mit der Faust in den Rücken stoßen mochte, so als ob man ein Loch durch die Wand schlagen müßte.
Moosbrugger glaubte nicht an Gott, sondern an seine persönliche Vernunft. Die ewigen Wahrheiten hießen bei ihm verächtlich: der Richter, der Pfaffe, der Gendarm. Er mußte sich seine Sache allein machen, und da hat man schon manchmal den Eindruck, daß einem alle den Weg verstellen! Er sah vor sich, was er oft gesehen: die Tintenfässer, das grüne Tuch, die Bleistifte, dann das Kaiserbildnis an der Wand und wie sie alle dasaßen; in seiner Anordnung kam ihm das wie ein Schnappeisen vor, zugedeckt mit dem Gefühl, es muß so sein, statt mit Gras und Blättern. Dann fiel ihm gewöhnlich ein, wie draußen ein Busch an einem Flußknie stand, das Kreischen eines Schöpfbrunnens, Bruchstücke durcheinandergeratender Gegenden, ein endloser Vorrat an Erinnerungen, von denen er gar nicht gewußt hatte, daß sie ihm ihrerzeit gefällig gewesen waren. Und er träumte: «Ich könnte ihnen etwas erzählen!» Wie ein junger Mensch träumt. Und den hatte man so oft eingesperrt, daß er nie alt wurde. «Das nächste Mal werde ich mir das genauer anschauen müssen, » dachte Moosbrugger «sonst verstehen sie mich ja doch nicht. » Und dann lächelte er streng und sprach wie ein Vater über sich mit den Richtern, der von seinem Sohn sagt: er taugt nichts, sperrt ihn nur tüchtig ein, vielleicht nimmt er sich dann zusammen!
Natürlich ärgerte er sich jetzt zuweilen über die Anordnungen im Gefängnis. Oder es tat ihm etwas weh.
Aber dann konnte er sich dem Gefängnisarzt vorführen lassen oder dem Direktor, und so kam alles doch wieder in eine gewisse Ordnung und Ruhe, wie das Wasser über einer toten Ratte, die hineingefallen ist.
Freilich stellte er sich das nicht gerade unter diesem Bild vor; aber einen Eindruck, wie ein großes, spiegelndes Wasser ausgebreitet zu sein, das durch nichts zu stören ist, den hatte er jetzt fast immer, wenn er auch die Worte dafür nicht hatte.
Die Worte, die er hatte, waren: - Hmhm, soso.
Der Tisch war Moosbrugger.
Der Stuhl war Moosbrugger.
Das vergitterte Fenster und die verschlossene Tür war er selbst.
Er meinte das keineswegs verrückt und ungewöhnlich. Die Gummibänder waren einfach weg. Hinter jedem Ding oder Geschöpf, wenn es einem anderen ganz nah kommen möchte, ist ein Gummiband, das sich spannt. Sonst könnten ja auch am Ende die Dinge durcheinander hindurchgehen. Und in jeder Bewegung ist ein Gummiband, das einen nie ganz das tun läßt, was man möchte. Diese Gummibänder waren nun mit einemmal fort. Oder war es bloß das hinderliche Gefühl wie von Gummibändern?
Das kann man wohl nicht so genau unterscheiden? «Zum Beispiel, Frauen halten ihre Strümpfe mit Gummibändern. Da hat man’s!» — dachte Moosbrugger. «Sie tragen wie ein Amulett Gummibänder ums Bein. Unter den Kitteln. Wie die Ringe, mit denen man die Obstbäume beschmiert, damit die Würmer nicht hinaufsteigen. »
Aber das sei nur nebenbei erwähnt. Damit man nicht glaube, Moosbrugger hätte das Bedürfnis gehabt, zu 213
allem Bruder zu sagen. So war er nun nicht gerade. Er war bloß innen und außen.
Er beherrschte jetzt alles und herrschte es an. Er brachte alles in Ordnung, ehe man ihn tötete. Er konnte denken, woran er wollte, augenblicklich war es so fügsam wie ein gut erzogener Hund, zu dem man
«Kusch!» sagt. Er hatte, obgleich er eingesperrt war, ein ungeheures Gefühl der Macht.
Pünktlich kam die Suppe. Pünktlich wurde er geweckt und spazierengeführt. Alles in der Zelle war pünktlich streng und unverrückbar. Das kam ihm manchmal ganz unglaublich vor. In einer merkwürdigen Umkehrung hatte er den Eindruck, diese Ordnung gehe von ihm aus, obwohl er wußte, daß sie ihm auferlegt war.
Andere Leute haben solche Erlebnisse, wenn sie im Sommerschatten einer Hecke liegen, die Bienen summen, die Sonne klein und hart durch den milchhellen Himmel zieht; die Welt dreht sich dann wie ein mechanisches Spielwerk um solche Leute. In Moosbrugger besorgte das schon der geometrische Anblick, den ihm seine Zelle bot.
Er bemerkte dabei, daß er sich wie verrückt nach gutem Essen sehnte; er träumte davon, und bei Tag lagen die Umrisse eines guten Tellers Schweinsbraten mit fast unheimlicher Beständigkeit vor seinem Auge, sobald sein Geist von anderen Beschäftigungen zurückkehrte. «Zwei Teller!» befahl Moosbrugger dann.
«Oder drei!» Er dachte es so stark und die Vorstellung gierig vergrößernd, daß ihm augenblicklich voll und übel wurde, er überfraß sich im Gedanken. «Warum» überlegte er kopfwiegend «folgt so schnell auf daß man essen möchte, daß man schon zu platzen glaubt?» Zwischen Essen und Platzen liegen alle Genüsse der Welt; ach, was für eine Welt, man könnte an hundert Beispielen nachweisen, wie schmal dieser Raum ist!
Nur eines davon: Eine Frau, die man nicht hat, ist so, wie wenn der Mond nachts immer höher steigt und saugt und saugt am Herzen; wenn man sie aber gehabt hat, möchte man mit dem Stiefel in ihrem Gesicht herumtreten. Warum ist das so ? Er erinnerte sich, daß er oft danach gefragt worden war. Also man konnte antworten, Frauen sind Frauen und Männer; weil die ihnen nachrennen. Aber auch das wollten die, die ihn fragten, nie recht verstehn. Sie wollten wissen, warum er sich einbilde, daß die Leute gegen ihn verschworen seien. Als ob nicht sogar sein eigener Körper mit ihnen konspiriert hätte! Bei Frauen ist das ja ganz klar. Aber auch mit Männern verstand sich sein Körper besser als er selbst; ein Wort gibt das andere, man weiß, was sich gehört, man dreht sich den ganzen Tag einer um den anderen, und im Nu ist man über den schmalen Streif hinaus, wo man ungefährlich miteinander verkehrt: wenn ihm das aber sein Körper zugezogen hatte, dann sollte er ihn nur auch davon befreien! Soweit sich Moosbrugger erinnerte, war er ärgerlich gewesen oder hatte Furcht gehabt, und seine Brust mit den Armen stürzte sich vor wie ein großer Hund, dem das befohlen worden ist. Weiter konnte es Moosbrugger auch nicht verstehn; der Raum zwischen Freundlichkeit und Genughaben ist eben schmal, und wenn es einmal so anfängt, dann wird es rasch entsetzlich eng.
Er erinnerte sich sehr gut, daß die Leute, die sich in Fremdworten ausdrücken können und immerzu über ihn zu Gericht saßen, ihm oft vorgehalten hatten: «Aber deswegen bringt man einen anderen doch nicht gleich um?!» Moosbrugger zuckte die Achseln. Es sind schon Leute wegen ein paar Kreuzern umgebracht worden oder für nichts, weil ein anderer es sich gerade so eingebildet hat. Aber er hielt auf sich, er war nicht so einer.
Der Vorwurf hatte ihm mit der Zeit Eindruck gemacht; er würde gerne gewußt haben, warum ihm von Zeit zu Zeit so eng wurde oder wie man das nennen soll, so daß er sich mit Gewalt Platz schaffen mußte, damit ihm das Blut wieder aus dem Kopf rinnen konnte. Er dachte nach. Aber war es nicht mit dem Nachdenken selbst gerade so? Wenn eine gute Zeit dafür begann, hätte er vor Vergnügen nur lächeln mögen. Da juckten nicht mehr die Gedanken unter dem Schädel, sondern plötzlich war nur noch ein einziger Gedanke da. Der Unterschied war so groß wie zwischen dem Watscheln eines kleinen Kindes und dem Tanz eines schönen Weibsbilds. Einfach wie behext. Eine Ziehharmonika wird gespielt, ein Licht steht auf dem Tisch, Schmetterlinge kommen aus der Sommernacht geflogen: so fielen jetzt alle Einfalle in das Licht des einen, oder Moosbrugger packte sie, wenn sie heran kamen, mit seinen großen Fingern und zerdrückte sie, und einen Augenblick lang waren sie dazwischen abenteuerlich wie kleine Drachen anzuschaun. Ein Tropfen von Moosbruggers Blut war in die Welt gefallen. Man konnte das nicht sehen, weil es finster war, aber er fühlte, was im Unsichtbaren vor sich ging. Wirres richtete sich dort draußen gleich. Krauses wurde glatt.
Ein lautloser Tanz löste das unerträgliche Surren ab, mit dem ihn die Welt sonst oft quälte. Alles, was geschah, war jetzt schön; so wie ein häßliches Mädel schön wird, wenn es nicht mehr allein dasteht, sondern von anderen an der Hand gefaßt wird, von einem Reigen mitgedreht wird und das Gesicht eine 214
Treppe hinaufgerichtet hat, von der schon andere herunterblicken. Das war sonderbar, und wenn Moosbrugger die Augen öffnete und sich die Leute ansah, die in einem solchen Augenblick, wo ihm alles tanzend gehorchte, gerade in seiner Nähe waren, so kamen auch sie ihm schön vor. Dann waren sie nicht gegen ihn verschworen, bildeten keine Mauer, und es zeigte sich, daß es nur die Anstrengung war, ihn übertrumpfen zu wollen, was das Gesicht von Menschen und Dingen wie eine Last verzerrte. Und dann tanzte Moosbrugger vor ihnen. Tanzte würdig unsichtbar, er, der im Leben mit niemand tanzte, von einer Musik bewegt, die immer mehr zu Einkehr und Schlaf wurde, zum Schoß der Gottesmutter und schließlich zur Ruhe Gottes selbst, zu einem wunderbar unglaubwürdigen und tödlich gelösten Zustand; tanzte tagelang, ohne daß es jemand sah, bis alles außen, aus ihm heraus war, steif und fein wie ein Spinngewebe, das der Frost unbrauchbar gemacht hat, an den Dingen hing. Wenn man das nicht mitgemacht hat, wie will man dann über das andere urteilen?! Nach den leichten Tagen und Wochen, wo Moosbrugger fast aus seiner Haut schlüpfen konnte, kamen immer wieder die langen Zeiten der Einkerkerung. Die Staatskerker waren nichts dagegen. Wenn er dann denken wollte, zog sich alles bitter leer in ihm zusammen. Die Arbeiterheime und Volksbildungsvereine, wo man ihm sagen wollte, wie er denken, solle, haßte er; der sich noch erinnerte, wie die Gedanken große Stelzschritte in ihm machen konnten! Auf Bleisohlen schleppte er sich dann durch die Welt, in der Hoffnung, einen Ort zu finden, wo es wieder anders werden sollte.
Heute konnte er dieser Hoffnung nur noch herablassend nachlächeln. Es war ihm niemals gelungen, die Mitte zwischen seinen zwei Zuständen zu finden, bei der er vielleicht hätte bleiben können. Er hatte genug davon. Er lächelte großartig dem Tod entgegen.
Viel hatte er übrigens gesehn. Bayern und Österreich bis in die Türkei hinunter. Und viel war geschehn, was er in den Zeitungen gelesen hatte, solang er lebte. Es war eine bewegte Zeit, im ganzen. Und im geheimen war er eigentlich recht stolz, darin gelebt zu haben. Wenn man es so bedachte, im einzelnen war es ja eine verworrene und öde Angelegenheit, aber schließlich lief sein Weg mitten durch, und hinterdrein konnte man ihn ganz deutlich sehn, von der Geburt bis zum Tode. Moosbrugger hatte keineswegs das Gefühl, daß man ihn hinrichten werde; er richtete sich selbst, mit Hilfe der anderen Leute hin: so sah er das, was kommen mußte. Und alles war doch irgendwie zusammengefaßt zu einem Ganzen: die Landstraßen, die Städte, die Gendarmen und die Vögel, die Toten und sein Tod. Er selbst verstand es nicht ganz, und die anderen noch weniger, wenn sie auch mehr darüber reden konnten.
Er spuckte aus und dachte an den Himmel, der wie eine blau überzogene Mausefalle aussieht. «In der Slowakei machen sie solche runden, hohen Mausefallen» dachte er.
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Die Verbindung mit großen Dingen
Es wäre schon längst eines Umstands zu erwähnen gewesen, der in verschiedenen Verbindungen gestreift worden ist; die Formel für ihn mag etwa lauten: Es gibt nichts, was dem Geist so gefährlich wäre wie seine Verbindung mit großen Dingen.
Ein Mensch wandert durch einen Wald, besteigt einen Berg und sieht die Welt unter sich ausgebreitet, betrachtet sein Kind, das man ihm zum erstenmal in die Arme legt, oder genießt das Glück, irgendeine Lage einzunehmen, die allgemein beneidet wird; wir fragen: was mag dabei in ihm vorgehen? Sicher ist es, so kommt es ihm vor, sehr Vieles, Tiefes und Wichtiges; nur hat er nicht die Geistesgegenwart, es sozusagen beim Wort zu nehmen. Das Bewundernswerte vor und außer ihm, das ihn wie ein magnetisches Gehäuse einschließt, zieht seine Gedanken aus ihm heraus. Da stecken seine Blicke in tausend Einzelheiten, aber ihm ist heimlich zumute, als hätte er all seine Munition verschossen. Draußen überzieht die durchseelte, durchsonnte, vertiefte oder große Stunde die Welt mit einem galvanischen Silber bis in alle Blättchen und Äderchen; an ihrem anderen, persönlichen Ende aber macht sich bald ein gewisser, innerer Stoffmangel merklich, es entsteht dort sozusagen ein großes, leeres, rundes «O». Dieser Zustand ist das klassische Symptom der Berührung mit allem Ewigen und Großen wie des Verweilens auf den Höhepunkten der Menschheit und Natur. Personen, welche die Gesellschaft großer Dinge bevorzugen - und dazu gehören vornehmlich auch die großen Seelen, für die es überhaupt keine kleinen Dinge gibt, - wird unwillkürlich das Innere zu einer ausgedehnten Oberflächlichkeit herausgezogen.
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Man könnte die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen darum auch als ein Gesetz von der Erhaltung der geistigen Materie bezeichnen, und es scheint ziemlich allgemein zu gelten. Die Reden hochgestellter, im Großen wirkender Personen sind gewöhnlich inhaltsloser als unsere eigenen. Gedanken, die in einer besonders nahen Beziehung zu besonders würdigen Gegenständen stehen, sehen gewöhnlich so aus, daß sie ohne diese Begünstigung für sehr zurückgeblieben gehalten würden. Die uns teuersten Aufgaben, die der Nation, des Friedens, der Menschheit, der Tugend und ähnlich teuere tragen auf ihrem Rücken die billigste Geistesflora. Das wäre eine sehr verkehrte Welt aber wenn man annimmt, daß die Behandlung eines Themas desto unbedeutender sein darf, je bedeutender dieses Thema selbst ist, dann ist es eine Welt der Ordnung.
Allein, dieses Gesetz, das so viel zum Verständnis des europäischen Geisteslebens beizutragen vermag, liegt nicht immer gleich klar zu Tage, und in Zeiten des Übergangs von einer Gruppe großer Gegenstände zu einer neuen kann der den Dienst der großen Gegenstände suchende Geist sogar umstürzlerisch aussehen, obgleich er nur die Livree wechselt. Ein solcher Übergang war schon damals zu bemerken, als die Menschen, von denen hier berichtet wird, ihre Sorgen und Triumphe hatten. So gab es zum Beispiel schon Bücher, um mit einem Gegenstand zu beginnen an dem Arnheim besonders viel gelegen war, die in sehr großen Auflagen verkauft wurden, aber man erwies ihnen noch nicht den größten Respekt, obgleich bereits großer Respekt nur Büchern von einer gewissen Auflagenhöhe aufwärts erwiesen wurde. Es gab einflußreiche Industrien, wie die des Fußballspiels oder des Tennis, aber man zögerte noch, ihnen an den technischen Hochschulen Lehrstühle aufzustellen. Alles in allem: ob nun der selige Raufbold und Admiral Drake seinerzeit die Kartoffel aus Amerika eingeführt hat, womit das Ende der regelmäßigen Hungersnöte in Europa begann, oder ob das der weniger selige, sehr gebildete und ebenso rauflustige Admiral Raleigh getan hat oder ob es namenlose spanische Soldaten gewesen sind oder gar der brave Gauner und Sklavenhändler Hawkins - lange Zeit ist es niemand eingefallen, wegen der Kartoffeln diese Männer für bedeutender zu halten als etwa den Physiker Al Schirasi, von dem man nur weiß, daß er den Regenbogen richtig erklärt hat; aber mit dem bürgerlichen Zeitalter hatte eine Umwertung im Range solcher Leistungen begonnen, und zur Zeit Arnheims war sie schon weit gediehen und wurde nur noch durch ältere Vorurteile gehemmt. Die Quantität der Wirkung und Wirkung der Quantität, als neuer, sonnenklarer Gegenstand der Verehrung, kämpfte noch mit einer veraltenden und erblindeten adeligen Verehrung der großen Qualität, aber in der Vorstellungswelt waren schon die tollsten Kompromisse daraus entstanden, wie gleich die Vorstellung des großen Geistes selbst, die so, wie wir sie im letzten Menschenalter kennen gelernt haben, eine Synthese von eigener und Kartoffelbedeutung sein mußte, denn man wartete auf einen Mann, der die Einsamkeit des Genies haben sollte, aber dabei doch die Gemeinverständlichkeit einer Nachtigall.
Es war schwer, vorher zu sagen, was auf diese Weise herauskommen werde, da man die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen gewöhnlich erst durchschaut, wenn die Größe dieser Dinge schon halb vorbei ist. Nichts Ist einfacher, als über den Amtsdiener zu lächeln, der im Namen Sr. Majestät die erschienenen Parteien herablassend behandelt hat, aber ob der Mann, der im Namen des Morgen das Heute emporführend behandelt, ein Amtsdiener ist oder nicht, das weiß man gewöhnlich nicht, ehe übermorgen ist. Die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen hat die sehr unangenehme Eigenschaft, daß die Dinge wechseln, aber die Gefahr immer gleich bleibt.
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Man muß mit seiner Zeit gehn
Dr. Arnheim hatte den angemeldeten Besuch zweier leitenden Beamten seiner Firma erhalten und lange konferiert; im Salon lagen am Morgen, unaufgeräumt und des Sekretärs harrend, die Akten und Berechnungen umher. Arnheim mußte Beschlüsse fassen, die Delegaten sollten einen Nachmittagszug zur Rückkehr benützen, und er genoß heute wie immer solche Umstände, denn sie gewährleisteten unter allen Bedingungen eine gewisse Spannung. «In zehn Jahren» überlegte er «wird die Technik so weit sein, daß die Firma ihre eigenen Reiseflugzeuge hat; dann werde ich auch aus einer Somnierfrische im Himalaja meine Leute dirigieren können. » Da er seine Beschlüsse schon über Nacht gefaßt und sie bei Tageslicht nur noch einmal zu prüfen und gut zu heißen hatte, war er in diesem Augenblick frei; er hatte sich das Frühstück aufs 216
Zimmer kommen lassen und gab sich bei der Morgenzigarre geistiger Entspannung hin, indem er nun der Zusammenkunft bei Diotima gedachte, die er am Abend vorher etwas vorzeitig hatte verlassen müssen.
Es war diesmal eine höchst unterhaltsame Gesellschaft gewesen; sehr viele der Besucher unter dreißig, höchstens fünfunddreißig Jahre alt, fast noch Boheme, aber doch schon bekannt und. von den Zeitungen zur Kenntnis genommen; nicht nur Einheimische, sondern auch Gäste aus aller Welt, die von der Kunde angezogen worden, daß in Kakanien eine Frau aus den höchsten Kreisen dem Geiste eine Gasse in die Welt bahne. Zuweilen hatte man fast den Eindruck von einem Kaffeehaus, und Arnheim lächelte, wenn er Diotimas gedachte, die sich in ihren eigenen vier Wänden zu fürchten schien; aber im ganzen war es doch sehr anregend und jedenfalls ein außerordentliches Experiment gewesen, wie ihm vorkam. Seine Freundin hatte, enttäuscht von den ergebnislosen Zusammenkünften der ganz großen Männer, einen entschlossenen Versuch gemacht, den neuesten Geist in die Parallelaktion einströmen zu lassen, und Arnheims Verbindungen waren ihr dabei zunutze gewesen. Er schüttelte bloß den Kopf, wenn er sich an die Gespräche erinnerte, die er hatte anhören müssen; reichlich verrückt fand er sie, aber «man muß der Jugend nachgeben, » sagte er zu sich «man wird unmöglich, wenn man sie einfach ablehnt. » Er fühlte sich also, wenn man so sagen darf, ernsthaft belustigt davon, denn es war ein bißchen viel auf einmal gewesen.
Was sollte nur gleich der Teufel holen? Das Erlebnis. Jenes persönliche Erlebnis meinten sie, von dessen Erdwärme und Wirklichkeitsnähe fünfzehn Jahre zuvor der Impressionismus wie von einer Wunderpflanze geschwärmt hatte. Weichlich und kopflos nannten sie jetzt den Impressionismus. Sie verlangten Beherrschung der Sinnlichkeit und geistige Synthese!
Und Synthese, das war wohl im ganzen der Gegensatz zu Skepsis, Psychologie, Untersuchen und Zerlegen, den literarischen Neigungen der Väterzeit?
Soweit man verstand, meinten sie es nicht sehr philosophisch; eher war es das Bedürfnis junger Knochen und Muskeln nach ungehinderter Bewegung, was sie unter Synthese verstanden, ein Springen und Tanzen, bei dem man sich jede Störung durch Kritik verbietet. Wenn es ihnen paßte, standen sie nicht an, auch die Synthese zum Teufel zu wünschen, gleich mitsamt der Analyse und dem gesamten Denken. Dann behaupteten sie, daß der Geist vom Saft des Erlebens emporgetrieben werden müsse. Gewöhnlich waren es natürlich Mitglieder einer anderen Gruppe, die das behaupteten; aber manchmal waren es auch im Eifer die gleichen.
Was sie für famose Worte hatten! Das intellektuelle Temperament forderten sie. Den rapiden Denkstil, der der Welt an die Brust springt. Das zugespitzte Hirn des kosmischen Menschen. Was hatte er denn sonst noch gehört?
Die Neugestaltung des Menschen auf Grund eines amerikanischen Weltarbeitsplans, durch das Medium der mechanisierten Kraft.
Den Lyrismus, verbunden mit dem eindringlichsten Dramatismus des Lebens.
Den Technismus; einen Geist, der des Zeitalters der Maschine würdig ist.
Bleriot - hatte einer ausgerufen - schwebe soeben über dem Ärmelkanal mit fünfzig Kilometern Stundengeschwindigkeit! Dieses Fünfzig-Kilometer-Gedicht müßte man schreiben und die ganze andere, mulmige Literatur auf den Mist schicken!
Den Akzelerismus forderten sie, das ist die maximale Steigerung der Erlebensgeschwindigkeit auf Grund sportlicher Biomechanik und zirkusspringerischer Präzision!
Die photogenische Erneuerung durch den Film.
Dann hatte einer gesagt, der Mensch sei ein geheimnisvoller Innenraum, weswegen man ihm durch Kegel, Kugel, Zylinder und Kubus Beziehung zum Kosmos geben müsse. Aber auch das Gegenteil, die dieser Meinung zugrundeliegende individualistische Kunstauffassung gehe zu Ende, wurde behauptet; man müsse dem kommenden Menschen durch Volksbauten und Siedlungen neues Wohn-gefühl geben. Und während sich so eine individualistische und eine soziale Partei gebildet hatte, warf eine dritte ein, nur religiöse Künstler seien im wahren Sinn soziale. Darauf forderte eine Gruppe neuer Architekten die Führung für sich, denn das Ziel der Architektur sei eben Religion; außerdem mit der Nebenwirkung der Vaterlandsliebe und Bodenständigkeit. Die religiöse Gruppe, verstärkt durch die kubische, wandte ein, die Kunst sei keine abhängige, sondern eine zentrale Angelegenheit, Erfüllung kosmischer Gesetze; im weiteren Verlauf wurde aber die religiöse Gruppe von der kubischen wieder verlassen, die sich nun mit den Architekten zu der Behauptung verband, Beziehung zum Kosmos gebe man eben doch am besten durch Raumformen, die das 217
Individuelle gültig und typisch machen. Der Satz fiel, man müsse sich in die Seele des Menschen hineinschaun und sie dann dreidimensional bannen. Dann stellte jemand streitbar und wirkungsvoll die Frage, was man denn nun eigentlich glaube: ob zehntausend hungernde Menschen wichtiger seien oder ein Kunstwerk?! In der Tat, da sie fast alle in irgendeiner Art Künstler waren, vertraten sie die Meinung, daß die seelische Genesung der Menschheit nur in der Kunst zu holen sei, und hatten sich bloß über die Natur dieser Genesung und die Ansprüche, die man ihretwillen an die Parallelaktion stellen solle, nicht zu einigen vermocht. Nun aber kam die ursprüngliche soziale Gruppe wieder in Führung und entfaltete neue Stimmen.
Aus der Frage, ob ein Kunstwerk oder die Not zehntausender Menschen wichtiger sei, wurde die Frage, ob zehntausend Kunstwerke die Not eines einzigen Menschen aufwiegen? Ganz robuste Künstler verlangten, daß der Künstler sich nicht so wichtig nehmen dürfe; fort mit seiner Selbstverherrlichung, er werde hungrig und sozial, war ihre Forderung! Das Leben sei das größte und einzige Kunstwerk, sagte jemand. Eine Kraftstimme warf ein: Nicht Kunst macht einig, sondern Hunger! Eine Kompromißstimme erinnerte daran, daß das beste Mittel gegen die Selbstüberschätzung in der Kunst eine gesunde handwerkliche Basis sei.
Und nach dieser Kompromißmeinung benützte jemand die aus Übermüdung oder gegenseitigem Ekel entstandene Pause und fragte wieder ruhig, ob man denn glaube, irgend etwas ausrichten zu können, solange nicht einmal der Kontakt zwischen Mensch und Raum hergestellt sei?! Dies war zum Signal geworden, daß sich nun auch wieder der Technismus, der Akzelerismus und so weiter zum Wort meldeten, und die Debatte ging noch lange hin und her. Schließlich einigte man sich aber, weil man nach Hause gehen und doch auch ein Ergebnis haben wollte; man stimmte sich darum gegenseitig in einer Behauptung zu, die ungefähr so aussah: Die gegenwärtige Zeit sei erwartungsvoll, ungeduldig, ungebärdig und unglückselig; der Messias, auf den sie hoffe und warte, sei aber noch nicht in Sicht.
Arnheim überlegte einen Augenblick.
Es hatte sich beständig um ihn ein Kreis versammelt gehalten; wenn sich vom Umfang Menschen, die schlecht hörten oder schlecht zur Geltung kamen, ablösten, so setzten sich sofort neue an ihrer Stelle an; er war entschieden zum Mittelpunkt auch dieser neuen Versammlung geworden, selbst wenn das in der etwas unmanierlichen Debatte nicht immer zum Ausdruck kam. Er kannte sich in dem, was sie beschäftigte, ja auch schon seit langem aus. Er wußte von den Beziehungen im Kubus; er hatte Gartensiedlungen für seine Angestellten angelegt; die Maschinen mit ihrer Vernunft und ihrem Tempo waren ihm vertraut; er verstand von der Einschau in die Seele zu reden und in der beginnenden Filmindustrie hatte er Geld stehn. Den Inhalt dieser Auseinandersetzung wieder herstellend, erinnerte er sich überdies, daß sie beiweitem nicht so geordnet verlaufen sei, wie sein Gedächtnis es unwillkürlich darstellte. Solche Gespräche haben einen eigentümlichen Gang, als ob man die Parteien mit verbundenen Augen in einem Vieleck aufstellte und mit einem Stock bewaffnet gerade vorgehen hieße; es ist ein wirres und ermüdendes Schauspiel ohne Logik.
Aber ist es nicht ein Abbild des Ganges der Dinge im Großen? Auch der erfolgt nicht aus den Verboten und Gesetzen der Logik, denen höchstens die Wirksamkeit einer Polizei zukommt, sondern aus den ungeordneten Triebkräften des Geistes. So fragte sich Arnheim, wenn er sich an die Aufmerksamkeit erinnerte, die er empfangen hatte, und er fand, daß man auch sagen könne, die neue, Art zu denken gliche dem freien Assoziieren bei gelockerter Vernunft, das unleugbar sehr anregend sei.
Er zündete sich ausnahmsweise eine zweite Zigarre an, obgleich er sich solche sinnlichen Schwächen sonst nicht gestattete. Und während er noch das Streichholz vorhielt und seine Gesichtsmuskeln für die ersten Saugebewegungen brauchte, mußte er plötzlich lächeln, weil er sich an den kleinen General erinnerte, der ihn während der Gesellschaft angesprochen hatte. Da die Arnheims eine Kanonen-und Panzerplattenfabrik besaßen und für den Ernstfall auf ungeheure Munitionserzeugung eingerichtet waren, hatte er ihn sehr gut verstanden, als der etwas komische, aber sympathische General (er sprach ganz anders als preußische Generale; schlapper, natürlich, aber man könnte doch auch sagen, von einer alten Kultur gesegnet! Freilich müßte man nun wohl schon hinzufügen: von einer untergehenden Kultur) sich vertraulich zu ihm - und seufzend, geradezu philosophisch! - über die Gespräche äußerte, die an diesem Abend ringsum geführt wurden und zum Teil wenigstens, wie man zugeben mußte, auch einen radikal pazifistischen Charakter hatten.
Der General, als der einzige Offizier, fühlte sich offenbar nicht ganz am Platze und beklagte sich über die Wandelbarkeit der öffentlichen Meinung, weil einige Ausführungen über die Heiligkeit des Menschenlebens Beifall fanden. «Ich verstehe diese Leute nicht», mit solchen Worten hatte er sich an 218
Arnheim gewandt und ihn, als einen international hervorragenden Geist um Aufklärung gebeten. «Ich verstehe nicht, warum diese neuen Leute mit solcher Unkenntnis von <Blutgeneralen> sprechen? Ich habe das Gefühl, daß ich die älteren Herren, die sonst hieher kommen, ganz gut verstehe, obgleich sie doch gewiß auch ganz und gar unmilitärisch sind. Zum Beispiel wenn der berühmte Dichter - ich weiß nicht, wie er heißt, dieser große ältere Herr mit Bauch, der die Verse über die griechischen Götter, die Sterne und die ewigen Menschengefühle gemacht haben soll; die Dame des Hauses hat mir gesagt, er soll wirklich ein Dichter sein, in einer Zeit, die sonst höchstens Intelligenz hervorbringt - also wie gesagt, ich habe nichts von ihm gelesen, aber ich würde ihn bestimmt verstehn, wenn seine Bedeutung wirklich in der Hauptsache darin liegt, daß er sich mit nichts Kleinem abgibt, denn schließlich nennen wir beim Militär das einen Strategen. Der Feldwebel, wenn Sie mir dieses untergeordnete Beispiel gestatten, muß sich natürlich um das Wohlergehen jedes einzelnen Mannes in seiner Kompanie kümmern; der Stratege dagegen rechnet mit dem Menschentausend als kleinster Einheit und muß auch zehn solcher Einheiten auf einmal opfern können, wenn es ein höherer Zweck verlangt. Ich finde, daß es keine Logik hat, wenn man das in dem einen Fall einen Blutgeneral und in dem ändern eine ewige Gesinnung nennt, und bitte Sie, es mir zu erklären, wenn das möglich ist!»
Arnheims sonderbare Lage in dieser Stadt und Gesellschaft hatte eine gewisse, sonst sorgsam zurückgehaltene Lust zu Spott in ihm geweckt. Er wußte, wen der kleine Herr meinte, wenn er es auch nicht zu erkennen gab; außerdem kam es auch nicht darauf an, er selbst hätte ihm noch einige andere Spielarten von dieser großen Sorte anführen können. Sie hatten an diesem Abend schlechte Figur gemacht, das war nicht zu übersehen.
Arnheim hielt, unangenehm einen Augenblick nachdenkend, den Rauch der Zigarre zwischen den geöffneten Lippen zurück. Seine eigene Lage war in diesem Kreis auch keine ganz leichte gewesen. Er hatte trotz aller Geltung manche böse Bemerkung zu hören bekommen, als wäre sie gegen ihn selbst gerichtet, und was verdammt wurde, war oft nicht weniger als das, was er in seiner Jugend geliebt hatte, gerade so wie diese jungen Leute nun die Ideen ihrer Generation liebten. Er erlebte es als ein sehr eigentümliches Gefühl, man könnte es beinahe unheimlich nennen, von jungen Leuten geehrt zu werden, die im gleichen Atem eine Vergangenheit, an der er selbst heimlich beteiligt war, rücksichtslos verhöhnten; Arnheim verspürte dabei Elastizität, Verwandlungsfähigkeit, Unternehmungslust in sich, fast könnte man sagen, die kühne Rücksichtslosigkeit eines gut verborgenen schlechten Gewissens. Er überlegte blitzschnell, was ihn von dieser neuen Generation trennte. Die jungen Leute widersprachen einander in allem und jedem, eindeutig gemeinsam war ihnen nur, daß es der Objektivität, der geistigen Verantwortung, der ausgeglichenen Person zu Leibe ging.
Ein besonderer Umstand erlaubte Arnheim, beinahe etwas wie Schadenfreude dabei zu empfinden. Die Überschätzung gewisser seiner Altersgenossen, an denen das Persönliche in einer besonders großen Weise hervortrat, war ihm immer schon unsympathisch gewesen. Namen nannte ein so vornehmer Gegner wie er natürlich nicht einmal in Gedanken, aber er wußte genau, an wen er dachte. «Ein nüchterner, modester Junge, lüstern nach illustrer Lust» - um mit Heine zu sprechen, den Arnheim in verborgener Weise liebte und in diesem Augenblick zu sich zitierte. «Man muß seine Bestrebungen rühmen und seinen Fleiß in der Poesie… die bittere Mühe, die unsägliche Beharrlichkeit, die ingrimmigen Anstrengungen, womit er seine Verse ausarbeitet… » «Die Musen sind ihm nicht hold, aber er hat den Genius der Sprache in der Hand»
«Den beängstigenden Zwang, den er sich antun muß, nennt er eine große Tat in Worten». Arnheim besaß ein vortreffliches Gedächtnis und konnte seitenlang auswendig zitieren. Er schweifte ab. Er bewunderte, wie Heine, einen Mann seiner eigenen Zeit bekämpfend, Erscheinungen da vorweggenommen hatte, die jetzt erst in vollem Ansehen standen, und es regte ihn zu eigenen Leistungen an, als er sich nun dem zweiten Vertreter großer deutscher idealistischer Gesinnung, dem Dichter des Generals zuwandte. Das war nach dem mageren der fette Geistesschlag. Sein feierlicher Idealismus entsprach jenen großen tiefen Blasinstrumenten in den Orchestern, welche in die Höhe gestellten Lokomotivkesseln gleichen und ein ungefüges Grunzen und Schollern hervorbringen. Sie decken mit einem Ton tausend Möglichkeiten zu. Sie pusten große Pakete voll der ewigen Gefühle aus. Wer in einer von diesen Arten in Versen zu blasen vermag, - dachte Arnheim nicht ganz ohne Bitterkeit - gilt bei uns heute für einen Dichter, im Unterschied vom Literaten. Warum also wirklich nicht gleich für einen General? Solche Leute stehen doch mit dem Tod auf bestem Fuß und brauchen beständig einige Tausend Verstorbener, um den Augenblick des Lebens mit 219
Würde zu genießen.
Aber da hatte jemand behauptet, daß sogar des Generals Hund, der in einer Rosennacht den Mond anheult, zur Rede gestellt, antworten könnte: Was wollt ihr, es ist ja doch der Mond, und es sind die ewigen Gefühle meiner Rasse; genau wie einer der Herrn, die dafür berühmt seien! Ja er könnte eigens noch hinzufügen, daß sein Gefühl ohne Zweifel erlebnisstark sei, sein Ausdruck reich bewegt und doch so einfach, daß ihn das Publikum verstehe, und was seine Gedanken anlange, so treten sie wohl hinter sein Gefühl zurück, aber das entspreche ganz und gar den geltenden Forderungen und sei in der Literatur noch nie ein Hindernis gewesen.
Arnheim hielt, unangenehm betroffen, den Rauch seiner Zigarre noch einmal zwischen den Lippen zurück, die als halbaufgezogene Grenzschranken zwischen Person und Außenwelt einen Augenblick offen blieben.
Er hatte einige von diesen besonders reinen Dichtern, weil es sich so gehört, bei jeder Gelegenheit gelobt und bei einigen Gelegenheiten auch mit Geld unterstützt; aber eigentlich mochte er sie, wie er jetzt bemerkte, samt ihren aufgeblasenen Versen nicht ausstehn. «Diese heraldischen Herrschaften, die sich nicht einmal selbst erhalten können, » dachte er «gehören im Grunde genommen in einen Naturschutzpark, gemeinsam mit den letzten Wisenten und Adlern!» Und da es also, wie der verflossene Abend gezeigt hatte, unzeitgemäß war, sie zu unterstützen, schloß Arnheims Überlegung nicht ohne Gewinn für ihn.
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Die Entthronung der Ideokratie
Es ist wahrscheinlich eine gut begründete Erscheinung, daß in Zeiten, deren Geist einem Warenmarkt gleicht, für den richtigen Gegensatz dazu Dichter gelten, die gar nichts mit ihrer Zeit zu tun haben. Sie beschmutzen sich nicht mit zeitgenössischen Gedanken, liefern sozusagen reine Dichtung und sprechen in ausgestorbenen Mundarten der Größe zu ihren Gläubigen, als wären sie soeben bloß zu vorübergehendem Erdaufenthalt aus der Ewigkeit zurückgekommen, genau so wie ein Mann, der vor drei Jahren nach Amerika ging und bei seinem Besuch in der Heimat schon gebrochen deutsch spricht. Diese Erscheinung ist ungefähr die gleiche, als ob man über ein hohles Loch zum Ausgleich eine hohle Kuppel setzen würde, und da die erhabene Hohlheit die gewöhnliche nur vergrößert, ist schließlich nichts natürlicher, als daß auf eine Zeit dieser Personenverehrung eine andere folgt, die sich von dem ganzen Wesen, das mit Verantwortung und Größe getrieben wird, gründlich abwendet.
Arnheim versuchte vorsichtig, probeweise und im behaglichen Gefühl, persönlich gegen Schaden versichert zu sein, sich in diese seiner Vermutung nach kommende Entwicklung hineinzufinden. Das war allerdings keine Kleinigkeit. Er dachte dabei an alles, was er in den letzten Jahren in Amerika und Europa gesehen hatte; an die neue Tanzleidenschaft, ob nun Beethoven tiefgetanzt wurde oder neue Sinnlichkeit rhythmisch; an die Malerei, wo ein Höchstmaß von geistigen Beziehungen durch ein Mindestmaß von Linien und Farben ausgedrückt werden sollte; an den Film, wo eine Gebärde, in ihrer Bedeutung aller Welt bekannt, durch eine kleine Neuheit in ihrer Erscheinung alle Welt hinriß; und schließlich einfach an den gewöhnlichen Menschen, wie er damals schon, vom Sport überzeugt, mit den Mitteln eines strampelnden Kindes sich des großen Busens der Natur zu bemächtigen glaubte. Das Auffällige aller dieser Erscheinungen ist ein gewisser Hang zur Allegorie, wenn man darunter eine geistige Beziehung versteht, wo alles mehr bedeutet, als ihm redlich zukommt. Denn so wie ein Helm und ein paar gekreuzte Schwerter die Gesellschaft des Barock an alle Götter und ihre Geschichten erinnerten und nicht ein Herr von Hinz die Komtesse Kunz küßte, sondern ein Kriegsgott die Göttin der Keuschheit, erleben Hinz und Kunz heute, wenn sie sich knutschen, das Zeittempo oder irgendetwas aus der Kollektion von zehn Dutzend neuen Mustervorstellungen, die nun freilich nicht mehr einen über Taxusalleen schwebenden Olymp bilden, sondern das ganze moderne Durcheinander selbst. Im Kino, auf dem Theater, auf der Tanzbühne, im Konzert, in Auto, Flugzeug, Wasser, Sonne, Schneiderwerkstätten und Kaufmannsbüros entsteht fortwährend eine ungeheure Oberfläche, die aus Ein-und Ausdrücken, Gebärden, Gehaben und Erlebnissen besteht. Im Einzelnen und Äußeren sehr gestaltet, gleicht dieses Geschehen einem lebhaft kreisenden Körper, wo alles an die Oberfläche drängt und sich dort untereinander verbindet, während das Innere ungestalt, wallend und drängend zurückbleibt. Und wenn Arnheim um einige Jahre vorauszublicken 220
vermocht hätte, so würde er schon gesehen haben, daß neunzehnhundertzwanzig Jahre christlicher Moral, Millionen Toter eines erschütternden Kriegs und ein deutscher Wald von Poesien, der über dem weiblichen Schamgefühl gerauscht hatte, es auch nicht um eine Stunde zu verzögern vermochten, als eines Tags die Frauenröcke und -haare kürzer zu werden begannen und die Mädchen Europas aus tausendjährigen Verboten sich für eine Weile nackt herausschälten wie die Bananen. Auch andere Veränderungen würde er gesehen haben, die er kaum für möglich gehalten hätte, und es kommt nicht darauf an, was davon dauern oder wieder verschwinden wird, sofern man bedenkt, welche großen und wahrscheinlich vergeblichen Anstrengungen es erfordert haben würde, solche Revolutionen der Lebensumstände auf dem verantwortungsreichen Weg der geistigen Entwicklung über Philosophen, Maler und Dichter herbeizuführen, statt des Wegs über Schneider, Modegeschehnisse und Zufälle; denn man kann daraus ermessen, welche Schöpfungskraft der Oberfläche, verglichen mit dem unfruchtbaren Eigensinn des Gehirns, zukommt.
Das ist die Entthronung der Ideokratie, des Gehirns, die Verlegung des Geistes an die Peripherie, die letzte Problematik, wie es Arnheim vorkam. Freilich ist das Leben diesen Weg immer gegangen, es hat den Menschen beständig von außen nach innen umgebaut; aber früher mit dem Unterschied, daß man sich verpflichtet fühlte, von innen nach außen auch etwas hervorzubringen. Selbst der Hund des Generals, an den er sich in diesem Augenblick freundlich erinnerte, würde niemals imstande sein, eine andere Entwicklung zu begreifen, denn diesen treuen Begleiter des Menschen hat noch der stabile, gehorsame Mann des vorigen Jahrhunderts nach seinem Ebenbild geformt; aber sein Vetter, der wilde Steppenhahn, der stundenlang tanzt, würde schon alles verstehn. Wenn er die Federn sträubt und mit den Zehen scharrt, entsteht wahrscheinlich mehr Seele, als wenn ein Gelehrter an seinem Schreibtisch einen Gedanken mit dem nächsten verbindet. Denn letzten Endes kommen alle Gedanken aus den Gelenken, Muskeln, Drüsen, Augen, Ohren und den schattenhaften Gesamteindrücken, die der Hautsack, zu dem sie gehören, von sich im ganzen hat. Die vergangenen Jahrhunderte haben vielleicht einen schweren Irrtum begangen, indem sie auf Verstand und Vernunft, auf Überzeugung, Begriff und Charakter zu viel Wert legten; es war so, wie wenn man Registratur und Archiv für den wichtigsten Teil eines Amts halten wollte, weil sie ihr Büro in der Zentrale haben, obgleich sie nur Hilfsämter sind, die ihre Weisungen von außen empfangen.
Und plötzlich fand Arnheim, möglicherweise angeregt von leichten Auflösungserscheinungen, welche die Liebe in ihm hervorrief, die Gegend, wo der erlösende und diese Verwicklungen ordnende Gedanke zu suchen sei: er hing irgendwie in sympathischer Weise mit der Vorstellung gesteigerten Umsatzes zusammen. Ein gesteigerter Umsatz an Gedanken und Erlebnissen ließ sich dieser neuen Zeit nicht absprechen und mußte schon als natürliche Folge aus der Vermeidung zeitraubender geistiger Verarbeitung entstehen. Er dachte sich das Zeitgehirn durch Angebot und Nachfrage ersetzt, den umständlichen Denker durch den regelnden Kaufmann, und er genoß unwillkürlich das ergreifende Schauspiel einer ungeheuren Produktion von Erlebnissen, die sich frei verbinden und lösen, einer Art nervösen Puddings, der bei jeder Erschütterung in allen Teilen zitterte, eines riesigen Tam-Tams, das ungeheuer dröhnte, wenn man es auch nur im leisesten berührte. Daß diese Bilder nicht ganz zueinander stimmten, war schon die Folge einer träumerischen Verfassung, in die sie Arnheim versetzten; denn es schien ihm, daß man gerade ein solches Leben auch einem Traum vergleichen könnte, wo man gleichzeitig draußen bei den wunderlichsten Geschehnissen ist und still innen in der Mitte liegt, mit einem verdünnten Ich, durch dessen Vakuum alle Gefühle wie blaue Glühröhren strahlen. Es denkt das Leben um den Menschen herum und stiftet tanzend für ihn die Verbindungen, die er mühsam und lange nicht so kaleidoskopartig zusammenstoppelt, wenn er sich dazu der Vernunft bedient. Also sann Arnheim als Kaufmann und zugleich bis in die zwanzig Spitzen seiner Finger und Zehen erregt über den freien geistigkörperlichen Verkehr einer bevorstehenden Zeit, und es erschien ihm nicht ausgeschlossen, daß etwas Kollektives, Panlogisches im Entstehen sei und daß man sich, den veralteten Individualismus verlassend, mit der ganzen Überlegenheit und Erfindungsgabe der weißen Rasse auf dem Rückweg zu einer Reform des Paradieses befinde, um in die ländliche Zurückgebliebenheit des Gartens Eden ein abwechslungsreiches modernes Programm zu bringen.
Nur eines wirkte störend. Denn so wie man im Traum die Fähigkeit hat, daß man in ein Geschehen ein unerklärliches, die ganze Person durchschneidendes Gefühl hineinlegt, so hat man die gleiche Fähigkeit auch im Wachen, aber nur, wenn man fünfzehn oder sechzehn Jahre alt ist und auf die Schule geht. Auch dann sind bekanntlich große Wallungen im Menschen, antreibendes Drängen und ungestaltes Erleben; die 221
Gefühle sind sehr bewegt, aber noch nicht sehr gesondert, Liebe und Zorn, Menschenglück und -höhn, kurz alle moralischen Abstrakta sind zuckende Geschehnisse, die bald die ganze Welt bedecken, bald in nichts zusammenschrumpfen; Traurigkeit, Zärtlichkeit, Größe und Edelmut wölben leere hohe Himmel. Und was geschieht? Von außen, aus der gegliederten Welt kommt eine fertige Form — ein Wort, ein Vers, ein dämonisches Lachen, kommen Napoleon, Cäsar, Christus oder vielleicht auch nur die Trän am Eiterngrab und es entsteht in blitzartiger Verbindung das Werk. Dieses Primanerwerk ist, was man allzuleicht übersieht, Zug um Zug ein vollendeter Ausdruck des Gefühls, die genaueste Deckung von Absicht und Erfüllung, und das vollkommene Hineingehn der Erlebnisse eines jungen Mannes in das Leben des großen Napoleon. Es scheint jedoch die Verbindung vom Großen zum Kleinen irgendwie nicht umkehrbar zu sein.
Man erlebt es sowohl in Träumen wie in der Jugend, wenn man eine große Rede gehalten hat und beim Aufwachen unseligerweise noch die letzten Worte erhascht, daß diese eigentlich gar nicht so ungewöhnlich schön sind, wie es einem geschienen hat. Man kommt sich dann nicht ganz so schwerlos schillernd vor wie der tanzende Hahn, sondern hat bloß mit sehr viel Gefühl den Mond angeheult wie der mehrfach zur Würdigung gelangte Foxl des Herrn Generals.
Also konnte da doch nicht alles stimmen; - überlegte Arnheim, sich ermunternd — aber freilich muß man allen Ernstes mit seiner Zeit gehn, fügte er wachsam hinzu; denn was lag ihm schließlich näher, als diesen bewährten Fabrikationsgrundsatz auch auf die Herstellung des Lebens anzuwenden?
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Spekulation in Geist à la baisse und à la hausse
Die Zusammenkünfte nahmen bei Tuzzis jetzt ihren regelmäßigen und gedrängten Fortgang.
Sektionschef Tuzzi sprach auf dem «Konzil» den «Vetter» an. «Wissen Sie, daß es das alles schon einmal gegeben hat?»
Er wies mit den Augen auf den brodelnden Menscheninhalt seiner ihm entfremdeten Wohnung. «In den Anfängen des Christentums; in den Jahrhunderten um Christi Geburt. In dem
christlich-levantinisch-hellenistisch-jüdischen Glutkessel hatten sich damals unzählige Sekten gebildet. »
Und er begann aufzuzählen: «Die Adamiten, Kainiten, Ebioniten, Kollyridianer, Archontiker, Eukratiten, Ophiten… »; mit einer merkwürdigen, hastigen Langsamkeit, wie sie entsteht, wenn jemand eilende Geläufigkeit seines Tuns mäßigend verbergen will, führte er eine lange Liste früh-und vorchristlicher religiöser Bünde an; es erweckte den Eindruck, er wünsche den Vetter seiner Frau behutsam verstehen zu lassen, daß er mehr von den Vorgängen in seinem Hause wisse, als er aus besonderen Gründen zu zeigen pflege.
Er fuhr dann fort, unter Erläuterung der genannten Namen zu erzählen, daß sich die eine Sekte gegen die Ehe stellte, weil sie Keuschheit forderte, indes die andere Keuschheit forderte, aber komischerweise dieses Ziel durch Riten der Ausschweifung zu erreichen wünschte. Die Angehörigen der einen verstümmelten sich, weil sie das Frauenfleisch für eine Erfindung des Teufels hielten, bei anderen kamen in den Kirchenversammlungen Mann und Weib nackt zusammen. Gläubige Grübler, die zu dem Schluß gelangten, daß die Schlange, die im Paradies Eva verführt habe, eine göttliche Person gewesen sei, trieben Sodomie; und andere duldeten keine Jungfrauen, weil nach ihrer wissenschaftlichen Überzeugung die Gottesmutter außer Jesus noch andere Kinder geboren haben sollte, so daß Jungfräulichkeit ein gefährlicher Irrtum wäre.
Immer taten die einen etwas, wovon die anderen das Gegenteil taten, und beide ungefähr aus den gleichen Gründen und Überzeugungen. — Tuzzi erzählte es mit dem Ernst, der historischen Vorkommnissen gebührt, auch wenn sie sonderbar sind, und einem Unterton von Herrenwitzen. Sie standen an der Wand; der Sektionschef warf mit einem kleinen ärgerlichen Lächeln seinen Zigarettenrest in eine Aschenschale, blickte noch immer zerstreut ins Gewühl und schloß, als hätte er genau nur soviel sagen wollen, wie die Dauer einer Zigarette es verlange, mit den Worten: «Ich finde, daß der Zustand der Meinungsverschiedenheiten und subjektiven Auffassungen, der damals geherrscht hat, nicht wenig an die Streitigkeiten unserer Literaten erinnert. Sie werden morgen verweht sein. Wenn nicht durch verschiedene geschichtliche Umstände zur rechten Zeit ein geistliches Beamtensystem mit politischer Wirksamkeit entstanden wäre, so würde heute vom christlichen Glauben kaum eine Spur übrig sein… »
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Ulrich pflichtete bei. «Ordnungsmäßig von der Gemeinde bezahlte Glaubensbeamte lassen mit den Amtsvorschriften nicht spaßen. Ich meine überhaupt, daß wir gegen unsere gemeinen Eigenschaften ungerecht sind; ohne ihre Verläßlichkeit könnte niemals Geschichte entstehn, denn die geistigen Anstrengungen bleiben ewig strittig und windig. »
Der Sektionschef sah mißtrauisch auf und dann gleich wieder weg. Äußerungen dieser Art waren ihm zu ungebunden. Dennoch gab er sich zu diesem Vetter seiner Frau, obgleich er ihn erst seit kurzem kannte, auffallend freundschaftlich und verwandt. Er kam und ging und erweckte den Anschein, inmitten dessen, was sich in seinem Hause zutrug, in einer anderen, abgeschlossenen Welt zu leben, deren höhere Bedeutung er jedem Einblick entzog; zuweilen schien er aber doch nicht länger widerstehen zu können und mußte sich jemandem für einen Augenblick, wenn auch undeutlich zeigen, und es war dann jedesmal der Vetter, mit dem er ein Gespräch anknüpfte. Es war das eine menschliche Folge des Entzuges an Anerkennung, den er im Verhältnis zu seiner Gattin trotz gelegentlicher Zärtlichkeitsanfälle erdulden mußte. Diotima küßte ihn dann wie ein kleines Mädchen; ein Mädchen vielleicht von vierzehn Jahren, wenn es einen noch kleineren Knaben aus weiß Gott welcher Affektation mit Küssen bedeckt. Unwillkürlich zog sich Tuzzis Oberlippe unter dem gekräuselten Bärtchen schamvoll ein. Die neuen Verhältnisse, die in seinem Hause entstanden waren, brachten seine Frau und ihn in unmögliche Lagen. Er hatte Diotimas Klage über sein Schnarchen keineswegs vergessen, er hatte inzwischen auch Arnheims Schriften gelesen und war bereit, darüber zu sprechen; manches konnte er anerkennen, sehr vieles als unrichtig bezeichnen, und einiges verstand er nicht, mit jener sicheren Ruhe, die voraussetzt, daß das der Schaden des Autors sei: aber er war immer gewohnt gewesen, in solchen Fragen einfach das geachtete Urteil des erfahrenen Mannes abzugeben, und die jetzt vorhandene Aussicht darauf, daß ihm Diotima jedesmal widersprechen würde, die Notwendigkeit also, sich gemeinsam mit ihr auf diese weichliche Diskussion einlassen zu müssen, empfand er als eine so unrechte Veränderung seines Privatlebens, daß er sich nicht zu einer Aussprache entschließen konnte und in halbbewußten Wünschen sogar vorgezogen hätte, sich mit Arnheim zu schießen. Tuzzi zog plötzlich seine schönen, braunen Augen ärgerlich zusammen und sagte sich, daß er strenger auf seine Stimmungen achtgeben müsse. Der Vetter neben ihm (seiner Ansicht nach durchaus kein Mann, mit dem man sich zu sehr liieren durfte!) erinnerte ihn eigentlich nur durch die kaum von einem wirklichen Gehalt erfüllte Gedankenverbindung der Verwandtschaftlichkeit an seine Frau; auch hatte er seit langem schon bemerkt, daß Arnheim diesen jüngeren Mann in einer gewissen, vorsichtigen Weise verwöhnte, wogegen der sich deutliche Abneigung anmerken ließ: das waren zwei wirklich nicht inhaltsreiche Beobachtungen, und doch genügten sie, um Tuzzi mit einer unerklärlichen Zuneigung zu beunruhigen. Er öffnete seine braunen Augen und sah eine Weile groß wie ein Uhu in das Zimmer, ohne etwas sehen zu wollen.
Der Vetter seiner Frau sah übrigens gerade so wie er in gelangweilter Vertraulichkeit vor sich hin und hatte die Pause des Gesprächs nicht einmal bemerkt. Tuzzi empfand, daß man etwas sagen müsse; er fühlte sich unsicher, so als ob einen Menschen, der an Einbildungen leidet, das Schweigen verraten könnte. «Sie denken gerne schlecht von allem, » bemerkte er lächelnd, als hätte der Ausspruch über die Glaubensbeamten bis jetzt vor seinem Ohr auf Eintritt warten müssen «und meine Frau tut wohl nicht unrecht, bei aller verwandtschaftlicher Sympathie Ihre Mithilfe etwas zu fürchten. Wenn ich so sagen darf, neigen Ihre Gedanken über den Mitmenschen zur Spekulation à la baisse. »
«Das ist ein ausgezeichneter Ausdruck, » gab Ulrich erfreut zurück «wenn ich mich auch bescheiden muß, ihm nicht zu genügen! Denn es ist die Weltgeschichte, die immer à la baisse oder à la hausse in Menschen spekuliert hat; auf Baisse-Weise durch List und Gewalt, à la hausse ungefähr so, wie es Ihre Frau Gemahlin hier versucht, durch den Glauben an die Kraft der Ideen. Auch Dr. Arnheim ist, soweit man seinen Worten trauen kann, ein Haussier. Dagegen müssen Sie als berufsmäßiger Baissier in diesem Chor der Engel Empfindungen haben, die ich gerne kennen würde. »
Er musterte den Sektionschef mit Teilnahme. Tuzzi zog seine Zigarettendose aus der Tasche und zuckte die Schultern. «Warum glauben Sie, daß ich anders darüber denken soll, als meine Frau ?» antwortete er. Er wollte die persönliche Wendung des Gesprächs ablehnen, hatte sie aber durch seine Antwort verstärkt; der andere bemerkte es glücklicherweise nicht und fuhr fort: «Wir sind eine Masse, die jede Form annimmt, in die sie auf die eine oder die andere Weise hineingerät!»
«Das ist mir zu hoch» erwiderte Tuzzi ausweichend.
Ulrich freute sich darüber. Das war Gegensatz zu ihm selbst; er genoß es ordentlich, mit einem Mann zu 223
sprechen, der auf geistige Reizung nicht antwortete, sondern kein anderes Mittel der Abwehr hatte oder gebrauchen wollte, als gleich seine ganze Person vorzuschützen. Seine ursprüngliche Abneigung gegen Tuzzi hatte sich unter dem Druck der viel größeren Abneigung gegen das Getue in dessen Haus längst umgekehrt; er verstand bloß nicht, warum Tuzzi dieses duldete, und machte sich allerhand Vermutungen darüber. Er lernte ihn nur sehr langsam und wie ein Tier, das man beobachtet, von außen kennen, ohne den erleichternden Einblick, den das Wort in Menschen gewährt, die aus offenem Bedürfnis reden. Zuerst hatte ihm das gedörrte Aussehen des knapp mittelgroßen Mannes gefallen, und das dunkle, starke, viel unsicheres Gefühl verratende Auge, das nicht im geringsten ein Beamtenauge war, aber auch in keiner Weise zu Tuzzis gegenwärtiger Person stimmte, wie sie sich in den Gesprächen zeigte; außer man nahm an, was ja nicht selten vorkommt, daß es ein Knabenauge war, das zwischen den andersgearteten Manneszügen durchblickte, wie ein Fenster, das zu einem unbenutzten, abgesperrten und längst vergessenen Teil des Inneren führt. Das nächste, was dem Vetter auffiel, war dann Tuzzis Körpergeruch gewesen; es war ein Geruch an ihm wie von China oder von trockenen Holzschachteln oder ein Gemisch der Wirkungen von Sonne, See, Exotik, Hartleibigkeit und den diskreten Spuren des Raseurs. Dieser Geruch machte ihn nachdenklich; er hatte nur zwei Menschen mit persönlichem Geruch in seiner Bekanntschaft, diesen und Moosbrugger; wenn er sich Tuzzis scharfzartes Aroma vergegenwärtigte und zugleich an Diotima dachte, über deren großer Oberfläche ein dünner Pudergeruch lag, der nichts zu verdecken schien, so kam man zu Gegensätzen der Leidenschaft, denen das etwas komische wirkliche Zusammenleben dieser beiden Personen in keiner Weise zu entsprechen schien. Ulrich mußte seine Gedanken zurückholen, bis sie wieder jener Distanz von den Dingen entsprachen, die man zulässig nennt, ehe er auf Tuzzis ablehnende Antwort erwidern konnte.
«Es ist anmaßend von mir, » begann er von neuem in jenem leicht gelangweilten, aber entschlossenen Ton, der gesellschaftlich das Bedauern ausdrückt, auch den anderen langweilen zu müssen, weil die Lage, in der sie sich augenblicklich befänden, nichts Besseres gestatte «es ist sicher anmaßend, wenn ich vor Ihnen zu definieren versuche, was Diplomatie sei; aber ich wünsche verbessert zu werden. Ich versuche also zu sagen: Diplomatie nimmt an, daß eine verläßliche Ordnung nur durch Benützung der Lügenhaftigkeit, der Feigheit, des Kannibalismus, kurz der soliden Niedrigkeiten der Menschheit erreichbar sei; sie ist Idealismus à la baisse, um Ihren trefflichen Ausdruck noch einmal zu gebrauchen. Und ich finde, daß dies bezaubernd melancholisch ist, weil es eben voraussetzt, daß die Unzuverlässigkeit unserer höheren Kräfte uns den Weg zum Menschenfressen ebenso gangbar macht wie den zur Kritik der reinen Vernunft. »
«Sie denken leider» verwahrte sich der Sektionschef «romantisch von der Diplomatie und verwechseln wie so viele Menschen Politik mit Intrige. Das mochte zur Not stimmen, als sie noch von fürstlichen Amateuren gemacht wurde; aber es stimmt nicht in einer Zeit, wo alles von bürgerlichen Rücksichten abhängt. Wir sind nicht melancholisch, sondern optimistisch. Wir müssen an eine gute Zukunft glauben, sonst können wir vor unserem Gewissen nicht bestehn, das doch keineswegs anders geartet ist als das anderer Menschen. Wenn Sie durchaus das Wort Menschenfresserei gebrauchen wollen, so kann ich nur sagen, daß es das Verdienst der Diplomatie ist, die Welt vom Menschenfressen abzuhalten; um das zu können, muß man aber an etwas Höheres glauben. »
«Woran glauben Sie?» unterbrach ihn der Vetter ohne Umschweife.
«Aber nun wissen Sie!» sagte Tuzzi. «Ich bin doch kein Knabe mehr, daß ich darauf so ohne weiteres antworten könnte! Ich habe nur sagen wollen, je mehr sich ein Diplomat mit den geistigen Strömungen seiner Zeit zu identifizieren weiß, desto leichter wird ihm sein Beruf fallen. Und umgekehrt hat sich in den letzten Menschenaltern gezeigt, daß man desto mehr Diplomatie braucht, je größer die Fortschritte des Geistes auf allen Seiten sind; aber das ist doch schließlich natürlich!?»
«Natürlich?! Aber damit sagen Sie ja das gleiche wie ich!» rief Ulrich so lebhaft aus, wie es das Bild zweier sich mäßig unterhaltender Herren, das sie abgeben wollten, nur gestattete. «Ich habe mit Bedauern hervorgehoben, daß das Geistige und Gute ohne Mithilfe des Bösen und Materiellen nicht dauernd existenzfähig sei, und Sie antworten mir ungefähr, je mehr Geist vorhanden, desto mehr Vorsicht nötig.
Sagen wir also: Man kann den Menschen als einen gemeinen Kerl behandeln und auf diese Weise nicht ganz zu allem bringen; man kann ihn aber auch begeistern und damit nicht ganz zu allem bringen. Zwischen beiden Methoden schwanken wir darum, beide Methoden mischen wir; das ist das Ganze. Mir scheint, daß ich mich einer viel weitergehenden Übereinstimmung mit Ihnen erfreue, als Sie zugeben wollen. »
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Sektionschef Tuzzi drehte sich dem unbequemen Frager zu; ein kleines Lächeln hob sein Bärtchen, seine glänzenden Augen blickten mit einem spöttisch nachgiebigen Ausdruck; er wünschte, diese Art von Gespräch zu beenden, sie war unsicher wie Glatteis und zwecklos kindisch, wie das Schlittern von Knaben auf Glatteis. «Schauen Sie, Sie werden das wahrscheinlich für eine Barbarei halten, » erwiderte er «aber ich werde es Ihnen erklären: Philosophieren sollten eigentlich nur Professoren dürfen! Ich nehme unsere anerkannten großen Philosophen davon natürlich aus, die schätze ich sehr hoch und habe sie sämtlich gelesen; aber die sind sozusagen nun einmal da. Und unsere Professoren sind angestellt dafür, da ist es ein Beruf und braucht weiter nichts auf sich zu haben; schließlich braucht man auch die Lehrer, damit die Sache nicht ausstirbt. Aber sonst hat die alt-österreichische Maxime, daß der Staatsbürger nicht über alles nachdenken soll, schon recht gehabt. Es kommt selten etwas Gutes dabei heraus, und es hat leicht etwas von Anmaßung. »
Der Sektionschef drehte sich eine Papyros und schwieg; er hatte weiter kein Bedürfnis, seine «Barbarei» zu entschuldigen. Ulrich sah seinen schlanken, braunhäutigen Fingern zu und war entzückt von der unverschämten Halbdummheit, die Tuzzi zum besten gegeben hatte. «Sie haben den gleichen, sehr modernen Grundsatz ausgesprochen, wie ihn seit Jahrtausenden die Kirchen gegenüber ihren Mitgliedern anwenden und neuerdings der Sozialismus» bemerkte er höflich. Tuzzi sah flüchtig auf, um zu erkennen, was der Vetter mit seiner Zusammenstellung meine. Dann erwartete er, daß dieser wieder eine lange Überlegung loslassen werde, und ärgerte sich im voraus über solche ewige geistige Indiskretion. Aber der Vetter tat nichts, als daß er den vormärzlich gesinnten Mann neben sich wohlgefällig betrachtete. Er nahm schon seit langem an, daß Tuzzi Gründe habe, die Beziehungen seiner Frau zu Arnheim innerhalb gewisser Grenzen gewähren zu lassen, und hätte gerne erfahren, was er dadurch zu erreichen wünschte? Es blieb ungewiß. Vielleicht verhielt sich Tuzzi nur so, wie die Banken von der Parallelaktion dachten, von der sie sich bisher nach Möglichkeit zurückhielten, ohne jedoch ganz darauf zu verzichten, wenigstens einen Finger der Hand mit im Spiel zu haben, und bemerkte dabei Diotimas zweiten Liebesfrühling nicht, obgleich dieser doch so sichtbar wurde. Es war kaum anzunehmen. Ulrich fand Vergnügen daran, die tiefen Falten und Risse in dem Gesicht seines Nachbarn zu betrachten und der harten Modelung der Kiefermuskeln zuzusehen, wenn die Zähne in die Zigarettenspitze bissen.
Dieser Mensch erweckte in ihm eine Vorstellung reiner Männlichkeit. Er war des vielen Redens mit sich selbst ein wenig überdrüssig, und das Vergnügen, sich einen wortkargen Menschen auszumalen, war ihm sehr angenehm. Er stellte sich vor, daß Tuzzi gewiß schon als Knabe andere Knaben nicht habe leiden können, wenn sie viel redeten; aus denen entstehen später die schöngeistigen Männer, während die Knaben, die lieber zwischen den Zähnen durchspucken, als daß sie den Mund öffneten, Männer werden, die nicht gerne etwas Unnützes denken und in der Tat, in der Intrige, im einfachen Ertragen oder Abwehren eine Entschädigung für den unentbehrlichen Zustand des Fühlens und Denkens suchen, der sie irgendwie so sehr beschämt, daß sie Gedanken und Gefühle am liebsten nur benützen, um andere Menschen irrezuführen.
Natürlich würde Tuzzi, wenn man ihm gegenüber eine derartige Bemerkung gemacht hätte, sie geradeso zurückgewiesen haben wie eine zu gefühlvolle; denn es war sein Grundsatz, nur keine Übertreibungen und Ungewöhnlichkeiten zuzulassen, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Man durfte überhaupt mit ihm so wenig über das sprechen, was er als Person sehr gut darstellte, wie man einen Musiker, Schauspieler oder Tänzer fragen darf, was er eigentlich meint, und Ulrich würde in diesem Augenblick am liebsten dem Sektionschef auf die Schulter geklopft haben oder ihm sanft in die Haare gefahren sein, um auf wortlos pantomimischem Wege das Einverständnis zwischen ihnen spielen zu lassen.
Was sich Ulrich nicht richtig vorstellte, war bloß das eine, daß Tuzzi nicht nur als Knabe, sondern auch jetzt in diesem Augenblick das Bedürfnis empfand, zwischen seinen Zähnen in männlichem Strahl hindurch zu spucken. Denn er spürte etwas von dem Ungewissen Wohlwollen an seiner Seite, und die Situation war ihm unbehaglich. Er wußte selbst, daß sich in der Äußerung über Philosophie, die er abgegeben hatte, für einen fremden Hörer allerhand mischte, das nicht gerade willkommen war, und der Teufel mußte ihn geritten haben, daß er dem «Vetter» (denn aus irgendwelchen Gründen nannte er Ulrich immer nur so) diesen burschikosen Beweis seines Zutrauens gab. Er mochte schwätzende Männer nicht leiden und fragte sich bestürzt, ob er am Ende, ohne es zu wissen, diesen als Bundesgenossen bei seiner Frau gewinnen wollte; seine Haut wurde bei diesem Gedanken schamdunkel, denn solche Hilfe lehnte er ab, und unwillkürlich trat er mit einigen, schlecht durch einen zufälligen Vorwand maskierten Schritten weiter von Ulrich fort.
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Aber dann überlegte er es sich anders, kehrte zurück und fragte: «Haben Sie eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, warum sich Dr. Arnheim so lange bei uns aufhält?» Er bildete sich plötzlich ein, durch eine solche Frage am besten zu zeigen, daß er jede Verbindung mit seiner Frau als ausgeschlossen behandle.
Der Vetter sah ihn unverschämt fassungslos an. Die richtige Antwort lag so nahe, daß es schwer war, eine andere zu finden. «Meinen Sie, » fragte er stockend «daß es wirklich einen besonderen Grund hat? Also dann doch nur einen geschäftlichen?»
«Ich vermag nichts zu behaupten» gab Tuzzi zur Antwort, der sich nun wieder als Diplomat fühlte. «Aber kann es einen anderen Grund geben?»
«Natürlich kann es eigentlich keinen anderen Grund geben» räumte Ulrich höflich ein. «Sie haben eine ausgezeichnete Beobachtung gemacht. Ich muß gestehn, daß ich mir überhaupt nichts dabei gedacht habe; ich nahm ungefähr an, daß es mit seinen literarischen Neigungen zusammenhänge. Übrigens wäre das doch wohl auch möglich. »
Der Sektionschef gönnte dem bloß ein zerstreutes Lächeln. «Dann müßten Sie mir erklären, aus welchem Grund ein Mann wie Arnheim literarische Neigungen besitzt?» fragte er; aber er bereute es augenblicklich, denn der Vetter holte schon wieder zu einer breiten Antwort aus. «Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, » sagte er «daß heutzutage merkwürdig viel Menschen auf der Straße mit sich selbst reden?» Tuzzi zuckte gleichgültig die Achseln. «Etwas stimmt mit ihnen nicht. Sie können offenbar ihre Erlebnisse nicht ganz erleben oder in sich einleben und müssen Reste davon abgeben. Und so, denke ich mir, entsteht auch ein übertriebenes Bedürfnis, zu schreiben. Vielleicht sieht man das nicht so deutlich am Schreiben selbst, denn da
kommt je nach Talent und Übung etwas zustande, das weit über seinen Ursprung hinauswächst, aber am Lesen ist es ganz unzweideutig kenntlich: beinahe kein Mensch liest heute noch, jeder benützt den Schriftsteller nur, um in der Form von Zustimmung oder Ablehnung auf eine perverse Weise seinen eigenen Überschuß an ihm abzustreifen. »
«Sie meinen also, daß in Arnheims Leben etwas nicht stimmt?» fragte Tuzzi nun doch mit Aufmerksamkeit.
«Ich habe in der letzten Zeit seine Bücher gelesen, rein aus Neugierde, weil ihm viele Leute so große politische Chancen geben; ich muß aber gestehn, daß ich weder ihre Notwendigkeit noch ihren Zweck einsehe. »
«Man könnte die Frage viel allgemeiner stellen» meinte der Vetter. «Wenn ein Mensch so reich an Geld und Einfluß ist, daß er alles wirklich haben kann, warum schreibt er dann? Eigentlich müßte ich ganz naiv fragen, warum alle Berufserzähler schreiben? Sie erzählen etwas, das es nicht gegeben hat; so, als ob es das gegeben hätte. Das ist offenbar. Aber bewundern sie nun das Leben wie die Schnorrer den reichen Mann, die sich nicht genug tun können, davon zu erzählen, wie wenig es ihm auf sie ankommt? Oder käuen sie wiederholend wieder? Oder treiben sie Glücksdiebstahl, indem sie etwas, das sie in Wirklichkeit nicht erreichen oder nicht ertragen können, in der Phantasie herstellen?»
«Haben Sie selbst nie geschrieben?» unterbrach ihn Tuzzi.
«Zu meiner Beunruhigung nie. Denn ich bin keineswegs so glücklich, daß ich es nicht tun müßte. Ich habe mir vorgenommen, wenn ich nicht bald das Bedürfnis danach empfinden sollte, mich wegen ganz und gar abnormer Veranlagung zu töten!»
Er sagte das mit einer so ernsten Liebenswürdigkeit, daß sich dieser Scherz aus dem Fluß des Gesprächs, ohne daß er es wollte, heraushob, wie ein überströmter Stein auftaucht.
Tuzzi bemerkte es, und sein Taktgefühl ließ ihn rasch den Zusammenhang wiederherstellen. «Also alles in allem» stellte er fest «sagen Sie damit das gleiche wie ich, wenn ich behaupte, daß Beamte erst zu schreiben anfangen, wenn sie in Pension gehen. Aber wie stimmt das auf Dr. Arnheim?»
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Der Vetter schwieg.
«Wissen Sie, daß Arnheim vollkommen pessimistisch und gar nicht <à la hausse> von dem Unternehmen hier denkt, an dem er sich so aufopfernd beteiligt?!» sagte Tuzzi plötzlich mit gesenkter Stimme. Er hatte sich mit einemmal erinnert, wie sich Arnheim ganz zu Beginn im Gespräch mit ihm und seiner Gattin sehr zweifelnd über die Aussichten der Parallelaktion ausgelassen hatte, und daß ihm das nach so langer Zeit gerade in diesem Augenblick einfiel, kam ihm, er wußte selbst nicht wie, aber es kam ihm als ein Erfolg 226
seiner Diplomatie vor, obwohl er über die Gründe von Arnheims Aufenthalt bisher so gut wie noch nichts hatte in Erfahrung bringen können.
Der Vetter machte in der Tat ein überraschtes Gesicht.
Vielleicht nur aus Liebenswürdigkeit, weil er noch schweigen wollte. Aber jedenfalls behielten beide Herrn auf diese Weise, als sie unmittelbar danach durch Gäste, die sich ihnen näherten, getrennt wurden, den Eindruck eines anregenden Gesprächs.
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Aus den Lebensregeln reicher Leute
Soviel Aufmerksamkeit und Bewunderung, wie Arnheim sie fand, hätte einen anderen Mann vielleicht mißtrauisch und unsicher gemacht; er hätte sich einbilden können, sie seinem Gelde zu verdanken. Aber Arnheim hielt Mißtrauen für ein Zeichen von unadeliger Gesinnung, das sich ein Mann auf seiner Höhe nur auf Grund eindeutiger kaufmännischer Auskünfte gestatten dürfe, und außerdem war er überzeugt, daß Reichtum eine Charaktereigenschaft sei. Jeder reiche Mann betrachtet Reichtum als eine Charaktereigenschaft. Jeder arme Mann gleichfalls. Alle Welt ist stillschweigend davon überzeugt. Nur die Logik macht einige Schwierigkeiten, indem sie behauptet, daß Geldbesitz vielleicht gewisse Eigenschaften verleihen, aber niemals selbst eine menschliche Eigenschaft sein könne. Der Augenschein straft das Lügen.
Jede menschliche Nase riecht unweigerlich sofort den zarten Hauch von Unabhängigkeit, Gewohnheit, zu befehlen, Gewohnheit, überall das Beste für sich zu wählen, leichter Weltverachtung und beständig bewußter Machtverantwortung, der von einem großen und sicheren Einkommen aufsteigt. Man sieht es der Erscheinung eines solchen Menschen an, daß sie von einer Auslese der Weltkräfte genährt und täglich erneuert wird. Das Geld zirkuliert in seiner Oberfläche wie der Saft in einer Blüte; da gibt es kein Verleihen von Eigenschaften, kein Erwerben von Gewohnheiten, nichts Mittelbares und aus zweiter Hand Empfangenes: zerstöre Bankkonto und Kredit, und der reiche Mann hat nicht bloß kein Geld mehr, sondern er ist am Tag, wo er es begriffen hat, eine abgewelkte Blume. Mit der gleichen Unmittelbarkeit wie früher die Eigenschaft seines Reichseins bemerkt jetzt jeder die unbeschreibliche Eigenschaft des Nichts an ihm, die wie eine brenzliche Wolke von Unsicherheit, Unverläßlichkeit, Untüchtigkeit und Armut riecht.
Reichtum ist also eine persönliche, einfache, nicht ohne Zerstörung zerlegbare Eigenschaft.
Aber Wirkung und Beziehungen dieser seltenen Eigenschaft sind außerordentlich verwickelt und erfordern große seelische Kraft, um sie zu beherrschen. Nur Leute, die kein Geld haben, stellen sich Reichtum wie einen Traum vor; Menschen, die ihn besitzen, beteuern dagegen bei jeder Gelegenheit, wo sie mit Leuten zusammentreffen, die ihn nicht besitzen, welche Unannehmlichkeit er bedeute. Arnheim hatte zum Beispiel oft darüber nachgedacht, daß ihn doch eigentlich jeder technische oder kaufmännische Abteilungsleiter seines Hauses an besonderem Können beträchtlich übertreffe, und er mußte es sich jedesmal versichern, daß, von einem genügend hohen Standpunkt betrachtet, Gedanken, Wissen, Treue, Talent, Umsicht und dergleichen als Eigenschaften erscheinen, die man kaufen kann, weil sie in Hülle und Fülle vorhanden sind, wogegen die Fähigkeit, sich ihrer zu bedienen, Eigenschaften voraussetzt, welche nur die wenigen besitzen, die eben schon auf der Höhe geboren und aufgewachsen sind. Eine andere, nicht geringere Schwierigkeit für reiche Leute ist die, daß alle Leute Geld von ihnen wollen. Geld spielt keine Rolle; das ist richtig, und einige tausend oder zehntausend Mark sind etwas, dessen Dasein oder Fehlen ein reicher Mann nicht empfindet. Reiche Leute versichern dann auch mit Vorliebe bei jeder Gelegenheit, daß das Geld am Werte eines Menschen nichts ändere; sie wollen damit sagen, daß sie auch ohne Geld soviel wert wären wie jetzt, und sind immer gekränkt, wenn ein anderer sie mißversteht. Leider widerfährt ihnen das gerade im Verkehr mit geistvollen Menschen nicht selten. Solche besitzen merkwürdig oft kein Geld, sondern nur Plane und Begabung, aber sie fühlen sich dadurch in ihrem Wert nicht gemindert, und nichts scheint ihnen näher zu liegen, als einen reichen Freund, für den das Geld keine Rolle spielt, zu bitten, daß er sie aus seinem Überfluß zu irgendeinem guten Zweck unterstütze. Sie begreifen nicht, daß der reiche Mann sie mit seinen Ideen unterstützen möchte, mit seinem Können und seiner persönlichen Anziehungskraft.
Man bringt ihn auf diese Weise außerdem in einen Gegensatz zu der Natur des Geldes, denn diese will die Vermehrung genau so, wie die Natur des Tieres die Fortpflanzung anstrebt. Man kann Geld in schlechte 227
Anlagen stecken, dann geht es auf dem Feld der Geldehre zugrunde; man kann damit einen neuen Wagen kaufen, obgleich der alte noch so gut wie neu ist, in Begleitung seiner Polopferde in den teuersten Hotels der Weltkurorte absteigen, Renn-und Kunstpreise stiften oder für hundert Gäste an einem Abend soviel ausgeben, daß davon hundert Familien ein Jahr lang leben könnten: mit alledem wirft man das Geld wie ein Sämann zum Fenster hinaus, und es kommt vermehrt bei der Tür wieder herein. Es aber im stillen für Zwecke und Menschen verschenken, die ihm nichts nützen, das läßt sich nur mit einem Meuchelmord am Geld vergleichen. Es kann sein, daß diese Zwecke gut und diese Menschen unvergleichlich sind; dann soll man sie mit allen Mitteln fördern, nur nicht mit Geldmitteln. Das war ein Grundsatz Arnheims, und seine beharrliche Anwendung hatte ihm den Ruf eingebracht, an der geistigen Entwicklung der Zeit schöpferisch und tätig Anteil zu haben.
Arnheim konnte auch von sich sagen, daß er wie ein Sozialist denke, und viele reiche Leute denken wie Sozialisten.
Sie haben nichts dagegen, daß es ein Naturgesetz der Gesellschaft sei, dem sie ihr Kapital verdanken, und sind fest überzeugt, daß es der Mensch ist, der dem Besitz seine Bedeutung leiht, und nicht der Besitz dem Menschen. Sie diskutieren ruhig darüber, daß in der Zukunft der Besitz aufhöre, wenn sie nicht mehr da sind, und werden in der Meinung, daß sie einen sozialen Charakter besäßen, noch dadurch bestärkt, daß nicht selten charaktervolle Sozialisten, in überzeugter Erwartung des ohnehin unausbleiblichen Umsturzes, bis dahin lieber bei reichen Leuten verkehren als bei armen. Man könnte auf diese Weise lange fortfahren, wenn man alle Beziehungen des Geldes schildern wollte, die Arnheim bemeisterte. Die wirtschaftliche ist eben keine Tätigkeit, die sich von den übrigen geistigen Tätigkeiten absondern ließe, und es war wohl natürlich, daß er seinen geistigen und künstlerischen Freunden, wenn sie ihn dringend darum baten, außer Ratschlägen auch Geld gab; aber er gab ihnen nicht immer und niemals viel. Sie versicherten ihm, daß sie auf der ganzen Welt nur ihn darum zu bitten vermöchten, weil er allein auch die dazu nötigen geistigen Eigenschaften besäße, und er glaubte es ihnen, denn er war überzeugt, daß das Bedürfnis nach Kapital alle menschlichen Beziehungen durchdringe und so natürlich sei wie das Bedürfnis nach Atemluft, während er andererseits auch ihrer Auffassung, daß das Geld eine spirituelle Macht sei, entgegenkam, indem er diese nur mit feinfühliger Zurückhaltung anwandte.
Und weshalb wird man überhaupt bewundert und geliebt? Ist das nicht ein schwer zu ergründendes Mysterium, rund und zart wie ein Ei? Wird man wahrer geliebt, wenn es wegen eines Schnurrbarts geschieht, als wenn es wegen eines Automobils geschieht? Ist die Liebe, die man erregt, weil man ein sonnengebräunter Sohn des Südens ist, persönlicher als die, die man dadurch erregt, daß man ein Sohn eines der größten Unternehmer ist? Arnheim trug in jener Zeit, wo fast alle modischen Männer sich glatt rasieren ließen, genau so wie früher einen kleinen, spitzen Kinn-und einen kurz geschorenen Schnurrbart: dieses kleine, fremd ansitzende und doch zu ihm gehörende Gefühl in seinem Gesicht erinnerte ihn, aus Gründen, die ihm selbst nicht klar waren, wenn er allzu selbstvergessen vor eifrigen Zuhörern sprach, in einer angenehmen Weise an sein Geld.
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Dem Zivilverstand ist auch auf dem Weg der Körperkultur schwer beizukommen
Der General saß schon lange Zeit auf einem der Stühle, die man rings um den geistigen Turnierplatz an die Wand gerückt hatte, sein «Gönner», wie er Ulrich gern nannte, neben ihm, und zwischen beiden war ein Stuhl frei, auf dem zwei labende Kelchgläser standen, die sie am Büfett erbeutet hatten. Des Generals hellblauer Rock hatte sich im Sitzen emporgeschoben und bildete über dem Bauch Runzeln wie eine besorgte Stirn. Die beiden Männer schwiegen und hörten einem Gespräch zu, das vor ihnen geführt wurde.
«Beauprés Spiel» sagte jemand «muß man genial nennen; ich habe ihn im Sommer hier und im Winter zuvor an der Riviera spielen gesehn. Wenn er einen Fehler macht, hilft ihm das Glück. Er macht sogar oft Fehler, sein Spiel widerspricht im Aufbau einem realen Tenniswissen; aber dieser gottbegnadete Mensch steht außerhalb normaler Tennisgesetze. »
«Ich ziehe wissenschaftliches Tennis dem intuitiven vor, » wurde eingewendet «Braddock zum Beispiel.
Vielleicht gibt es keine Vollkommenheit, aber Braddock ist nahe dabei. »
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Der erste Redner entgegnete: «Das Genie Beauprés, sein planloses, geniales Durcheinander ist auf dem Höhepunkt, wenn das Wissen versagt!»
Ein dritter Mann: «Genie ist vielleicht doch etwas zu viel gesagt. »
«Wie wollen Sie es nennen? Es ist das Genie, das einem Mann im unwahrscheinlichsten Moment die richtige Art der Ballbehandlung eingibt!»
«Ich würde auch sagen, » half der Braddockianer «Persönlichkeit muß sich zeigen, ob ein Tennisschläger in der Hand gehalten wird oder Völkerschicksale. »
«Nein, nein; Genie ist zuviel!» verwahrte sich der Dritte.
Der Vierte war ein Musiker. Er sagte: «Sie haben ganz unrecht. Sie übersehen das reale Denken, das im Sport liegt, weil Sie offenbar noch an die Überschätzung des logischsystematischen gewöhnt sind. Das ist ungefähr ebenso veraltet wie das Vorurteil, daß Musik eine Gefühlsbereicherung sei und der Sport eine Willensschule. Aber reine Bewegungsleistung ist so magisch, daß der Mensch sie nicht ungeschützt vertragen kann; das sehen Sie im Kino, wenn die Musik fehlt. Und Musik ist innere Bewegung, sie fördert die Bewegungsphantasie. Wenn man das Magische an der Musik erfaßt hat, wird man sich nicht eine Sekunde bedenken, dem Sport Genie zuzusprechen; nur Wissenschaft hat kein Genie, das ist Gehirnakrobatik!»
«Also habe ich recht, » sagte der Anhänger Beauprés «wenn ich Braddocks wissenschaftlichem Spiel das Genie abspreche. »
«Sie übersehen, » verteidigte diesen sein Anhänger «daß man da von einer neuen Belebung des Begriffes Wissenschaft ausgehen muß!»
«Welcher von beiden schlägt eigentlich den anderen?» fragte jemand.
Niemand wußte es; beide hatten einander schon öfters besiegt, aber niemand hatte die genauen Zahlen im Kopf.
«Fragen wir Arnheim» schlug jemand vor.
Die Gruppe löste sich auf. Das Schweigen auf den drei Stühlen dauerte an. Endlich sagte General Stumm nachdenklich: «Entschuldige, ich habe die ganze Zeit zugehört, aber alles das könnte man doch auch von einem siegreichen General sagen, die Musik ausgenommen? Warum finden Sie es eigentlich an einem Tennisspieler genial und an einem General barbarisch?» Er hatte, seit ihm sein Gönner den Rat gab, es bei Diotima mit Körperkultur zu versuchen, verschiedene Male darüber nachgedacht, wie er diesen hoffnungsvollen Zugang zu den Zivilideen, trotz seiner ursprünglichen Abneigung dagegen, doch benutzen könnte, aber die Schwierigkeiten waren, wie er leider jedesmal wahrnehmen mußte, auch in dieser Richtung ungewöhnlich groß.
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Diotimas Nächte
Diotima wunderte sich darüber, daß Arnheim alle diese Leute sichtlich mit Wohlgefallen ertrug, denn der Zustand ihrer Gefühle entsprach allzu sehr dem, was sie einigemale mit den Worten ausgedrückt hatte, Weltgeschäfte seien nicht mehr als un peu de bruit autour de notre âme.
Es wurde ihr manchmal wirr zumute, wenn sie um sich sah und ihr Haus voll vom Adel der Welt und des Geistes erblickte. Von der Geschichte ihres Lebens war nur der äußerste Gegensatz zwischen Tiefe und Höhe übrig geblieben, ihre Lage als Mädchen, voll banger Mittelstandsbeengtheit, und jetzt der die Seele blendende Erfolg. Und sie fühlte die Forderung, obgleich sie schon auf schwindelnd schmaler Stufe stand, den Fuß noch einmal zu heben, in der Erwartung, daß es noch höher gehe. Die Unsicherheit zog sie an. Sie rang mit dem Beschluß, in ein Leben einzutreten, wo Tätigkeit, Geist, Seele und Traum eins sind. Sie machte sich im Grunde keine Sorgen mehr darüber, daß sich keine krönende Idee der Parallelaktion zeigen wollte; auch Weltösterreich war ihr gleichgültiger geworden; selbst das Erlebnis, daß es zu jedem großen Entwurf des menschlichen Geistes einen Gegenentwurf gibt, hatte keine Schrecken mehr für sie. Der Gang der Dinge ist dort, wo sie wichtig sind, nicht logisch; eher erinnert er an Blitz und Feuer, und sie hatte sich daran gewöhnt, daß sie sich über die Größe, von der sie sich umgeben fühlte, nichts denken konnte. Am liebsten würde sie ihre Aktion stehen gelassen und Arnheim geheiratet haben, so wiefür ein kleines 229
Mädchen alle Schwierigkeiten gut sind, wenn es sie fallen läßt und an die Brust des Vaters stürzt. Aber das unsagbare äußere Wachstum ihrer Tätigkeit hielt sie fest. Sie fand nicht die Zeit, sich zu entscheiden. Die äußere Verknüpfung der Geschehnisse und die innere liefen als zwei unabhängige Reihen nebeneinander weiter, mit vergeblichen Versuchen, sie zu verbinden. Es war das gleiche wie in ihrer Ehe, die sogar schembar glücklicher als früher weiterlief, indes sich alles Seelische in Auflösung befand.
Ihrem Charakter nach hätte Diotima offen mit ihrem Gatten reden müssen; aber es gab nichts, was sie ihm sagen konnte. Liebte sie Arnheim? Ihrer Beziehung zu ihm konnte man so viele Namen geben, daß dieser sehr triviale ausnahmsweise auch unter ihren Gedanken vorkam. Sie hatten sich noch nicht einmal geküßt, und äußerste Umarmungen der Seelen würde Tuzzi nicht verstehen, auch wenn sie ihm gebeichtet würden.
Diotima wunderte sich zuweilen selbst darüber, daß nicht mehr Erzählbares zwischen ihr und Arnheim vor sich ging. Aber sie hatte niemals die Gewohnheit des braven, jungen Mädchens, das zu älteren Männern ehrgeizig aufblickt, ganz abgelegt, und sie hätte sich eher noch mit ihrem Vetter, der ihr jünger vorkam, als sie es selbst war, und von ihr ein wenig verachtet wurde, wenn nicht handgreifliche, so doch erzählerisch greifbare Vorgänge vorstellen können als mit dem Mann, den sie liebte und der es so sehr zu würdigen wußte, wenn sie ihre Gefühle in allgemeine Betrachtungen von großer geistiger Höhe auflöste. Diotima wußte, daß man in grundstürzende Veränderungen der Lebensumstände hineintaumeln und zwischen seinen neuen vier Wänden erwachen muß, ohne sich recht erinnern zu können, wie man hineingekommen ist, aber fühlte sich Einflüssen ausgesetzt, die sie wachsam erhielten. Sie war nicht ganz frei von der Abneigung, die der Durchschnittsösterreicher ihrer Zeit gegen den deutschen Bruder empfand. Diese Abneigung entsprach in ihrer klassischen, inzwischen selten gewordenen Form ungefähr einer Vorstellung, die arglos die verehrten Köpfe Goethes und Schillers auf einen Leib setzte, der mit klibbrigen Puddings und Tunken ernährt wurde und etwas von deren unmenschlicher Innerlichkeit hatte. Und so groß Arnheims Erfolg in ihrem Kreise war, entging ihr nicht, daß sich nach der ersten Zeit der Überraschung auch Widerstände regten, die nirgends Form annahmen oder zu Tage traten, aber sie doch raunend unsicher machten und ihr den Unterschied zu Bewußtsein brachten, der zwischen ihrer eigenen Haltung und der Zurückhaltung mancher Personen bestand, nach denen sie ihr Benehmen sonst zu richten gewohnt war.
Nun sind völkische Abneigungen gewöhnlich nichts anderes als Abneigung gegen sich selbst, tief aus der Dämmerung eigener Widersprüche geholt und an ein geeignetes Opfer geheftet, ein seit den Urzeiten bewährtes Verfahren, wo der Medizinmann mit einem Stäbchen, das er zum Sitz des Dämons erklärte, die Krankheit aus dem Leib des Kranken gezogen hat. Daß ihr Geliebter ein Preuße war, verwirrte Diotimas Herz zu allem anderen also auch noch mit Schrecknissen, von denen sie sich keine rechte Vorstellung machen konnte, und es war wohl nicht ganz unberechtigt, wenn sie diesen unentschlossenen Zustand, der sich so deutlich von der einfachen Derbheit des Ehelebens unterschied, Leidenschaft nannte.
Diotima hatte schlaflose Nächte; in diesen Nächten schwankte sie zwischen einem preußischen Industriechef und einem österreichischen Sektionschef. In der Verklärung des Halbtraums zog Arnheims großes, durchglänztes Leben an ihr vorüber. Sie flog an der Seite des geliebten Mannes durch einen Himmel neuer Ehrungen, aber dieser Himmel hatte ein unangenehmes Preußischblau. In der schwarzen Nacht lag der gelbe Körper des Sektionschefs Tuzzi inzwischen noch neben dem ihren. Sie ahnte es bloß, wie ein schwarzgelbes Symbol alter kakanischer Kultur, wenn er von solcher auch nur wenig besaß. Die Barockfassade am Palast des Grafen Leinsdorf, ihres erlauchten Freundes, war dahinter, die Nähe Beethovens, Mozarts, Haydns, des Prinzen Eugen schwebte wie Heimweh darum, das sich schon vor der Flucht wieder zurücksehnt. Diotima konnte sich zu dem Schritt aus dieser Welt hinaus nicht ohneweiters entschließen, obgleich sie ihren Gatten deshalb beinahe haßte. In ihrem schönen, großen Leib saß die Seele hilflos wie in einem weiten blühenden Land.
«Ich darf nicht ungerecht sein» sprach Diotima zu sich. «Der Amts-und Berufsmensch ist wohl nicht mehr wach und weit und empfangend, aber in seiner Jugend hätte er vielleicht doch die Möglichkeit dazu gehabt.
» Sie erinnerte sich an Stunden aus der Bräutigamszeit, obgleich Sektionschef Tuzzi schon damals kein Jüngling mehr gewesen war. «Er hat durch Fleiß und Pflichttreue seine Stellung und Persönlichkeit errungen» dachte sie gutmütig; «er ahnt doch selbst nicht,
daß dies auf Kosten des Lebens seiner Persönlichkeit geschehen ist. »
Seit ihrem gesellschaftlichen Sieg dachte sie nachsichtiger von ihrem Gatten, und ihre Gedanken machten darum noch ein Zugeständnis. «Niemand ist reiner Verstandes-und Nützlichkeitsmensch; jeder begann 230
damit, daß er mit einer lebenden Seele lebte» überlegte sie. «Aber der Alltag versandet ihn, die gewöhnlichen Leidenschaften ziehen über ihn hin wie ein Brand, und die kalte Welt ruft in ihm jene Kälte hervor, in der seine Seele dahinsiecht. » Vielleicht war sie zu bescheiden gewesen, um ihm das rechtzeitig mit Strenge vorzuhalten. Es war so traurig. Es kam ihr vor, daß sie niemals den Mut finden werde, Sektionschef Tuzzi in den Skandal einer Scheidung zu verwickeln, der ihn, mit seinem Amt verflochten wie er war, aufs tiefste erschüttern mußte.
«Dann lieber Ehebruch!» sagte sie sich plötzlich.
Ehebruch, diesen Gedanken hatte Diotima seit einiger Zeit gefaßt.
Es ist ein unfruchtbarer Begriff, seine Pflicht dort zu tun, wohin man gestellt worden ist; man verausgabt Kraftsummen um nichts; die wahre Pflicht ist es, seinen Platz zu wählen und die Verhältnisse bewußt zu gestalten! Wenn sie sich schon dazu verurteilte, an der Seite ihres Gatten auszuharren, so gab es doch ein unnützes und ein fruchtbares Unglück, und sie hatte die Pflicht, sich zu entscheiden. Allerdings, Diotima hatte bisher noch nie über jenes peinlich Kokottenhafte und unschön Leichtsinnige hinwegkommen können, das an allen Ehebruchsschilderungen haftete, die sie kannte. Sie vermochte sich selbst in einer solchen Lage nicht recht vorzustellen. Die Klinke eines Absteigequartiers zu berühren, erschien ihr wie das Tauchen in einen Pfuhl. Mit rauschenden Röcken fremde Stiegen hinaufzuhuschen: eine gewisse moralische Geruhsamkeit ihres Körpers wehrte sich dagegen. In Eile gegebene Küsse widersprachen ihrer Natur genau so wie flüchtig flatternde Liebesworte. Eher war sie für Katastrophen. Letzte Gänge, in der Kehle ersterbende Abschiedsworte, tiefe Konflikte zwischen der Pflicht der Geliebten und der Mutter, das entsprach viel besser ihrer Anlage. Aber sie besaß wegen der Sparsamkeit ihres Gatten keine Kinder, und die Tragödie sollte gerade vermieden werden. So entschloß sie sich, wenn es so weit käme, für Renaissancemuster. Eine Liebe, die mit dem Dolch im Herzen lebt. Das konnte sie sich nicht genau vorstellen, aber es war zweifellos etwas Aufrechtes; mit geborstenen Säulen, über denen Wolken fliegen, als Hintergrund. Schuld und Überwindung des Schuldgefühls, Lust, gesühnt durch Leid, zitterte in diesem Bild und erfüllte Diotima mit einer unerhörten Steigerung und Andacht. «Wo ein Mensch seine höchsten Möglichkeiten findet und seine reichste Kraftentfaltung erfährt, dort gehört er auch hin, » dachte sie «denn dort nützt er zugleich der tiefsten Lebenssteigerung des Ganzen!»
Sie sah, so gut es die Nacht erlaubte, ihren Gatten an. Wie das Auge die ultravioletten Strahlen des Spektrums nicht wahrnimmt, würde dieser Intelligenzmensch gewisse seelische Wirklichkeiten überhaupt nicht bemerken!
Sektionschef Tuzzi atmete ahnungslos, ruhig und eingewiegt von dem Gedanken, daß während seiner verdienten Geistesabwesenheit von acht Stunden in Europa nichts von Wichtigkeit vor sich gehen könne.
Dieser Frieden verfehlte nicht, auch auf Diotima Eindruck zu machen, und nicht nur einmal erwog sie dann den Gedanken: Entsagung! Abschied von Arnheim, große, edle Worte des Leids, himmelstürmender Verzicht, Beethovensches Scheiden: der kräftige Muskel ihres Herzens spannte sich unter solchen Anforderungen. Zitternde, herbstlich glänzende Gespräche, voll von der Wehmut ferner blauer Berge, erfüllten die Zukunft. Aber Entsagen und eheliches Doppelbett?! Diotima fuhr in den Polstern empor, ihr schwarzes Haar ringelte sich wild. Sektionschef Tuzzis Schlaf war jetzt nicht mehr jener der Unschuld, sondern der der Schlange, die ein Kaninchen in ihrem Leibe hat. Es fehlte nicht viel, so hätte Diotima ihn geweckt und ihm angesichts dieser neuen Frage ins Gesicht geschrien, daß sie ihn verlassen müsse, müsse, wolle!! Eine solche Flucht in eine hysterische Szene wäre in ihrer zwiespältigen Lage gut zu verstehen gewesen; aber ihr Leib war zu gesund dazu, sie fühlte, daß er einfach nicht mit äußerstem Entsetzen auf Tuzzis Nähe antwortete. Vor diesem fehlenden Entsetzen fühlte sie ein trockenes Grauen. Tränen versuchten dann vergeblich, über ihre Wange zu rinnen, aber merkwürdigerweise bedeutete ihr gerade in diesem Zustand der Gedanke an Ulrich einen gewissen Trost. Sie dachte in dieser Zeit sonst nie an ihn, aber seine wunderlichen Äußerungen, er möchte die Wirklichkeit abschaffen und Arnheim überschätze sie, hatten einen unverständlichen Nebenton, einen schwebenden, über den Diotima seinerzeit weggehört hatte, der aber in diesen Nächten wieder zum Vorschein kam. «Das heißt doch nichts anderes, als daß man sich nicht zu sehr um das kümmern soll, was geschehen wird» sagte sie sich ärgerlich; «es ist das Gewöhnlichste von der Welt!» Und während sie diesen Gedanken so schlecht und einfach übersetzte, wußte sie, daß sie etwas daran nicht verstand, und gerade davon ging die Beruhigung aus, die wie ein Schlafpulver war, das ihre Verzweiflung samt dem Bewußtsein lahmte. Die Zeit huschte wie ein dunkler Strich davon, sie fühlte 231
getröstet, daß man irgendwie ihren Mangel an anhaltender Verzweiflung auch anerkennenswert finden könne, aber es wurde ihr nicht mehr klar.
In der Nacht fließen die Gedanken bald im Hellen, bald durch Schlaf, wie Wasser im Karst, und wenn sie nach einer Weile wieder ruhig zum Vorschein kamen, hatte Diotima den Eindruck, sie habe das vorangegangene Schäumen bloß geträumt. Der kochende kleine Fluß, der hinter dem dunklen Gebirgsstock lag, war nicht der gleiche wie der stille Strom, in den Diotima schließlich hineinglitt. Zorn, Abscheu, Mut, Angst waren verronnen, es durfte solche Gefühle nicht geben, es gab sie nicht: in den Kämpfen der Seelen hat niemand Schuld! Auch Ulrich war dann wieder vergessen. Denn es waren nun bloß noch die letzten Geheimnisse, das ewige Sehnen der Seele vorhanden. Ihre Sittlichkeit liegt nicht in dem, was man tut. Sie liegt nicht in den Bewegungen des Bewußtseins noch in denen der Leidenschaft. Auch die Leidenschaften sind nur un peu de bruit autour de notre âme. Man kann Königreiche gewinnen oder verlieren, aber die Seele rührt sich nicht, und man kann nichts tun, um sein Schicksal zu erreichen, aber zuweilen wächst es aus der Tiefe des Wesens, still und täglich, wie der Gesang der Sphären. Diotima lag dann so wach wie zu keiner anderen Stunde, aber
voll Vertrauen. Diese Gedanken, mit ihrem dem Auge entzogenen Schlußpunkt, hatten den Vorzug, sie selbst in den schlaflosesten Nächten nach ganz kurzer Weile einzuschläfern. Wie eine samtene Vision spürte sie ihre Liebe in das unendliche Dunkel übergehen, das über die Sterne hinausreicht, untrennbar von ihr, untrennbar von Paul Arnheim, durch keine Pläne und Absichten zu berühren. Sie fand kaum noch Zeit, nach dem Glas Zuckerwasser zu greifen, das sie zur Bekämpfung ihrer Schlaflosigkeit auf dem Nachttischlein stehen hatte, aber immer erst in diesem letzten Augenblick benutzte, weil sie es in denen der Aufregung vergaß. Der leise Laut des Trinkens perlte wie das Flüstern von Liebenden hinter einer Wand neben dem Schlaf ihres Gatten, der nichts davon hörte; dann legte sich Diotima andächtig in die Polster zurück und versank in das Schweigen des Seins.
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Der Großschriftsteller, Rückansicht
Es ist fast zu bekannt, um davon zu sprechen: Seit ihre berühmten Gäste sich davon überzeugt hatten, daß der Ernst des Unternehmens keine großen Anstrengungen von ihnen fordere, gaben sie sich als Menschen, und Diotima, die ihr Haus von Lärm und Geist erfüllt sah, war enttäuscht. Sie kannte als eine hohe Seele das Gesetz der Vorsicht nicht, wonach man sich als Privatmann entgegengesetzt benimmt wie in seinem Beruf.
Sie wußte nicht, daß Politiker, nachdem sie sich im Sitzungssaal Spitzbuben und Betrüger genannt haben, im Erfrischungssaal freundlich nebeneinander frühstücken. Daß Richter, die als Juristen einen Unglücklichen zu schwerer Strafe verurteilt haben, ihm nach Schluß der Verhandlung als Menschen teilnehmend die Hand drücken, wußte sie wohl, aber sie hatte nie daran etwas auszusetzen gefunden. Daß Tänzerinnen außerhalb ihres zweideutigen Berufs oft einen hausmütterlich einwandfreien Lebenswandel führen, hatte sie manchmal erzählen gehört und fand es sogar rührend. Auch erschien es ihr als schönes Sinnbild, daß Fürsten zu Zeiten die Krone ablegen, um nichts als Mensch zu sein. Aber als sie wahrnahm, daß auch Fürsten des Geistes sich inkognito ergehen, kam ihr dieses Doppelverhalten sonderbar vor.
Welche Leidenschaft ist es und welches Gesetz liegt dieser allgemeinen Neigung zugrunde und bewirkt, daß Männer außerhalb des Berufs sich nichts wissen machen von den Männern, die sie innerhalb des Berufs sind? Sie sehen nach Schluß ihrer Arbeit, wenn sie aufgeräumt sind, genau so aus wie ein aufgeräumtes Büro, wo das Schreibzeug in den Laden verwahrt ist und die Sessel auf den Tischen stehn. Sie bestehen aus zwei Männern, und man weiß nicht, ob sie nun eigentlich am Abend oder am Morgen zu sich zurückkehren?
So sehr es ihr darum schmeichelte, daß ihr Seelengeliebter allen Männern gefiel, die sie um sich versammelt hatte, und namentlich mit den jüngeren unternehmend verkehrte, entmutigte es sie doch zuweilen, ihn in diese Betriebsamkeit verflochten zu sehn, und sie fand, daß sich ein Geistesfürst weder den Verkehr mit dem gewöhnlichen Geistesadel so angelegen sein lassen dürfte, noch dem beweglichen Markten der Gedanken zugänglich sein sollte.
Die Ursache lag darin, daß Arnheim kein Geistesfürst war, sondern ein Großschriftsteller.
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Der Großschriftsteller ist der Nachfolger des Geistesfürsten und entspricht in der geistigen Welt dem Ersatz der Fürsten durch die reichen Leute, der sich in der politischen Welt vollzogen hat. So wie der Geistesfürst zur Zeit der Fürsten, gehört der Großschriftsteller zur Zeit des Großkampftages und des Großkaufhauses. Er ist eine besondere Form der Verbindung des Geistes mit großen Dingen. Das mindeste, was man von einem Großschriftsteller verlangt, ist darum, daß er einen Kraftwagen besitzt. Er muß viel reisen, von Ministern empfangen werden, Vorträge halten; den Chefs der öffentlichen Meinung den Eindruck machen, daß er eine nicht zu unterschätzende Gewissensmacht darstelle; er ist chargé d’affaires des Geistes der Nation, wenn es gilt, im Ausland Humanität zu beweisen; empfängt, wenn er zu Hause ist, notable Gäste und hat bei alledem noch an sein Geschäft zu denken, das er mit der Geschmeidigkeit eines
Zirkuskünstlers machen muß, dem man die Anstrengung nicht anmerken darf. Denn der Großschriftsteller ist keineswegs einfach das gleiche wie ein Schriftsteller, der viel Geld verdient. Das «gelesenste Buch» des Jahres oder Monats braucht er niemals selbst zu schreiben, es genügt, daß er gegen diese Art der Bewertung nichts einzuwenden hat. Denn er sitzt in allen Preisgerichten, unterzeichnet alle Aufrufe, schreibt alle Vorworte, hält alle Geburtstagsreden, äußert sich zu allen wichtigen Ereignissen und wird überall gerufen, wo es zu zeigen gilt, wie weit man es gebracht hat. Denn der Großschriftsteller vertritt bei allen seinen Tätigkeiten niemals die ganze Nation, sondern gerade nur ihren fortschrittlichen Teil, die große, beinahe schon in der Mehrheit befindliche Auserlesenheit, und das umgibt ihn mit einer bleibenden geistigen Spannung. Es ist natürlich das Leben in seiner heutigen Ausbildung, das zur Großindustrie des Geistes führt, so wie es umgekehrt die Industrie zum Geist, zur Politik, zur Beherrschung des öffentlichen Gewissens drängt; in der Mitte berühren sich beide Erscheinungen. Darum weist die Rolle des Großschriftstellers auch nicht etwa auf eine bestimmte Person hin, sondern stellt eine Figur am gesellschaftlichen Schachbrett dar, mit einer Spielregel und Obliegenheit, wie sie die Zeit ausgebildet hat. Die des Guten beflissenen Menschen dieser Zeit stehen auf dem Standpunkt, daß es ihnen wenig nützt, wenn irgendwer Geist habe (es ist davon so viel vorhanden, daß es auf etwas mehr oder weniger nicht ankommt, jedenfalls glaubt jeder für seine Person genug zu haben), sondern daß man den Ungeist bekämpfen müsse, wozu es nötig ist, daß der Geist gezeigt, gesehen, zur Wirkung gebracht werde, und weil sich dazu ein Großschriftsteller besser eignet als selbst ein größerer Schriftsteller, den vielleicht nicht mehr so viele verstehen könnten, trägt man nach Kräften dazu bei, daß die Größe recht ins Große gerät.
Wenn man das so versteht, war Arnheim daraus, daß er eine der ersten, probeweisen, wenn auch schon sehr vollkommenen Verkörperungen dieser Verhältnisse bedeutete, kein schwerer Vorwurf zu machen, doch gehörte immerhin eine gewisse Anlage dazu. Denn die meisten Schriftsteller
würden gerne Großschriftsteller sein, wenn sie es nur könnten, aber das ist so wie mit den Bergen: zwischen Graz und Sankt Polten gibt es viele, die genau so auszusehen vermöchten wie der Monte Rosa, bloß stehen sie zu niedrig. Die unerläßlichste Voraussetzung, um ein Großschriftsteller zu werden, bleibt also die, daß man Bücher oder Theaterstücke schreibt, die sich für hoch und niedrig eignen. Man muß wirken, ehe man das Gute wirken kann; dieser Grundsatz ist der Boden eines jeden Großschriftstellerdaseins. Und das ist ein wundersames, gegen die Versuchungen der Einsamkeit gerichtetes Prinzip, geradezu das Goethesche Prinzip des Wirkens, daß man sich nur in der freundlichen Welt regen müsse, so komme dann alles andere von selbst. Denn wenn ein Schriftsteller einmal zu wirken anfängt, so tritt eine bedeutsame Wandlung in seinem Leben ein. Sein Verleger hört auf, zu bemerken, daß ein Kaufmann, der Verleger werde, einem tragischen Idealisten gleiche, weil er doch mit Tuch oder unverdorbenem Papier ganz anders verdienen könnte. Die Kritik entdeckt in ihm einen würdigen Gegenstand für ihr Schaffen, denn Kritiker sind sehr oft keine bösen Menschen, sondern, dank den ungünstigen Zeitumständen, gewesene Lyriker, die ihr Herz an etwas hängen müssen, um sich aussprechen zu können; sie sind Kriegs-oder Liebeslyriker, je nach dem inneren Erträgnis, das sie günstig anbringen müssen, und es ist begreiflich, daß sie dazu lieber das Buch eines Großschriftstellers als das eines gewöhnlichen Schriftstellers wählen. Nun hat natürlich jeder Mensch nur eine begrenzte Arbeitsfähigkeit, deren beste Ergebnisse verteilen sich leicht auf die jährlichen Neuerscheinungen aus Großschriftstellerfedern, und so werden diese zu Sparkassen des nationalen Geisteswohlstandes, indem jede von ihnen kritische Interpretationen nach sich zieht, die keineswegs nur Auslegungen, vielmehr geradezu Einlagen sind, während für alles übrige entsprechend wenig übrig bleibt.
Ins Größte wächst das aber erst durch die Essayisten, Biographen und Schnellhistoriker, die ihr Bedürfnis an einem großen Mann verrichten. Mit Respekt zu sagen, Hunde ziehen zu ihren recht gemeinen Zwecken 233
eine belebte Ecke einem einsamen Felsen vor; wie sollten da nicht Menschen, die den höheren Drang haben, ihren Namen öffentlich zu hinterlassen, einen Fels wählen, der offenkundig einsam ist?! Ehe er sich dessen versieht, ist so der Großschriftsteller kein Wesen mehr für sich allein, sondern eine Symbiose, das Ergebnis nationaler Arbeitsgemeinschaft im zartesten Sinn und erlebt die schönste Versicherung, die das Dasein zu geben vermag, daß sein Gedeihen mit dem Gedeihen zahlloser anderer Menschen auf das innigste verflochten ist.
Und wahrscheinlich ist das der Grund, warum man oft als einen allgemeinen Zug im Charakter der Großschriftsteller auch ein ausgeprägtes Wohlverhaltensgefühl findet. Von den kämpferischen Mitteln des Schreibens machen sie nur Gebrauch, wenn sie ihre Geltung bedroht fühlen; in allen übrigen Fällen zeichnet sich ihr Verhalten durch Ausgeglichenheit und Wohlwollen aus. Sie sind vollendet tolerant gegen Nichtigkeiten, die zu ihrem Lobe gesagt werden. Sie lassen sich nicht leicht dazu herab, andere Autoren zu besprechen; aber wenn sie es tun, dann schmeicheln sie selten einem Mann von hohem Rang, sondern ziehen es vor, eines jener unaufdringlichen Talente zu ermuntern, die aus neun-undvierzig Prozent Begabung und einundfünfzig Prozent Unbegabung bestehen und vermöge dieser Mischung so geschickt zu allem sind, wo man eine Kraft braucht, aber ein starker Mann schaden könnte, daß über kurz oder lang ein jedes von ihnen einen einflußreichen Posten in der Literatur hat. Aber ist damit diese Beschreibung nicht schon über das hinausgegangen, was nur dem Großschriftsteller eigentümlich ist? Ein gutes Sprichwort sagt, wo Tauben sind, fliegen Tauben zu, und man macht sich schwer eine Vorstellung davon, wie bewegt es heutzutage schon um einen gewöhnlichen Schriftsteller zugeht, lange ehe er Großschriftsteller, schon wenn er Buchbesprecher, Feuilletonredakteur, Funkverweser, Filmmixer oder Herausgeber eines Literaturblättchens ist; manche von ihnen gleichen jenen kleinen Eselchen und Schweinchen aus Gummi, die hinten ein Loch haben, wo man sie aufbläst. Wenn man die Großschriftsteller solche Umstände sorgsam erwägen und sie bemüht sieht, daraus das Bild eines tüchtigen Volks zu machen, das seine Großen ehrt, muß man es ihnen nicht danken? Sie veredeln das Leben, wie es ist, durch ihre Teilnahme. Man versuche, sich das Gegenteil vorzustellen, einen schreibenden Mann, der alles das nicht täte. Er müßte herzliche Einladungen ablehnen, Menschen zurückstoßen, Lob nicht wie ein Belobter, sondern wie ein Richter bewerten, natürliche Gegebenheiten zerreißen, große Wirkungsmöglichkeiten als verdächtig behandeln, nur weil sie groß sind, und hätte als Gegengabe nichts zu bieten als schwer ausdrückbare, schwer zu bewertende Vorgänge in seinem Kopf und die Leistung eines Schriftstellers, worauf ein Zeitalter, das schon Großschriftsteller besitzt, wirklich nicht viel Wert zu legen braucht! Würde ein solcher Mann nicht außerhalb der Gemeinschaft stehen und sich mit allen Folgen, die das hat, der Wirklichkeit entziehen müssen?! — Es war jedenfalls die Meinung Arnheims.
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Der Großschriftsteller, Vorderansicht
Die eigentliche Schwierigkeit im Dasein eines Großschriftstellers entsteht erst dadurch, daß man im geistigen Leben zwar kaufmännisch handelt, aber aus alter Überlieferung idealistisch spricht, und diese Verbindung von Handel und Idealismus war es auch, die in Arnheims Lebensbemühungen eine entscheidende Stelle innehatte.
Man findet solche unzeitgemäße Verbindungen heute überall. Während zum Beispiel die Toten schon im Benzintrab auf den Friedhof befördert werden, verzichtet man doch nicht darauf, bei einer schönen Kraftleiche oben auf dem Wagendeckel einen Helm und zwei gekreuzte Ritterschwerter anzubringen, und so ist es auf allen Gebieten; die menschliche Entwicklung ist ein lang auseinandergezogener Zug, und so, wie man sich vor ungefähr zwei Menschenaltern noch in Geschäftsbriefen mit blauen Rede-blümlein geschmückt hat, könnte man heute schon alle Beziehungen von der Liebe bis zur reinen Logik in der Sprache von Angebot und Nachfrage, Deckung und Eskompte ausdrücken, jedenfalls ebenso gut, wie man sie psychologisch oder religiös ausdrücken kann, aber man tut es doch nicht. Der Grund liegt darin, daß die neue Sprache noch zu unsicher ist. Der ehrgeizige Geldmann ist heute in einer schwierigen Lage. Wenn er den älteren Mächten des Seins ebenbürtig sein will, so muß er seine Tätigkeit an große Ideen knüpfen; große Gedanken, die widerspruchslos geglaubt würden, gibt es aber heute nicht mehr, denn diese 234
skeptische Gegenwart glaubt weder an Gott noch an die Humanität, weder an Kronen noch an Sittlichkeit oder sie glaubt an alles zusammen, was auf das gleiche hinauskommt. Also mußte der Kaufmann, der des Großen so wenig entbehren will wie eines Kompasses, den demokratischen Kunstgriff anwenden, die unmeßbare Wirkung der Größe durch die meßbare Größe der Wirkung zu ersetzen. Groß ist nun, was für groß gilt; allein das heißt, daß letzten Endes auch das groß ist, was durch tüchtige Reklame dafür ausgeschrien wird, und es ist nicht jedermann gegeben, diesen innersten Kern der Zeit ohne Beschwernis zu schlucken, und Arnheim hatte viele Versuche darüber angestellt, wie das zu machen sei.
Ein gebildeter Mann kann da zum Beispiel an das Verhältnis von Forschung und Kirche im Mittelalter denken. Es mußte sich dazumal der Philosoph mit der Kirche vertragen, wenn er Erfolg haben und das Denken seiner Zeitgenossen beeinflussen wollte, und billiges Freidenkertum könnte darum meinen, daß diese Fesseln seinen Aufstieg zur Größe behindert hätten; aber das Gegenteil war der Fall. Nach der Kundigen Meinung ist bloß eine unvergleichliche gotische Schönheit des Denkens daraus entstanden, und wenn man solche Rücksicht ohne Schaden des Geistes auf die Kirche hatte nehmen können, weshalb sollte man sie nicht auch auf die Reklame nehmen dürfen? Kann, wer wirken will, nicht auch unter dieser Bedingung wirken? Arnheim war überzeugt, daß es ein Zeichen von Größe ist, an seiner eigenen Zeit nicht zuviel Kritik zu üben! Der beste Reiter mit dem besten Pferd kommt, wenn er mit ihm hadert, schlechter über ein Hindernis als ein Reiter, der sich den Bewegungen seines Kleppers anpaßt.
Ein anderes Beispiel: Goethe! - Er war ein Genie, wie die Erde leicht kein zweites hervorbringen mag, aber er war auch der geadelte Sohn einer deutschen Kaufmannsfamilie und, so wie ihn Arnheim empfand, der allererste Großschriftsteller, den diese Nation hervorgebracht hat. Arnheim nahm sich an ihm in vielem ein Beispiel. Seine Lieblingsgeschichte war aber die bekannte Affäre, wie Goethe, obgleich er heimlich mit ihm sympathisierte, den armen Johann Gottlieb Fichte im Stich ließ, als er in Jena als Philosophieprofessor gemaßregelt wurde, weil er sich «mit Großheit, aber vielleicht nicht ganz gehörig» über Gott und göttliche Dinge geäußert hatte und in seiner Verteidigung «leidenschaftlich zu Werke ging», statt sich «auf das Gelindeste» herauszuhelfen, wie der weltfähige Dichter-Meister in seinen Memoiren bemerkt. Arnheim würde sich nun nicht nur gerade so verhalten haben wie Goethe, sondern er würde, unter Berufung auf ihn, sogar die Welt zu überzeugen versucht haben, daß es einzig das Goethesche und Bedeutsame sei. Er hätte sich kaum mit der Wahrheit begnügt, daß man merkwürdigerweise wirklich mehr Sympathie empfindet, wenn ein großer Mann etwas Schlechtes tut, als wenn ein weniger großer sich recht beträgt, sondern würde dazu übergegangen sein, - daß der bedingungslose Kampf für seine Überzeugung sowohl unfruchtbar wie auch ein Verhalten ohne Tiefe und historische Ironie sei, und was diese letztere angeht, so würde er sie eben auch die Goethesche genannt haben, das heißt die Ironie des ernsten Sich-in-die-Umstände-Bequemens, mit handelndem Humor, dem die Distanz der Zeit recht gibt. Wenn man bedenkt, daß heute, nach knapp zwei Menschenaltern, das Unrecht, das dem wackeren, aufrechten und etwas übertriebenen Fichte widerfuhr, längst eine Privatangelegenheit geworden ist, die seiner Bedeutung nichts hinzutut, hingegen die Bedeutung Goethes, obgleich er sich schlecht betrug, auf die Dauer nichts Wesentliches verlor, so muß man zugeben, daß die Weisheit der Zeit tatsächlich mit der Weisheit Arnheims übereinstimmte.
Ein drittes Beispiel, das zugleich — Arnheim war immer von guten Beispielen umgeben - den tiefen Sinn der beiden ersten eröffnet: Napoleon. Heine schildert ihn in den Reisebildern in einer so sehr mit Arnheims Begriffen übereinstimmenden Weise, daß man es am besten in seinen eigenen Worten wiedergibt, die dieser auswendig wußte. «Ein solcher Geist» sagte Heine, also von Napoleon sprechend, aber er hätte es ebensogut auf Goethe anwenden -können, dessen diplomatische Natur er stets mit dem Scharfsinn des Liebhabers verteidigte, der sich heimlich mit dem Gegenstand seiner Bewunderung nicht einverstanden weiß, « ein solcher Geist ist es, worauf Kant hindeutet, wenn er sagt, daß wir uns einen Verstand denken können, der nicht wie der unsrige, sondern intuitiv ist. Was wir durch langsames analytisches Nachdenken und lange Schlußfolgen erkennen, das hatte jener Geist im selben Moment angeschaut und tief begriffen.
Daher sein Talent, die Zeit, die Gegenwart zu verstehen, ihren Geist zu cajoliren, ihn nie zu beleidigen und immer zu benutzen. - Da aber dieser Geist der Zeit nicht bloß revolutionär ist, sondern durch den Zusammenfluß beider Ansichten, der revolutionären und contrerevolutionären, gebildet worden, so handelte Napoleon nie ganz revolutionär und nie ganz contrerevolutionär, sondern immer im Sinne beider Ansichten, beider Principien, beider Bestrebungen, die in ihm ihre Vereinigung fanden, und demnach handelte er beständig naturgemäß, einfach, groß, nie krampfhaft barsch, immer ruhig milde. Daher 235
intriguirte er nie im Einzelnen, und seine Schläge geschahen immer durch seine Kunst, die Massen zu begreifen und zu lenken. - Zur verwickelten, langsamen Intrigue neigen sich kleine analytische Geister, hingegen synthetische, intuitive Geister wissen auf wunderbar geniale Weise die Mittel, die ihnen die Gegenwart bietet, so zu verbinden, daß sie dieselben zu ihrem Zweck schnell benutzen können. »
Heine dürfte das vielleicht ein wenig anders gemeint haben, als sein Bewunderer Arnheim es auffaßte, aber dieser fühlte sich geradezu durch seine Worte mitbeschrieben.
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Clarissens geheimnisvolle Kräfte und Aufgaben
Clarisse im Zimmer; Walter war ihr abhanden gekommen, sie hat einen Apfel und ihren Schlafrock. Das sind, Apfel und Schlafrock, die zwei Quellen, aus denen ein unbeachteter, dünner Strahl von Wirklichkeit in ihr Bewußtsein fließt. Warum erschien ihr Moosbrugger musikalisch? Sie wußte es nicht. Vielleicht sind alle Mörder musikalisch. Sie weiß, daß sie einen Brief an Se. Erlaucht Graf Leinsdorf geschrieben hat, wegen dieser Frage; sie erinnert sich auch ungefähr an den Inhalt, doch hat sie keinen Zugang dazu. Aber der Mann ohne Eigenschaften war unmusikalisch? Da ihr keine rechte Antwort einfiel, ließ sie diesen Gedanken stehn und ging weiter.
Nach einer Weile fiel ihr jedoch ein: Ulrich ist der Mann ohne Eigenschaften. Ein Mann ohne Eigenschaften kann natürlich auch nicht musikalisch sein. Er kann aber auch nicht unmusikalisch sein? Sie ging weiter.
Er hatte von ihr gesagt: Du bist mädchen-und heldenhaft. Sie wiederholte: «mädchen-und heldenhaft!»
Die Wärme stieg ihr in die Wangen. Es erwuchs daraus eine Pflicht, die ihr nicht klar wurde.
Ihre Gedanken drängten in zwei Richtungen, wie bei einem Handgemenge. Sie fühlte sich angezogen und abgestoßen, wußte aber nicht, wohin und wovon; schließlich lockte sie eine leise Zärtlichkeit, die davon, sie wußte nicht wie, übrig geblieben war, Walter suchen zu gehen. Sie stand auf und legte den Apfel weg.
Es tat ihr leid, daß sie Walter immer quälte. Sie war erst fünfzehn Jahre alt gewesen, da hatte sie schon bemerkt, daß sie ihn zu quälen vermochte. Sie brauchte bloß entschieden auszurufen, etwas sei in Wahrheit nicht so, wie er behaupte, da zuckte er zusammen, und wenn es noch so richtig war, was er gesagt hatte! Sie wußte, daß er sich vor ihr fürchtete. Er fürchtete, daß sie verrückt werden könnte. Er hatte es sich einmal entschlüpfen lassen, schnell wieder verredet; sie aber 554
wußte seither, daß er daran dachte. Sie fand das sehr schön. Nietzsche sagt: «Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse? Eine Tiefe des widermoralischen Hangs? Das Verlangen nach dem Furchtbaren als dem würdigen Feind?» - Solche Worte bereiteten ihr, wenn sie sie dachte, eine sinnliche Erregung im Mund, die so sanft und stark wie Milch war, sie konnte kaum schlucken.
Sie dachte an das Kind, das Walter von ihr wollte. Auch davor fürchtete er sich. Begreiflich, wenn er glaubte, daß sie einmal verrückt werden könnte. Es gab ihr Zärtlichkeit für ihn, auch wenn sie sich heftig weigerte. Sie hatte aber vergessen, daß sie Walter suchen wollte. Es ging jetzt etwas in ihrem Körper vor.
Die Brüste füllten sich, durch die Adern an Armen und Beinen rollte ein dickerer Blutstrom, sie spürte ein unbestimmtes Drängen gegen Blase und Darm. Ihr schmaler Körper wurde nach innen tief, empfindlich, lebendig, fremd, eins nach dem ändern; ein Kind lag licht und lächelnd in ihrem Arm; von ihren Schultern strahlte das Goldkleid der Gottesmutter zu Boden, und die Gemeinde sang. Es war außer ihr, der Herr war der Welt geboren!
Aber kaum war das vor sich gegangen, so schnellte ihr Körper über dem klaffenden Bild wieder zusammen, wie Holz einen Keil aus sich herausschleudert; sie war schlank, bei sich, ekelte sich, fühlte eine grausame Heiterkeit. So einfach wollte sie es Walter nicht machen. «Ich will, daß dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde sehnen!» sagte sie sich vor. «Lebendige Denkmäler sollst du über dich selbst hinausbauen. Aber erst mußt du mir selber gebaut sein an Leib und Seele!» Clarisse lächelte; es war ihr Lächeln, das so schmal züngelte wie ein Feuer, das mit einem großen Stein zugedeckt ist.
Dann fiel ihr ein, daß ihr Vater sich vor Walter gefürchtet hatte. Sie begab sich um Jahre zurück. Das war sie gewohnt; Walter und sie fragten einander gern: erinnerst du dich? und dann floß vergangenes Licht 236
zauberhaft aus der Weite zurück auf die Gegenwart. Es ist das schön, sie hatten es gern. Es ist vielleicht das gleiche, wie wenn man unlustig stundenlang gegangen ist und kehrt sich um, und die ganze durchwanderte Leere liegt, mit einemmal in Fernsicht verwandelt, als schöne Befriedigung da; aber so faßten sie es nie auf, sondern nahmen ihre Erinnerungen sehr wichtig. Darum kam es ihr auch ungemein anregend und verwickelt vor, daß ihr Vater, der alternde Maler, damals Gewaltperson für sie, sich vor Walter, der ihm die neue Zeit ins Haus gebracht hatte, fürchtete, während Walter sich vor ihr fürchtete. Es war dem ähnlich, wenn sie den Arm um ihre Freundin Lucy Pachhofen legte, «Papa» sagen mußte und dabei wußte, daß Papa Lucys Geliebter war, denn das ereignete sich in der gleichen Zeit. Clarisse schoß nun wieder die Hitze in die Wangen. Es beschäftigte sie auf das lebhafteste, sich das eigenartige Winseln zu vergegenwärtigen, dieses fremde Winseln, von dem sie ihrem Freund erzählt hatte. Sie nahm einen Spiegel und suchte das Gesicht mit den angstvoll zusammengepreßten Lippen wiederzufinden, das sie in jener Nacht gemacht haben mußte, wo ihr Vater an ihr Bett kam. Es gelang ihr nicht, den Laut hervorzubringen, der sich unter der Versuchung aus ihrer Brust gelöst hatte. Sie überlegte, daß dieser Laut heute noch genau so in ihrer Brust drinnen sein müsse wie damals. Es war ein Laut ohne Schonung und Rücksicht; aber er war niemals wieder zur Oberfläche emporgekommen. Sie legte den Spiegel weg und sah sich vorsichtig um, das Bewußtsein, daß sie allein sei, mit tastendem Auge bekräftigend. Dann suchte sie, mit den Fingerspitzen durch ihr Kleid fühlend, das samtschwarze Muttermal, mit dem es eine so sonderbare Bewandtnis hatte. In der Gegend der Leistenbeuge, halb versteckt im Schenkelschluß und am Rande der Haare, die dort ein wenig unregelmäßig auswichen, lag es; sie ließ ihre Hand darauf ruhen, wehrte jeden Gedanken ab und lauerte auf die Veränderung, die vor sich gehen sollte. Sofort spürte sie diese. Es war nicht das weiche Strömen der Wollust, sondern ihr Arm wurde steif, starr wie ein Männerarm; sie hatte den Eindruck, wenn sie ihn einmal richtig heben würde, könnte sie alles mit ihm niederschmettern! Sie nannte diese Stelle an ihrem Leib das Auge des Teufels. An dieser Stelle war ihr Vater umgekehrt. Das Auge des Teufels hatte einen Blick, der durch die Kleider drang; dieser Blick «faßte» die Männer «ins Auge», zog sie gebannt an, aber erlaubte ihnen nicht, sich zu rühren, solange Clarisse wollte. Clarisse dachte manche Worte in Anführungszeichen, herausgehoben, so wie sie beim Schreiben manche Worte mit dicken Tintenbalken unterfuhr; solche herausgehobenen Worte hatten dann einen gespannten Sinn, ähnlich gespannt, wie es ihr Arm war; wer hat je daran gedacht, daß man mit dem Auge wirklich etwas fassen könne? Aber sie war der erste Mensch, der dieses Wort in der Hand hielt wie einen Stein, den man auf ein Ziel schleudern kann. Es war ein Teil der schmetternden Kraft ihres Arms. Und über all dem hatte sie das Winseln, worüber sie nachdenken wollte, vergessen und dachte an ihre jüngere Schwester Marion. Mit vier Jahren hatte man Marion nachts die Hände festbinden müssen, weil sie sonst ahnungslos, aus bloßer Freude am Angenehmen, unter die Decke gingen, wie zwei junge Bären in einen Honigbaum. Und später hatte sie, Clarisse, einmal Walter von Marion wegreißen müssen. Die Sinnlichkeit ging in ihrer Familie um, wie der Wein unter Weinbauern, Es war ein Schicksal. Sie trug schwere Last. Aber trotzdem gingen ihre Gedanken nun in der Vergangenheit spazieren, die Spannung im Arm löste sich zu einem natürlichen Zustand auf, und ihre Hand blieb vergessen im Schoß liegen. Sie sagte damals noch Sie zu Walter. Sie verdankte ihm eigentlich sehr viel. Er brachte die Botschaft, daß es neue Menschen gebe, die nur kühle, klare Möbel vertrügen und Bilder in ihre Zimmer hängten, auf denen die Wahrheit dargestellt sei. Er las ihr vor: Peter Altenberg, kleine Geschichten von kleinen Mädchen, die zwischen liebestollen Tulpenbeeten Reifen werfen und Augen besitzen, die so hell-süß unschuldig sind wie Marons glacés; und Clarisse wußte von diesem Augenblick an, daß ihre schlanken Beine, die ihr noch kindisch vorgekommen waren, ebensoviel bedeuteten wie ein Scherzo von «ich weiß nicht wem».
Sie lebten gerade alle in einem Sommerquartier, ein großer Kreis, mehrere Familien aus der Bekanntschaft hatten Villen an einem See gemietet, und alle Schlafzimmer waren doppelt besetzt mit Freunden und Freundinnen, die man eingeladen hatte. Clarisse schlief mit Marion, und um elf Uhr kam manchmal Dr.
Meingast auf einer heimlichen Mondscheinrunde zu ihnen ins Zimmer, um zu plaudern, der jetzt in der Schweiz ein berühmter Mann war und damals den Vergnügungsmeister und Abgott aller Mütter abgab.
Wie alt war sie damals? Fünfzehn oder sechzehn Jahre oder zwischen vierzehn und fünfzehn, als sein Schüler Georg Gröschl mitkam, der nur um weniges älter war als Marion und Clarisse? Und Dr. Meingast war an jenem Abend zerstreut, hielt bloß eine kurze Rede über Mondstrahlen, empfindungslos schlafende Eltern und neue Menschen, verschwand plötzlich und schien nur gekommen zu sein, um den stämmigen 237
kleinen Georg, der sein Bewunderer war, bei den Mädchen zurückzulassen. Georg sagte nun nichts, fühlte sich wahrscheinlich eingeschüchtert, und die beiden Mädchen, die bis dahin Meingast geantwortet hatten, schwiegen auch. Aber dann biß wohl Georg im Dunkel die Zähne zusammen und trat an Marions Bett. Das Zimmer war von außen ein wenig erleuchtet, aber in den Ecken, wo die Betten standen, ragten undurchdringliche Schattenmassen, und Clarisse konnte nicht ausnehmen, was geschah; sie gewahrte nur, daß Georg aufrecht neben dem Bett zu stehen schien und auf Marion hinabsah, jedoch kehrte er Clarisse den Rücken zu, und Marion gab keinen Laut von sich, so als wäre sie nicht im Zimmer. Das dauerte sehr lange. Schließlich aber löste sich, während Marion sich so wenig wie vorher regte, Georg wie ein Mörder aus dem Schatten los, wurde in der mondhellen Zimmermitte einen Augenblick lang an Schulter und Seite bleich sichtbar und kam zu Clarisse, die sich rasch wieder niedergelegt und die Decke bis ans Kinn gezogen hatte. Sie wußte, nun würde sich das Heimliche wiederholen, das bei Marion geschehen war, und war starr vor Erwartung, indes Georg stumm neben ihrem Bett stand und, wie es ihr schien, die Lippen unheimlich fest aufeinander preßte. Endlich kam seine Hand, wie eine Schlange, und machte sich an Clarisse zu schaffen. Was er sonst tat, blieb ihr unklar; sie hatte keine Vorstellung davon und konnte das wenige, was sie trotz ihrer Erregung von seinen Bewegungen wahrnahm, nicht zusammenreimen. Sie selbst empfand da gar keine Wollust, die kam erst später, im Augenblick war nur eine starke, namenlose, ängstliche Aufregung vorhanden; sie verhielt sich still wie ein zitternder Stein in einer Brücke, über die endlos langsam ein schweres Fuhrwerk rollt, vermochte nichts zu sagen und ließ alles mit sich geschehen.
Nachdem Georg sie losgelassen hatte, verschwand er ohne Abschied, und keine der beiden Schwestern wußte sicher, ob der anderen das gleiche widerfahren war wie ihr selbst; sie hatten einander ebensowenig zu Hilfe gerufen wie zur Teilnahme eingeladen, und es vergingen Jahre, ehe sie das erste Wort über den Vorfall wechselten.
Clarisse hatte wieder ihren Apfel gefunden, benagte ihn und zerkaute kleine Stückchen. Georg hatte sich nie verraten oder zu dem Geschehenen bekannt, außer daß er vielleicht in der allerersten Zeit hie und da steinern bedeutungsvolle Augen machte; er war heute ein aussichtsvoller und eleganter Regierungsjurist, und Marion war verheiratet. Mit Dr. Meingast aber war mehr vor sich gegangen; er hatte den Zyniker abgelegt, als er ins Ausland ging, wurde, was man außerhalb der Universitäten einen berühmten Philosophen nennt, hielt beständig eine Schar von Schülern und Schülerinnen um sich versammelt und hatte Walter und Clarisse vor kurzem einen Brief geschrieben, worin er ankündigte, daß er demnächst die Heimat besuchen wolle, um dort eine Weile ungestört von seinen Anhängern arbeiten zu können; er hatte auch angefragt, ob sie ihn bei sich aufzunehmen vermöchten, da er gehört habe, daß sie «an der Grenze von Natur und Großstadt» lebten. Und vielleicht war das überhaupt der Ursprung aller Wege, die Clarissens Gedanken an diesem Tage gingen. «O Gott, war jene Zeit sonderbar!» dachte sie. Und nun wußte sie auch das: es war der Sommer vor dem Sommer mit Lucy gewesen. Meingast küßte sie damals, wann es ihm beliebte. «Sie erlauben, daß ich Sie jetzt küsse!» sagte er höflich, ehe er es tat, und er küßte auch alle ihre Freundinnen, und Clarisse wußte sogar von einer, deren Rock sie seither nicht anschauen konnte, ohne an scheinheilig niedergeschlagene Augen denken zu müssen. Meingast hatte es ihr selbst erzählt, und Clarisse
- sie war damals doch erst fünfzehn Jahre alt gewesen! - sagte zu dem völlig erwachsenen Dr. Meingast, wenn er ihr seine Abenteuer mit ihren Freundinnen berichtete: «Sie sind ein Schwein!» Es bereitete ihr ein Vergnügen, das wie Stiefel und Sporn war, dieses niedrige Wort zu gebrauchen und ihn zu beschimpfen; aber sie hatte trotzdem Angst davor, daß sie am Ende auch nicht widerstehen könnte, und wenn er sie um einen Kuß bat, getraute sie sich nicht zu widersprechen, weil sie sich fürchtete, einen blöden Eindruck zu machen.
Als ihr aber Walter zum erstenmal einen Kuß gab, sagte sie sehr ernst: «Ich habe Mama versprochen, so etwas nie zu tun. » Das war eben der Unterschied; Walter sprach so schön wie das Evangelium, und er sprach sehr viel, Kunst und Philosophie umgaben ihn wie eine weite Wolkenschar den Mond. Er las ihr vor.
Aber in der Hauptsache sah er sie bloß immerzu an, sie unter allen ihren Freundinnen, darin bestand anfangs ihre Beziehung, und das war eben so, wie wenn der Mond herschaut, man faltet die Hände.
Wirklich ging ihre Beziehung zueinander dann auch durch Händedrücke weiter; stille Händedrücke, jetzt ohne Worte, in denen eine einzigartig bindende Kraft lag Clarisse fühlte ihren ganzen Körper gereinigt durch seine Hand; gab er ihr diese einmal zerstreut und kühl, so war sie unglücklich. «Du weißt nicht, was ich daran hab!» bat sie ihn. Sie sagten sich doch schon heimlich Du, damals. Er entwickelte in ihr das 238
Verständnis für Berge und Käfer, während sie bisher in der Natur nur eine Landschaft gesehen hatte, die Papa oder einer seiner Kollegen malte und verkaufte. Ihre Kritik an der Familie war urplötzlich erwacht; sie fühlte sich neu und anders. Nun erinnerte sich Clarisse auch genau, wie sich die Sache mit dem Scherzo verhielt: «Ihre Beine, Fräulein Clarisse, » sagte Walter «haben mit wirklicher Kunst mehr zu tun, als alle Bilder, die Ihr Papa malt!» Es gab ein Klavier in der Sommerfrische, und sie spielten vierhändig. Clarisse lernte von ihm; sie wollte über ihre Freundinnen und ihre Familie hinauskommen; niemand begriff, wie man an schönen Sommertagen Klavier spielen könne, statt zu rüdem oder ins Bad zu kommen, sie aber hatte ihre Hoffnung an Walter geknüpft, sie hatte sich sofort und schon damals vorgenommen, «Sein Weib»
zu werden, ihn zu heiraten, und wenn er sie wegen eines Spielfehlers anherrschte, so kochte alles in ihr, doch die Lust überwog. Und Walter herrschte sie wirklich manchmal an, denn der Geist kennt keine Zugeständnisse; aber nur am Klavier. Außerhalb der Musik kam es noch vor, daß sie von Meingast geküßt wurde, und bei einer Mondscheinfahrt, wo Walter ruderte, legte sie ganz aus eigenem ihren Kopf an Meingasts Brust, der neben ihr am Steuerplatz saß. Meingast war unheimlich geschickt in solchen Dingen, sie wußte nicht, was daraus werden sollte; als Walter sie dagegen das zweitemal, nach der Klavierstunde, im letzten Augenblick, als sie schon in der Tür standen, von hinten faßte und abküßte, hatte sie nur das ganz unangenehme Empfinden, keine Luft zu bekommen, und entwand sich ihm ungestüm; trotzdem stand es in ihr fest, was immer mit dem anderen noch kommen möge, diesen dürfe sie nicht loslassen!
Es geht ja sonderbar zu in solchen Dingen; Dr. Meingasts Atem hatte etwas, worin der Widerstand schmolz, etwas wie reine leichte Luft, in der man sich glücklich fühlt, ohne sie zu merken, wogegen Walter, der immer, wie Clarisse längst wußte, an zögernder Verdauung litt, genau so, wie seine Entschlüsse zögernd waren, auch etwas Gestocktes im Atem hatte, teils war dieser zu heiß, teils brandig und lähmend. Solches Körperlich-Geistige hatte von Anfang an seltsam mitgespielt, und Clarisse wunderte sich auch gar nicht darüber, denn nichts erschien gerade ihr natürlicher als dieses, was Nietzsche sagt, daß der Körper eines Menschen seine Seele ist. Ihre Beine hatten nicht mehr Genie als ihr Kopf, sie hatten genau das gleiche, sie waren es selbst; ihre Hand, von Walter berührt, setzte augenblicklich einen Strom von Vorsätzen und Versicherungen in Bewegung, der vom Scheitel bis zur Sohle floß, aber keine Worte mit sich führte; und ihre Jugend, sobald sie nur einmal zum Selbstbewußtsein geführt worden war, lehnte sich gegen die Überzeugungen und anderen Torheiten ihrer Eltern einfach mit der Frische eines harten Körpers auf, der alle Gefühle verachtet, die im entferntesten an üppige Ehebetten und türkische Prunkteppiche erinnern, wie sie bei der sittenstrengen Vorgeneration so beliebt waren. Und darum spielte das Körperliche auch weiterhin eine Rolle, die sie anders ansah, als es andere vielleicht tun werden. Aber hier gebot Clarisse ihren Erinnerungen halt; oder eigentlich war es nicht ganz so, vielmehr setzten sie ihre Erinnerungen mit einemmal und ganz ohne Landungsstoß wieder in der Gegenwart ab. Denn alles das und was noch folgte, hatte sie ihrem Freund ohne Eigenschaften mitteilen wollen. Vielleicht nahm Meingast augenblicklich einen zu großen Raum darin ein, denn er war ja bald nach jenem bewegten Sommer verschwunden, in die Fremde geflüchtet, jene ungeheure Verwandlung hatte in ihm begonnen, die aus dem leichtfertigen Lebemann einen berühmten Denker machte, und Clarisse hatte ihn seither nur flüchtig wiedergesehen, ohne daß sie dabei der Vergangenheit gedachten. Aber wie sie es bei sich betrachtete, war ihr der Anteil klar, den sie an seiner Verwandlung hatte. Es war noch viel zwischen ihr und ihm in den Wochen vor seinem Verschwinden geschehn; ohne Walter und eifersüchtiger Teilnahme Walters, Walter verdrängend, Walter anspornend und hochtreibend, geistige Gewitter, noch verrücktere Stunden, wie sie vor einem Gewitter Mann und Frau von Sinnen bringen, und ausgetobte Stunden, die alle Leidenschaft ausgeschieden haben und wie Wiesengrün nach Regen in der reinen Luft der Freundschaft liegen. Clarisse hatte mancherlei über sich ergehen lassen müssen und nicht ungern ergehen lassen, aber das neugierige Kind hatte sich in seiner Art hinterdrein gewehrt, indem es dem zügellosen Freund seine Meinung sagte, und weil Meingast schon in der letzten Zeit, ehe er fortging, freundschaftlich ernster geworden war, fast edel-und schwermütig im Wettkampf mit Walter, war sie heute fest davon überzeugt, daß sie alles, was sein Wesen trübte, ehe er in die Schweiz ging, auf sich gezogen und es ihm dadurch ermöglicht hatte, sich so unerwartet zu verwandeln. In dieser Auffassung wurde sie durch das bestärkt, was sich anschließend zwischen ihr und Walter vollzogen hatte; Clarisse konnte diese lange vergangenen Jahre und Monate nicht mehr genau auseinanderhalten, aber es war schließlich auch gleich, wann das eine oder das andere geschehen war, im ganzen war nach der widerstrebensvollen Annäherung an Walter dann eine schwärmerische Zeit, mit 239
Spaziergängen und Geständnissen und geistiger Besitzergreifung gekommen, die zugleich von jenen unzähligen kleinen, unendlich qualseligen Ausschweifungen ausgefüllt war, zu denen zwei Liebende hingerissen werden, denen noch ebensoviel zum ganz entschlossenen Mut fehlt, wie ihnen von der Keuschheit schon abhanden gekommen ist. Das war nicht anders, als ob ihnen Meingast seine Sünden zurückgelassen hätte, damit sie in einem höheren Sinn noch einmal durchlebt und bis zum höchsten Sinn zerlebt würden, und sie faßten es beide so auf. Und heute, wo Clarisse sich so wenig aus Walters Liebe machte, daß sie oft von ihr angewidert wurde, sah sie es noch deutlicher, daß der Rausch des Liebesdurstes, der sie in solchem Ausmaß toll gemacht hatte, nichts gewesen sein konnte als eine Inkarnation, was, wie sie wußte, Ein-fleischung hieß, von etwas Unfleischlichem, einem Sinn, einer Aufgabe, einem Schicksal, wie sie für Auserwählte zwischen den Sternen vorbereitet werden.
Sie schämte sich nicht, sie hätte eher weinen mögen, wenn sie Damals und Jetzt verglich; aber Clarisse konnte auch niemals weinen, sondern sie preßte die Lippen aufeinander, und es wurde etwas daraus, das ihrem Lächeln ähnlich sah. Ihr Arm, geküßt bis zur Achselhöhle, ihr Bein, bewacht von dem Auge des Teufels, ihr biegsamer Leib, tausendfach gedreht vom Verschmachten des Geliebten und wie ein Seil sich zurückdrehend, bewahrten das wunderbare Begleitgefühl der Liebe: in allen Gebärden, die man tut, von geheimnisvoller Wichtigkeit zu sein. Clarisse saß da und kam sich wie eine Schauspielerin in der Pause vor.
Allerdings wußte sie nicht, was kommen sollte; aber sie war überzeugt, daß es die unendliche Aufgabe aller Liebenden sei, sich als das zu erhalten, was man füreinander in den höchsten Augenblicken gewesen ist.
Und ihr Arm war da, ihre Beine waren da, ihr Kopf saß auf dem Leib, mit einer unheimlichen Bereitschaft, als erster das Zeichen wahrzunehmen, das nicht ausbleiben konnte. Es ist vielleicht schwer zu begreifen, was Clarisse meinte, aber ihr bereitete es keine Mühe. Sie hat einen Brief an den Grafen Leinsdorf geschrieben, mit der Forderung eines Nietzsche-Jahrs und zugleich der Befreiung des Frauenmörders und vielleicht seiner öffentlichen Ausstellung, zur Erinnerung an die Passionswege derer, die die verstreuten Sünden aller auf sich vereinigen müssen; und nun weiß sie auch, warum sie es getan hat. Man muß das erste Wort sprechen. Wahrscheinlich hat sie sich nicht gut ausgedrückt, aber das tut nichts; die Hauptsache ist, daß man beginnt und mit dem Dulden und Gewährenlassen Schluß macht. Es ist historisch bewiesen, daß die Welt von Zeit zu Zeit - dahinter klang das Wort «Aeon zu Aeon», wie zwei Glocken, die man nicht sieht, obgleich sie nahe sind - solcher Menschen bedarf, die nicht mitwirken und mitlügen können und dadurch unliebsames Aufsehen erregen. Soweit war die Sache klar.
Und es ist auch klar, daß Menschen, die unliebsames Aufsehen erregen, den Druck der Welt zu spüren bekommen. Clarisse weiß, daß die großen aus der Menschheit hervorgegangenen Genies fast immer zu leiden hatten, und sie wundert sich nicht darüber, daß manche Tage und Wochen in ihrem Leben unter einem bleiernen Druck stehen, so als ob eine schwere Platte darüberhin gezogen würde; aber es ging noch jedesmal vorbei, und alle Menschen sind so, die Kirche hat in ihrer Weisheit sogar Trauerzeiten eingeführt, um die Trauer zusammenzuziehn und zu verhindern, daß halbe Jahrhunderte von Mutlosigkeit und Gefühllosigkeit überflutet werden, was auch schon vorgekommen ist. Schwieriger sind in Clarissens Leben gewisse andere Augenblicke zu behandeln, allzu befreite und gegendrucklose, wo manchmal ein Wort genügt, um sie gleichsam aus den Schienen springen zu machen; sie ist dann außer sich, sie kann nicht angeben, wo; aber keineswegs ist sie abwesend, im Gegenteil, man könnte eher sagen, sie sei inwesend, in einem tieferen Raum, der in einer den gewöhnlichen Vorstellungen unfaßbaren Weise in dem Raum steckt, den ihr Körper in der Welt einnimmt; aber wozu Worte für etwas suchen, das nicht an der Straße der Worte liegt, sie landet nach einer Weile ohnedies wieder bei den anderen und ist nur noch ein wenig hell gekitzelt im Kopf, so wie nach Nasenbluten. Clarisse versteht, daß das gefährliche Augenblicke sind, die sie manchmal erlebt. Es sind offenbar Vorbereitungen und Proben. Sie besaß ohnehin die Gewohnheit, mehreres zugleich zu denken, so wie sich ein Fächer auf-und zuschiebt, und eines halb neben, halb unter dem anderen ist, und wenn das zu verwirrt wird, ist das Bedürfnis begreiflich, daß man mit einem Ruck hinausschlüpfen möchte; das hätten viele Leute, nur treffen sie es eben nicht.
Clarisse erlebt also Vorbereitungen und Vorboten so, wie andere Leute sich etwas auf ihr Geständnis oder ihre eiserne Verdauung zugute tun; sie könnten Glassplitter essen, sagen sie. Clarisse hat aber schon einigemal bewiesen, daß sie wirklich etwas auf sich nehmen kann; ihre Kraft hat sich an ihrem Vater gezeigt, an Meingast, an Georg Gröschl, und mit Walter waren noch Anstrengungen nötig, da waren die Dinge, wenn auch stockend, noch in Fluß; aber Clarisse hatte seit einiger Zeit die Absicht, ihre Kraft an 240
dem Mann ohne Eigenschaften zu beweisen. Sie hätte nicht genau angeben können, seit wann; es hing mit diesem Namen zusammen, den Walter aufgebracht und Ulrich gebilligt hatte; vorher, das mußte sie sagen, in den früheren Jahren, hatte sie ihm nie ernste Beachtung geschenkt, wenn sie auch ganz gute Freunde waren. Aber «Mann ohne Eigenschaften», das erinnerte sie zum Beispiel an Klavierspielen, das heißt an alle diese Melancholien, Freudensprünge, Zornausbrüche, die man dabei durchrast, ohne daß es doch ganz wirkliche Leidenschaften wären. Damit fühlte sie sich verwandt. Von da ging es ganz ohne Umwege zu der Behauptung, daß man sich alles zu tun weigern müsse, was nicht mit ganzer Seele geschieht, und damit war sie mitten in der aufgewühlten tiefen Wirklichkeit ihrer Ehe. Ein Mann ohne Eigenschaften sagt nicht Nein zum Leben, er sagt Noch nicht! und spart sich auf; das hatte sie mit dem ganzen Körper verstanden.
Vielleicht war es der Sinn aller der Augenblicke, wo sie aus sich hinaustrat, daß sie Gottesmutter werden sollte. Sie erinnerte sich an das Gesicht, das sie, es war noch keine Viertelstunde her, heimgesucht hatte.
«Vielleicht kann jede Mutter Gottesmutter werden, » dachte sie «wenn sie nicht gewähren läßt, nicht lügt noch wirkt, sondern das, was zutiefst in ihr ist, als Kind außer sich bringt! Vorausgesetzt, daß sie für sich selbst nichts erreicht!» fügte sie traurig hinzu. Denn der Gedanke bereitete ihr keineswegs reine Annehmlichkeit, sondern erfüllte sie mit der zwischen Qual und Seligkeit geteilten Empfindung, für etwas geopfert zu werden. War jedoch ihre Vision so gewesen, wie wenn in den Zweigen eines Baumes zwischen Blättern, die mit einemmal wie Kerzen flackern, ein Bild hervorträte, während gleich nachher das Holz wieder zusammenschlug, so blieb jetzt ihre Stimmung andauernd verändert. Ein Zufall schenkte ihr im nächsten Augenblick die für jeden anderen Menschen bedeutungslose Entdeckung, daß das Wort Mutter in dem Wort Muttermal enthalten sei; für sie bedeutete das so viel, als ob ihr Schicksal plötzlich in den Sternen geschrieben stünde. Der wundervolle Gedanke, daß die Frau den Mann sowohl als Mutter wie als Geliebte in sich aufnehmen müsse, machte sie weich und aufgeregt. Sie wußte nicht, wie er dahergekommen sei, aber er schmolz ihre Widerstände und gab ihr doch Macht.
Aber sie traute dem Mann ohne Eigenschaften noch keineswegs. Er meinte vieles nicht so, wie er es sagte.
Wenn er behauptete, daß man seine Gedanken nicht ausführen könne oder daß er nichts ganz ernst nehme, so war das nur ein Versteck, das verstand sie deutlich; sie hatten einander ausgewittert und erkannten sich an Zeichen, während Walter meinte, Clarisse sei zuweilen verrückt! Und doch war in Ulrich etwas bitter Böses, teuflisch dem Schlendergang der Welt Anhängendes. Man mußte ihn lösen. Sie mußte ihn holen.
Sie hatte zu Walter gesagt: Töte ihn. Es hatte nicht viel bedeutet, sie hatte nicht recht gewußt, was sie damit meinte; aber es hieß soviel wie, es müsse etwas getan werden, um ihn aus sich herauszureißen, und man dürfe vor nichts haltmachen.
Sie mußte mit ihm ringen.
Sie lachte, sie rieb ihre Nase. Sie ging im Dunkel hin und her. Es mußte mit der Parallelaktion etwas geschehen. Was, wußte sie nicht.
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Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist
Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich herrollt. Der Fluß der Zeit ist ein Fluß, der seine Ufer mitführt. Der Mitreisende bewegt sich zwischen festen Wänden auf festem Boden; aber Boden und Wände werden von den Bewegungen der Reisenden unmerklich auf das lebhafteste mitbewegt. Es war ein unschätzbares Glück für Clarissens Seelenruhe, daß unter ihren Gedanken dieser noch nicht vorgekommen war.
Aber auch Graf Leinsdorf war gegen ihn geschützt. Er war gegen ihn durch die Überzeugung geschützt, daß er Realpolitik mache.
Die Tage schaukelten und bildeten Wochen. Die Wochen blieben nicht stehn, sondern verkränzten sich. Es geschah unaufhörlich etwas. Und wenn unaufhörlich etwas geschieht, hat man leicht den Eindruck, daß man etwas Reales bewirkt. So sollten die Prunkgemächer des Leinsdorfschen Palais dem Publikum bei einem großen Fest zugunsten lungenleidender Kinder geöffnet werden, und diesem Ereignis liefen eingehende Unterredungen zwischen Sr. Erlaucht und deren Hausverwalter voraus, in denen bestimmte Tage genannt wurden, an denen bestimmte Leistungen vollzogen sein mußten. Die Polizei veranstaltete in der 241
gleichen Zeit eine Jubiläumsausstellung, zu deren Eröffnung die ganze Gesellschaft erschien, und der Polizeipräsident hatte persönlich bei Sr. Erlaucht vorgesprochen, um ihm die Einladung zu überbringen, und als Graf Leinsdorf eintraf und empfangen wurde, erkannte der Polizeipräsident den «freiwilligen Helfer und Ehrensekretär» an seiner Seite, der mit ihm überflüssigerweise noch einmal bekannt gemacht wurde, was dem Präsidenten Gelegenheit gab, sein sagenhaftes Personengedächtnis zu zeigen, denn er stand im Ruf, jeden zehnten Staatsbürger persönlich zu kennen oder mindestens über ihn unterrichtet zu sein. Auch Diotima kam in Begleitung ihres Gemahls, und alle, die erschienen waren, warteten auf ein Mitglied des Kaiserhauses, dem ein Teil von ihnen vorgestellt wurde, und es gab nur eine Stimme, daß die Ausstellung sehr gelungen und fesselnd sei. Sie bestand aus dem innigen Ineinander von Bildern, die an den Wänden hingen, und Erinnerungsgegenständen an große Verbrechen, die in Glasschränken und -pulten aufgestellt waren. Zu diesen gehörten Einbruchsgerät, Fälscherwerkstätten, verlorene Knöpfe, die auf Spuren geführt hatten, und das tragische Werkzeug bekannter Mörder samt den dazugehörigen Legenden, während die Bilder an den Wänden, im Gegensatz zu diesem Schreckensarsenal, erbauliche Vorwürfe aus dem Leben der Polizei darstellten. Da waren der brave Wachmann zu sehen, der das alte Mütterchen über die Straße geleitet, der ernste Wachmann vor der vom Fluß angeschwemmten Leiche, der tapfere Wachmann, der sich scheuenden Pferden in die Zügel wirft, eine «Allegorie der Sicherheitsbehörde als Hüterin der Stadt», das verirrte Kind zwischen den mütterlichen Schutzleuten auf der Wachstube, der brennende Wachmann, der auf seinen Armen ein Mädchen aus Feuersnot trägt, und dann noch viele solcher Bilder wie «Erste Hilfe», «Auf einsamem Posten», nebst den Photographien wackerer Schutzleute, bis auf das Dienstjahr 1869 zurück, den Beschreibungen ihrer Lebensläufe und eingerahmten Gedichten, die das Wirken der Polizei oder einzelner ihrer Funktionäre verherrlichten. Ihr höchster Vorgesetzter, der Chef jenes Ministeriums, das in Kakanien den psychologischen Titel «für innere Angelegenheiten» führte, wies in seiner Eröffnungsansprache auf diese Darstellungen hin, die den Geist der Polizei als etwas wahrhaft Volkstümliches zeigten, und nannte die Bewunderung für solchen Geist der Hilfsbereitschaft und Strenge einen Jungbrunnen der Moral, in einer Zeit, wo Kunst und Leben nur zu sehr zum feigen Kultus sinnlicher Sorglosigkeit neigen. Diotima, die neben Graf Leinsdorf stand, fühlte sich in ihren Bestrebungen zur Förderung moderner Kunst beunruhigt und verwandte Sorgfalt darauf, mit einem sanften, aber unnachgiebigen Gesicht in die Luft zu blicken, um dieses verbindliche Element fühlen zu lassen, daß es in Kakanien auch andere Köpfe gebe als den dieses Ministers. Und ihr Vetter, der sie während der Rede mit den achtbaren Gedanken eines Ehrensekretärs der Parallelaktion aus einiger Entfernung beobachtete, fühlte plötzlich in der dichtgedrängten Menge eine vorsichtig leichte Hand auf seinem Arm ruhen und erkannte zu seiner Überraschung Bonadea an seiner Seite, die mit ihrem Gatten, dem hohen Gerichtsbeamten, zu der Eröffnung gekommen war und den Augenblick, wo sich alle Hälse dem Minister und dem vor ihm stehenden Erzherzog zuwandten, benutzte, um sich ihrem ungetreuen Freund zu nähern. Diesem kühnen Angriff war langes Planen vorangegangen; unglücklich getroffen durch die Abwendung ihres Geliebten, in einem Augenblick, wo sie von dem schwermütigen Bedürfnis erfaßt worden war, die flatterhafte Fahne ihrer Lust, bildlich gesprochen, auch am freien Ende festzubinden, hatte sich ihr Denken in den letzten Wochen nur mit seiner Wiedergewinnung beschäftigt. Er wich ihr aus, und Aussprachen, gewaltsam erzwungen, setzten sie nur in den Nachteil des Verlangenden gegenüber dem, der lieber alleinbleiben möchte; so hatte sie sich vorgenommen, ihren Eintritt in den Kreis zu erzwingen, wo ihr Geliebter täglich verkehrte, und aufgehoben in dieser Absicht war die zweite, die fachlichen Beziehungen, die ihr Gatte zu dem scheußlichen Mörder Moosbrugger hatte, und die Absicht ihres Freundes, das Schicksal dieses Mörders auf irgendeine Weise zu erleichtern, für sich, zur inneren Anknüpfung nach beiden Seiten, zu benutzen. Sie hatte darum ihrem Gemahl zuletzt nicht wenig mit der Anteilnahme zugesetzt, die einflußreiche Kreise an der Fürsorge für kriminelle Geisteskranke nähmen, und als die Schaffung der Polizeiausstellung und deren festliche Eröffnung bekannt wurde, ihn bewogen, sie dahin mitzunehmen, denn ihr Instinkt sagte ihr, daß dies die lange gesuchte Wohltätigkeitsveranstaltung sei, bei der sie Diotima kennenlernen werde. Als der Minister seine Ansprache geschlossen hatte und die Gesellschaft sich in Umlauf setzte, wich sie nicht von der Seite ihres bestürzten Geliebten und begann in seiner Begleitung die fürchterlichen blutbefleckten Werkzeuge zu besichtigen, trotz ihres fast unüberwindlichen Abscheus vor ihnen. «Du hast gesagt, daß man das alles verhindern könnte, wenn man nur wollte» lispelte sie und erinnerte ihn damit wie ein gutes Kind, das seine Aufmerksamkeit zeigen will, an ihre letzte eingehendere 242
Aussprache über diesen Gegenstand. Etwas später lächelte sie, ließ sich vom Gedränge eng an ihn heben und benutzte diesen Augenblick, um ihm zuzuflüstern: «Du hast einmal gesagt, daß jeder Mensch unter den richtigen Umständen zu jeder Schwäche fähig ist!» Ulrich sah sich durch diese nachdrückliche Art, neben ihm zu gehen, in große Verlegenheit gebracht, und weil seine Geliebte trotz der Ablenkungsversuche, an denen er es nicht fehlen ließ, auf Diotimas Nähe hinsteuerte und er ihr nicht gut vor allen Leuten auch noch ernsthafte Vorhaltungen dagegen machen konnte, wußte er, daß ihm an diesem Tag nichts anderes übrigbleiben werde, als die Bekanntschaft zwischen den beiden Frauen zu stiften, der er sich bisher widersetzt hatte. Sie standen schon dicht neben einer Gruppe, deren Mittelpunkt Diotima und Se. Erlaucht waren, als Bonadea ganz laut vor einer der Vitrinen ausrief: «Sehen Sie doch, da liegt Moosbruggers Messer!» In der Tat, es lag da, und Bonadea sah es begeistert an, so als ob sie in einer Lade Großmamas ersten Kotillonorden entdeckt hätte; da entschloß sich ihr Freund hastig und bat unter einem schicklichen Vorwand seine Kusine um die Gunst, sie mit einer Dame bekannt zu machen dürfen, die sich das wünsche und ihm als eine leidenschaftliche Verehrerin aller guten, wahren und schönen Bestrebungen bekannt sei.
Man konnte also nicht gerade sagen, daß im Schaukeln der Tage und Wochen wenig vor sich ging, und die Polizeiausstellung, mitsamt allem, was sich an sie knüpfte, war ja eigentlich das wenigste davon. In England zum Beispiel hatte man etwas weit Großartigeres, wovon man sich hier in der Gesellschaft viel erzählte; ein Puppenhaus, das der Königin geschenkt worden, von einem berühmten Architekten erbaut, mit einem Speisesaal von einem Meter Länge, worin Miniaturporträts von berühmten modernen Malern hingen, Stuben, in denen warmes und kaltes Wasser aus Hähnen floß, und einer Bibliothek, mit einem kleinen Buch, das ganz aus Gold war, worein die Königin die Photographien der königlichen Familie klebte, einem mikroskopisch gedruckten Eisenbahn-und Schiffskursbuch und an die zweihundert winzigen Bändchen, in die berühmte Autoren mit eigener Hand Gedichte und Geschichten für die Königin geschrieben hatten.
Diotima besaß das zweibändige englische, soeben erschienene Prachtwerk darüber, das alles Sehenswerte in kostbaren Abbildungen wiedergab, und sie verdankte dieser Ausgabe eine verstärkte Beteiligung der höchsten Gesellschaftskreise an ihrem Salon. Aber auch sonst ereignete sich unaufhörlich allerlei, wofür man nicht schnell die Worte fand, so daß es wie ein Trommelwirbel in der Seele einem Etwas voranging, das hinter der Ecke noch nicht sichtbar war. Da streikten kaiserlich königliche Telegraphenbeamte zum erstenmal und auf eine außerordentlich beunruhigende Weise, die den Namen Passive Resistenz bekam und aus nichts anderem bestand, als daß sie alle ihre dienstlichen Vorschriften mit dem pünktlichsten Gewissen beobachteten; es zeigte sich, daß die genaue Befolgung des Gesetzes rascher alle Arbeit zum Stillstand brachte, als es die zügelloseste Anarchie vermocht hätte. Gemeinsam mit dem Hauptmann von Köpenick in Preußen, der sich, wie heute noch erinnerlich, durch eine beim Trödler gekaufte Uniform zum Offizier gemacht hatte, auf der Straße eine Patrouille anhielt und mit ihrer und des königlich preußischen Gehorsams Hilfe eine städtische Kasse aushob, war die Passive Resistenz etwas, das den Mund kitzelte, aber zugleich in unterirdischer Weise die Ideen ins Schwanken brachte, auf die sich die Mißbilligung stützte, die man aussprechen wollte. Man las gleichzeitig unter den Neuigkeiten, daß die Regierung Sr.
Majestät mit der Regierung einer anderen Majestät einen Vertrag eingegangen sei, der Sicherung des Friedens, wirtschaftliche Hebung, herzliche Zusammenarbeit und Achtung vor den Rechten aller zum Inhalt habe, aber auch Maßnahmen für den Fall, daß diese bedroht seien oder bedroht werden könnten.
Sektionschef Tuzzis vorgesetzter Minister hatte wenige Tage darauf eine Rede gehalten, worin er die dringende Notwendigkeit eines engen Zusammenhaltens der drei kontinentalen Kaiserreiche bewies, die an der modernen sozialen Entwicklung nicht vorbeisehen dürften, sondern im gemeinsamen Interesse der Dynastien gegen soziale Neubildungen Front machen müßten; Italien war in ein bewaffnetes Unternehmen in Libyen verwickelt; Deutschland und England hatten eine Bagdadfrage; Kakanien traf im Süden gewisse militärische Vorbereitungen, um der Welt zu zeigen, daß es Serbiens Ausdehnung ans Meer nicht erlauben, sondern nur eine Eisenbahnverbindung gestatten werde; und ebenbürtig mit allen Ereignissen von solcher Art, gestand die weltberühmte schwedische Schauspielerin Fräulein Vogelsang, daß sie noch nie so gut geschlafen habe wie diese erste Nacht nach ihrem Eintreffen in Kakanien und sich über den Schutzmann gefreut habe, der sie vor der Begeisterung der Menge rettete, aber dann selbst um die Erlaubnis bat, ihre Hand mit seinen beiden Händen dankbar drücken zu dürfen. Damit wären also die Gedanken wieder bei der Polizeiausstellung angelangt. Es geschah viel, und man merkte es auch. Man fand es gut, wenn man es selbst tat, und war bedenklich, wenn es andere taten. Im einzelnen konnte es jeder Schuljunge verstehen, 243
aber im ganzen wußte niemand recht, was eigentlich vor sich ging, bis auf wenige Personen, und die waren nicht sicher, ob sie es wußten. Einige Zeit später hätte alles auch in geänderter oder umgekehrter Reihenfolge gekommen sein können, und man würde keinen Unterschied gefunden haben, mit Ausnahme gewisser Veränderungen, die auf die Dauer der Zeit eben unbegreiflicherweise zurückbleiben und die Schleimspuren der historischen Schnecke bilden.
Es ist verständlich, daß eine fremde Gesandtschaft unter solchen Umständen vor einer schweren Aufgabe steht, wenn sie herausbringen möchte, was eigentlich vor sich geht. Die diplomatischen Vertreter hätten ihre Klugheit gerne aus Graf Leinsdorf geschöpft, aber Se. Erlaucht bereitete ihnen Schwierigkeiten. Er fand täglich von neuem in seinem Wirken jene Befriedigung, die feste Gediegenheit zu verleihen vermag, und sein Gesicht zeigte den fremden Beobachtern die strahlende Ruhe in Ordnung fortschreitender Vorgänge. Stelle Eins schrieb, Stelle Zwei antwortete; wenn Stelle Zwei geantwortet hatte, mußte man Stelle Eins davon Mitteilung machen, und am besten war es, man regte eine mündliche Aussprache an; wenn Stelle Eins und Zwei sich geeinigt hatten, wurde festgestellt, daß nichts veranlaßt werden könne; so gab es unaufhörlich etwas zu tun. Es gab außerdem unzählig viele Nebenrücksichten zu beachten. Man arbeitete ja mit allen verschiedenen Ministerien Hand in Hand; man wollte die Kirche nicht verletzen; man mußte gewissen Personen und gesellschaftlichen Beziehungen Rechnung tragen; mit einem Wort, auch an Tagen, wo man nichts besonderes tat, durfte man so vieles nicht tun, daß man den Eindruck großer Tätigkeit hatte. Se. Erlaucht wußte das richtig zu schätzen. «Je höher ein Mann vom Schicksal gestellt wird,
» pflegte er zu sagen «desto deutlicher erkennt er, daß es nur auf wenige, einfache Grundsätze, aber auf festen Willen und ein planmäßiges Tun ankommt. » Und einmal ließ er sich seinem «jungen Freund»
gegenüber auch näher über diese Erfahrung aus. Er knüpfte an die deutschen Einheitsbestrebungen an und gab zu, daß zwischen Acht-zehnhundertachtundvierzig und -Sechsundsechzig eine Menge der gescheitesten Leute in die Politik dareingeredet hätten; «aber dann» fuhr er fort «ist dieser Bismarck gekommen, und das eine Gute hat er jedenfalls gehabt, daß er gezeigt hat, wie man Politik machen muß: Nicht mit Reden und Gescheitheit! Trotz seiner Schattenseiten hat er erreicht, daß seit seiner Zeit, so weit die deutsche Zunge reicht, jeder Mensch weiß, daß in der Politik von Gescheitheit und Reden nichts zu erhoffen ist, sondern nur von schweigender Überlegung und Tat!» Ähnliche Äußerungen tat Graf Leinsdorf auch auf dem Konzil, und die Vertreter der auswärtigen Mächte, die dort zuweilen ihre Beobachter hatten, fanden es schwer, sich von seinen Absichten ein zutreffendes Bild zu machen. Man maß der Teilnahme Arnheims Wichtigkeit bei so wie der Stellung des Sektionschefs Tuzzi und schloß im allgemeinen daraus, daß unter diesen beiden Männern und dem Grafen Leinsdorf ein geheimes Einvernehmen bestehe, dessen politisches Ziel vorläufig hinter lebhaften Ablenkungen der Aufmerksamkeit verborgen werde, die Frau Sektionschef Tuzzi durch ihre pankulturellen Bestrebungen liefere. Bedenkt man diesen Erfolg, durch den Graf Leinsdorf, ohne sich auch nur im geringsten anzustrengen, sogar gewiegte Beobachter in ihrer Neugierde täuschte, so läßt sich ihm jene realpolitische Begabung, die er zu besitzen glaubte, keineswegs absprechen.
Aber auch die Herren, die bei festlichen Anlässen goldgesticktes Laubwerk und ähnliche Bukolika auf den Fräcken tragen, hielten sich an die realpolitischen Vorurteile ihres Metiers, und da sie auf der Suche in den Hintergründen der Parallelaktion keine greiflichen Erscheinungen fanden, richteten sie bald ihr Augenmerk auf das, was die Ursache der meisten ungeklärten Erscheinungen in Kakanien war und «die nicht erlösten Nationen» genannt wurde. Man tut heute so, als ob der Nationalismus lediglich eine Erfindung der Armeelieferanten wäre, aber man sollte es auch einmal mit einer erweiterten Erklärung versuchen, und zu einer solchen lieferte Kakanien einen wichtigen Beitrag. Die Bewohner dieser kaiserlich und königlichen kaiserlich königlichen Doppelmonarchie fanden sich vor eine schwere Aufgabe gestellt; sie hatten sich als kaiserlich und königlich österreichisch-ungarische Patrioten zu fühlen, zugleich aber auch als königlich ungarische oder kaiserlich königlich österreichische. Ihr begreiflicher Wahlspruch angesichts solcher Schwierigkeiten war «Mit vereinten Kräften!» Das hieß viribus unitis. Die Österreicher brauchten aber dazu weit größere Kräfte als die Ungarn. Denn die Ungarn waren zuerst und zuletzt nur Ungarn, und bloß nebenbei galten sie bei anderen Leuten, die ihre Sprache nicht verstanden, auch für Österreich-Ungarn; die Österreicher dagegen waren zuerst und ursprünglich nichts und sollten sich nach Ansicht ihrer Oberen gleich als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn fühlen, - es gab nicht einmal ein richtiges Wort dafür. Es gab auch Österreich nicht. Die beiden Teile Ungarn und Österreich paßten zu einander wie eine 244
rot-weiß-grüne Jacke zu einer schwarzgelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarzgelben Anzugs, der im Jahre
acht-zehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war. Die Hose Österreich hieß seither in der amtlichen Sprache «Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder», was natürlich gar nichts bedeutete und ein Name aus Namen war, denn auch diese Königreiche, zum Beispiel die ganz Shakespeareschen Königreiche Lodomerien und Illyrien gab es längst nicht mehr und hatte es schon damals nicht mehr gegeben, als noch ein ganzer schwarzgelber Anzug vorhanden war. Fragte man darum einen Österreicher, was er sei, so konnte er natürlich nicht antworten: Ich bin einer aus den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, die es nicht gibt, — und er zog es schon aus diesem Grunde vor, zu sagen: Ich bin ein Pole, Tscheche, Italiener, Friauler, Ladiner, Slowene, Kroate, Serbe, Slowake, Ruthene oder Wallache, und das war der sogenannte Nationalismus. Man stelle sich ein Eichhörnchen vor, das nicht weiß, ob es ein Eichhorn oder eine Eichkatze ist, ein Wesen, das keinen Begriff von sich hat, so wird man verstehn, daß es unter Umständen vor seinem eigenen Schwanz eine heillose Angst bekommen kann; in solchem Verhältnis zu einander befanden sich aber die Kakanier und betrachteten sich mit dem panischen Schreck von Gliedern, die einander mit vereinten Kräften hindern, etwas zu sein. Seit Bestehen der Erde ist noch kein Wesen an einem Sprachfehler gestorben, aber man muß wohl hinzufügen, der österreichischen und ungarischen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie widerfuhr es trotzdem, daß sie an ihrer Unaussprechlichkeit zugrunde gegangen ist.
Es ist für den Fremden nicht ohne Wert, zu erfahren, in welcher Weise ein gewiegter und hochstehender Kakanier wie Graf Leinsdorf sich mit diesen Schwierigkeiten abfand. Er trennte zunächst in seinem wachenden Geist sorgfältig Ungarn ab, von dem er als weiser Diplomat niemals sprach, so wie man von einem Sohn, der sich gegen den Willen der Eltern selbständig gemacht hat, niemals spricht, wenn man auch hofft, daß es ihm noch einmal schlecht gehen werde; das Übrigbleibende aber bezeichnete er als die Nationalitäten oder auch als die österreichischen Stämme. Es war das eine sehr feinsinnige Erfindung. Se.
Erlaucht hatte Staatsrecht studiert und dort als eine ziemlich über die ganze Welt verbreitete Definition gefunden, daß ein Volk nur dann Anspruch habe, für eine Nation zu gelten, wenn es eine eigene Staatsform besitze, und daraus folgte für ihn, daß die kakanischen Nationen eben höchstens Nationalitäten seien.
Andererseits wußte Graf Leinsdorf, daß der Mensch erst in dem ihm übergeordneten Gemeinschaftsleben einer Nation seine volle und wahre Bestimmung finden könne, und weil er das niemand vorenthalten wissen wollte, schloß er daraus auf die Notwendigkeit, den Nationalitäten und Stämmen einen Staat überzuordnen. Er glaubte überdies an eine göttliche Ordnung, wenn diese auch für das menschliche Auge nicht jederzeit durchsichtig sei, und in den revolutionär modernen Stunden, die er manchmal hatte, war er sogar zu dem Gedanken imstande, daß die in der Neuzeit so sehr bekräftigte Idee des Staats vielleicht nichts anderes sein könnte als die von Gott eingesetzte Idee der Majestät, in einer eben erst beginnenden verjüngten Erscheinungsform. Wie dem immer sei - als Realpolitiker lehnte er zu weit getriebenes Denken ab und würde sich auch mit Diotimas Auffassung abgefunden haben, daß die Idee des kakanischen Staats die gleiche sei wie die des Weltfriedens -, die Hauptsache war, daß es einen kakanischen Staat nun einmal gab, wenn auch ohne richtigen Namen, und daß ein kakanisches Staatsvolk dazu erfunden werden mußte.
Er pflegte das durch das Beispiel zu verdeutlichen, daß niemand ein Schüler sei, der nicht in eine Schule gehe, daß die Schule aber eine Schule bleibe, auch wenn sie leer stehe. Je mehr sich die Völkerschaften gegen die kakanische Schule sträubten, die aus ihnen ein Volk machen sollte, desto notwendiger erschien ihm gegebenermaßen die Schule. Sie betonten kräftig, daß sie Nationen seien, verlangten verlorengegangene historische Rechte zurück, liebäugelten mit Stammesbrüdern und -verwandten jenseits der Grenzen und nannten das Reich ganz öffentlich ein Gefängnis, aus dem sie erlöst sein wollten. Graf Leinsdorf dagegen nannte sie desto beschwichtigender Stämme; er betonte ebenso sehr wie sie selbst das Unfertige ihres Zustandes, nur wollte er ihn ergänzen, indem er aus den Stämmen das österreichische Staatsvolk erzeugte, und was nicht zu seinem Plan paßte oder gar zu aufgewiegelt war, erklärte er sich in der an ihm schon bekannten Weise als Folgen noch nicht überwundener Unreife und hielt dafür, daß gegen solches am besten eine weise Mischung aus kluger Nachgiebigkeit und strafender Milde anzuwenden sei.
Als Graf Leinsdorf die Parallelaktion ins Leben rief, galt diese darum bei den Nationalitäten sofort als ein geheimnisvoller pangermanischer Anschlag, und die Anteilnahme, die Se. Erlaucht der Polizeiausstellung bezeigte, wurde in Zusammenhang mit der politischen Polizei gebracht und als Bekräftigung einer 245
Sinnesverwandtschaft gedeutet. Alles das wußten die fremden Beobachter und hatten so viele schreckliche Dinge über die Parallelaktion gehört, wie sie nur wollten. Sie hatten sie im Sinn, während man ihnen vom Empfang der Schauspielerin Vogelsang, vom Puppenhaus der Königin und den streikenden Beamten erzählte oder sie nach ihrer Auffassung der jüngst veröffentlichten Staatsverträge fragte; und obzwar man das Wort vom Geist der Strenge, das der Minister in seiner Ansprache gebraucht hatte, als eine Ankündigung auffassen konnte, wenn man wollte, hatten sie wohl den Eindruck, daß an der Eröffnung der vielberedeten Polizeiausstellung bei unvoreingenommener Prüfung nicht das geringste zu bemerken sei, worüber etwas zu bemerken wäre, aber sie hatten doch auch den Eindruck wie alle anderen, daß etwas Allgemeines und Ungewisses vor sich gehe, das sich der Prüfung augenblicklich noch entziehe.
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Von der Halbklugheit und ihrer fruchtbaren anderen Hälfte; von der Ähnlichkeit zweier Zeitalter, von dem liebenswerten Wesen Tante Janes und dem Unfug, den man neue Zeit nennt
Es war jedoch auch unmöglich, von den Vorgängen in den Sitzungen des Konzils eine geordnete Auffassung zu gewinnen. Im allgemeinen war man damals unter vorgeschrittenen Leuten für aktiven Geist; man hatte die Pflicht der Hirnmenschen erkannt, die Führung der Bauchmenschen an sich zu reißen.
Außerdem gab es etwas, was man Expressionismus nannte; man konnte nicht genau angeben, was das sei, aber es war, wie das Wort sagte, eine Hinauspressung; vielleicht von konstruktiven Visionen, jedoch waren diese, mit der künstlerischen Überlieferung verglichen, auch destruktiv, darum kann man sie auch einfach struktiv nennen, es verpflichtet zu nichts, und eine struktive Weltauffassung, das klingt ganz respektabel.
Es ist jedoch nicht alles. Man war damals tag-und weltzugewandt von innen nach außen, aber auch schon von außen nach innen; das Intellektuelle und der Individualismus galten bereits für überlebt und egozentrisch, die Liebe war wieder einmal unten durch, und man stand im Begriff, die gesunde Massenwirkung der Kitschkunst neu zu entdecken, wenn sie in die Seelen gereinigter Tatmenschen fällt. «Man ist»
wechselt, wie es scheint, ebenso schnell wie «Man trägt» und hat mit ihm gemeinsam, daß niemand, wahrscheinlich nicht einmal die an der Mode beteiligten Geschäftsleute, das eigentliche Geheimnis dieses
«Man» kennt. Wer sich dagegen auflehnte, würde jedoch unfehlbar den etwas lächerlichen Eindruck eines Mannes machen, der zwischen die Pole einer Fa-radisationsmaschine geraten ist und gewaltig zuckt und rüttelt, ohne daß man seinen Gegner wahrnehmen kann. Denn der Gegner ist nicht durch die Leute gegeben, welche die vorhandene Geschäftslage mit schnellem Witz ausnützen, sondern ihn bildet die flüssig-luftartige Unfestheit des allgemeinen Zustandes selbst, sein Zusammenströmen aus unzähligen Gebieten, seine unbegrenzte Verbindungs-und Wandlungsfähigkeit, wozu auf Seiten der Empfänger noch der Mangel oder das Versagen von geltenden, haltenden und ordnenden Grundsätzen kommt.
In diesem Wechsel der Erscheinungen Halt finden zu wollen, ist so schwer wie ein Nagel in einen Brunnenstrahl zu schlagen; dennoch gibt es etwas darin, das sich gleich zu bleiben scheint. Denn was geschieht zum Beispiel, wenn die bewegliche Art Mensch einen Tennisspieler genial nennt? Sie läßt etwas aus. Wenn sie ein Rennpferd genial nennt? Sie läßt noch etwas mehr aus. Sie läßt etwas aus, ob sie einen Fußballspieler wissenschaftlich, einen Fechter geistvoll nennt, oder ob sie von der tragischen Niederlage eines Boxers spricht; sie läßt überhaupt immer etwas aus. Sie übertreibt; aber es ist die Ungenauigkeit, welche die Überteibung verursacht, so wie in einer kleinen Stadt die Ungenauigkeit der Vorstellungen die Ursache davon ist, daß man den Sohn des Kaufhausbesitzers für einen Weltmann hält. Irgendetwas wird schon daran stimmen; und warum sollten nicht auch die Überraschungen eines Champions an die eines Genies und seine Überlegungen an die eines erfahrenen Forschers erinnern? Irgendetwas anderes und noch dazu weit mehr stimmt natürlich nicht; aber dieser Rest wird im Gebrauch gar nicht oder nur unwillig empfunden. Er gilt für unsicher; er wird übergangen und ausgelassen, und es ist wahrscheinlich weniger ihr Begriff von Genie, den diese Zeit hat, wenn sie ein Rennpferd oder einen Tennisspieler genial nennt, als ihr Mißtrauen gegen die ganze höhere Sphäre.
Hier wäre nun der Ort, um von Tante Jane zu reden, an die sich Ulrich dadurch erinnerte, daß er in alten Familienalben blätterte, die ihm Diotima geliehen hatte, und die Gesichter darin mit den Gesichtern verglich, die er in ihrem Hause sah. Denn als Knabe hatte Ulrich oft lange Zeit bei einer Großtante zugebracht, und 246
deren Freundin war Tante Jane vor undenklichen Zeiten geworden. Sie war ursprünglich auch keine Tante; sie war als Klavierlehrerin der Kinder ins Haus gekommen und da hatte sie nicht gerade viel Ehre aufgesteckt, wohl aber viel Liebe gewonnen, denn ihr Grundsatz war, daß es wenig Sinn habe, Klavieraufgaben zu üben, wenn man doch nicht für die Musik geboren sei, wie sie sagte. Ihre Freude war größer, wenn die Kinder auf Bäume kletterten, und auf diese Weise wurde sie ebensowohl Tante zweier Generationen wie durch die rückwirkende Kraft der Jahre die Jugendfreundin ihrer enttäuschten Brotgeberin.
«Ja, der Mucki!» konnte Tante Jane zum Beispiel voll zeitunlöslichen Gefühls, mit einer solchen Nachsicht und Bewunderung für den kleinen Onkel Nepomuk sagen, der damals schon vierzig Jahre alt war, daß ihre Stimme heute noch für den, der sie einmal gehört hatte, lebte. Diese Stimme von Tante Jane war wie mit Mehl bestaubt gewesen; geradezu wie wenn man den nackten Arm in ganz feines Mehl getaucht hätte. Eine belegte, eine mild panierte Stimme; es kam davon, daß sie sehr viel schwarzen Kaffee trank und dazu lange, dünne, schwere Virginiazigarren rauchte, die zusammen mit dem Alter ihre Zähne schwarz und klein gemacht hatten. Sah man ihr ins Gesicht, so konnte man übrigens auch glauben, daß der Klang ihrer Stimme mit den unzählbaren kleinen, feinen Strichen zusammenhängen müsse, von denen ihre Haut wie eine Radierung überzogen war. Ihr Gesicht war lang und sanft, und es hatte sich für die späteren Generationen niemals geändert, so wenig wie irgend etwas anderes an Tante Jane. Sie trug nur ein einziges Kleid durchs Leben, wenn es auch, wie das immerhin wahrscheinlich zu sein scheint, mehrfach vorhanden war; es war ein enges Futteral aus rilliger schwarzer Seide, das bis zum Boden reichte, keinerlei körperlichen Ausschweifungen huldigte und mit vielen kleinen schwarzen Knöpfen zu schließen ging wie die Soutane eines Priesters. Oben kam knapp ein niederer steifer Stehkragen daraus hervor, mit umgebrochenen Ecken, zwischen denen die Gurgel in der fleischlosen Haut des Halses bei jedem Zug an der Zigarre tätige Rinnen bildete; die engen Ärmel wurden von steifen, weißen Stulpen abgeschlossen, und das Dach bestand aus einer rötlichblonden, ein wenig gekräuselten Männerperücke, die in der Mitte gescheitelt war. Mit den Jahren wurde in diesem Scheitel ein wenig die Leinwand sichtbar, aber rührender waren noch die beiden Stellen, wo man die greisen Schläfen neben dem farbigen Haar sah, als einziges Zeichen davon, daß Tante Jane während ihres Lebens nicht immer gleich alt geblieben war.
Man könnte glauben, daß sie die männliche Frauenart um viele Jahrzehnte vorweggenommen hatte, die seither in Mode gekommen ist; aber dem war doch nicht so, denn in ihrer männlichen Brust ruhte ein sehr weibliches Herz. Man konnte auch glauben, daß sie einmal eine sehr berühmte Pianistin gewesen sei, die später den Zusammenhang mit ihrer Zeit verloren hatte, denn so sah sie aus; aber auch das war nicht so, sie war nie mehr als eine Klavierlehrerin gewesen, und der Männerkopf wie die Soutane kamen nur davon, daß Tante Jane als Mädchen für Franz Liszt geschwärmt hatte, dem sie während kurzer Zeit einigemal in Gesellschaft begegnet war, und auf irgendeine Weise hatte da ihr Name seine englische Form angenommen.
Denn dieser Begegnung hielt sie die Treue, wie ein verliebter Ritter die Farben seiner Dame bis ins Greisenalter trägt, ohne je mehr begehrt zu haben; und an Tante Jane war das rührender, als wenn sie die Uniform ihrer eigenen Ruhmestage in Pension weiter getragen hätte. Auch das Geheimnis ihres Lebens, das man in der Familie den Herangewachsenen nur nach ernster Ermahnung zur Achtung wie bei einer Jünglingsweihe weitergab, hatte etwas von dieser Art. Jane war kein junges Mädchen mehr gewesen (denn eine anspruchsvolle Seele wählt lange), als sie den Mann fand, den sie liebte und gegen den Willen ihrer Angehörigen heiratete, und dieser Mann war natürlich ein Künstler gewesen, wenn auch durch schnödes Mißgeschick provinzstädtischer Verhältnisse nur Photograph. Aber er machte schon nach kurzer Ehe Schulden wie ein Genie und trank leidenschaftlich. Tante Jane entbehrte für ihn, sie holte ihn aus dem Wirtshaus zu den Göttern zurück, sie weinte heimlich und vor ihm, zu seinen Knien. Er sah wie ein Genie aus, mit mächtigem Mund und stolzem Haar, und wenn Tante Jane die Fähigkeit besessen hätte, die Leidenschaft ihrer Verzweiflung auf ihn zu übertragen, so wäre er mit dem Unglück seiner Laster groß wie Lord Byron gewesen. Aber der Photograph machte der Übertragung von Gefühlen Schwierigkeiten, er verließ Jane nach einem Jahr mit ihrer bäurischen Magd, die er geschwängert hatte, und starb bald darauf ziemlich verkommen. Jane schnitt eine Locke von seinem gewaltigen Haupt und bewahrte sie auf; sie nahm das uneheliche Kind, das er hinterließ, an eigen Statt und zog es unter Opfern groß; sie sprach selten von dieser vergangenen Zeit, denn man kann vom Leben, wenn es gewaltig ist, nicht auch noch fordern, daß es gut sein soll.
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In Tante Janes Leben war also nicht gar wenig romantische Unnatur. Aber später, als der Photograph in seiner irdischen Unvollkommenheit schon längst keinen Zauber mehr auf sie ausübte, war gewissermaßen auch die unvollkommene Substanz ihrer Liebe zu ihm verwest, und die ewige Form der Liebe und Begeisterung blieb übrig; es wirkte in weiter Ferne dieses Erlebnis kaum anders, als es ein wirklich gewaltiges getan hätte. So aber war Tante Jane überhaupt. Ihr geistiger Inhalt war vermutlich nicht groß, aber seine seelische Form war so schön. Ihre Gebärde war heroisch, und solche Gebärden sind nur unangenehm, solange sie falsche Inhalte haben; wenn sie ganz leer sind, werden sie wieder wie Flammenspiel und Glaube. Tante Jane lebte nur von Tee, schwarzem Kaffee und zwei Tassen Fleischbrühe täglich, aber auf den Straßen der kleinen Stadt blieben die Leute nicht stehen und sahen ihr nach, wenn sie in ihrer schwarzen Soutane vorbeikam, weil man wußte, daß sie ein ordentlicher Mensch war; ja mehr als das, man hatte eine gewisse Ehrfurcht vor ihr, weil sie ein ordentlicher Mensch war und sich trotzdem die Fähigkeit bewahrt hatte, so auszusehen, wie es ihr offenbar ums Herz war, wenn man gleich nichts Näheres davon wußte.
Das wäre also wohl die Geschichte von Tante Jane, die längst in hohem Alter gestorben ist, und die Großtante ist tot, und Onkel Nepomuk ist tot, und warum haben sie eigentlich alle gelebt? fragte sich Ulrich.
Aber er würde zu dieser Zeit etwas darum gegeben haben, wenn er noch einmal mit Tante Jane hätte sprechen dürfen. Er blätterte in den dicken, alten Alben mit Lichtbildern seiner Familie, die irgendwie zu Diotima gekommen waren, und je näher er den Anfängen dieser neuen Bildkunst zu blätterte, desto stolzer, kam ihm vor, hatten sich die Menschen ihr dargeboten. Sie setzten, wie man sah, den Fuß auf Felsblöcke aus Karton, die von Efeu aus Papier umsponnen waren; wenn sie Offiziere waren, stellten sie die Beine auseinander und den Säbel dazwischen; wenn sie Mädchen waren, legten sie die Hände in den Schoß und öffneten weit die Augen; wenn sie freie Männer waren, stiegen ihre Hosen in kühner Romantik, ohne Bügelfalte, gleich gekräuseltem Rauch von der Erde auf, und ihre Röcke hatten einen runden Schwung, etwas Stürmisches, das die steife Würde des bürgerlichen Gehrocks verdrängt hatte. Das mag so zwischen achtzehnhundert-sechzig und -siebzig gewesen sein, nachdem die Anfänge des Verfahrens überwunden waren. Die Revolution der Vierzigerjahre lag als wüste Zeit längst zurück, und es gab neue Lebensinhalte, man weiß heute nicht mehr recht, welche; auch die Tränen, Umarmungen und Geständnisse, in denen das neue Bürgertum zu Beginn seiner Zeit seine Seele gesucht hatte, gab es nicht mehr; aber wie eine Welle auf Sand ausläuft, war dieser Edelmut nun bei den Kleidern angelangt und einer gewissen privaten Schwunghaftigkeit, wofür es wohl ein besseres Wort geben mag, von dem aber vorläufig nur die Photographien da sind. Das war die Zeit, wo die Photographen Samtjoppen und Knebelbärte trugen und wie die Maler aussahen, und die Maler große Kartons entwarfen, auf denen sie kompagnieweise mit bedeutsamen Figuren exerzierten; und den Privatmenschen schien es zu dieser Zeit gerade an der Zeit zu sein, daß auch für sie ein Verewigungsverfahren erfunden wurde. Es bleibt nur noch hinzuzufügen, daß sich nicht leicht Menschen einer anderen Zeit so genialisch und großartig gefühlt haben wie gerade die Menschen dieser Zeit, unter denen es so wenig ungewöhnliche Menschen gab - oder es gelang ihnen so selten, zwischen den anderen hochzukommen -wie noch nie.
Und oft frug sich Ulrich dabei, ob es einen Zusammenhang gebe zwischen dieser Zeit, wo sich ein Photograph für genial halten konnte, weil er trank, einen offenen Halskragen trug und den seelischen Adel, den er besaß, mit Hilfe des modernsten Verfahrens auch an allen Zeitgenossen nachwies, die sich vor sein Objektiv stellten, und einer gewissen anderen Zeit, wo man nur noch Rennpferde, wegen ihrer alles übersteigenden Fähigkeit, sich zu strecken und zusammenzuziehen, aufrichtig für genial hält. Sie sehen verschieden aus; die Gegenwart sieht stolz auf die Vergangenheit herab, und wenn die Vergangenheit zufällig später gekommen wäre, so würde sie stolz auf die Gegenwart herabsehen, aber in der Hauptsache kommen beide auf etwas sehr Ähnliches hinaus, denn es spielen da wie dort Ungenauigkeit und Auslassung der entscheidenden Unterschiede die größte Rolle. Es wird ein Teil des Großen für das Ganze genommen, eine entfernte Analogie für die Erfüllung der Wahrheit, und der leergewordene Balg eines großen Worts wird nach der Mode des Tags ausgestopft. Das geht großartig, wenn es auch nicht lange hält. Die Menschen, die in Diotimas Salon sprachen, hatten in nichts ganz unrecht, weil ihre Begriffe so unscharf waren wie Gestalten in einer Waschküche. «Diese Begriffe, in denen das Leben hängt wie der Adler in seinen Schwingen!» dachte Ulrich. «Diese unzähligen moralischen und künstlerischen Begriffe des Lebens, die ihrem Wesen nach so zart sind wie harte Gebirge in undeutlicher Ferne!» Auf ihren Zungen vermehrten sie sich 248
durch Drehung, und man konnte von keiner ihrer Ideen eine Weile sprechen, ohne unversehens schon in die nächste zu geraten.
Diese Art Menschen hat sich zu allen Zeiten die neue Zeit genannt. Es ist das ein Wort wie ein Sack, in dem man die Winde des Aeolus fangen möchte; dieses Wort ist die beständige Entschuldigung dafür, die Dinge nicht in Ordnung zu bringen, das heißt, nicht in ihre eigene, eine sachliche Ordnung, sondern in den eingebildeten Zusammenhang eines Undings. Und doch liegt ein Bekenntnis darin. Die Überzeugung, daß sie die Aufgabe hätten, Ordnung in die Welt zu tragen, lebte in der sonderbarsten Weise in diesen Menschen. Wenn man das, was sie zu diesem Zweck unternahmen, Halbklugheit nennen wollte, so wäre bemerkenswert, daß gerade die andere, ungenannte, oder, um sie zu nennen, die dumme, niemals genaue und richtige Hälfte dieses Halbklugseins eine unerschöpfliche Erneuerungskraft und Fruchtbarkeit besaß.
Es war Leben in ihr, Wandelbarkeit, Ruhelosigkeit, Standpunktwechsel. Aber sie spürten wohl selbst, wie das war. Es rüttelte an ihnen, es blies durch ihren Kopf, sie gehörten einem nervösen Zeitalter an, und es stimmte etwas nicht, jeder hielt sich für klug, aber alle zusammen fühlten sich unfruchtbar. Hatten sie noch dazu Talent - und ihre Ungenauigkeit schloß das ja keineswegs aus - so war es in ihrem Kopf, als ob man das Wetter und die Wolken, die Eisenbahnen, Telegraphendrähte, Bäume und Tiere und das ganze bewegte Bild unserer lieben Welt durch ein schmales, verkrustetes Fenster sähe; und keiner merkte es so leicht an seinem eigenen, aber jeder am Fenster des andren.
Ulrich hatte sich einmal den Scherz gemacht, von ihnen genaue Angaben über das zu verlangen, was sie meinten; sie sahen ihn darauf mißbilligend an, nannten sein Begehren mechanische Lebensauffassung und Skepsis und stellten die Behauptung auf, daß das Komplizierteste nur auf das einfachste gelöst werden dürfe, so daß die neue Zeit, sobald sie sich erst aus der Gegenwart herauserlöst habe, ganz einfach ausschauen werde. Ulrich machte, im Gegensatz zu Arnheim, gar keinen Eindruck auf sie, und Tante Jane würde ihm das Gesicht gestreichelt und gesagt haben: «Ich verstehe sie sehr gut; du störst sie mit deinem Ernst. »
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