Was unterscheidet denn eigentlich im gewöhnlichen Leben noch den primitivsten Liebesaffekt vom nur sexuellen Begehren? Dem Vergewaltigenwollen ist ein Scheuen, ist Zartheit beigemengt, fast möchte man sagen, dem Maskulinen etwas Feminines. Und so ist es mit allen Gefühlen; sie sind eigenartig entkernt und vergrößert.
Moral? Moral ist eine Beleidigung, in einem Zustand, wo jede Bewegung ihre Rechtfertigung darin findet, daß sie zu seiner Ehre beiträgt (Gott).
Die kardinale Sünde in diesem Paradies, man könnte sie verschieden nennen: haben, wollen, besitzen, wissen. Darum herum schließen sich die kleineren Sünden, neiden, gekränkt sein [–—].
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Sie kommen alle davon, daß man sich und das andere in eine ausschließliche Beziehung bringen will. Daß das Ich sich durchsetzen will, wie ein Kristall, der sich aus einer Flüssigkeit loslöst. Nun ist da ein Mittelpunkt, und ringsumher bilden sich auch lauter Mittelpunkte.
Sind wir aber Schwestern, so willst du nicht den Mann, kein Ding, keinen Gedanken als deinen. Du sagst nicht: Ich sage. Denn alles wird von allen gesagt. Du sagst nicht: Ich liebe. Denn unser aller Geliebte ist die Liebe, und wenn sie dich umarmt, lächelt sie mir zu…
87 Schuß als Heilmittel gegen Selbstmordideen
[Früher Entwurf]
Es kamen auch gewaltige Auflehnungen.
Agathe besaß ein Klavier. Sie saß in der Dämmerung daran und spielte. Die Ungewißheit ihres Zustandes spielte mit den Tönen. Ulrich trat ein. Seine Stimme klang kalt und stumm, während er Agathe begrüßte.
Sie unterbrach das Spiel. Als die Worte verklungen waren, gingen ihre Finger ein paar Schritte weiter durch das grenzenlose Land der Musik.
«Bleib sitzen!» befahl Ulrich, der zurückgetreten war, und zog eine Pistole aus der Tasche. «Es geschieht dir nichts. » Ganz verändert sprach er, ein fremder Mensch. Nun schlug er auf das Klavier an und schoß in die Mitte der langen schwarzen Flanke. Die Kugel durchschnitt das trockene, zarte Holz und heulte über die Saiten. Eine zweite wühlte springende Töne auf. Die Tasten begannen zu hüpfen, wie Schuß auf Schuß folgte. Der jubelnd scharfe Knall der Pistole fuhr immer rasender in einen splitternden, kreischenden, reißenden, dröhnenden und singenden Aufruhr. Als das Magazin ausgeschossen war, ließ Ulrich es auf den Teppich fallen und bemerkte das erst, als er noch zweimal vergeblich abzog. Er machte den Eindruck eines Verrückten, bleich, das Haar hing ihm in die Stirn, ein Einfall hatte ihn gepackt und weit von sich fortgerissen. Im Haus schlugen Türen, man horchte; langsam ergriff mit solchen Eindrücken die Vernunft wieder von ihm Besitz.
Agathe hatte weder die Hand gehoben, noch den leisesten Laut ausgestoßen, um die Zerstörung des kostbaren Flügels zu hindern oder aus der Gefahr zu fliehen. Sie empfand keine Furcht, und obgleich ihr das Beginnen ihres Bruders wahnsinnig vorkommen konnte, erschreckte sie dieser Gedanke nicht. Sie nahm es hin wie ein angenehmes Ende. Die sonderbaren Wundschreie des getroffenen Instruments erregten in ihr die Vorstellung, daß sie in einem Schwärm phantastisch flatternder Vögel die Erde verlassen müsse.
Ulrich nahm sich zusammen und fragte sie, ob sie ihm böse sei; Agathe verneinte es mit strahlenden Augen.
Sein Gesicht nahm den gewöhnlichen Ausdruck wieder an. «Ich weiß nicht, » sagte er «warum ich es getan habe. Ich habe dem Einfall nicht widerstehen können. »
Agathe probte nachdenklich ein paar einsame Saiten aus, die übrig geblieben waren.
«Ich komme mir wie ein Narr vor… » bat Ulrich und schob seine Hand vorsichtig in das Haar seiner Schwester, als ob die Finger dort Schutz vor sich selbst finden könnten. Agathe zog sie am Handgelenk wieder hervor und entfernte sie von sich. «Was ist dir eingefallen?» fragte sie.
«Ich weiß es nicht» sagte Ulrich und machte eine unbewußte Bewegung mit den Armen, als ob er die Umklammerung von etwas Zähem von sich abstreifen und fortstoßen wollte.
Agathe sagte: «Wenn du das noch einmal wiederholen wolltest, würde eine ganz gewöhnliche Schießübung daraus werden. » Plötzlich stand sie auf und lachte. «Jetzt wirst du das Klavier ganz neu herrichten lassen müssen. Was wird jetzt nicht alles daraus; Bestellungen, Erklärungen, Rechnungen… ! Schon deshalb kann man so etwas nicht wiederholen. »
«Ich habe es tun müssen» erklärte Ulrich schüchtern. «Ich hätte ebenso gerne in einen Spiegel geschossen, wenn du dich gerade darin angesehen hättest. »
«Und nun bestürzt es dich, daß man so etwas nicht zweimal tun kann. Aber gerade das war doch schön. »
Sie schob ihren Arm in seinen und näherte sich ihm. «Du willst doch sonst nie etwas tun, von dem du nicht weißt, was daraus wird!»
88 Beim Rechtsanwalt
[Entwurf]
752
Waren ihre Seelen zwei Tauben in einer Welt von Habichten und Eulen? Ulrich hätte es nie über sich gebracht, etwas Ähnliches gelten zu lassen, und liebte darum zu bemerken, ja fand eine Art Sicherheit darin, daß die äußeren Geschehnisse keine Rücksicht auf die Entzückungen und Befürchtungen der Seele nahmen, sondern ihrer eigenen Logik folgten. Seitdem ihn Hagauers Briefe gezwungen hatten, einen Rechtsanwalt um Rat zu fragen, hatte sich auch Hagauer an einen Berater gewandt, und da nun die beiden Rechtsbeistände Briefe wechselten, war eine «causa» entstanden, unabhängig von ihren persönlichen Ursprüngen und gleichsam mit überpersönlichen Vollmachten ausgerüstet. Diese Sache zwang Ulrichs Anwalt, um Agathes persönlichen Besuch zu bitten; und als sie nicht kam, sich zu wundern, und als sie später noch immer nicht kam, ernsthafte Vorstellungen zu erheben, die schließlich Ulrich durch die Ausmalung der üblen Folgen in die Notlage versetzten, den Widerstand seiner Schwester zu überreden. Als sie bei ihrem Beistand erschienen, waren dadurch dem Verlauf schon gewisse Geleise gelegt. Sie hatten einen gewandten und gefestigten Mann vor sich, nicht viel älter als sie selbst, der, gewohnt, selbst an der Stätte des Gerichts zu lächeln und höflichen Gleichmut zu bewahren, auch im Verkehr mit Auftraggebern von dem Grundsatz ausging, daß man sich von allen Dingen und Menschen zuvörderst selbst ein Bild zu machen habe und sich von dem Klienten, der immer unzuverlässig und zeitverschwenderisch sei, möglichst wenig beirren lassen dürfe.
Agathe erklärte denn auch nachträglich, daß sie sich die ganze Zeit über eigentlich als «Rechtspatientin»
vorgekommen wäre und das traf insofern die Wahrheit, als alle ihre Antworten auf die einleitenden und grundlegenden Fragen ihres Anwalts geeignet waren, diesen in einem zweifelnden Urteil zu bestärken.
Seine Aufgabe war schwierig. Eine Scheidung von «Tisch und Bett», die leicht zu erreichende «Trennung», genügte den Wünschen seiner Vollmachtgeber nicht, und eine Scheidung «dem Bande nach», die wirkliche Aufhebung der katholisch geschlossenen Ehe mit Hagauer, war nach den Gesetzen des Landes unmöglich und nur auf dem Umweg über verschiedene andere Staaten und deren Rechtsbeziehungen zu einander sowie durch verwickelte Ein-und Ausbürgerungen zu erreichen, was einen Weg ergab, der zwar sicher zum Ziel führen sollte, aber durchaus nicht ohne Schwierigkeiten und im vorhinein zu übersehen war. Darum hatte sich Agathes Rechtsanwalt vorgenommen, ihren allzu gewöhnlichen Scheidungsgrund, den sie einfach als Abneigung angab, durch einen stichhältigeren zu ersetzen.
«Unüberwindliche Abneigung könnte nicht genügen, haben Sie Ihrem Herrn Gemahl nicht noch etwas anderes vorzuwerfen, gnädige Frau?» forschte er.
Agathe sagte kurzweg nein. Sie hätte Hagauer vieles vorwerfen können, aber sie wurde rot und blaß, denn alles gehörte so wenig hierher wie sie selbst. Sie war Ulrich böse.
Der Rechtsanwalt sah sie aufmerksam an. «Unhöfliche Behandlung, leichtfertige Vermögensgebarung, grobe Vernachlässigung der Pflichten als Gatte…, wie steht es damit, gnädige Frau ?» Er versuchte, sie auf einen Einfall zu bringen. «Die sicherste Scheidungsursache bleibt natürlich immer eheliche Untreue!»
Nun sah auch Agathe ihr Gegenüber an und antwortete mit klarer, ruhiger, tiefer Stimme: «Alle solche Gründe habe ich ja nicht!»
Vielleicht hätte sie lächeln sollen. Dann wäre der Mann, der ihr, sorgfältig gekleidet, gegenübersaß und immerhin noch lebenslustig war, überzeugt gewesen, eine schöne und unbestimmbar fesselnde Frau vor sich zu haben. Aber der Ernst ihres Ausdrucks ließ nicht das geringste für ihn übrig, und das Gehirn des Anwalts wurde trocken. Er erinnerte sich aus den Akten, zu denen nicht nur die Zuschriften des gegnerischen Vertreters, sondern auch Briefe Hagauers an Ulrich gehörten, an jene sorgfältig substantivierten Beschwerden darüber, daß das Scheidungsbegehren ungerechtfertigt und launenhaft unernst sei, und er dachte einen Augenblick daran, daß er viel lieber der Vertreter dieses anscheinend nüchternen und verläßlichen Mannes wäre. Dann fiel ihm ein, daß irgendwo auch das Wort «Psychopathin» vorkäme, und er wies es nicht so sehr Agathes wegen von sich, als weil es ihn hätte hindern können, den lohnenden Auftrag zu übernehmen. «Nervös wird sie eben sein, solch eine Nervöse, die zu allerhand fähig ist, wie man es oft antrifft!» dachte er und begann seine Ausfragung vorsichtig jener Stelle zuzuwenden, die sich ihm bei der Prüfung des gesamten Bestandes als das Aufklärungsbedürftigste eingeprägt hatte. In der bei den Akten befindlichen Korrespondenz befanden sich - und zwar sowohl in den Briefen Hagauers an Ulrich als, was schwerer wog, auch in den Zuschriften des gegnerischen Anwalts — mehr oder minder deutliche Anspielungen eines Sinnes eingestreut, als wüßten die Herren von Unregelmäßigkeiten, die bei der Behandlung der Verlassenschaft vorgekommen seien, oder wären gar auch willens die Beziehungen zu 753
verdächtigen, die seither zwischen den Geschwistern eingetreten wären: es waren dies die bekannten Ergebnisse des punktweis-abgestuften Nachdenkens von Ulrichs Schwager und wollten so verstanden sein, daß die Geschwister es sich wohl überlegen möchten, ob es nicht besser sei, ihren Entschluß zu ändern, ehe sie sich zu weit in eine Angelegenheit einließen, die für sie allerhand Gefahren enthielte. Agathes neuer Ratgeber brachte diese unzweideutigen Anspielungen nun so zur Sprache, daß er sich damit an Ulrich, als den ihm schon Bekannteren, wandte, und es in der höflichen Weise eines Mannes tat, der einem anderen die Wiederholung einer überflüssigen Belästigung nicht ersparen kann, er, wandte sich dazwischen aber auch an Agathe und gab zu verstehen, ob es sich zwar nur um eine Förmlichkeit handle, daß doch auch sie selbst als seine Auftraggeberin ihm über diese Einwürfe, die unter Umständen so schwer wiegen konnten als sie sich gewissenlos aussprechen ließen, eine Versicherung abgeben müßte, auf die er sein weiteres Handeln stützen könne. Nun hatte aber weder Agathe die Briefe Hagauers gelesen, noch Ulrich von ihr Auskunft bekommen, was sie in der auf die «sogenannte Testamentsfälschung» - unwillkürlich sprach er in diesem Augenblick zu sich selbst so vorsichtig! — folgenden Zeit ihres Alleinseins eigentlich Alles unternommen habe. Es trat also eine kleine Verlegenheitspause ein, die recht sonderbar wirkte. Ulrich suchte sie durch eine Gebärde zu beenden, die in einer gelassen hochmütigen Weise das Begehren des Rechtsanwalts als überflüssig und im vorhinein erfüllt bezeichnen sollte, aber seine Schwester störte diesen Plan ein wenig, indem sie zur gleichen Zeit gelassen neugierig an den Rechtsanwalt die Frage richtete, was ihr Mann denn eigentlich zu wissen meine. Der Rechtsanwalt sah von einem zum ändern. «Meine Schwester gibt Ihnen natürlich die Versicherung, die Sie wünschen, in jeder Form» erklärte Ulrich schnell und möglichst gleichgültig. «Sie ist durch mich von dem Inhalt der Briefe genau unterrichtet, hat sie aber aus ganz persönlichen Gründen nur zum Teil selbst gelesen. » Diesmal lächelte Agathe, die ihren Fehler bemerkt hatte, rechtzeitig und bestätigte, daß es so sei. «Ich war zu sehr verstimmt» behauptete sie mit Ruhe.
Der Advokat dachte einen Augenblick nach. Es ging ihm durch den Sinn, daß dieser Zwischenfall ganz gut eine unerwünschte Bestätigung der gegnerischen Behauptung bedeuten könnte, daß Agathe unter einem unheilvollen Einfluß ihres Bruders stünde. Er glaubte natürlich nicht daran, aber er fühlte ohnehin gegen Ulrich ein wenig Abneigung. Das bewog ihn, Agathe mit der größten Höflichkeit zur Antwort zu geben:
«Ich bitte vielmals um Verzeihung, gnädige Frau, aber mein Beruf zwingt mich, auf der Bitte zu bestehn, daß Sie in diese Angelegenheit selbst Einsicht nehmen müssen. » Und mit diesen Worten reichte er ihr, leicht nötigend, die Aktenmappe hinüber.
Agathe zauderte.
Ulrich sagte: «Du mußt formell selbst Einsicht nehmen. »
Der Advokat lächelte höflich und fügte hinzu: «Verzeihung, nicht nur formell!»
Agathe ließ ihren Blick zweimal in die Blätter tauchen, verzog das Gesicht und klappte die Mappe wieder zu.
Der Rechtsanwalt zeigte sich befriedigt. «Diese Anspielungen sind bedeutungslos» versicherte er. «Ich habe das auch vorausgesetzt. Der Kollege hätte der üblen Gereiztheit seines Klienten einfach nicht nachgeben dürfen. Aber es wäre immerhin peinlich, wenn während des zivilrechtlichen Verfahrens plötzlich eine staatsanwaltschaftliche Anzeige einliefe. Man müßte dann sofort mit einer Gegenklage wegen Verleumdung antworten können oder ähnlich… » Scheinbar ohne daß er es wollte, ging seine Redeweise aus der Art der Unwirklichkeit dabei wieder in die des Möglichen über, und Ulrich kam es vor, daß in diesen Versicherungen noch immer eine Frage lauere.
«Natürlich wäre es ungemein peinlich» bestätigte er trokken und nahm sich vor, außer diesem bekannten Scheidungsanwalt noch einen richtigen Verbrecheranwalt zu befragen, einen, mit dem man etwas offener reden könne, um alle Möglichkeiten zu erfahren, die in so einer Unglücksgeschichte stecken. Aber er wußte nicht, wie er einen solchen Mann finden solle. «Ein Kampf in dieser schmutzigen Art ist für reinliche Menschen immer peinlich» fügte er hinzu. «Aber kann man etwas anderes tun als abwarten?»
Der Rechtsanwalt tat, als müßte er noch einen Augenblick nachdenken, lächelte und sagte mit einer Bitte um Entschuldigung, daß er doch sehr raten müsse, auf seinen ursprünglichen Vorschlag zurückzugreifen und dem Gegner eine Verletzung der ehelichen Treue nachzuweisen. Die Länge der schon bestehenden Trennung ließe den anzulastenden Tatbestand mit Sicherheit voraussetzen, an Instituten, die so etwas diskret und verläßlich besorgten, bestünde kein Mangel und daß man mit diesem gleichsam klassischen 754
Scheidungsgrund unaufhaltsam und am raschesten zum Ziel käme, wäre der größte Vorteil, in einem Kampf, wo man dem Gegner keine Zeit lassen dürfe, seine Intrigen zu entfalten. Ulrich schien das auch einzusehen.
Aber Agathe, die ihre einstige Sicherheit im Verkehr mit Anwälten und anderen Rechtspersonen ganz verloren hatte, sagte nein. Hatte sie sich eingebildet, daß man eine Scheidung beim Advokaten bestelle wie eine Torte beim Zuckerbäcker, die nach Wahl ins Haus geliefert wird, geschah es, daß sie Ulrich verübelte, sie in eine Lage gebracht zu haben, wo ihr Verantwortlichkeitsgefühl für Hagauer die unschuldig zugefügten Peinlichkeiten erwachte, oder wollte sie einfach nicht den Absturz ihrer Welt in die Fortdauer solcher Unterredungen ertragen, genug, sie weigerte sich heftig.
Sie hielt diesen Vorschlag auch für eine Bequemlichkeit des Rechtsanwalts und hätte sich vielleicht überreden lassen; aber Ulrich tat es nicht, sondern entschuldigte sie bloß lächelnd mit dem Scherz, daß sie eben selbst durch einen Detektiv nichts mehr von ihrem Gatten wissen wolle; und der Scheidungsanwalt seufzte mit einemmal ritterlich ergeben, denn er mochte die Besprechung schon beenden. Er versicherte nun, daß sie auch so ans Ziel kommen wollten, und schob Agathe die Prozeßvollmachten zur Hand, die sie unterschreiben sollte.
Schon als sie die Treppe hinabstiegen, schob Ulrich seinen Arm unter den Agathes, und unwillkürlich blieben sie in dem Augenblick, wo das geschah, stehen.
«Wir waren eine Stunde in der Wirklichkeit!» sagte er.
Agathe sah ihn an. Der Schmerz schloß den Hintergrund ihrer hellen Augen ab wie eine Steinmauer.
«Bist du sehr niedergeschlagen?» fragte er teilnehmend.
«Das bedeutet eine solche Erniedrigung, daß wir uns ihr entziehen müßten» gab sie langsam zur Antwort.
«Das ist sehr die Frage» meinte Ulrich.
«Eine wirkliche Erniedrigung, wie man mit dem Mund in den Staub fällt! Etwas, das wir uns vorzustellen in der letzten Zeit verlernt haben!» wiederholte Agathe mit leiser heftiger Stimme.
«Ich meine, es ist die Frage, ob wir uns dieser Erniedrigung entziehen dürfen» erwiderte Ulrich. «Vielleicht drohen uns auch noch viel größere. Ich muß dir gestehen, daß ich heute von unserer Lage beinahe den Eindruck habe, daß sie schlimm sei. Denn gesetzt, wir gäben nach: Wir könnten vielleicht noch einen Irrtum vorschützen, eilig gutmachen, verschleiern. Aber es hinge von ihm ab, das anzunehmen oder nicht, und er wird auf dich nicht verzichten, ja er wird, da er einmal Verdacht geschöpft hat, seine Waffe nicht eher aus der Hand legen, als du dich ihm bedingungslos unterworfen hast. Das ist einfach seine Ordentlichkeit» sagte Ulrich, da Agathe das Ende seiner Rede nicht abwarten zu wollen schien.
«Andrerseits können wir natürlich dem Vorschlag unseres Anwalts oder einem ähnlichen Plan folgen und versuchen, ihn mürbe zu machen, aber was haben wir davon? Gesteigerte Gefahr, denn der Gegner wird sich durch unseren Angriff aller Rücksichten entbunden fühlen, und als Erfolg bestenfalls außer der Scheidung den, daß wir einen tief gleichgültigen Menschen böswillig geschädigt haben. »
«Und die Schuld der Existenz?!» wandte Agathe leidenschaftlich ein, obgleich sie sich mit Gewalt zwang, einen Scherz daraus zu machen. «Was du selbst oft gesagt hast, daß die einzige reingebliebene Frau die ist, die ihre Liebhaber köpfen läßt?!»
«Habe ich das gesagt? Da könnte man den Erdball in die Luft sprengen!» sagte Ulrich ruhig. «Wenn man alle Zeugen seiner Fehler beseitigen wollte!» Und er fügte nachdenklich hinzu: «du verkennst noch immer den Gewöhnlichkeitsgrad, die greifbare Schwierigkeit der Lage, in der wir uns befinden: Wir sind auf die eine wie die andere Weise von Vernichtung bedroht und haben nur die Wahl, es zu bleiben oder - »
«Uns zu töten!» sagte Agathe kurz und bestimmt.
«Ach, was du sagst! Das klingt zwischen den Steinen solchen Treppenhauses! Hoffentlich hat es niemand gehört!» Er verwies es ihr ärgerlich und blickte sich vorsichtig um. «Es ist bekanntlich nicht einmal sicher, daß der Tod besser sei als Gefängnis. Aber wir können uns ja der Wahl auch dadurch entziehen, daß wir fliehen. »
Agathe sah ihn an, und ihre Augen glichen in diesem Nu unwillkürlich denen eines Kindes, das getobt hat und auf den Arm genommen wird.
«Auf eine Insel in der Südsee» sagte Ulrich und lächelte. «Aber vielleicht genügt auch schon eine in der Adria. Wohin uns einmal in der Woche ein Boot den Bedarf bringt. »
Sie waren benommen, als sie unten am Tor standen und vom Anprall der sommerlichen Straße getroffen 755
wurden. Ein weißliches Feuer, in dem helle Schatten lebten, schien sie zu erwarten. Die Menschen, Tiere, der Straßenrahmen und auch sie selbst verloren in den heißen Lichtstrahlen etwas von ihrer körperlichen Gebundenheit. Agathe hatte gesagt: «Du hast es noch nie wollen! Dazu bin ich dir doch zu wenig?» Ulrich erwiderte: «Oh, wir wollen das nicht in dieser Weise besprechen! Es ist schwieriger als der Entschluß, der Welt zu entsagen. Denn wenn wir einmal geflohen sind, gerät hier, im wirklichen Leben, das uns als das unsere auferlegt war, alles ins Schlimme, und es gibt kaum eine Umkehr, obwohl wir gar nicht wissen, ob dort, wohin wir wollen, ein Boden ist, auf dem Menschen anders als in Träumen stehen können. Wenn ich noch immer überlege, geschieht es nicht aus Zweifel an dir und mir, sondern an dem, was möglich ist!»
(Als sie dann schließlich zurückkehren, ist alles in ganz guter Ordnung; der sich selbst gegen Katastrophen schützende Automatismus des Lebens. Sie haben bloß eine Reise gemacht, die Rechtsanwälte zaudern noch und so weiter… )
89 Hermaphrodit
[Früher Entwurf und Studie]
Der blaue Schirm des Himmels spannte sich über den grünen Schirm der Kiefern; der grüne Schirm der Kiefern spannte sich über die roten Korallenstämme, am Fuß eines Korallenstammes saß Clarisse und spürte an ihrem Rücken die großen, gürteltierartigen Schuppen der Rinde. Meingast stand seitlich von ihr in der Wiese. Der Wind spielte um seine Magerkeit wie um die Gitter eines stählernen Turms; Clarisse dachte: wenn man das Ohr hinhalten dürfte, müßte man seine Gelenke singen hören. Ihr Herz fühlte: Ich bin sein jüngerer Bruder.
Die Kämpfe mit Walter, diese versuchten Umarmungen, aus denen sie sich fortstemmen mußte herausmeißeln nannte sie es —, obgleich sie selbst nicht aus Stein bestand, hatten eine Erregung in ihr hinterlassen, die zuweilen wie ein Rudel Wölfe über ihre Haut jagte, im Nu, sie wußte nicht, wo es ausgebrochen war und wohin es verschwand. Wie sie aber dasaß, die Knie hochgezogen, Meingast zuhörte, der von den Männerbünden sprach, und die Höschen unter dem dünnen Kleid straff wie Knabenhosen an ihren Schenkeln lagen, fühlte sie sich beruhigt.
«Ein Männerbund» sagte Meingast «ist die Liebe in Waffen, die man heute nirgends mehr findet. Man kennt heute nur die Weiberliebe. Ein Männerbund fordert: Treue, Gehorsam, Einstehen eines für alle und aller für einen: Man hat heute aus den Männertugenden das Zerrbild einer allgemeinen Wehrpflicht gemacht, aber bei den Griechen waren sie noch lebendiger Eros. Die männliche Erotik ist nicht auf das Geschlecht beschränkt; ihre ursprüngliche Form ist Krieg, Bund, vereinte Kraft. Überwindung des Todesschrecks… !» Er stand und sprach in die Luft.
«Wenn ein Mann eine Frau liebt, ist es immer schon der Beginn seiner Verbürgerlichung» ergänzte es Clarisse überzeugt. «Sag, darf man überhaupt in einer Zeit wie heute ein Kind wünschen?!»
«Ach was, Kind!» wehrte Meingast ab. «Übrigens ja; nur Kinder! Du sollst dir ein Kind wünschen. Dieser Bourgeoisie-Eros, den man heute einzig und allein kennt, hat mit einem Kind die einzige Möglichkeit, zu Leiden und Opfern zu führen. Überhaupt ist Gebären noch eine der wenigen großen Angelegenheiten. Eine gewisse Rehabilitation. »
Clarisse schüttelte langsam den Kopf. «Wenn es noch ein Kind von dir wäre!» sagte [sie] lächelnd.
«Ich ?! Das ist mir ja ganz neu. Ich reise übrigens in wenigen Tagen in die Schweiz zurück. Ich bin mit meinem Buch fertig. »
«Ich komme mit dir» sagte Clarisse. «Das ist ausgeschlossen! Meine Freunde erwarten mich. Es gibt Schwieriges zu tun. Wir laufen sogar mancherlei Gefahren und müssen zusammenhalten wie eine Phalanx.
» Meingast sagte es mit einem stillen und versonnenen, nach innen gerichteten Lächeln. «Das ist keine Sache für Frauen!»
«Ich bin keine Frau!» rief Clarisse aus und sprang auf. («Hast du nicht, wie ich fünfzehn Jahre alt war, kleiner Bub zu mir gesagt?!»)
Der Philosoph lächelte. Clarisse––-trat zu ihm hin.
«Ich will mit dir hinaus» sagte sie.
«Die Liebe kann in jeder der folgenden Beziehungen offenbar werden» antwortete der Philosoph: «Diener zu Herr, Freund zu Freund, Kind zu Eltern, Weib zu Gatte, Seele zu Gott. »
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Clarisse legte ihm die Hand auf den Arm; mit einer wortlosen Bitte und ungeschickt, aber stark rührend wie Hundetreue.
Meingast beugte sich herab und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Heiser flüsterte Clarisse zurück: «Ich bin kein Weib, Meingast!, ich bin der Hermaphrodit!»
«Du?!» Meingast gab sich keine Mühe, ein wenig Geringschätzung zu verbergen.
«Ich reise mit dir. Du wirst es sehen. Ich werde es dir in der ersten Nacht zeigen. Wir werden nicht eins sein, sondern du wirst zwei sein. Ich kann aus mir herausfahren. Du wirst zwei Körper haben. »
Meingast schüttelte den Kopf. «Eine gewisse Lüftung der Ichbetonung bei Dualität der Leiber: das kann eine Frau leisten. Aber niemals löst sie sich in eine höhere Gemeinschaft auf —» (Zu Meingasts Antwort…
ergänzen…: Meingast umreißt, was das Weib leisten kann. Aber die Verdoppelung der Lebensaktion bringt es nicht. Man kann eine Frau lieben wie seine Eingeweide, aber nicht wie eine Vergrößerung des Mutes, der Kraft und so weiter. >
«Du verstehst mich nicht!» sagte Clarisse. «Ich habe die Kraft, mich in einen Hermaphroditen zu verwandeln. Ich werde euch im Männerbund sehr nützen. Du hörst, daß ich sehr ruhig spreche, aber gib auch acht, was ich sage: Sieh diese Bäume an und diesen runden Himmel darüber. Dein Atem geht weiter, dein Herz geht weiter, in deinen Eingeweiden arbeitet die Gesundheit. Aber je länger du hinsiehst, desto mehr saugt sich das Bild aus dir heraus. Dein Körper bleibt allein auf seinem Platz stehn. Die Welt saugt dich auf, sage ich. Deine Augen machen dich zum Weib. Und wenn all dein Gefühl oben anlangen könnte, würdest du für die Welt tot sein, und dein Leib zerfallen.
Habe ich recht? Aber es gibt andere Tage. Da drängen alle deine Muskeln und Gedanken. Da bin ich Mann.
Da stehe ich hier und hebe den Arm, und der Himmel schießt in meinen Arm hinab. Als ob ich ein Tuch herunterrisse, sage ich dir. Ich bin nicht größenwahnsinnig. Auch mich reißt mein Arm von dort fort, wo ich stehe. Ob ich tanze, ob ich kämpfe, ob ich weine oder singe: nur meine Bewegungen, mein Gesang, meine Tränen bleiben übrig, die Welt und ich sind zersprengt.
Glaubst du mir jetzt, daß ich in den Männerbund gehöre?!»
Meingast hatte mit unsicherem und beinahe ängstlichem Ausdruck Clarisse zugehört. Nun beugte er sich herab und küßte ihre Stirn. Seine Worte beseligten Clarisse. «Ich habe dich nicht gekannt!» sagte er. «Aber es geht trotzdem nicht. Die Liebe einer Frau macht mich unfruchtbar. »
Damit ging er langsam, mit seinen hochgehobenen Schritten durch die Wiesen auf dem kürzesten Wege dem Haus zu. Clarisse lief ihm nicht nach und ließ kein Wort ihm nachlaufen. Sie wußte, er reist ab. Sie wollte warten, ihm den Abschied ersparen. Sie war sicher, daß er Zeit brauchte, mit ihrem Vorschlag fertig zu werden, und daß sie bald ein Brief rufen würde. Ihre Lippen murmelten noch Worte wie zwei kleine Geschwister, die ein erregendes Ereignis besprechen; sie verwies es ihnen und verschloß sie.
Ergänzung Hermaphrodit: Das mit Ulrich erscheint ihr daneben blaß, unausgefüllt, sozusagen literarisch—
zum erstenmal wieder so wie einst, wenn die jungen Mädchen Heimlichkeiten hatten. Schließlich weißt du doch, was es heißt, verheiratet sein, und du weißt, wie Walter ist. (Jeder dieser Sätze kommt ihr wie eingangs vor. > Ich bin manchmal Mann. Ich bin noch nie in den Armen eines Mannes «vergangen»; ich stoße!; ich durchdringe ihn! - Ich gehöre niemandem, ich bin so stark, daß ich mit mehreren Männern gleichzeitig Freundschaft haben könnte. Eine Frau liebt wie ein großer Topf, der alles Feuer in sich zieht.
Clarisse sagt von sich: Nicht wie eine Frau lieben, sondern wie ein tapferer kleiner Fox einen großen Hund gegen den er ohnmächtig ist. Oder wie ein tapferer Hund seinen Herrn… Ich bin Knappe, entwaffne dich, entwaffne dich dann bloß noch um einen Grad mehr. Kein Glied rühren können vor Übermacht. So liebst du Knaben. Die jungen Menschen. Aber ich bin auch Mensch, warum denn bloß Frau.
Aber sie ist - Hermaphrodit - doch auch Frau? Vielleicht so schildern: wie wenn sich das ein Mann schön vorstellt.
Ich gehe meinen Weg, ich habe meine Aufgaben; aber du öffnest mir das Kleid und fällst mich an und ziehst meine Ohnmacht aus mir heraus. Und ich lehne mich an dich, unglücklich über das, was du mir antust, und kann nicht widerstehen. Und gehe weiter und habe einen schwarzen Flor an meinem Helm.
Wir kämpfen Arm an Arm und sind wie das Bad nach der Schlacht.
Konkret: Ich habe den Charakter und die Pflichten eines Mannes. Ich will (diesmal) nicht Kind und nicht Liebe, sondern das tiefe Phänomen der Lust, der Reinigung (Erlösung) durch Schwäche. Ich dir wie du mir, wenn auch Diener und Herr.
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?Ich werde ein Bein an das deine stemmen und das andere um deine Hüfte schlingen, und deine Augen werden sich verschleiern. Ich werde frech sein und meine Angst (Ehrfurcht, Scheu) vor dir vergessen.
Die Frau hat weibliche Empfindungen für den überlegenen Mann, männliche für den unterlegenen. Es entsteht also etwas Hermaphroditisches, ein seelisches Verschlungensein zu dritt.
90 Peter und Agathe
[Früher Entwurf]
Als Agathe das nächstemal Professor Lindners Wohnung betrat, schien er diese kurz zuvor fluchtartig verlassen zu haben. Die unverbrüchliche Ordnung in Zimmern und Vorzimmer war durcheinandergebracht, wozu freilich nicht viel gehörte, schon etliche Gegenstände, die nicht auf ihrem Platz lagen, machten in diesen Räumen einen verstörten Eindruck. Kaum hatte sich Agathe niedergesetzt, um auf Lindner zu warten, kam Peter durch das Zimmer gestürzt, der von ihrer Ankunft keine Kenntnis hatte. Er machte Miene, alles zu zertrümmern, was er auf seinem Wege finde, und sein Gesicht war aufgeschwemmt, wie wenn rund herum unter der roten Haut Tränen steckten, die sich zu einem Ausbruch sammelten.
«Peter?» fragte Agathe bestürzt. «Was haben Sie?» Er wollte an ihr vorbei, blieb aber plötzlich stehen und streckte ihr mit einem so komischen Ausdruck des Ekels die Zunge entgegen, daß sie lachen mußte. Agathe hatte eine Schwäche für Peter. Sie verstand, daß es kein Vergnügen für einen jungen Mann war, Professor Lindner zum Vater zu haben, und wenn sie sich vorstellte, daß Peter sie vielleicht als die zukünftige Frau seines Vaters beargwöhne, so hatte seine feindliche Haltung gegen sie einen geheimen Beifall in ihr.
Irgendwie empfand sie ihn als einen feindlichen Verbündeten. Vielleicht nur, weil er sie an ihre eigene Jugend als frommes Institutsmädel erinnerte. Er wurzelte noch nirgends; suchte sich, suchte groß zu werden; wuchs innerlich mit den gleichen Schmerzen und Unregelmäßigkeiten wie äußerlich. Sie verstand es so gut.
Was waren Weisheit, Glaube, Wunder und Grundsätze für einen jungen Menschen, der noch ganz verschlossen und noch nicht vom Leben aufgebrochen worden ist, um so etwas aufzunehmen! Sie hatte eine sonderbare Sympathie für ihn; für das Ungeleitete und Widerspenstige, für das Junge und wahrscheinlich einfach auch für das Böse seiner Sinnesart. Sie wäre gern seine Gespielin gewesen, wenigstens hier, in dieser Umgebung hatte sie diesen kindlichen Gedanken und bemerkte traurig, daß er sie gewöhnlich als ein altes Frauenzimmer behandelte.
« Peter! Peter! Was haben Sie ? ?!» äffte er sie nach. « Er wird es Ihnen ohnehin erzählen. Sie Seelenschwester von ihm!»
Agathe lachte noch mehr und fing ihn bei der Hand.
«Das gefällt Ihnen wohl?» fuhr Peter unverschämt auf sie los. «Daß ich heule?! Wie alt sind Sie eigentlich?
Gar nicht so viel älter als ich, sollte ich meinen: aber mit Ihnen geht er um wie mit dem erhabenen Platon!»
Er hatte sich losgemacht und musterte sie nutzsüchtig.
«Was hat er Ihnen denn eigentlich getan?» fragte Agathe.
«Was? Bestraft hat er mich! Ich schäme mich gar nicht vor Ihnen, wie Sie sehen. Demnächst wird er mir die Hosen herunterziehen und Sie werden mich halten dürfen!»
«Peter! Pfui!» mahnte Agathe arglos. «Hat er Sie wirklich geschlagen?»
«Hat er? Peter? Würde Ihnen das vielleicht gefallen?»
«Schämen Sie sich doch, Peter!»
«Gar nicht! Warum sagen Sie nicht Herr Peter zu mir? Überhaupt, was meinen Sie: da!» Er streckte das gespannte Bein aus und umfaßte seinen vom Fußball gekräftigten Oberschenkel. «Überzeugen Sie sich doch lieber; ich könnte ihn ja mit einer Hand erschlagen, er hat in beiden Beinen nicht einmal so viel Kraft wie ich in einem Arm. Nicht ich, Sie sollten sich schämen, statt mit ihm Weisheit zu schnattern! Wollen Sie nun wissen, was er mir getan hat?»
«Nein, Peter, so dürfen Sie nicht mit mir sprechen. »
«Warum denn nicht?»
«Weil Ihr Vater es gut mit Ihnen meint. Und weil–-»
Aber da kam Agathe nun wirklich nicht recht weiter; das Predigen gelang ihr nicht, obgleich der Junge ja Unrecht hatte, und sie mußte plötzlich wieder lachen. «Was hat er Ihnen also getan?»
«Das Taschengeld hat er mir entzogen!»
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«Warte!» bat Agathe. Ohne Überlegen suchte sie eine Banknote hervor und reichte sie Peter. Sie wußte selbst nicht, warum sie es tat; vielleicht meinte sie, man müsse zuerst Peters Zorn beseitigen, ehe man auf ihn einwirken könne, vielleicht bereitete es ihr bloß Vergnügen, Lindners Pädagogik zu durchkreuzen. Und mit der gleichen Plötzlichkeit hatte sie zu Peter Du gesagt. Peter sah sie erstaunt an. Im Hintergrund seiner verschlagen schönen Augen erwachte etwas gänzlich Neues. «Das Zweite, was er mir auferlegt hat, » fuhr er zynisch grinsend fort, ohne sich zu bedanken «ist auch schon gebrochen: die Schule der Schweigsamkeit!
Kennen Sie die? Durch Schweigen lernt der Mensch, seine Rede allen inneren und äußeren Reizungen zu entziehn und zur Dienerin seiner innersten Selbstbesinnung zu machen!»
«Sie haben sicher unpassende Reden geführt!»
«So ist es! - Die erste Erwiderung des Menschen auf alle Eingriffe und Angriffe von außen geschieht mittels der Stimmwerkzeuge -» zitierte er seinen Vater. «Darum hat er mir heute und morgen den schulfreien Tag durch Zimmerarrest verdorben, hält strenges Schweigen gegen mich ein und hat mir verboten, mit irgendeinem im Haus ein Wort zu sprechen. Das Dritte» spottete er «ist die Beherrschung des Nahrungstriebes -»
«Aber Peter, nun müssen Sie mir endlich auch sagen, » unterbrach ihn Agathe belustigt «was Sie eigentlich angestellt haben?»
Der Junge war durch das Gespräch, worin er vor der zukünftigen Mutter seinen Vater verhöhnte, in beste Laune gekommen. «Das ist nicht so einfach, Agathe» erwiderte er unverschämt. «Es gibt nämlich etwas, müssen Sie wissen, das der Alte so fürchtet wie der Teufel das Weihwasser: das sind Witze. Die Kitzel des Witzes und Humors, sagt er, kommen aus der müßigen Phantasie und der Bosheit. Ich muß sie immer hinunterschlucken. Das ist segensreich für den Charakter. Weil, wenn wir den Witz näher betrachten, — »
«Also Schluß!» gebot Agathe. «Worüber haben Sie Ihren verbotenen Witz gemacht?»
«Über Sie!» sagte Peter und bohrte seine Augen herausfordernd in ihre. In diesem Augenblick zuckte er aber zusammen, denn es klingelte, und beide erkannten an der Art des Zeichens Professor Lindner. Ehe Agathe Vorwürfe machen konnte, preßte Peter seine Fingernägel schmerzhaft in ihre Hand und drückte sich aus dem Zimmer. ([Anmerkung]: Agathe deutet Peter ihre Abreise mit Ulrich an. ) 91 Krisis und Entscheidung
[Früher Entwurf und Studie]
Agathe hatte eine Haarnadel gefunden. Damals nach Bonadeas Besuch, den ihr Ulrich verschwieg. Sie saß am Divan, sprach mit ihrem Bruder, die Hände zu beiden Seiten voll lässiger Sicherheit in die Polster gestützt, und plötzlich fühlte sie das kleine eiserne Ding zwischen den Fingern. Ihre Hände wurden ganz verwirrt davon, ehe sie es hervorgezogen. Sie sah die Nadel an, welche von einer fremden Frau herrührte, und das Blut stieg ihr in die Wangen.
Ein wenig hätte man auch darüber lachen können, daß Agathe mit solcher Sicherheit wie eine beliebige eifersüchtige Frau aufs nichts anderes riet als das Richtige. Aber obgleich es leicht gewesen wäre, den Fund anders zu erklären, machte Ulrich keinen Versuch dazu. Auch ihm war Röte in die Wangen geschossen.
Endlich bezwang sich Agathe, aber ihr Lächeln war bestürzt.
Ulrich gestand ihr in halben Worten den Überfall Bonadeas.
Sie hörte ihm unruhig zu. «Ich bin nicht eifersüchtig, » sagte sie, «ich habe ja gar kein Recht darauf. Aber -
»
Dieses Aber suchte sie zu finden; der Beweis sollte die Wildheit verdecken, die sich in ihr dagegen empörte, daß eine andere Frau ihr Ulrich wegnahm.
Frauen sind eigenartig naiv, wenn sie von den «Bedürfnissen» der Männer reden. Sie haben sich einreden lassen, daß dies unaufhaltsame Gewalten sind, eine Art schmutziges, aber doch grandioses Leiden der Männer, und scheinen weder zu wissen, daß sie selbst durch längere Entbehrung genau so toll werden, noch daß die Männer sich nach einiger Übergangszeit an den Verzicht nicht viel schwerer gewöhnen als sie; der Unterschied ist in Wahrheit mehr ein moralischer als ein physiologischer, nämlich der der Gewohnheit, sich Wünsche zu gewähren oder zu versagen. Aber manchen Frauen, welche Gründe dafür zu haben glauben, daß ihre Begierde sie nicht überreden dürfe, ist diese Vorstellung, daß der Mann sich nicht beherrschen dürfe, ohne Schaden zu nehmen, ein willkommener Anlaß, um das leidende Mann-Kind in ihre Arme zu 759
schließen, und auch Agathe - durch das Verbot, dem Bruder gegenüber der sonst unzweideutigen Stimme des Herzens zu folgen, in die Rolle einer etwas frigiden Frau gebracht - wandte unbewußt diese List in ihrem Innern an.
«Ich glaube dich ja zu verstehen, » sagte sie «aber: - aber du hast mir weh getan. »
Als Ulrich sie um Verzeihung bitten wollte und den Versuch machte, ihr Haar oder ihre Schultern zu streicheln, sagte sie: «Ich bin dumm… », schauderte etwas und entzog sich ihm.
«Wenn du mir ein Gedicht vorliest, » versuchte sie es zu erklären «und ich werde mir nicht versagen können, dabei in die neue Zeitung zu schauen, so würdest du doch auch enttäuscht sein. Genau so hat es mir weh getan. Deinethalben!»
Ulrich schwieg. Der Verdruß, durch Erklärungen das Geschehene noch einmal zu beleben, verschloß ihm den Mund.
«Natürlich habe ich kein Recht, dir Vorschriften zu machen» wiederholte Agathe. «Was gebe ich dir denn!
Aber weshalb wirfst du dich an solch eine Person fort! Ich könnte mir vorstellen, daß du eine Frau liebst, welche ich bewundere. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber es muß doch nicht jede Liebkosung, die man einem Menschen gibt, allen anderen weggenommen sein. »
- Sie fühlte dabei, so würde sie es sich wünschen, wenn sie diesen Traum verlassen und wieder einen Mann haben sollte — «Innen können sich mehr als zwei Menschen umarmen, und alles Äußere ist ja doch nur - »
Sie stockte, aber plötzlich fiel ihr der Vergleich ein: «ich könnte mir vorstellen, daß der, welcher den Körper umarmt, nur der Schmetterling ist, welcher zwei Blumen verbindet - »
Der Vergleich kam ihr etwas zu poetisch vor. Während sie ihn aussprach, fühlte sie lebhaft das warme und gewöhnliche Frauenempfinden: Ich muß ihm etwas geben und ihn entschädigen –—
Ulrich schüttelte den Kopf. «Ich habe» sagte er ernst «einen schweren Fehler begangen. Aber es war nicht so wie du denkst. Es ist schön, was du sagst. Diese Seligkeit durch einen mechanischen Reiz, dieses plötzliche, von der Haut ausgehend, verändert und vom Gott ergriffen Werden, dem Menschen zuzuschreiben, der gerade das Werkzeug ist, ihm durch Vergötterung oder Haß eine besondere Stellung zu geben, ist im Grund so primitiv wie der Kugel bös zu sein, die einen trifft. Aber ich bin zu kleingläubig um mir vorzustellen, daß man solche Menschen finden könnte. » (Hält ihre Hand - es ist eine weitweg getragene Stimmung. >
Als seine Hand jetzt an ihr Verzeihung suchte, schloß Agathe ihren Bruder in die Arme und küßte ihn. Und unwillkürlich, erschüttert, tröstend-schwesterlich und dann ohne Herrschaft darüber, schloß sie ihre Lippen zum erstenmal ganz mit jener ungeminderten Frauenheftigkeit an den seinen auf, welche die volle Frucht der Liebe bis ins Innerste öffnet.
Schließlich saßen sie eine Weile, hielten sich an den Händen und trauten sich weder etwas zu sagen, noch zu tun. Es war ganz dunkel geworden. Agathe fühlte eine Verlockung sich auszukleiden, ohne ein Wort zu sprechen. Vielleicht lockte das Dunkel auch Ulrich zu ihr hin-überzukriechen oder etwas ähnliches zu tun.
Beide wehrten sich gegen diese Handlungstypen formende Kraft der Geschlechtslust (oder so ähnlich).
Hätte sie es nicht getan, so… alles vorbei… Aber Agathe fragte sich: Warum geschieht nichts? (Warum nicht… ?: ––-gewissermaßen:
warum versucht er es nicht!)
Und als es nicht geschah, fragte sie ihren Bruder: willst du jetzt nicht Licht machen?
Ulrich zögerte. Aber dann machte er aus Furcht Licht.
Und es stellte sich heraus, daß er etwas vergessen hatte, das er selbst besorgen mußte. Es war einleuchtend, daß er es besorgen mußte und sollte höchstens dreiviertel Stunde dauern, und Agathe redete ihm selbst zu, es zu tun. Er hatte jemand, der wichtig war, einen Bescheid versprochen, und telefonisch ließ sich das nicht machen. So zog sich das natürliche Leben bis in diese Stunde hinein, und war eben das natürliche Leben, und nachdem sie sich getrennt hatten, wurden beide traurig.
Ulrich wurde so traurig, daß er beinahe umgekehrt wäre, doch fuhr er weiter; Agathe dagegen wurde so traurig, wie sie es noch nie in ihrem Leben gewesen war. Im Gegensatz zu allem ändern kam ihr diese Trauer geradezu unnatürlich vor; sie erschrak und spürte sogar ein neugieriges Staunen. Das Unnatürliche war eine besondere Eigenheit. Soweit diese Trauer überhaupt für etwas anderes neben sich Platz ließ; gleichsam wie einen Schimmer an ihrem Rand. Tiefste Trauer ist überdies nicht schwarz, sondern dunkelgrün oder dunkelblau und hat die Weichheit des Samtes; sie ist nicht sowohl Vernichtung als 760
vielmehr eine seltene positive Qualität. Dieses tiefe Glück in der Trauer, das Agathe sofort spürte, hat seinen Ursprung wahrscheinlich darin,… daß mit der ausschließlichen Herrschaft jedes einzelnen Gefühls das Glück verbunden ist, von allen Widersprüchen und Unentschlossenheiten nicht auf eine kalte, pedantische, unpersönliche! Weise wie durch die Vernunft, sondern großmütig befreit zu sein. In jedem großgewordenen Mut und Unmut steckt die Qualität des Großmuts. Ohne einen Augenblick überlegen zu müssen, erinnerte sich Agathe, wo sie ihr Gift bewahre, und stand auf, es zu holen. Die Möglichkeit, das Leben mit seinen Ambivalenzen zu beenden, befreit die ihm innewohnende Freude. Agathes Trauer wurde in einer ihr kaum begreiflichen Weise heiter, während sie das Gift, wie es die Vorschrift verlangte, in ein Glas Wasser schüttete (als sie das Gift vor sich auf den Tisch legte. Sie holte ein Glas und eine Flasche Wasser und stellte sie daneben). Auf das natürlichste schied sich ihre Zukunft in die beiden Möglichkeiten, sich zu töten oder das Tausendjährige Reich zu erreichen, und nachdem das zweite nicht mehr gelang, blieb nur das erste übrig. (Diese Traurigkeit war wie ein tiefer Graben mit glatten Rändern, der sie hin-und herführte, während sie oben, unsichtbar und unerreichbar, Ulrich hörte, der sich mit anderen Menschen unterhielt. -Der Selbstmordbeschluß, ist er nicht nur so markiert und in Wahrheit Abtun des früheren Lebens?!)
Es kam der Abschied. Agathe war viel zu jung, um ganz ohne Pathetik aus dem Leben scheiden zu können, und sie recht zu verstehen, darf auch nicht verschwiegen werden, daß ihr Entschluß affektiv nicht genug fixiert war: ihre Verzweiflung war nicht ausweglos, nicht das Zusammenbrechen nach allen Versuchen, es gab für sie, wenn er auch im Augenblick verdunkelt (verlegt) erschien, immer noch einen zweiten Weg. Ihr Abschied von der Welt war anfangs bewegt wie eine Abreise. Zum erstenmal erschienen ihr alle Figuren, die ihr darin begegnet waren, als etwas, das sich in Ordnung befand, jetzt, wo sie gar nichts mehr mit ihnen zu tun haben sollte.
Sie mag schlecht, verbrecherisch, psychopathisch handeln: in einer anderen Welt wäre das gut. Sie ist unter einer anderen Geistesrasse umhergegangen…
Es kam ihr schön und friedlich vor, dem Leben nachzusehn. Übrigens gehen ganze Generationen im Hand-umdrehn dahin. Nicht nur sie hatte mit ihrer Schönheit eigentlich nichts anzufangen gewußt. Sie dachte an das Jahr 2000, hätte gern gewußt, wie es dann aussehen werde. Dann erinnerte sie sich an Gesichter aus dem 16. Jahrhundert, die sie in irgendeiner Sammlung von Abbildungen einmal gesehen haben mußte. Vortreffliche Gesichter mit starken Stirnen und mit kräftigeren Gesichtszügen, als man es heute sieht. Man konnte verstehn, daß alle diese Menschen einmal eine Rolle gespielt hatten. Dazu brauchte man aber wohl Mitspieler; einen Beruf, eine Aufgabe und ein bewegendes Leben. Aber ihr war dieser Rollenehrgeiz völlig fremd. Sie hatte nie etwas sein wollen von dem, was man sein könnte. Die Welt der Männer war ihr immer fremd geblieben. Die Welt der Frauen hatte sie verachtet. Zuweilen hatte sie die Neugierde ihres Körpers, das Verlangen des Fleisches mit anderen in Berührung gebracht, so wie man auch ißt und trinkt. Es war aber immer ohne tiefere Verantwortung geschehn, und so hatte ihr Leben aus der Öde des Kinderzimmers, von wo es ausgegangen war, nur in ein undeutliches Geschehen ohne Grenzen geführt.
So endete alles in Ohnmacht. (Die Reise beginnt dann mit einer Erschöpfung wie nach einem Anfall, worin sie alles dankbar hinnimmt. >
Freilich war diese Ohnmacht nicht ohne Kern: Gott hat nicht nur dieses Leben… Welt eine von vielen möglichen… Das beste an uns eine hauchähnliche, eine ewig wie ein Vogel vom Ast fliegende (Masse)… In ihrer Abneigung gegen die Autorität der Welt stak immer eine Vision. Ja mehr als eine Vision; sie hatte es doch beinahe schon gegriffen: Man kommt zu sich, wenn… vergeht. Es ist mehr als eine Anwandlung, dieses dunkle Blinken. Es schien ihr aber wenig Sinn zu haben, sich das zu wiederholen. All diese Erfahrungen klangen wohl durcheinander mit, aber sie waren nicht nur… ehedem. Sie hatten etwas Sehern.
[enhaftes?] und… Wirkliches. Es war ihr nicht gegeben, Gott deutlich zu schauen, so wenig wie irgendetwas!
Ohne Gott blieb von ihr nur as Schlechte übrig, das sie getan hatte. Nutzlos war sie beschmutzt und empfand Widerwillen gegen sich. Auch alles, was sie soeben wiederholt hatte, war ihr nur in Ulrichs Gesellschaft deutlich geworden, mehr als eine nervöse Spielerei gewesen. Unwillkürlich empfand sie heiße Dankbarkeit für ihren Bruder. Sie liebte ihn in diesem Augenblick wahnsinnig.
Und dann fiel ihr ein: alles, was er gesagt hatte, alles, was er noch sagen konnte, hatte er entwertet!
Sie mußte Schluß machen, ehe er zurückkehrte. Sie sah nach der Uhr. Was für ein zärtliches Ding dieser 761
kleine Zeiger. Sie schob die Uhr fort. Es wurde ihr unheimlich… Todesfurcht… stumpf, quälend, abstoßend.
Aber der Gedanke, daß es geschehen müsse - sie wußte durchaus nicht, wie er hergekommen war -…
furchtbare Anziehungskraft. Sie fand wenig Überlegung mehr in sich vor… Unvermögen [?]… nichts als die Idee… töten, und diese bloß in der Form dieses Satzes… Leere.
Sie wollte ihre Angelegenheiten ordnen; sie hatte keine. Ich hinterlasse niemand… auch Ulrich… sie tat sich sehr leid. Der Puls am Handgelenk floß wie Weinen.
Ulrich war doch zu beneiden, wenn er kämpft und arbeitet. Er ist doch wunderbar, so wie er ist!
Aber die Souveränität des Entschlusses beruhigte sie. Auch sie hatte etwas voraus. Wer das zu tun vermag…
Sie fühlte die wunderbare Einsamkeit, mit der sie geboren war. Und als sie das Pulver in das Glas geschüttet hatte, war die Möglichkeit der Umkehr vorbei, denn nun hatte sie ihren Talisman eingesetzt (wie die Biene, die nur einmal stechen kann).
Plötzlich hörte sie vor der Zeit Ulrichs Schritte. Sie hätte das Glas rasch hinunterstürzen können. Aber als sie ihn hörte, wollte sie ihn auch noch einmal sehen. Sie hätte danach aufspringen und… hinunterstürzen können. Sie hätte etwas Gebieterisches sagen und sich damit aus dem Leben zurückziehen können. Sie blickte ihn aber ratlos an, und er merkte in ihrem Gesicht die Zerstörung. Er sah das Glas; er fragte nicht. Er begriff nicht; der Funke der Erregung sprang unmittelbar auf ihn über. Er nahm das Glas und fragte:
«Reicht es für beide?» Agathe riß es ihm aus der Hand - mit dem Ausruf…: «Wir werden uns nicht töten, ehe wir nicht alles versucht haben!» schloß er sie in die Arme. Oder: kein Wort, eine Handlung, ein Geschehen! Er bricht zusammen oder dergleichen. Entsetzt über das, was er angerichtet hat!
Besser: Ulrichs Abneigung gegen Defekt. Selbstmord. Schließlich aber: man kann nichts gutmachen, sondern nur besser. Darum ist Reue [?] leidenschaftlich. Bei beiden. Plötzlich kommt einer darauf und lacht.
Ich habe beschlossen. Probejahr… mich töten…
Glaube darf nur eine Stunde alt sein…
Das ist der Beschluß, der nun Hals über Kopf ausgeführt wird. Das hieße aber doch auch mehr oder weniger Reise zu Gott.
- - Motive des Entschlusses — —: Es ist unser Schicksal: Wir lieben vielleicht, was verboten ist. Wir werden uns aber nicht töten, ehe wir nicht das Äußerste versucht haben. Die Welt ist flüchtig und flüssig: tu, was du willst! Wir stehen ohnmächtig einer vollendet unvollendeten Welt gegenüber. Die andren haben auch alles, was in uns ist, bloß unmerklich verschoben. Sie bleiben gesund und idealistisch, wir kommen an den Rand des Verbrechens.
Einsamkeit: Gläubige Menschen hadern dann mit Gott, ungläubige lernen ihn da erst kennen. Es steckt keine Notwendigkeit dahinter. Diese Welt ist nur einer von… Versuchen. Gott gibt Teillösungen, das sind die schöpferischen Menschen, sie widersprechen einander, die Welt bildet daraus immer wieder eine relative Totale, die keiner Lösung entspricht. In diese Form der Welt werde ich wie flüssiges Erz gegossen: deshalb bin ich nie ganz das, was ich tue und denke: eine versuchte Gestalt in einer versuchten Gestalt der Gesamtheit. Man darf nicht auf die schlechten Meister hören, die nach Gottes Plan wie für die Ewigkeit eines seiner Leben errichtet haben, sondern muß sich demütig und trotzig ihm selbst anvertrauen. Ohne Überlegung handeln, denn ein Mann kommt nie weiter, als wenn er nicht weiß, wohin er geht. (Das ist Agathes Einfluß!–—Erzählerisch: Vielleicht
Ulrich überlegt es in Pause, so daß am Ende keine Reflexionen stehn. )
Über allem ein Hauch von Stella-Moral–—. Ist mehr als Stimmung und Zustand denn als Gedanke zu beschreiben. Hätten sie nun getan, was sie fühlten, so wäre in einer Stunde alles vorbei gewesen, so aber…
Lebenstraurigkeit; sich nicht wehren können, weil… und so weiter. Gift als Stütze. Vertrauen, daß diese Welt, in der sie sich unvollkommen fühlt, nicht die einzige ist.
Worauf beruht die Entscheidung? Worauf Agathes Selbstmordversuch?… Agathe fragt: Was soll werden?
und Ulrich gibt Antworten… Eigentlich müßte Ulrich - im Sinne von Schleiermachers moralischer Indifferenz des Religiösen - antworten, daß der «andere Zustand» keine Vorschriften für das praktische Leben gebe. Du kannst heiraten, leben, wie du willst und so weiter. Auch die Utopien sind ja zu keinem praktikablen Ergebnis gekommen. Ungefähr ist das auch die Rasse des Genies innerhalb der der Dummheit… Das ist auch: Gegen die Totallösung und System. Gegen den Gemeinschaftssinn. Abenteuer der Lebensverweigerung. Ohne daß aber auf die Theorie eingegangen werden sollte.
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Nach dem Ausbruch gesteht er dann zu: «anderer Zustand» (Ahnen) und Gott, wenn auch als zweifelhaft.
Seine eigentliche Rechtfertigung ist Angst vor drei Schwestern-Süße
und darum beschließen sie auch fortzugehn––-
Agathe verlangt Entscheidung im Sinne der Jugend.
Ulrich: Ich habe beschlossen. Selbstmordjahr.
Agathe: Die Mystik, die sich nicht an Religion schließen konnte, schließt sich an Ulrich. Entscheidung zu: Werkzeug eines unbekannten Zweckes.
Agathe: Eigentlich gibt es kein Gut und Bös, sondern nur Glaube oder Zweifel. Gehn wir von all dem fort.
Ohne Glaube der Ahnung überlassen…
Ulrich weigert sich zu glauben, folgt aber dem Ahnen.
Agathes Depression: Ein Hauptargument: Der Rechtsanwalt hat vorgeschlagen, sie solle sich krank erklären lassen. Sie hat das Testament wegen Ulrich gemacht und nun droht alles über ihr zusammenzustürzen, ohne… Auch gegen Lindner ist sie nur schlecht gewesen. Sie ist für die Tat (Jugend), aber es erscheint auch so: Es ist ihr alles gleichgültig, was man einwenden kann von den ändern her wie auch von Gott und «anderem Zustand» her, sie will mit Ulrich zusammenleben, kommt sich sehr schlecht vor, aber will es trotzdem, und wenn es nicht gelingt, dann bleibt eben nur das Schlechte und das Ende.
Zu Agathes Niedergeschlagenheit: Der Gott zugeneigte Mensch ist nach Adler der mit Mangel an Gemeinschaftssinn - nach Schleiermacher der moralisch Indifferente, also Böse. Auch Frau ist Verbrecher.
Für niemand wahre Sympathie als für Ulrich. Ich muß dich lieben, weil ich die ändern nicht lieben kann.
Gott und antisozial. Die Liebe zu Ulrich hat von Anfang an Haß und Feindschaft gegen die Welt mobilisiert.
92 Moosbrugger im Irrenhaus. Eine Kartenpartie
Es war ungefähr eine Woche seit dem Besuch vergangen, den Clarisse dem Irrenhaus abgestattet hatte. Der Tag, wo sie Moosbrugger sehen sollte, stand nahe bevor und sie machte den Eindruck, daß sie dem eine Wichtigkeit beimaß wie der Begegnung zweier Herrscher.
«Bring ihm statt deines Gefühls lieber eine Wurst entgegen und Zigaretten» scherzte Siegmund in seiner Art.
Walter ärgerte sich über seinen Schwager und verteidigte plötzlich Clarisse. «Wenn sie am Klavier bis zur Leidenschaft gespielt hat, aufgeregt ist und Tränen in den Augen hat: ist sie nicht vollkommen im Recht, wenn sie sich weigert, in die Tram zu steigen, auf die Klinik zu fahren und sich dort so zu benehmen, als ob das <nur Musik> und wirkliche Tränen gewesen waren!?» Er weigert sich aber, mitzukommen.
Siegmund scheute Walters Überlegenheit und begnügte sich mit einem gutmütigen Brummen.
Clarisse sagte: «Er hat überhaupt noch nie eine Frau gesehn, immer nur Ersatzweiber. »
Als sie zur elektrischen Bahn gingen, sagte Siegmund: «Vergiß nicht, daß er nur ein Narr ist!» Clarisse drückte ihm als Antwort die Fingernägel in die Hand und blickte strahlend geradeaus.
In der Klinik führte sie Dr. Friedenthal diesmal nicht aus dem Haupt-und Verwaltungsgebäude hinaus; sie durchschritten bloß Gänge, weiß begrüßt von Wärtern und Gehilfen, und zwei von keinen Kranken belegte, aber dafür eingerichtete Zimmer. Dann traten sie in einen dritten großen Raum, in dessen Mitte vier Menschen um einen Tisch saßen; Dr. Friedenthal trat in einer leise auffallenden Weise aus dem Weg, und als Clarisse aufsah, füllte langsam ihren Blick die breite, ruhige Gestalt Moosbruggers aus.
Was sie erblickte, war allerdings seltsam genug: eine Kartenpartie. Moosbrugger saß, in dunkler, alltäglicher Kleidung mit drei Männern am Tisch, von denen einer den weißen Kittel des Arztes, der zweite einen Straßenanzug und der dritte die etwas abgenutzte Soutane eines Priesters trug; und außer diesen vier Figuren um den Tisch und ihren Holzstühlen war das Zimmer leer bis an die drei hohen Fenster, die auf den Garten sahen. Die vier Männer blickten auf, als sich Clarisse näherte, und Friedenthal stellte vor; Clarisse lernte einen jungen Assistenten der Klinik kennen, deren Seelsorger und einen zu Besuch gekommenen.
Arzt, von dem sie erfuhr, daß er einer der Sachverständigen sei, die bei der Verhandlung vor dem Schwurgericht Moosbrugger für gesund erklärt hatten; die vier Männer spielten Karten zu dritt, so daß immer einer aussetzte und den anderen zusah. Dieser Anblick eines gemütlichen bürgerlichen Kartenspiels schlug für den Augenblick alle Gedanken in Clarisse zu Boden. Sie war auf etwas Erschreckendes 763
vorbereitet gewesen, sei es selbst nur, daß man sie ohne Ende weiter durch solche halbleere Zimmer geführt hätte, um ihr schließlich geheimnisvoll zu erklären, daß Moosbrugger doch wieder nicht zu sehen sei; und nach allem, was sie in den vergangenen Wochen und besonders an diesem letzten Tag erlebt hatte, fühlte sie nun nichts als eine merkwürdige Beklemmung. Sie begriff nicht, daß dieses Kartenspiel von Dr. Friedenthal mit den anderen verabredet war, um Moosbrugger unbefangen beobachten zu können, es kam ihr wie ein würdeloses Spiel von Teufeln mit einer Seele vor, und sie glaubte in eisigleeren Gefilden der Hölle zu sein. Zu ihrem Entsetzen stand Moosbrugger stramm und galant auf und kam auf sie zu; Friedenthal stellte auch ihn vor, und Moosbrugger nahm mit seiner Tatze ihre unsichere Hand und machte eine stumme, schnelle Verbeugung wie ein großer Junge.
Als das geschehen war, bat Friedenthal, daß man sich nicht stören lassen möge, und erläuterte, daß die gnädige Frau aus Chikago gekommen sei, um die Einrichtungen der Klinik zu studieren, und sich überzeugen werde, daß deren Gäste so gut aufgehoben seien wie nirgends auf der Welt.
«Pik war gespielt, nicht Karo, Herr Moosbrugger!» sagte der Anstaltsarzt, der seinen Schützling nachdenklich beobachtet hatte. In Wahrheit, Moosbrugger war es angenehm gewesen, daß Friedenthal in Gegenwart der Fremden von ihm als einem Gast der Klinik und nicht als einem Kranken gesprochen hatte; er würdigte das, irrte sich deshalb in den Karten, steckte aber den. Tadel wegen des Ausspielens mit einem großmütigen Lächeln ein. Gewöhnlich spielte er achtsamer als ein Falke. Er hielt mit Ehrgeiz darauf, seinen gelehrten Gegnern nur durch das Glück der Karten und niemals durch schlechteres Spiel zu unterliegen.
Diesmal gestattete er sich nach einer Weile aber auch noch, seine Stiche englisch zu zählen, denn dazu war er bis dreißig imstande, und er hatte verstanden, daß Clarisse aus Amerika gekommen sei. Ja, etwas später legte er sogar seine Karten ganz hin, stemmte die Fäuste gegen den Tisch und lehnte seinen mächtigen Rücken so breit zurück, daß es ringsum im Holz knackte, und begann eine umständliche Erzählung aus seiner Gefängniszeit. «Sie können es mir glauben, meine Herrn - » fing er sie an, denn er hatte Erfahrung: will man auf Frauen Eindruck machen, so muß man so tun, als ob man sie gar nicht wahrnähme, zumindest am Anfang; das hatte ihm noch jedesmal bei ihnen Erfolg eingetragen.
Der junge Anstaltsarzt begleitete Moosbruggers breitspurige Erzählung mit Lächeln, in dem Gesicht des Pfarrers kämpfte Bedauern mit Heiterkeit, und der mitspielende fremde Arzt, der Moosbrugger beinahe schon an den Galgen gebracht hatte, munterte ihn von Zeit zu Zeit durch beizende Zwischenrufe auf. Der Riese war ihnen allen durch seine protzige und doch gewöhnlich grundanständige Art sich zu geben angenehm geworden; was er sagte, hatte Hand und Fuß, wenn auch nicht gerade immer an den rechten Stellen, und namentlich der geistliche Herr hatte ihn sündhaft liebgewonnen. Wenn er sich an die tierischen Verbrechen erinnerte, deren dieser lammfromme Mann fähig war, so schlug er erschrocken in Gedanken ein Kreuz, als ob er sich auf einer verwerflichen Lässigkeit ertappe, demütigte sich vor der Unerforschlichkeit Gottes und sagte sich, daß man eine so verwickelte Angelegenheit dem Willen des Herrn überlassen müsse. Daß sich dieser Wille als Werkzeug wie zweier gegeneinander wirkender Hebel, von denen sich vorläufig nicht wissen ließ, welcher stärker sein werde, der beiden mitspielenden Ärzte bediente, war dem geistlichen Herrn bekannt.
Zwischen den beiden Medizinern bestand eine fröhliche Gegnerschaft. Als Moosbrugger einen Augenblick den Faden seiner Erzählung verlor, unterbrach ihn Dr. Pfeiffer, der zu Besuch gekommene ältere von ihnen, denn auch mit den Worten: «Genug geredet, Moosbrugger, und an die Karten, sonst hat der Herr Assistent zu früh seine Diagnose fertig!» Moosbrugger erwiderte sofort diensteifrig: «Wenn der Herr Doktor spielen wollen, können wir ja wieder spielen!» Clarisse hörte es mit Staunen. Der jüngere der beiden Ärzte lächelte aber ungerührt dazu. Es war ein offenes Geheimnis, daß er sich bemühte, ein unantastbares Bild von Moosbruggers Unzurechnungsfähigkeit zu gewinnen. Er sah blond, gewöhnlich und unsentimental aus, und sein Gesicht war durch die Spuren einiger Studentenmensuren nicht gerade geistvoller geworden; aber das Selbstbewußtsein der Jugend hieß ihn, in der Frage von Moosbruggers Schuld und Straffähigkeit die ärztliche Auffassung mit einem Eifer vertreten, der die übliche Halbheit verabscheute. Er hätte nicht genau sagen können, worin die ärztliche Auffassung bestehe. Sie ist eben anders. Eine gewöhnliche Trunkenheit ist zum Beispiel für sie eine echte Geisteskrankheit, die von selbst ausheilt, und daß Moosbrugger teils ein Ehrenmann, teils ein Lustmörder war, bedeutete nach ihren Begriffen einen Triebwettstreit, bei dem es sich von selbst verstand, daß er sich jeweils im Sinne des stärkeren oder nachhaltigeren Triebs entscheiden mußte. Wenn andere das nun einen freien Willen und eine gute oder böse sittliche Entscheidung nennen 764
mögen, so ist es ihre Sache. «Wer gibt?» fragte er.
Es zeigte sich, daß er selbst die Karten zu mischen und auszuteilen hatte. Während er es tat, wandte sich Dr.
Pfeiffer mit der Frage an Clarisse, welches Interesse die «Frau Kollegin» herführe. Dr. Friedenthal hob vorbeugend die Hand und riet: «Sagen Sie, um Gotteswillen, nichts von Heilkunde, die deutsche Sprache hat kein zweites Wort, das dieser Arzt so wenig hören möchte!» Es war die Wahrheit und bot den Vorteil, daß es die unberechtigte Besucherin vor den anderen als Ärztin erscheinen ließ, ohne daß Friedenthal das ausdrücklich behaupten mußte. Er lächelte zufrieden. Dr. Pfeiffer quittierte die Neckerei mit einem geschmeichelten Grinsen. Er war ein schon älterer kleiner Mann, an dessen oben abgeplattetem, nach hinten in die Tiefe gewölbtem Schädel ungepflegte Bart-und Haarstummel hingen; die Nägel an seinen Fingern waren ölig von Zigaretten und Zigarren und hielten am Rand einen schmalen Schmutzstreifen fest, obwohl sie in ärztlicher Weise ganz kurz geschnitten erschienen. Man sah es jetzt deutlich, weil die Spieler inzwischen ihre Karten aufgenommen hatten und sie sorgsam ordneten. «Ich passe» erklärte Moosbrugger.
«Ich spiele» Dr. Pfeiffer, «Gut» der junge Arzt; der Geistliche sah dieses Mal zu. Das Spiel war matt und nahm ohne Aufregungen seinen Lauf.
Clarisse, die neben Friedenthal abseits stand, versteckte sich ein wenig hinter ihm, hob ihren Mund an sein Ohr und flüsterte, mit dem Blick auf Moosbrugger weisend: «Er hat immer nur Ersatz-Weiber gehabt!»
«Pst! Um Himmelswillen… !» flüsterte Friedenthal flehend zurück und fragte, nahe an den Tisch tretend, laut: «Wer gewinnt?», um die Unvorsichtigkeit zu vertuschen. «Ich verliere» erklärte Pfeiffer.
«Moosbrugger hat hinterlistig gepaßt! Unser junger Kollege will von mir keinen Rat annehmen; es ist mir unmöglich, ihn zu überzeugen, daß es ein verhängnisvoller Irrtum ist, wenn Ärzte glauben, daß kranke Verbrecher in ihre Krankenanstalten gehören». Moosbrugger grinste. Pfeiffer scherzte und setzte das zuvor begonnene Geplänkel mit Friedenthal fort; das Spiel war ohnehin nicht zu retten. «Sie selbst müßten einem solchen jungen Medikus bei Gelegenheit sagen, » bat er ironisch «daß es eine Utopie ist, böse Menschen medizinisch heilen zu wollen, und überdies ein Nonsens, denn das Böse ist nicht nur in der Welt vorhanden, sondern auch unentbehrlich für ihren Fortbestand. Wir brauchen böse Menschen, wir dürfen sie nicht alle für krank erklären — »
«Sie haben keinen Stich mehr» sagte der ruhige junge Arzt und legte die Karten hin. Diesmal lächelte der Geistliche, der zugesehn hatte. Clarisse hatte etwas zu verstehen geglaubt. Es wurde ihr warm. Aber Pfeiffer sah abscheulich aus. «Es ist eine nonsensistische Utopie» witzelte er. Sie kannte sich nicht aus. Es war vermutlich doch nur das würdelose Spiel von Teufeln um eine Seele. Pfeiffer hatte sich eine neue Zigarre angezündet, und Moosbrugger teilte die Karten aus. Er sah zum erstenmal für einen Augenblick zu Clarisse hinüber, und dann wurde er gefragt, was er auf die Spielansagen der ändern zu erwidern habe.
Bei diesem Spiel setzte der Assistent aus. Er schien darauf gewartet zu haben und seine Gedanken ganz langsam zu Worten zusammenzuziehen. «Für einen Naturwissenschaftler» sagte er «gibt es nichts, was seinen Grund nicht in einem Gesetz der Natur hätte. Wenn ein Mensch also ohne vernünftigen äußeren Grund ein Verbrechen begeht, so muß er einen inneren dafür haben. Und den muß ich suchen. Für Dr.
Pfeiffer ist das aber nicht fein genug!» Mehr sagte er nicht, er war rot geworden und sah freundlich verdrossen drein. Der Geistliche und Dr. Friedenthal lachten, Moosbrugger lachte ähnlich wie sie und sah blitzschnell Clarisse an. Clarisse sagte plötzlich: «Es kann einer ja auch ungewöhnliche vernünftige Gründe haben!» Der Assistent sah sie an. Pfeiffer bekräftigte: «Die Frau Kollegin hat vollkommen recht. Und eigentlich verraten Sie schon eine Verbrechernatur, wenn Sie nur voraussetzen, daß es auch vernünftige Gründe für ein Verbrechen gibt!» - «Ach, Unsinn!» erwiderte der Jüngere. «Sie wissen genau, wie ich es meine. » Und wieder zu Clarisse: «Ich rede als Arzt. Wortspaltereien, die vielleicht in der Philosophie oder sonstwo am Platz sein mögen, sind mir widerwärtig!»
Es war bekannt, daß er sich jedesmal, wenn er mit der Vorbereitung eines Fakultätsgutachtens betraut war, wütend über die Zugeständnisse ärgerte, die er einer unmedizinischen Denkart machen, und die unnatürlichen Fragen, die er ihr beantworten sollte. Die Gerechtigkeit ist kein naturwissenschaftlicher Begriff, so wenig wie die aus ihr folgenden Begriffe, und mit Straffähigkeit, freiem Willen, Vernunftsgebrauch, Sinnesverrückung und allem ähnlichen, was über das Schicksal unzähliger Menschen entscheidet, verbindet der Arzt ganz andere Vorstellungen als der Jurist. Da der Jurist ihn weder entbehren will, aus irgendwelchen Gründen, noch vor ihm abdanken will, was begreiflich ist, nehmen sich dann die ärztlichen Sachverständigen vor Gericht nicht selten wie kleine Geschwister aus, denen eine ältere 765
Schwester nicht erlaubt hat, so zu reden, wie es ihnen natürlich ist, obwohl sie doch befiehlt und darauf wartet, daß aus dem Kindermunde die Wahrheit komme. Also nicht aus Gefühlsweichheit, sondern aus blankem Ehrgeiz und schneidigem Eifer für seine Wissenschaft neigte der junge Forscher mit den Narben dazu, die Personen seiner Gutachten dem Gehirn der Gerichte möglichst zu entziehn, und da es nur dann Aussicht auf Erfolg darbot, wenn sie sich sehr deutlich und bestimmt einem bekannten Krankheitsbild einordnen ließen, sammelte er auch bei Moosbrugger alles, was für ein solches sprach. Genau das Gegenteil davon tat aber Dr. Pfeiffer, obwohl er nur gelegentlich auf die Klinik kam, um sich nach Moosbrugger zu erkundigen, so wie ein Sportsmann, der sein eigenes Match schon gekämpft hat, auf der Tribüne sitzt und den anderen zusieht. Er galt als besonderer Kenner der Natur geisteskranker Verbrecher, wenn auch als ein etwas wunderlicher. Als Arzt übte er höchstens eine Gefälligkeitspraxis aus, und die nur unter unehrerbietigen Reden gegen den Wert seiner Wissenschaft; er lebte in der Hauptsache von den bescheidenen, aber regelmäßigen Einkünften aus seinet Gutachtertätigkeit, denn er war bei Gericht sehr beliebt wegen seines Verständnisses für die Aufgaben der Justiz. Er war so sehr Kenner, daß er vor lauter Wissenschafdichkeit seine Wissenschaft leugnete, ja das menschliche Wissen überhaupt geringschätzte; im Grunde tat er es vielleicht nur, weil er sich auf diese Weise ungezügelt seinen persönlichen Neigungen überließ, die ihn dazu anstachelten, jeden Verbrecher, dessen geistige Gesundheit in Frage stand, mit großer Geschicklichkeit wie eine Kugel zu behandeln, die man durch die Löcher der Wissenschaft hindurch zum Ziel der Bestrafung treiben müsse. Man erzählte allerhand Geschichten von ihm, und Friedenthal, der wohl befürchtete, daß die übliche Unterhaltung zwischen den beiden Gegnern eine Auseinandersetzung zutage fördern könnte, die diesmal besser ungehört bliebe, nahm rasch das Wort, indem er sich gleich nach dem jungen Arzt an Clarisse wandte und ihr erläuterte, was dieser unter «Wortspaltereien» verstehe. «Nach der Meinung unseres geschätzten Gastes Doktor Pfeiffer ist nämlich niemand fähig, über die Schuld eines Menschen zu entscheiden» sagte er mit besänftigendem Blick und Lächeln: «Wir Ärzte nicht, weil Schuld, Zurechnungsfähigkeit und all das durchaus keine medizinischen Begriffe sind, und die Richter nicht, weil man ohne Kenntnis der wichtigen Beziehungen zwischen Körper und Geist doch auch wieder nicht über solche Fragen urteilen kann. Bloß die Religion verlangt eindeutig die persönliche Verantwortung einer jeden Sünde vor Gott, und so laufen solche Fragen schließlich immer auf religiöse Überzeugungsfragen hinaus -» Er hatte mit seinen letzten Worten sein Lächeln dem Pfarrer zugewandt und hoffte, dem Gespräch durch diese Neckerei eine harmlose Wendung zu geben. Der Pfarrer wurde denn auch etwas rot und lächelte verlegen zurück, und Moosbrugger drückte seine volle Billigung der Theorie, daß er vor das Forum Gottes und nicht vor die Psychiatrie gehöre, durch einen unmißverständlichen Brummlaut aus. Aber plötzlich sagte Clarisse: «Vielleicht ist der Kranke hier, weil er einen ändern vertritt. »
Sie sagte es so schnell und unerwartet, daß es verloren ging; einige erstaunte Blicke streiften sie, aus deren Gesicht die Farbe bis auf zwei rote Flecke gewichen war, und dann lief das Gespräch in seiner eigenen Richtung weiter.
«Doch nicht ganz!» gab Dr. Pfeiffer Friedenthal zur Antwort und legte die Karten nieder. «Wir können ja einmal deutlich darüber reden, was es bedeutet, dieses: <Ich rede als Arzt>, von dem unser Kollege so große Stücke hält: Man legt uns einen aus dem Leben entstandenen <Fall> auf die Klinik; wir vergleichen ihn mit dem, was wir wissen, und den Rest, einfach das, was wir nicht wissen, einfach unsere Unwissenheit, muß der Delinquent verantworten. Ist es so oder nicht?»
Friedenthal zuckte staatsmännisch die Achseln und schwieg.
«Es ist so» wiederholte Pfeiffer. «Trotz allen Pomps der Gerechtigkeit wie der Wissenschaft, trotz allen Haarspaltens, trotz unserer Perücken von gespaltenen Haaren, läuft das Ganze zum Schluß doch nur darauf hinaus, daß der Richter sagt: <Ich hätte das nicht getan>, und daß wir Psychiater hinzufügen: < Unsere Geisteskranken hätten sich auch nicht so benommen !> Aber darunter, daß wir mit unseren Begriffen nicht besser in Ordnung sind, darf nicht die menschliche Gesellschaft zu Schaden kommen. Ob der Wille eines einzelnen Menschen frei oder unfrei ist, der Wille der Gesellschaft ist in dem, was sie als gut und bös behandelt, frei. Und ich für meine Person wünsche nicht im Sinn meiner Privatgefühle, sondern im Sinn der Gesellschaft gut zu sein!» Er zündete seine ausgegangene Zigarre von neuem an und strich sich die Barthaare vom feucht gewordenen Mund.
Auch Moosbrugger strich seinen Schnurrbart und klopfte mit dem Rand seines zusammengefalteten Kartenpakets rhythmisch auf die Tischplatte.
766
«Also, wollen wir weiterspielen oder nicht?» fragte der Assistent geduldig.
«Natürlich wollen wir weiterspielen» entgegnete Pfeiffer und nahm seine Karten auf. Sein Auge begegnete dem Moosbruggers. «Moosbrugger und ich sind übrigens der gleichen Meinung» fuhr er fort, mit sorgenvoller Miene sein Blatt betrachtend. «Wie war es, Moosbrugger? Der Herr Rat bei Gericht hat Sie doch verschiedentlich gefragt, warum Sie sich Sonntagskleider angezogen haben und ins Wirtshaus gegangen sind - »
«Und rasieren lassen» verbesserte Moosbrugger; Moosbrugger konnte jederzeit darüber sprechen wie über eine Staatshandlung.
«In Ruhe rasieren lassen» wiederholte Pfeiffer. «Er hätte das nicht getan! hat er Ihnen vorgeworfen. Na also.
» Er wandte sich an alle. «Ganz das gleiche tun wir, wenn wir sagen: unsre Kranken hätten das nicht getan.
Beweist man viel auf diese Art?» Seine Worte waren diesmal brummend und gemütlich und nur ein Echo seiner vorangegangenen leidenschaftlicheren Verwahrung, denn das Spiel hatte nun wieder angefangen, in der Runde zu kreisen.
Auf Moosbruggers Gesicht war noch lange ein gönnerhaftes Lächeln wahrzunehmen, das sich erst im Spieleifer auflöste, wie die Falten in einem steifen Stoff mit der Dauer des Gebrauchs weichen. So hatte Clarisse nicht ganz unrecht, wenn sie den Kampf mehrerer Teufel um eine Seele zu sehen glaubte, aber die dabei herrschende Gemütlichkeit täuschte sie, und besonders wurde sie doch durch die Art verwirrt, in der sich Moosbrugger benahm. Er mochte anscheinend den jüngeren Arzt, der ihm helfen wollte, nicht gut leiden, duldete nur ungern seine Bemühungen und wurde unruhig, wenn er sie spürte. Vielleicht handelte er dabei nicht anders als jeder einfache Mensch, der es als frech empfindet, wenn sich einer zu angelegentlich um ihn bekümmert, jedoch war er jedesmal entzückt, wenn Dr. Pfeiffer sprach. Vermutlich war auch Entzückung nicht ganz das, was er in diesem Fall äußerte, denn ein solcher Zustand kam an Moosbruggers auf Würde und Haltung abgetönter Gestalt nicht vor, und viel von dem, was die Ärzte untereinander redeten, blieb auch ihm unverständlich; aber wenn schon geredet werden mußte, dann so, wie es von Dr. Pfeiffer geschah: das war im ganzen unbezweifelbar als seine Meinung zu sehen. Der Zusammenstoß der beiden Ärzte hatte ihn aufgemuntert, er begann seine Stiche wieder laut und englisch zu zählen und streute in auffälliger Wiederholung von Zeit zu Zeit die Bemerkung: «Wenn es sein muß, muß es eben sein!» ins Gespräch oder ins Schweigen. Sogar der gute Pfarrer, der schon manches gesehen hatte, schüttelte zuweilen den Kopf. Aber der Spott auf die irdische Gerechtigkeit hatte ihm nicht übel gefallen, und er freute sich darüber, daß sich die Gelehrten der weltlichen Wissenschaft nicht einigen konnten. Er erinnerte sich nicht mehr, wie alle” diese Fragen nach kanonischem Recht zu entscheiden gewesen wären, von denen die Rede war, aber er dachte sanft: «Laßt sie gewähren, das letzte Wort spricht Gott», und da er sich dieser Überzeugung wegen wenig an dem Wortgefecht beteiligte, gewann er im Tarock.
So bestand zwischen diesen vier Männern ein recht herzliches Einvernehmen. Wohl war Moosbruggers Kopf dabei als Preis ausgesetzt, aber das stört nicht im geringsten, solange jeder vollauf mit dem beschäftigt ist, was er vorher zu tun hat; denken doch auch die Männer, die mit dem Schmieden, Schleifen und Verkaufen von Messern beschäftigt sind, nicht unausgesetzt an das, was daraus werden kann. Überdies fand Moosbrugger, als der einzige, der die Tötung eines anderen Menschen selbst und unmittelbar kennengelernt hatte und dem sie auch bevorstand, daß sie nicht das Schlimmste sei, was einem Ehrenmann widerfahren könne. Das Leben ist der Güter höchstes nicht, sagt Schiller: das hatte Moosbrugger von Dr.
Pfeiffer gehört, und es hatte ihm recht gut gefallen; und so, wie er, je nachdem sein Wesen angerufen und gewendet wurde, rührend und eine Bestie sein konnte, waren eben auch die anderen als Freunde und Henker in zwei verschiedene Wirkungskreise gespannt, die miteinander kaum eine Berührung hatten. Aber Clarisse beunruhigte das sehr. Im ersten Augenblick hatte sie schon gesehen, daß hier unter dem Schutz der Fröhlichkeit etwas Verheimlichtes vor sich gehe; aber sie hatte das nur in unklarem Bild erfaßt und, verwirrt von dem Inhalt der Reden, begriff sie erst jetzt, aber begriff jetzt nicht nur, sondern sah es auch mit warnender Eindringlichkeit, ja in seiner vollen Unheimlichkeit beständig vor sich, daß diese Männer Moosbrugger verstohlen beobachteten. Moosbrugger, der Ahnungslose, aber beobachtete sie, Clarisse. Von Zeit zu Zeit kam er heimlich mit seinen Augen daher und trachtete ihren Blick zu überraschen und zu fangen. Der Besuch dieser schönen und weitgereisten Frau — ein wenig zu unbedeutend kamen ihm bloß die Magerkeit und Kleinheit Clarissens vor — schmeichelte ihm sehr trotz allen Ehrungen, die ihm ohnehin widerfuhren. Er bezweifelte, wenn er ihren merkwürdigen Blick auf sich gerichtet fand, nicht einen 767
Augenblick, daß seine buschbärtige Männlichkeit sie verliebt gemacht habe, und zuweilen entstand ein Lächeln unter seinem Schnurrbart, das diesen Sieg bestätigen sollte und mit seiner an Dienstmädchen erprobten Überlegenheit auf Clarisse ganz eigentümlich wirkte. Eine unaussprechliche Ohnmacht preßte ihr Herz zusammen. Sie hatte den Eindruck, Moosbrugger befinde sich in einer Falle, und ihr Fleisch am Leibe kam ihr wie ein ihm vorgeworfener Köder vor, während umher die Jäger lauerten.
Kurz entschlossen legte sie die Hand auf Friedenthals Arm und erklärte ihm, daß sie genug gesehen habe und sich ermüdet fühle.
93 Clarisse und Friedenthal
«Was haben Sie denn eigentlich damit gemeint, daß Sie sagten, er habe stets nur <Ersatzweiber> gehabt!»
fragte Friedenthal, nachdem sie das Zimmer verlassen hatten.
«Nichts!» erwiderte Clarisse, die von dem Erlebten noch verstört war, mit einer abweisenden Gebärde.
Friedenthal wurde schwermütig und meinte, daß er die verwunderliche Darbietung rechtfertigen müsse.
«Im Grunde sind wir natürlich alle unzurechnungsfähig» seufzte er. Clarisse erwiderte: «Er am wenigsten!»
Friedenthal lächelte über den «Scherz». «Haben Sie sich sehr gewundert?» fuhr er scheinbar erstaunt fort.
«Es sind immerhin einzelne Züge an Moosbrugger recht schön zutage getreten. »
Clarisse blieb stehn. «Sie dürfen das nicht gewähren lassen!» forderte sie entschieden.
Ihr Begleiter lachte und befleißigte sich, seinen Geist in Szene zu setzen. «Was wollen Sie!» rief er aus.
«Dem Mediziner ist eben alles Medizin, und dem Juristen alles Jus! Das Gerichtswesen geht letzten Endes von dem Begriff <Zwang> aus, der dem gesunden Leben angehört, aber ohne Bedenken meist auch auf Kranke anzuwenden ist. Ebenso ist aber der Begriff <Krankheit> mit seinen Konsequenzen, von dem wir Ärzte ausgehen, auf das gesunde Leben anwendbar. Das wird niemals unter einen Hut gebracht werden!»
«Das gibt es doch nicht!» rief Clarisse aus.
«Doch, das gibt es!» beschwerte sich sanft der Arzt. «Die menschlichen Wissenschaften haben sich zu verschiedenen Zeiten und zu Zwecken entwickelt, die miteinander nichts zu tun haben. So haben wir von der gleichen Sache die verschiedensten Begriffe. Zusammengefaßt ist das höchstens im Konversationslexikon. Und ich wette, daß nicht nur ich und der Pfarrer, sondern auch Sie und beispielsweise Ihr Herr Bruder oder Ihr Gatte und ich von jedem Wort, das wir dort aufschlügen, jeder nur eine Ecke des Inhalts und natürlich jeder eine andere kennten. Besser hat die Welt das nicht zustande gebracht!» — Friedenthal hatte sich über Clarisse gelehnt, die in einer Fensternische stand, und stützte seinen Arm gegen das Fensterkreuz. Etwas echtes Empfinden klang aus seinen Worten. Er war ein Zweifler.
Die Unsicherheit seiner Wissenschaft hatte ihm die Augen geöffnet für die Unsicherheit alles Wissens. Er wäre gern eine Persönlichkeit gewesen und ahnte in seinen besten Stunden, daß ihm das lähmende Durcheinander dessen, worüber es Wahrheit gebe, noch nicht gebe, oder niemals geben werde, nicht mehr gestatte als eine unfruchtbare und eitle Subjektivität. Er seufzte und fügte hinzu: «Manchmal ist mir zumute, die Fenster dieses Hauses seien nichts als Vergrößerungsgläser… !»
Clarisse fragte ernst: « Können wir noch ein wenig zu Ihnen gehn? Hier vermag ich nicht zu sprechen. »
Unter dem Schild ihrer Wimpern schössen zwei Pfeile hervor. Friedenthal löste langsam die Hand vom Fenster und den Blick von ihrem Auge. Dann löste er auch seine Gedanken aus ihrer geoffenbarten Versunkenheit und sagte, während sie den Fliesengang entlang weiterschritten: «Dieser Pfeiffer ist eine sehr merkwürdige Figur. Er führt ein Leben ohne Freuden und Geliebte, aber er hat die größte Sammlung von Bildern, Andenken, Prozeßberichten und allem, was mit den Todesurteilen der letzten zwanzig oder dreißig Jahre zusammenhängt. Ich habe sie einmal gesehn. Merkwürdig. Laden voll seiner <Opfer>: geputzte und rohe, vom Verbrechen gezeichnete und ganz alltägliche Gesichter von Männern und Frauen lächeln einem aus vergilbtem Zeitungspapier und verblaßten Lichtbildern entgegen oder blicken in ihre unbekannte Zukunft. Dazu Kleiderreste, Strick-Enden - richtige <Galgenstricke>, Spazierstöcke, Giftflaschen: kennen Sie das Museum in Zermatt, wo das aufbewahrt wird, was von denen, die ringsum von den Bergen abstürzen, übrigbleibt? Einen ähnlichen Eindruck macht es. Er hat offenbar ein zärtliches Verhältnis dazu.
Man kann es auch merken, wenn er von den <Opfern> erzählt, zu deren gesetzlicher Ermordung, oder wie Sie es nennen wollen, er selbst beigetragen hat. Ein guter Beobachter gewahrt da vielleicht etwas wie eine Rivalität, Gehirntriumph, Geschlechtslust… Alles natürlich gänzlich innerhalb der Grenzen des Erlaubten 768
und wissenschaftlich Zulässigen. Aber man kann wohl sagen, daß die Beschäftigung mit der Gefahr gefährlich macht - »
«Er jagt sie?» fragte Clarisse gepreßt.
«Ja, man kann fast sagen, er ist ein Jäger, der sein Wild liebt. »
Clarisse erstarrte: sie wußte nicht, wie ihr geschah. Friedenthal hatte sie auf einem teilweise anderen Weg zurückgeführt und öffnete bei seinen Worten die Türe eines Saals, den sie durchschreiten mußten und der das Herrlichste zu enthalten schien, was sie je gesehen hatte. Es war ein großer Saal, und sie glaubte in ein lebendes Blumenbeet zu blicken. Es war der Saal der hysterischen Frauen, den sie durchschritten. Sie standen einzeln und in kleinen Gruppen umher und lagen ringsum in den Betten. Sie schienen alle blütenweiße Kleider zu tragen und aufgelöstes nachtschwarzes Haar zu haben. Clarisse konnte keine Einzelheiten erfassen, das Ganze glich etwas unsagbar Schönem und dramatisch Bewegtem. «Schwestern!» fühlte Clarisse gewaltig und weich in dem Augenblick, wo ihr und Friedenthal Aufmerksamkeit in unregelmäßigen Zügen zuströmte; sie hatte das Empfinden, mit einem Schwärm wundervoller Liebesvögel höher auffliegen zu können, als es alle Erregungen des Lebens und der Kunst gewähren. Ihr Begleiter kam mit ihr nur langsam vorwärts, denn allerhand demütig Verliebte näherten sich ihm oder strichen ihm in den Weg mit einer Stärke der erotischen Sanftheit, wie sie Clarisse noch nie erlebt hatte. Friedenthal richtete begütigende oder strenge Worte an diese und schob sie mit weichen Bewegungen von sich, und in den Betten lagen währenddessen andere Frauen in ihren weißen Jacken und hatten das Haar dunkel über die Polster gebreitet, Frauen, die mit Bauch und Beinen unter ihrer dünnen Decke das Drama der Liebe aufführten. Sündengestalten. Mit einem Mitspieler gepaart, der unsichtbar blieb, aber fühlbar da war, gegen den sie in übertriebener Abwehr die Arme stemmten, der übertrieben die Wogen ihres Busens aufwühlte, dem sich der Mund mit übermenschlicher Anstrengung entzog und der Bauch mit übermenschlichem Verlangen entgegenwölbte, während die Augen inmitten dieses obszönen Schauspiels unschuldig mit der bezaubernden leblosen Schönheit großer dunkler Blumen leuchteten.
Clarisse war noch tief verwirrt von diesem Blumenbeet der Liebe und der Leiden, von seinem krankhaften und doch berauschenden Duft, seinem Schimmer, dem Hindurchgleiten und Nicht-Stehenbleibendürfen, als sie schon in Friedenthals Zimmer saß und von ihm mit einem unermüdlichen Lächeln betrachtet wurde.
Aus ihrer fast räumlich tiefen Abwesenheit zurückkehrend und sich sammelnd, klammerte sie sich an etwas, das sie mit rauher, fast mechanischer Stimme vorbrachte: «Erklären Sie ihn für unzurechnungsfähig!»
Friedenthal sah sie erstaunt an. «Meine Gnädige, » fragte er scherzhaft betont «welches Interesse haben Sie daran?»
Clarisse erschrak, weil ihr keine Antwort einfiel. Aber da ihr nichts einfiel, hatte sie plötzlich schlicht gesagt: «Weil er nichts dafür kann!»
Dr. Friedenthal musterte sie jetzt schärfer: «Woher wissen Sie das so sicher?»
Clarisse hielt seinem Blick kraftvoll stand und antwortete hochmütig, als wäre sie nicht sicher, ob sie ihn einer solchen Mitteilung würdigen dürfe: «Er ist ja doch nur hier, weil er einen anderen vertritt!» Sie zuckte belästigt die Schultern, sprang auf und sah zum Fenster hinaus. Als sie aber nach einer kleinen Weile keine Wirkung davon verspürte, drehte sie sich wieder um und gab klein bei. «Sie können mich nicht verstehn: er erinnert mich an jemand!» bemerkte sie, die Wahrheit halb abschwächend. Sie wollte nicht zu viel sagen und hieb sich zurück.
«Aber das ist doch kein Grund für die Wissenschaft!?» erwiderte Friedenthal gedehnt.
«Ich habe gedacht, Sie werden es tun, wenn ich Sie darum bitte!» sagte sie jetzt einfach.
«Sie nehmen das zu leicht» entgegnete der Arzt vorwurfsvoll. Er lehnte sich faustisch in seinen Sessel zurück und fuhr mit einem Blick auf sein Studio fort: «Haben Sie sich überhaupt überlegt, ob Sie dem Mann etwas Gutes erweisen, wenn Sie ihm statt einer Bestrafung die Internierung wünschen?! Der Aufenthalt in diesen Mauern ist kein Vergnügen… !» Er schüttelte schwermütig das Haupt.
Seine Besucherin erwiderte klar: «Zuerst muß der Henker weg von ihm!»
«Sehen Sie, » meinte Friedenthal «meiner Ansicht nach ist Moosbrugger ja wohl Epileptiker. Er weist aber auch Züge von Paraphrenia systematica und vielleicht von Dementia paranoides auf. Er ist eben in jeder Hinsicht ein Grenzfall. Seine Anfälle, bei denen qualvoll beängstigende Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen gewiß eine Rolle spielen, können Minuten bis Wochen dauern, aber sie übergehen oft unmerklich in volle Geistesklarheit, wie sie auch ohne feste Grenze aus ihr zu entstehen vermögen, und 769
außerdem ist selbst im paroxysmalen Stadium das Bewußtsein nie ganz aufgehoben, sondern nur in verschiedenen Graden vermindert. Man könnte also wohl etwas für ihn tun, aber der Fall ist durchaus nicht so, daß man als Arzt seine Verantwortlichkeit ausschließen müßte!»
«Also werden Sie etwas für ihn tun?!» drängte Clarisse.
Friedenthal lächelte. «Ich weiß es noch nicht. »
«Sie müssen!»
«Sie sind sonderbar» erwiderte Friedenthal gedehnt. «Aber - man könnte schwach werden. »
«Sie sind ja keinen Augenblick im Zweifel darüber, daß der Mann krank ist!» versicherte die junge Frau mit Nachdruck.
«Das natürlich nicht. Aber ich habe doch gar nicht darüber zu urteilen» verteidigte sich der Arzt. «Sie haben es doch schon gehört: Ich soll beurteilen, ob sein freier Wille bei der Tat ausgeschlossen war, ob sein Bewußtsein während der Tat abwesend war, ob er Einsicht in sein Unrecht besaß: lauter metaphysische Fragen, die für mich als Arzt gar nicht so zu stellen sind, bei denen ich aber doch auch auf den Richter Rücksicht nehmen muß!»
Clarisse ging in ihrer Aufregung wie ein Mann im Zimmer auf und ab. «Dann dürfen Sie sich nicht dazu hergeben!» rief sie hart aus. «Dann muß es eben anders versucht werden, wenn Sie gegen den Richter nicht aufkommen können!»
Friedenthal versuchte es auf neue Weise, seine Besucherin von ihren lästigen Ideen abzubringen. «Haben Sie sich eigentlich schon einmal vorgestellt, welche grausame Bestie dieser augenblicklich ruhige Halbkranke sein kann?» fragte er.
«Das kümmert uns jetzt nicht!» gab Clarisse zur Antwort, diesen Versuch kurz abschneidend. «Sie fragen auch bei einer Lungenentzündung nicht, ob Sie einem guten Menschen zum Weiterleben verhelfen! Jetzt haben Sie nur zu verhindern, daß Sie nicht selbst Gehilfe eines Mordes werden!»
Friedenthal hob wehmütig die Hände. «Sie sind ja verrückt!» sagte er betrübt und unhöflich.
«Man muß den Mut dazu haben, wenn die Welt wieder recht werden soll! Es muß von Zeit zu Zeit Menschen geben, die nicht mitlügen!» versicherte Clarisse lebhaft.
Er hielt es für einen geistvollen Scherz, den er in der Eile nicht ganz verstanden habe. Diese kleine Person hatte von Anfang an Eindruck auf ihn gemacht, zumal da er, geblendet durch General von Stumm, ihre gesellschaftliche Stellung überschätzte; und einen etwas verwirrten Eindruck machen ja heutzutage viele junge Menschen. Er fand, daß sie etwas Besonderes sei, und fühlte sich von ihrem unbefangenen Eifer unruhig berührt als von etwas rücksichtslos, ja vornehm Strahlendem. Allerdings hätte er diese Ausstrahlung vielleicht nicht nur als die eines Diamanten ansehn sollen, denn sie hatte auch etwas von einem überheizten Ofen: etwas durchaus Ungemütliches, das heiß und frostig machte. Er prüfte unauffällig seine Besucherin: Stigmata erhöhter Nervosität ließen sich zweifellos an ihr wahrnehmen. Aber wer hätte heutzutage solche Stigmata nicht! Friedenthal erging es nicht anders, als es üblich ist - denn bei unsicheren Vorstellungen von dem, was wirklich bedeutend sei, hat das Verwirrte immer die gleiche Chance, es zu übertreffen, die der Hochstapler in einer unsicheren Gesellschaft hat -, und obwohl er ein recht guter Beobachter war, hatte er sich stets wieder beruhigt, was immer auch Clarisse mit Reden anstellte.
Schließlich kann man doch einen jeden Menschen als das verkleinerte Probestück eines Geisteskranken auffassen; das ist geradeso Sache der Theorie, wie man ihn einmal psychologisch betrachtet und ein andermal chemisch: und da seit Clarissens letzten Worten ein Schweigen klaffte, suchte er wieder
«Kontakt» und trachtete zur gleichen Zeit abermals, sie von ihren unbequemen Forderungen abzulenken.
«Haben Ihnen eigentlich die Frauen, bei denen wir gewesen sind, gefallen?» fragte er.
«Oh, wunderbar!» rief Clarisse aus. Sie stand vor ihm still, und die Härte war plötzlich aus ihrem Gesicht gewichen. «Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll» fügte sie sanft hinzu. «Dieser Saal ist wie ein ungeheures Vergrößerungsglas, über Triumph und Leiden einer Frau gehalten!»
Friedenthal lächelte befriedigt. «Nun sehen Sie es» sagte er. «Nun werden Sie es mir wohl auch zubilligen, daß mir die Anziehung, die das Kranke ausübt, nicht fremd ist. Aber ich muß Grenzen einhalten, muß trennen. Dagegen wollte ich Sie fragen, gnädige Frau, ob Sie schon einmal bedacht haben, daß auch die Liebe eine Störung des Geistes ist. Es gibt doch kaum einen Menschen, der nicht in seinem geheimsten und aufrichtigsten Liebesleben etwas verbürge, das er nur dem Mitschuldigen zeigt, Tollheiten, Schwächen: sagen wir ruhig Perversität und Wahn. In der Öffentlichkeit muß man dagegen einschreiten, im inneren 770
Leben kann man sich aber nicht immer mit der gleichen Strenge gegen etwas Derartiges wappnen. Und Nervenärzte - schließlich ist die Heilkunde doch auch eine Kunst - werden ihren größten Erfolg dann haben, wenn sie zu dem Material, in dem sie arbeiten, in einem gewissen Sympathieverhältnis und Rapport stehen.
» Er hatte die Hand seiner Besucherin ergriffen, und Clarisse überließ ihm deren äußerste Fingerglieder, die sie zwischen seinen Fingern so weich und ohnmächtig liegen fühlte, als wären sie von ihr gefallen wie die Blätter, die eine Blüte verliert. Sie war plötzlich völlig Frau, voll dieser zarten Willkür gegenüber den Bitten eines Mannes, und was sie am Morgen erlebt hatte, war vergessen. Ein lautloser Seufzer öffnete ihre Lippen. Es kam ihr vor, daß sie noch nie oder zuletzt vor ungeheuer langer Zeit so empfunden hätte, und offenbar kam Friedenthal, der ihr selbst keineswegs ungewöhnlich gefiel, in diesem Augenblick etwas von dem Zauber seines Reichs zugute. Aber sie nahm sich zusammen und fragte hart: «Wozu haben Sie sich also entschlossen?»
«Ich muß jetzt meinen Rundgang antreten» antwortete der Arzt «und möchte Sie gerne wiedersehn; aber nicht hier: können wir uns nicht irgendwo treffen?»
«Vielleicht!» entgegnete Clarisse. «Wenn Sie meine Bitte erfüllt haben!»
Ihre Lippen verschmälerten sich, aus ihrer Haut wich das Blut, und die Wangen sahen dadurch rund wie zwei kleine Lederbälle aus, in ihren Augen war zu viel Druck. Friedenthal fühlte sich plötzlich ausgenützt.
Es ist merkwürdig, aber wenn ein Mensch in einem ändern bloß ein Mittel zu einem Zweck sieht, gewinnt er desto leichter das zugangslose Aussehen eines Geisteskranken, je natürlicher es ihm erscheint, daß man ihn berücksichtigen müsse. «Wir sehen hier stündlich Seelenleiden, aber wir müssen uns innerhalb unserer Grenzen halten!» wehrte Friedenthal ab. Er wurde behutsam.
Clarisse sagte: «Gut, Sie wollen nicht. Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag. » Sie stand klein vor ihm, die Beine gespreizt, die Hände hinter sich, und sah ihn mit einem verlegen-spöttischen, drängenden Lächeln an: «Ich werde als Schwester in die Klinik eintreten!»
Der Arzt erhob sich und bat sie, mit ihrem Bruder darüber zu sprechen, der ihr erklären werde, wieviel dazu nötige Bedingungen sie nicht erfülle. Bei seinen Worten wich der hineingepreßte Spott aus ihren Augen, und sie füllten sich mit Tränen. «Dann wünsche ich, » sagte sie, beinahe tonlos vor Aufregung «daß ich als Kranke aufgenommen werde! Ich habe eine Aufgabe!» Weil sie sich fürchtete, ihre Sache zu verderben, wenn sie den Arzt ansehe, blickte sie zur Seite, und ein wenig zur Höhe, und vielleicht irrten ihre Augen auch etwas umher. Ein Schauer erhitzte ihre Haut, die jetzt rot aufblühte. Sie sah nun schön und zärtlichkeitsbedürftig aus, aber es war zu spät; der Ärger über ihre Zudringlichkeit hatte den Arzt ernüchtert und zur Zurückhaltung bestimmt. Er fragte sie nicht einmal mehr aus, denn es erschien ihm ebenso mit Rücksicht auf den General und Ulrich, die sie hergebracht hatten, wie darauf, daß er selbst ihr seither nahezu unzulässige Begünstigungen eingeräumt habe, als das klügste, nicht zuviel von ihr zu wissen. Und nur aus alter ärztlicher Gewohnheit wurde seine Sprache von diesem Augenblick an noch sanfter und nachdrücklicher, während er Clarisse sein Bedauern darüber ausdrückte, ihren zweiten Wunsch erst recht nicht erfüllen zu können, und ihr riet, sich auch mit diesem Wunsch ihrem Bruder anzuvertrauen. Er teilte ihr sogar mit, daß er, ehe das geschehen sei, eine Fortsetzung ihrer Besuche der Klinik nicht zulassen könne, so sehr er sich damit selbst beraube.
Clarisse setzte seinen Reden eigentlich gar keinen Widerstand entgegen. Sie hatte Friedenthal ja schon Schlimmeres zugetraut. «Er ist ein tadelloser medizinischer Bürokrat» sagte sie sich, das erleichterte den Abschied; sie reichte dem Arzt unbefangen die Hand, und ihre Augen lachten verschmitzt. Sie war ganz und gar nicht niedergeschlagen und überlegte sich, die Treppe hinabsteigend, schon andere Möglichkeiten.
94 Die Reise ins Paradies
[Früher Entwurf]
Unten lag ein schmaler Küstenstreifen mit etwas Sand. Boote, heraufgezogen, von oben gesehn wie blaue und grüne Siegellackflecke. Wenn man näher zusah, Ölfässer, Netze, Männer mit hochgestreiften Hosen und braunen Beinen; Fisch-und Knoblauchgeruch; geflickte, wacklige Häuschen. So fern und klein war diese Betriebsamkeit am warmen Sand wie ein Käferleben. Zu beiden Seiten wurde sie von Felsen eingerahmt wie von Steinblöcken, an denen die Bucht hing, und weiter hin stürzte, so weit das Auge sah, bloß die Steilküste mit krausen Einzelheiten in die südliche See; wenn man vorsichtig hinabkletterte, 771
konnte man über abgestürzte Felstrümmer ein Stück ins Meer hinaus gehn, das zwischen den Steinen Wannen und Tröge mit einem warmen Bad und unheimlichen tierischen Genossen füllte.
Als ob sich ein ungeheurer Lärm von Ulrich [in Musils Original hier wie im folgenden A. (nders) = Ulrich]
und Agathe gehoben und weggeflogen wäre, war diese Landschaft. Schwankende weiße Flammen, von der heißen Luft fast aufgesogen und verwischt, standen sie draußen in der See. Irgendwo war es in Istrien oder am Ostsaum von Italien oder am Tyrrhenischen Meer. Sie wußten es selbst kaum. Sie waren in Züge gestiegen und gefahren; es schien ihnen, daß sie kreuz und quer gereist seien, so… daß sie den Weg gar nicht mehr zurückfinden könnten.
Die Erinnerung an Ancona hob sich heraus. Man hätte erwarten können, daß sie ein Verbrechen bedeute und einen großen Schicksalstag: aber das tat sie nicht. Seekrankheit. Sie waren todmüde gekommen und mußten schlafen. Sie trafen am frühen Vormittag ein und verlangten Betten. Aßen Zabaglione im Bett und tranken starken Kaffee, dessen Schwere durch den Schaum gesprudelten Gelbeis wie in die Himmel gehoben war. Ruhten, träumten. Wenn sie eingeschlafen waren, schien ihnen jedesmal, daß die weißen Gardinen vor den Fenstern in einem bezaubernden Strömen erquickender Luft sich hoben und senkten; das waren ihre Atemzüge. Wenn sie wachten, sahen sie zwischen den sich öffnenden Spalten erzblaues Meer, und die roten und gelben Segel der aus dem Hafen oder einfahrenden Barken waren schrill wie dahinschwebende Pfiffe.
Sie verstanden nichts in dieser neuen Welt, und alles war wie Worte eines Gedichts.
Sie waren ohne Pässe abgereist und ein leises Gefühl von Furcht vor irgendeiner Entdeckung und Bestrafung begleitete sie. Als sie im Gasthof abgestiegen waren, hatte man sie für ein junges Ehepaar gehalten und ihnen dieses schöne Zimmer mit letto matrimoniale angeboten, das in Deutschland außer Gebrauch gekommen ist. Sie hatten sich nicht getraut, es zurückzuweisen.
(Nach den Leiden des Körpers die Sehnsucht nach primitivem Glück… Im Vergleich mit der ungeheuren Spannung vorher war es nichts. Und nachträglich war es in jeder Einzelheit ein konspiratorisches Glück.
Und im Augenblick, wo die Widerstände schwankten und schmolzen, hatte Ulrich gesagt: Es ist auch das Vernünftigste, wenn wir nicht widerstehn; wir müssen das hinter uns haben, damit nicht diese Spannung das verfälscht, was wir vorhaben.
Und sie reisten.
Sie waren drei Tage geblieben.
Es muß doch auch so sein: immer wieder voneinander entzückt. Die Skala des Sexuellen mit Variationen durchmessend. >
Wenn man darinlag, bemerkte man rechts von der Tür, hochgelegt und nahe einer Zimmerecke, an einer ganz unverständlichen Stelle ein ovales Fenster von der Größe und Form einer Kabinenluke; es war undurchsichtig-farbig verglast, beunruhigend wie ein heimlicher Beobachtungspunkt, aber von einem leichten Kranz gemalter Rosen umrahmt.
Als sie zum erstenmal auf die Straße traten: (Die Erschöpfung des übermäßigen Genusses im Körper, das aufgezehrte Mark. Es ist beschämend und beglückend. >
Geschwirr von Menschen. Wie ein Sperlingshaufen, der froh im Sand wühlt. Neugierige Blicke ohne Scheu, die sich zuhause fühlten. Im Rücken der vorsichtig in diese Menge gleitenden Geschwister lag noch das Zimmer, lag das tiefe wie ein Windgekräusel auf dem Schlaf treibende Wachsein, die selige Erschöpfung, in der man sich gegen nichts mehr wehren kann, auch gegen sich selbst nicht, aber die Welt ferne wie einen blassen Lärm vor den unendlich tiefen Gängen des Ohrs hört.
Weiter. Scheinbar Koffernomaden. In Wahrheit von der Unruhe getrieben, den Platz zu finden, der würdig des Lebens und Sterbens war.
Vieles war schön und hielt schmeichelnd fest. Aber nirgends sagte die innere Stimme: dies ist das letzte.
Endlich hier. Eigentlich hatte sie ein arbloser Zufall hergeführt, und sie nahmen nichts Besondres wahr. Da meldete sich leise und bestimmt die Stimme. Vielleicht waren sie, ohne es zu wissen, des kreuzenden Reisens müde geworden.
Hier, wo sie geblieben waren, stieg von dem schmalen Strand, zwischen den zwei Felsenarmen der Küste, wie ein an die Brust gedrücktes Gewinde von Blumen und Büschen, kleine Wege in ganz sachtem, langem Anstieg darum gewickelt, ein Stück Gartennatur zu einem kleinen, weißen, am Hang geborgenen, zu dieser Zeit menschenleeren Hotel empor. Noch ein Stück höher kam nichts als schleiriger, in der Sonne 772
flimmernder Stein, zwischen den Füßen gelber Ginster und rote Disteln, von den Füßen gegen den Himmel empor laufend die ungeheure harte Gerade der Plateaukante, und wenn man mit geschlossenen Augen emporgestiegen war, die man jetzt öffnete: plötzlich wie ein donnernd aufgeschlagener Fächer das reglose Meer.
Es ist wohl die Größe des Schwungs in der Umrißlinie; diese weitausfahrende, mit einem Arm umspannende Sicherheit, welche übermenschlich ist? Oder die ungeheure Einöde der lebensfremden Farbe dunkelblau? Oder daß die Himmelglocke nirgends so unmittelbar über dem Leben ruht? Oder Luft und Wasser, an die man nie denkt? Farblose gutmütige Dienstboten sonst. Aber hier bei sich waren sie mit einemmal unnahbar aufgerichtet wie ein königliches Elternpaar.
(Gespräch bei Tisch, umgeben von Kellnern: ) Die Sagen fast aller Völker berichten, daß die Menschheit aus dem Wasser gekommen und die Seele ein Hauch von Luft ist. Sonderbar: die Wissenschaft hat festgestellt, daß der menschliche Leib fast ganz aus Wasser besteht. Man wird klein. Aus der Eisenbahn gestiegen, mit der sie das dichte Netz europäischer Energien durchquert hatten, und noch zitternd von dieser Bewegung heraufgeeilt, standen die Geschwister vor der Ruhe des Meeres und Himmels nicht anders als sie vor hunderttausenden Jahren gestanden wären. Agathe traten die Tränen in die Augen und Ulrich senkte den Kopf.
Arm an Arm, und die Hände verschränkt, stiegen sie in der Abendbläue wieder zu ihrer neuen Heimat ab. In dem kleinen Speisesaal funkelte das Weiß der Tischtücher, und die Gläser standen als weicher Glanz.
Ulrich bestellte Fische, Wein und Früchte, er sprach ausführlich und sorgfältig mit dem Anführer der Kellner darüber: es störte nicht. Die schwarzen Gestalten glitten um sie oder standen an den Wänden.
Besteck und Zähne arbeiteten. Die Geschwister führten miteinander sogar ein Gespräch, um nicht aufzufallen. Ulrich redete jetzt beinahe von dem Eindruck, den sie soeben empfangen hatten. Als ob die Menschen vor hunderttausenden von Jahren wirklich eine unmittelbare Offenbarung empfangen hätten, so ist es; wenn man bedenkt, wie ungeheuer das Erlebnis dieser ersten Mythen ist, und wie wenig seither… Es störte nicht; alles was geschah, war wie in das Rauschen eines Brunnens gebettet.
Ulrich sah lange seiner Schwester zu; sie war nicht einmal schön jetzt; auch das gab es nicht. Auf einer Insel, welche man bei Tag nicht gesehen hatte, leuchtete eine Kette von Häusern auf; das war schön; aber weit weg, die Augen sehen nur flüchtig hin und dann wieder vor sich.
(Sie haben zwei Zimmer verlangt. >
Das Meer im Sommer und das Hochgebirge im Herbst sind die zwei schweren Prüfungen der Seele. In ihrem Schweigen liegt eine Musik, die größer ist als alle andre irdische; es gibt eine selige Qual des Unvermögens, nach ihr zu schreiten, den Rhythmus der Gebärden und Worte so weit zu machen, daß er sich in den ihren fügt; mit dem Atem der Götter halten die Menschen nicht Schritt.
Ulrich und Agathe fanden am nächsten Morgen eine Stelle, oben in den Felsen, und dann wieder hinab, eine weiße winzige Sandbucht zwischen Felsen; als sie hinkamen, war das Gefühl da - wie ein Wesen, das dort lebte, sie erwartet hatte und ihnen entgegensah -, hier weiß kein Mensch mehr von uns; sie waren einen kleinen natürlichen Pfad gewandert, die Küste bog ab, sie überzeugten sich in der Tat, daß das weiß leuchtende Hotel verschwunden war. Es war eine schmale, lange, sonnenbeschienene Felsstufe mit Sand und Steintrümmern. Sie kleideten sich aus. Sie hatten das Bedürfnis, nackt, schutzlos, klein wie Kinder vor der Größe des Meeres und der Einsamkeit das Knie zu beugen und die Arme auszubreiten. Sie schämt[en]
sich beide, weil es so Naturfreude-artig ist[, ] u[nd] erwartet[en], es müßte etwas anderes daraus werden…
aber versteckt hinter Bewegungen der Kleider und des Suchens nach einem Ruheplatz versuchte es jeder für sich.
Die Stille nagelte sie ans Kreuz.
Sie fühlten, daß sie ihr bald nicht mehr standhalten konnten, schreien mußten, wahnsinnig wie Vögel.
Deshalb standen sie mit einemmal nebeneinander, mit den Armen umschlungen. Haut klebte sich an Haut; schüchtern drang durch die große Einöde dieses kleine Gefühl wie eine winzige saftige Blüte, die ganz allein zwischen den Steinen wächst, und beruhigte sie. Sie bogen das Rund des Horizonts wie einen Kranz um ihre Hüften und sahen in den Himmel. Standen jetzt wie auf einem hohen Balkon, ineinander und in das Unsagbare verflochten gleich zwei Liebenden, die sich im nächsten Augenblick in die Leere stürzen werden.
Stürzten. Und die Leere trug sie. Der Augenblick hielt an; sank nicht und stieg nicht. Agathe und Ulrich 773
fühlten ein Glück, von dem sie nicht wußten, ob es Trauer war; und nur die Überzeugung, die sie beseelte, daß sie erkoren seien, das Ungewöhnliche zu erleben, hielt sie davon ab, zu weinen.
Aber sie entdeckten bald, wenn sie nicht wollten, brauchten sie das Haus gar nicht zu verlassen. Eine breite Glastür führte von ihrem Zimmer auf einen kleinen Balkon zum Meer hinaus. Man konnte ungesehn im Türrahmen stehn, die Augen auf dieses niemals Antwortende gerichtet, die Arme schützend umeinander geschlungen. Blaue Kühle, in der die lebendige Wärme des Tags noch nach Mitternacht wie feiner Goldstaub lag, drang von der See. Die Körper, während die Seelen in ihnen hochaufgerichtet waren, fanden einander wie Tiere, die Wärme suchen. Und da gelang den Körpern das Wunder. Ulrich war mit einemmal in Agathe oder sie in ihm.
Agathe sah erschreckt auf. Sie suchte Ulrich außerhalb, aber fand ihn in der Mitte ihres Herzens. Sie sah wohl seine Gestalt außen in der Nacht lehnen, eingehüllt in Sternenlicht, aber das war nicht seine Gestalt, sondern nur deren leuchtende, leichte Hülse; und sie sah die Sterne und die Schatten, ohne zu begreifen, daß sie weit waren. Ihr Leib war leicht und behend, es war ihr, als ob sie in der Luft schwebte. Ein wunderbarer und großer Aufschwung hatte ihr Herz ergriffen, mit solcher Schnelligkeit, daß sie fast noch den leisen Ruck zu fühlen meinte. Die Geschwister sahen in diesem Augenblick einander betroffen an.
So sehr sie seit Wochen jeder Tag darauf vorbereitet hatte, fürchteten sie in dieser Sekunde, den Verstand verloren zu haben. Aber es war alles klar in ihnen. Keine Vision. Eher eine übermäßige Klarheit. Und doch schienen sie nicht nur den Verstand, sondern alle ihre Vermögen verloren und abgelegt zu haben; es regte sich kein Gedanke in ihnen, sie konnten keinen Vorsatz fassen, alle Worte waren weithin zurückgewichen, der Wille leblos; - alles, was sich im Menschen bewegt, war reglos eingerollt wie Blätter in glühender Windstille. Aber es lastete diese todähnliche Ohnmacht nicht auf ihnen, sondern das war, als ob sich eine Grabplatte von ihnen weggewälzt hätte. Was sich hören ließ in der Nacht, schluchzte ohne Laut und Maß, was sie anblickten, war formlos und weiselos und hatte doch aller Formen und Weisen freudenreiche Lust in sich. Es war eigentlich wundersam einfach: Mit den begrenzenden Kräften hatten sich alle Grenzen verloren, und da sie keinerlei Scheidung mehr spürten, weder in sich noch von den Dingen, waren sie eins geworden.
Sie sahen sich vorsichtig um. Es war beinahe ein Schmerz. Sie waren ganz verirrt, weithin von sich, in eine Weite gesetzt, darin sie sich verloren. Sie sahen ohne Licht und hörten ohne Laut. Ihre Seele war so übermäßig gespannt wie eine Hand, die alle Kraft verliert, ihre Zunge war wie abgeschnitten. Aber dieser Schmerz war so süß wie eine wundersame, lebendige Klarheit.
Und weiter wurden sie gewahr, daß die begrenzenden Kräfte in ihnen sich gar nicht verloren, sondern in Wahrheit verkehrt hatten, und mit ihnen hatten sich alle Grenzen verkehrt. Sie bemerkten, daß sie gar nicht stumm geworden waren, sondern sprachen, aber sie wählten nicht Worte, sondern wurden von Worten erwählt; es regte sich kein Gedanke in ihnen, aber die ganze Welt war voll wundersamer Gedanken; sie vermeinten, daß sie, und ebenso die Dinge nicht mehr einander abwehrende und verdrängende, geschlossene Körper seien, sondern geöffnete und verbundene Formen. Der Blick, welcher zeitlebens nur die kleinen Muster verfolgt, welche Dinge und Menschen auf dem ungeheuren Untergrund bilden, war mit einemmal umgekehrt worden, und der ungeheure Grund spielte mit den Gebilden des Lebens wie ein Ozean mit Streichhölzchen.
Agathe lehnte halb ohnmächtig an Ulrichs Brust. Sie fühlte sich in diesem Augenblick von ihrem Bruder in einer so weiten, stillen und reinen Weise umarmt, daß es nichts Ähnliches gab. Ihre Körper bewegten sich nicht und wurden nicht verändert, dennoch floß ein sinnliches Glück durch sie, dessengleichen sie noch nie erlebt hatten. Eine seltsame, ganz übernatürliche Annehmlichkeit. Das war kein Gedanke und keine Einbildung! Wo immer sie sich berührten, sei es an den Hüften, den Händen oder einer Strähne Haars, drangen sie ineinander ein.
Sie waren beide in diesem Augenblick überzeugt, daß sie den Scheidungen des Menschentums nicht mehr Untertan seien. Sie hatten die Stufe des Verlangens überwunden, das seine Energie an eine Handlung und kurze Steigerung ausgibt, und es drang die Erfüllung nicht bloß an den bestimmten, sondern an allen Stellen ihres Leibes auf sie ein, wie Feuer nicht weniger wird, wenn sich anderes Feuer daran entzündet. Sie waren untergegangen in diesem alles ausfüllenden Feuer; waren schwimmend darin wie in einem Meer von Lust, und fliegend darin wie in einem Himmel von Entzücken.
Agathe weinte vor Glück. Wenn sie sich bewegten, fiel die Erinnerung, daß sie noch zwei waren, wie ein 774
Weihrauchkorn in das süße Feuer der Liebe und löste sich darin auf; dies waren vielleicht die schönsten Augenblicke, wo sie nicht ganz eins waren.
Denn sie fühlten stärker als über andren über dieser Stunde einen Hauch von Trauer und Vergänglichkeit, etwas Schatten-und Schemenhaftes, ein Beraubtsein, eine Grausamkeit, eine ängstliche Anspannung Ungewisser Kräfte gegen die Furcht, wieder eingewandelt zu werden. Schließlich, als sie den Zustand nachlassen fühlten, trennten sie sich wortlos und in äußerster Erschöpfung.
Am nächsten Morgen hatten sich Ulrich und Agathe getrennt, ohne etwas zu verabreden, und sahen einander nicht während des ganzen Tags; sie konnten nicht anders; das Gefühl der Nacht strömte noch ab und trug sie mit sich; beide hatten das Bedürfnis, allein mit sich fertig zu werden, ohne zu bemerken, daß dies einen Widerspruch gegen das Erlebnis enthielt, welches sie überwältigt hatte. Sie gingen unwillkürlich nach entgegengesetzten Richtungen weit über Land, machten zu verschiedenen Zeiten Halt, suchten ein Lager im Angesicht des Meers und dachten aneinander.
Man mag es seltsam nennen, daß ihre Liebe sogleich das Bedürfnis nach Trennung hatte, aber sie war so groß, daß sie ihr mißtrauten und nach dieser Probe verlangten.
Nun kann man träumen. Unter einem Busch liegen, und die Bienen summen; oder in die spinnende Hitze, die dünne Luft, die lebendige Leere schaun. Die Sinne schläfern ein, und im Körper leuchten die Erinnerungen wieder auf, wie die Sterne nach Sonnenuntergang. Er wird wieder berührt und geküßt, und der magische Trennungsstrich, welcher noch die stärksten Erinnerungen sonst von der Wirklichkeit unterscheidet, wird von diesen leisen (träumenden) überschritten. Sie schieben Zeit und Raum wie einen Vorhang zur Seite und vereinen die Liebenden nicht nur in Gedanken, sondern körperlich, aber nicht mit den schweren Körpern, sondern mit innerlich veränderten, die ganz aus zärtlicher Beweglichkeit bestehen.
Aber erst, wenn man daran denkt, daß man während dieser Vereinigung, die vollendeter und glückseliger ist als die körperliche, gar nicht weiß, was der andere eben getan hat, noch was er im nächsten Augenblick tun wird, erreicht das Geheimnis seine größte Tiefe. Ulrich nahm an, daß Agathe im Hotel geblieben sei. Er sah sie auf dem weißen Platz vor dem Haus stehn und mit dem Manager sprechen. Es war falsch. Und vielleicht stand sie bei dem jungen deutschen Professor, der angekommen war und sich ihnen vorgestellt hatte, oder sprach mit Luisina, dem Stubenmädchen mit den schönen Augen, und lachte über deren leichtfertig drollige Antworten. Daß Agathe jetzt lachen konnte!? Es zerriß den Zustand; ein Lächeln war gerade schwer genug, um von ihm getragen zu werden,.. !! Als Ulrich sich umkehrte, stand Agathe mit einemmal wirklich da. Wirklich? Sie war über die Steine gekommen, in einem großen Bogen, ihr Kleid flatterte im Wind, sie warf einen starken Schatten auf den heißen Boden und lachte Ulrich an. Glückselige wirkliche Wirklichkeit; es schmerzte so sehr, wie wenn Augen, die in die Weite gestarrt haben, sich rasch an die Nähe gewöhnen müssen.
Agathe setzte sich neben ihn. Eine Eidechse saß dabei; eine kleine, huschende Lebensflamme züngelte sie still neben ihrem Gespräch. Ulrich hatte sie schon lange bemerkt. Agathe nicht. Aber als Agathe, die sich vor kleinen Tieren fürchtete, ihrer gewahr wurde, erschrak sie und scheuchte, verlegen lachend, das Geschöpfchen mit einem Stein fort. Und um sich Mut zu machen, ging sie hinterdrein, klatschte in die Hände und jagte die Kleine.
Ulrich, der auf die kleine Kreatur wie auf einen flimmernden Zauberspiegel gestarrt hatte, sagte sich: daß wir jetzt so verschieden waren, ist so traurig, wie daß wir zugleich geboren wurden, aber zu verschiedenen Zeiten sterben werden. Er verfolgte mit Aug und Ohr diesen fremden Körper Agathe. Aber da geriet er mit einemmal wieder ganz tief hinein und war am Boden des Erlebnisses, aus dem Agathe ihn aufgescheucht hatte.
Er vermochte es nicht klar festzustellen, aber in dieser flimmernden Helle über den Steinen, worin sich alles verwandelte, Glück in Trauer und auch Trauer in Glück, gewann der peinliche Augenblick unvermittelt die heimliche Wollust des Hermaphroditen, welcher sich, in zwei selbständige Wesen getrennt, wiederfindet, deren Geheimnis niemand ahnt, der sie berührt. Wie herrlich ist es doch -dachte Agathes Bruder -, daß sie anders ist als ich, daß sie Dinge tun kann, die ich nicht errate, und die doch durch unsere geheimnisvolle Sympathie auch mir gehören. (Das ist eigentlich ein allgemein menschliches Verhältnis, gar kein sexuelles.
> Es fielen ihm Träume ein, deren er sich sonst nie erinnerte, die ihn aber doch oft beschäftigt haben mußten.
Er war manchmal im Traum der Schwester einer Geliebten begegnet, obgleich diese gar keine Schwester besaß; und diese fremd-vertraute Person leuchtete alles Glück des Besitzes und alles Glück des Verlangens 775
aus. Oder hörte eine weiche Stimme, die sprach, oder sah nur das Flattern eines Rocks, der ganz bestimmt einer Fremden gehörte, aber ganz bestimmt war diese Fremde seine Geliebte. Als ob eine wesenlose, eine ganz freie Zuneigung mit den Menschen nur spielte. Mit einem Schlag erschrak Ulrich und glaubte in großer Helligkeit zu sehen, daß gerade dies das Geheimnis der Liebe sei, daß man nicht eins ist. (Das gehört zu den Prinzipien der Profanliebe! Also eigentlich schon Spiel wider sie selbst. >
«Wie wundervoll ist es, Agathe, » sagte Ulrich «daß du Dinge tun kannst, die ich nicht errate. »
«Ja, » antwortete sie «die ganze Welt ist voll von solchen Dingen. Als ich über diese Hochebene ging, fühlte ich, daß ich jetzt nach allen Seiten gehen könnte. »
«Warum bist du aber zu mir gekommen?»
Agathe schwieg.
«Es ist so schön, anders zu sein, als man geboren wurde» fuhr Ulrich fort. «Ich habe mich aber eben davor gefürchtet!» - Er erzählte ihr die Träume, an die er sich erinnert hatte, und sie kannte sie auch.
«Warum fürchtest du dich aber?» fragte Agathe.
«Weil mir einfiel, wenn es der Sinn dieser Träume ist -und es könnte wohl sein, daß sie die letzte Erinnerung daran bedeuten -, daß unsere Begierde nicht verlangt, ein Mensch aus zweien zu werden, sondern im Gegenteil, unsrem Gefängnis, unsrer Einheit zu entrinnen, zwei zu werden in einer Vereinigung, aber lieber noch zwölf, tausend, unzählbar Viele, wie im Traum uns zu entschlüpfen, das Leben hun-dertgrädig gebraut zu trinken, uns entführt zu werden, oder wie immer, denn ich vermag es nicht gut auszudrücken, dann enthält ja die Welt soviel Wollust wie Fremdheit, ist keine Opiumwolke, sondern enthält ebensoviel Zärtlichkeit wie Aktivität, ist eher ein Blutrausch, ein Orgasmus der Schlacht, und der einzige Fehler, den wir begehen könnten, wäre, daß wir die Wollust der (wollüstige Berührung der) Fremdheit verlernt hätten und uns einbilden, wunder was zu tun, wenn wir den Orkan der Liebe in dünne Bächlein teilen, die
zwischen zwei Menschen hin und her fließen––-»
Er war aufgesprungen.
«Wie müßte man dann aber sein?» fragte Agathe nachdenklich und einfach. - Es schmerzte ihn doch, daß sie seinen halb geliebten und halb verfluchten Einfall sogleich sich aneignen konnte. — «Man müßte schenken können, » fuhr sie fort «ohne wegzunehmen. So sein, daß Liebe nicht weniger wird, wenn man sie teilt. Das ist dann auch möglich. Nicht Liebe wie einen Schatz behandeln, » - lachte sie- «wie das doch schon in der Sprache liegt!»
Ulrich nahm kopfgroße Steine und schleuderte sie von der Höhe ins Meer hinaus, das winzig klein aufspritzte; er hatte lange keine Muskelbewegung mehr gemacht.
«Aber?» sagte Agathe. «Ist, was du sagst, nicht einfach das, was man nicht selten liest, das große in Zügen von der Lust der Welt Trinken — ? Tausendfach sein wollen, weil einmal nicht genügt?» Sie parodierte es etwas, weil sie plötzlich wußte, daß sie es nicht liebte.
«Nein!» schrie Ulrich zurück. «Nie ist es das, was die ändern sagen!» Er schleuderte den großen Stein, den er in der Hand hielt, so zornig zur Erde, daß der lockere Kalk zerbarst. «Wir haben uns vergessen» sagte er sanft, nahm Agathe unter dem Arm und zog sie fort. «Es müßten eine Schwester und ein Bruder noch dann sein, wenn sie in hundert Stücke geteilt sind. Übrigens ist das ja nur ein Einfall. »
Indes kamen Tage, wo sich nur die Oberfläche bewegte. Auf den blitzend feuchten Steinen im Meer. Ein Schweigwesen, Fisch, blumig im Wasser. Agathe tollte von Stein zu Stein, ihm nach, bis es abtaucht, wie ein Pfeil ins Dunkel dringt und verschwindet. - Nun? - dachte Ulrich. Agathe stand draußen auf den Klippen, er am Rand; eine Melodie des Geschehens brach ab, und eine neue muß fortfahren: Wie wird sie sich umwenden, zum Ufer zurücklächeln? Schön. Wie alle Vollendung. Vollkommen im Liebreiz der Bewegung tat es dann Agathe; die Einfalle des Orchesters ihrer Schönheit waren, wenn es scheinbar ohne Dirigenten musizierte, immer hinreißend.
Jedoch alle vollendete Schönheit - ein Tier, ein Bild, eine Frau - ist nicht mehr als das letzte Stück in einem Kreis; eine Rundung ist vollendet, das sieht man, aber man möchte den Kreis kennen. Wenn es ein bekannter Lebenskreis ist, zum Beispiel der eines großen Mannes, dann ist ein edles Pferd oder eine schöne Frau wie die Agraffe im Gürtel, die ihn schließt und für einen Augenblick die ganze Erscheinung zu halten scheint; ebenso kann man sich in ein schönes Bauern-pferd vergaffen, weil sich in ihm wie in einem zusammenziehenden Spiegel die ganze schwerfüßige Schönheit des Ackers und der Menschen wiederholt.
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Wenn aber nichts dahinter steht? Nicht mehr als hinter den Sonnenstrahlen, die auf den Steinen tanzen?
Wenn diese Unendlichkeit des Wassers und Himmels erbarmungslos offen ist? Dann glaubt man fast, daß Schönheit etwas im Geheimen Verneinendes ist, etwas Unvollendetes und Unvollendbares, ein Glück ohne Zweck, ohne Sinn. Aber womit, wenn es ohne alles ist? Dann ist Schönheit eine Pein, zum Lachen und Weinen ein Kitzel, um sich im Sand zu wälzen, mit dem Pfeil Apolls in der Flanke. (Haß gegen die Schönheit. Sinn des drängenden Sexualbegehrens, sie zu zerstören. >
Die Helligkeit solcher Tage war wie Rauch, der die Klarheit der Nächte verwischte.
Agathe hatte etwas weniger Phantasie als Ulrich. Weil sie nicht so viel gedacht hatte wie er, war ihr Gefühl nicht so beweglich wie seines, sondern brannte wie eine gerade Flamme aus dem Boden, worauf sie gerade stand. Das Abenteuerliche der Flucht, das etwas durch die Furcht vor Entdeckung geängstigte Gewissen, endlich das Versteck in einem Blumenkorb zwischen Karstwand, Meer und Himmel gaben ihr zuweilen eine übermütige und kindliche Heiterkeit. Sie behandelte dann auch ihr sonderbares Erlebnis wie ein Abenteuer; einen verbotenen Raum in ihrem eigenen Innern, über dessen Gehege man späht, oder in den man eindringt, mit Herzklopfen, brennendem Hals und schweren Sohlen, an denen noch vom heimlich durcheilten Weg das plumpe Gewicht nasser Erde klebt.
Sie hatte manchmal eine spielende Art, sich berühren zu lassen, mit geöffnet verschlossenen Augen; wiederzukehren; eine Zärtlichkeit, die nicht zu sättigen war. Er beobachtete sie heimlich, sah dieses Spiel der Liebe mit dem Körper, welches das Entzücken eines Liebhabers ist und das Niederdrückende einer Naturgewalt hat, zum erstenmal, oder wurde zum erstenmal davon gerührt. Oder es kamen Stunden, wo sie ihn nicht ansah, kalt, fast bös zu ihm war; weil sie zu bewegt war; wie ein Mensch in einem Boot, der sich nicht zu rühren wagt, so in ihrem Leib. Oder Nachreaktionen; zuerst eine Sperrung und dann, scheinbar ohne Anlaß, ein Nachfluten. Es war spannend und reizvoll, sich von diesen Eingebungen wiegen zu lassen, sie kürzten die Stunden, aber sie zwangen zu einer Optik der Nähe und kleinen Bemerkungen. Ulrich wehrte sich dagegen. Es war ein Rest von Erde, der in dem flüssigen Feuer schwebte und es trübte, eine Versuchung zu Erklärungen wie daß Agathe niemals die richtige Verbindung von Liebe und Geschlecht kennen gelernt habe. Wie bei den meisten Menschen hatte sich die ganze Kraft des Geschlechtlichen zuerst mit einem Fünkchen von Neigung zusammengefunden, als sie den damals noch nicht unsympathischen Hagauer heiratete. Statt mit einem Menschen, fast nur in der Begleitung eines Menschen in einen Sturm zu geraten, der fast so unpersönlich ist wie die Elemente, und dann erst als eine noch namenlose Überraschung zu bemerken, daß die Beine dieses Menschen nicht so gekleidet sind wie die eigenen, daß die Seele lockt, das Versteck zu wechseln…
Aber auch solche Gedanken waren wie Gesang in einer falschen Tonart. Ulrich ließ diese Art Verstehen vor sich selbst nicht gelten. Einen geliebten Menschen verstehn, darf kein Nachspionieren, sondern muß ein Schenken aus einer Überfülle glückhafter Eingebungen sein. Man darf nur das erkennen, was bereichert.
Man schenkt Eigenschaften in der untrüglichen Sicherheit einer vorherbestimmten Übereinstimmung, einer niemals vorhanden gewesenen Trennung.
(Besonders, wenn die ethische Großmut dadurch gereizt wird. Nicht Sehen oder Nichtsehen der Schwächen, sondern die große Bewegung, in der sie bedeutungslos schweben. >
Eine uralte Säule - umgestürzt in der Zeit Venedigs, Griechenlands oder Roms - lag zwischen Steinen und Ginster; jede Rille des Schafts und Kapitals vom strahlenspitzen Stichel des Mittagsschattens vertieft. Bei ihr zu liegen, gehörte zu den großen Liebesstunden.
Vier Augen sahen hin. Nichts als Mittag, Säule, vier Augen. Wenn der Blick zweier Augen ein Bild sieht, eine Welt; warum nicht der von vier?
Wenn zwei Augenpaare lange ineinanderblicken, kommt über die Blicke ein Mensch zum andren herüber, und es bleibt nur ein Gefühl, das keine Körper mehr hat. Wenn zwei Augenpaare in einer geheimnisvollen Stunde ein Ding anblicken und sich in ihm vereinigen - jedes Ding schwebt tief unten in einem Gefühl, und die Dinge stehn nur so fest, wie sie es tun, wenn dieser Boden hart ist — beginnt die starre Welt, sich leise und unaufhörlich zu bewegen. Sie hebt und senkt sich unruhig mit dem Blut. Die Zwillingsgeschwister sahen einander an. In dem vollen Licht war nicht zu bemerken, ob sie noch atmeten, oder wie Steine seit tausend Jahren dalagen. Ob die Steinsäule da lag oder sich im Licht lautlos aufgerichtet hatte und schwebte?
Es besteht ein bedeutsamer Unterschied in der Art, wie man Menschen und wie man Dinge betrachtet. Das 777
Mienenspiel eines Menschen, mit dem man spricht, wird unsagbar befremdend, wenn man es als einen Vorgang in der Außenwelt betrachtet und nicht als einen fortlaufenden Signalaustausch zweier Seelen; von den Dingen sind wir gewohnt, daß sie schweigend daliegen, und halten es für eine beängstigende Vision, wenn sie ein bewegteres Verhältnis zu uns gewinnen. Aber es sind nur wir selbst, die sie so betrachten, daß die kleinen Veränderungen ihrer Physiognomie von keinen Veränderungen unseres Gefühls beantwortet werden, und um dies zu ändern ist im Grunde nicht mehr nötig, als daß wir die Welt nicht intellektuell betrachten, sondern daß statt unsren sinnlichen Maßwerkzeugen unsere moralischen Gefühle von ihr erregt werden. In solchen Augenblicken wird die Erregung, in der uns ein Anblick bereichert und beschenkt, dann so stark, daß nichts wirklich zu sein scheint als ein schwebender Zustand, der sich jenseits der Augen zu Dingen, diesseits zu Gedanken und Gefühlen verdichtete, ohne daß diese zwei Seiten zu trennen waren.
Was die Seele beschenkt, trat hervor; was die Kraft dazu verliert, löste sich vor den Augen auf.
In dieser flimmernden Stille zwischen den Steinen lag ein panischer Schreck. Die Welt schien nur die Außenseite eines bestimmten inneren Verhaltens zu sein und mit diesem gewechselt werden zu können.
Aber Welt und Ich waren nicht fest; in eine weiche Tiefe gesenkte Gerüste; aus einer Ungestalt sich gegenseitig heraushelfend. Agathe sagte leise zu Ulrich: «Bist du du selbst oder bist du es nicht? Ich weiß nichts davon. Ich bin dessen unkundig und ich bin meiner unkundig. » (Es war der Schreck: die Welt hing von ihr ab, und sie wußte nicht, wer sie war. > Ulrich schwieg.
Agathe fuhr fort: «Ich bin verliebt, aber ich weiß nicht in wen. Ich bin weder treu noch ungetreu: Was bin ich doch? Ich habe das Herz von Liebe voll und von Liebe leer zugleich… » Sie flüsterte. Ein mittagsstiller Schreck schien ihr Herz umklammert zu halten.
Immer wieder war die große Probe das Meer. Immer wieder, wenn sie den schmalen Hang mit den vielen Wegen, mit dem vielen Lorbeer, dem Ginster, den Feigen und den vielen Bienen hinangestiegen waren und oben auf die gewaltige hoch gebreitete Fläche hinaustraten, war es wie wenn nach dem Stimmen eines Orchesters der große Ton einsetzt. Wie müßte man sein, um das dauernd ertragen zu können?
Ulrich schlug vor, daß sie sich hier ein Zelt errichten wollten. Aber er meinte es nicht ernst; er hätte sich davor gefürchtet. Es waren keine Gegner mehr da, man war allein hier oben; der Abstoß, (oder: welchen man empfängt, solange man den Forderungen der Menschen und der eigenen Gewissensgewohnheit widersprechen muß) welchen ein phantasievoller Mensch dadurch empfängt, daß er sich vom Alltag losreißt, war verbraucht, es ging in den letzten Kampf um die Entscheidung. Das Meer war wie eine unerbittliche Geliebte und Nebenbuhlerin; jede Minute war eine vernichtende Gewissenserforschung. Vor dieser Weite, die jeden Widerstand einzog, fürchteten sie, ohnmächtig zusammenzubrechen.
Dieses ungeheuer Gedehnte war - ein wenig langweilig. Oder: war nicht zu ertragen, ohne daß es etwas langweilig wurde. Diese Verantwortlichkeit für jede kleinste Bewegung war - sie mußten es sich eingestehn
- etwas leer, wenn man damit die Heiterkeit der Stunden verglich, wo sie keine solchen Ansprüche an sich stellten, und die Körper mit der Seele spielten, wie schöne junge Tiere mit einer hin-und hergerollten Holzkugel.
Eines Tages sagte Ulrich: «Es ist weit und pastoral; es hat etwas von einem Pastor!» Sie lachten. - Dann erschraken sie über den Hohn, den sie sich selbst zugefügt hatten.
Das Hotel hatte einen kleinen Glockenturm; in der Mitte des Dachs. Um ein Uhr läutete diese Glocke Mittag. Sie fangen an, auf diesen Ton zu warten, wie Erlösung von einer Schulstunde. Und die hellen Töne schnitten in die Stille wie ein scharfes Messer eine Haut berührt, welche vorher geschaudert hat, aber sich in diesem Augenblick beruhigt. «Wie schön» sagte Ulrich, als sie an einem dieser Tage hinabstiegen «ist es eigentlich, wenn einen die Notwendigkeit treibt. So wie man von hinten mit einem Stäbchen die Gänse treibt oder von vorn die Hühner mit Futter lockt. Und nicht alles durch
ein Geheimnis geschieht–-» Die weißblaue, zitternde Luft
schauderte wirklich wie eine Gänsehaut, wenn man lang in sie hineinstarrte. Erinnerungen begannen damals in auffallender Weise Ulrich zu quälen; er sah plötzlich jede Statue und jede architektonische Einzelheit irgendeiner daran überreichen Stadt vor sich, die er vor Jahren besucht hatte; Nürnberg stand vor ihm und Amiens, obgleich sie ihn niemals gefesselt hatten; irgendein großes rotes Buch, das er vor Jahren in einer Auslage gesehen haben mußte, ging vor seinen Augen nicht weg; ein schmaler gebräunter Knabe, vielleicht nur der von seiner Phantasie erfundene Gegensatz zu Agathe, aber so, als ob er ihm einmal wirklich begegnet wäre, aber er wußte nicht wo - beschäftigte seine Vorstellungen: Gedanken, die ihm 778
irgendwann einmal eingefallen waren und längst vergessen waren: Lautloses, Lichtarmes, mit Recht Vergessenes wirbelte im Süden der Stille empor und ergriff Besitz von der verlassenen Weite.
Die aller Schönheit von Anfang an beigemengt gewesene Ungeduld begann in Ulrich zu rasen.
Er konnte vor einem Stein sitzen, weltvergessen, in Anschauen versunken, und von dieser rasenden Ungeduld gepeinigt werden. Er war bis zum Ende gekommen, hatte alles in sich aufgenommen und lief Gefahr, daß er, ganz allein, laut zu sprechen begann, um sich nochmals alles vorzuerzählen. «Ja, man sitzt da» sagten seine Gedanken «und man könnte sich nur nochmals vorerzählen, was man sieht. Die Steine sind ja von einem ganz eigentümlichen Steingrün, und ihr Spiegelbild im Wasser spiegelt… Ganz richtig. Ganz, wie man es sagt. Und die Steine haben Formen wie Karton… Aber das nützt alles nichts und ich möchte weggehn. So schön ist es!»
Und er erinnerte sich: zuhause, manchmal nach Jahren erst, und manchmal nur durch einen Zufall, wenn man gar nicht mehr weiß, wie alles war, fällt plötzlich von hinten, von solchem Gewesenen ein Licht her, und das Herz tut alles wie im Traum. Er sehnte sich nach Vergangenheit.
«Es ist ja ganz einfach, » sagte er zu Agathe «und alle Leute wissen es, bloß wir nicht. Die Phantasie wird nur von dem erregt, was man noch nicht oder nicht mehr besitzt; der Leib will haben, aber die Seele will nicht haben. Ich begreife jetzt die ungeheuren Anstrengungen, welche der Mensch zu diesem Zweck macht.
Wie dumm, wenn dieser Kerl, der Kunstreisende, diese Blume mit einem Edelstein und diesen Stein da mit einer Blume vergleicht: wenn es nicht die Klugheit wäre, sie für einen kurzen Augenblick in etwas anderes zu verwandeln. Und wie dumm wären alle unsre Ideale, da doch jedes, wenn man es ernst nimmt, einem andren widerspricht; du sollst nicht töten, also zugrundegehn? Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Gut, also in Armut leben? wenn ihr Sinn nicht gerade im Undurchführbaren läge, wodurch sie die Seele entzünden! Und wie gut ist es für die Religion, daß man Gott weder sehen noch begreifen kann! Aber welche Welt?! Ein kalter dunkler Streif zwischen den zwei Feuern des Nochnicht und Nichtmehr!»
«Eine Welt um sich zu fürchten» sagte Agathe. «Du hast recht. » Sie sagte es ganz ernst, und in ihren Augen war wirklich Bitterkeit (Angst).
«Und wenn es so ist!» lachte Ulrich. «Zum erstenmal in meinem Leben fällt mir ein, daß wir uns furchtbar vor Schwindel fürchten müßten, wenn uns der Himmel nicht einen Abschluß der Welt vortäuschen würde, den es nicht gibt. Offenbar ist alles Absolute, Hundertgrädige, Wahre völlige Widernatur. »
«Auch zwischen zwei Menschen, du meinst zwischen uns?»
«Ich habe jetzt so gut begriffen, was Phantasten sind: Speisen ohne Salz sind unerträglich, aber Salz ohne Speisen in großen Mengen ist ein Gift; Phantasten sind Menschen, die von Salz allein leben wollen. Ist das richtig?»
Agathe zuckte die Achseln.
«Sieh unser Stubenmädchen, ein lustiges, dummes Ding, das nach Hausseife riecht. Ich sah ihr unlängst eine Weile zu, wie sie die Zimmer machte: sie kam mir so hübsch wie ein frischgewaschener Himmel vor.
»
Es beruhigte Ulrich, das zu bekennen, und über Agathes Mund kroch ein kleiner Wurm des Ekels. Ulrich wiederholte es, er wollte nicht mit dem großen Ton der dunklen Glocke diese kleine Disharmonie überdecken. «Es ist doch eine Disharmonie, nicht?! Und jede List ist der Seele recht, um sich fruchtbar zu halten. Sie stirbt mehrmals hintereinander vor Liebe. Aber —» und da sagte er nun etwas, von dem er glaubte, daß es ein Trost, ja daß es eine neue Liebe wäre: «- Wenn alles so traurig und eine Täuschung ist, und man kann an nichts mehr glauben: brauchen wir da einander nicht erst recht? Das Lied vom Schwesterlein» lächelte er «eine stille nachdenkliche Musik, die nichts übertönt; eine Begleitmusik; eine Liebe der Lieblosigkeit, die leise die Hände reicht… ?» (Eine kühle, stille, graue Anerotik?) Agathe schwieg. Es war etwas ausgelöscht. Sie war zu innerst müde. Ihr Herz war ihr mit einem Griff genommen, und eine unerträgliche Angst vor einer Leere in ihrem Innern, vor ihrer Unwürdigkeit und Rückverwandlung quälte sie. So ist den Verzückten zumute, wenn Gott von ihnen weicht und ihren eifernden Rufen nichts mehr antwortet.
Der Kunstreisende, wie sie ihn nannten, war ein Dozent, der aus italienischen Städten kam, mit der Schmetterlingsnetzhaut und dem Botanisiertrommelgeist des strebenden Kunsthistorikers. Er hatte hier Station gemacht, um sich vor der Rückkehr einige Tage zu erholen und sein Material zu ordnen. Da sie die einzigen Gäste waren, stellte er sich schon am ersten Tag den Geschwistern vor, man sprach nach den 779
Mahlzeiten, oder wenn man sich in der Nähe des Hauses traf, ein wenig miteinander, und es war nicht zu leugnen, daß dieser Mann, obgleich Ulrich über ihn lachte, in gewissen Augenblicken eine willkommene Entspannung vermittelte.
Er war sehr davon überzeugt, daß er als Mann und Gelehrter etwas bedeute, und machte Agathe von der ersten Begegnung an, nachdem er erfahren hatte, daß sich das Paar nicht auf einer Hochzeitsreise befände, mit großer Bestimmtheit den Hof. Er sagte ihr: Sie ähneln der schönen… auf dem Bilde von… und alle Frauen mit diesem Ausdruck, der sich im Stirnhaar und in den Kleiderfalten wiederholt, haben die Eigenschaft, daß–—: Agathe, als sie es Ulrich erzählen wollte, hatte schon die Namen vergessen, aber es war angenehm, wie der feste Druck eines Masseurs, wenn ein fremder Mensch weiß, was man ist, während man sich eben noch so aufgelöst wußte, daß man sich kaum von dem Schweigen des Mittags unterscheiden konnte.
Dieser Kunstreisende sagte: «Frauen sind dazu da, uns träumen zu machen; sie sind eine List der Natur zur Befruchtung des männlichen Geistes. » Er schillerte wohlgefällig auf sein Paradoxon, welches den Sinn der Befruchtung umkehrte. Ulrich erwiderte: «Es bestehen aber immerhin Unterschiede in der Art dieser Träume!»
Dieser Mann behauptete, man müsse bei der Umarmung eines «wirklich großen Weibes» an die Schöpfung von Michelangelo denken können. «Man zieht die Sixtinische Decke über sich und ist darunter nackt bis auf den Blaustrumpf -» spottete Ulrich. Nein, er gebe zu, daß die Durchführung Takt fordere, aber im Prinzip könnten das Menschen «doppelt so groß» als andre sein. «Schließlich ist doch das Ziel allen ethischen Lebens, unsre Handlungen mit dem Höchsten zu vereinen, was wir in uns tragen!» Es war theoretisch gar nicht so leicht zu widerlegen, obgleich es praktisch lächerlich war.
«Ich habe gefunden, » sagte der Kunsthistoriker «daß es zwei Arten von Menschen gibt und im Lauf der Geschichte immer gegeben hat. Ich nenne sie die statischen und die dynamischen. Wenn Sie wollen, die Kaiserlichen und die Faustischen. Die Statiker können ein Glück als gegenwärtig empfinden. Sie sind irgendwie durch ein Gleichgewicht charakterisiert. Was sie getan haben, und was sie tun werden, greift durch das, was sie eben tun, in einander über, ist harmonisiert und hat eine Gestalt wie ein Bild oder eine Melodie. Hat gewissermaßen eine zweite Dimension, leuchtet in jedem Augenblick als Fläche. Der Papst zum Beispiel oder der Dalai Lama; es ist einfach undenkbar, daß sie etwas täten, was nicht in den Rahmen ihrer Bedeutung eingespannt wäre. Dagegen die Dynamischen: Die sich immer Losreißenden, vor und zurück bloß Blickenden, aus sich heraus Rollenden, die unempfindlichen Menschen mit Aufgaben, Unersättlichen, Drängenden, Glücklosen -, welche die Statiker immer wieder überwinden, um die Weltgeschichte in Gange zu halten» — — —: mit einem Wort, er ließ durchblicken, daß er wohl beide in sich zu tragen vermöge.
«Sagen Sie, » fragte Ulrich so, als ob er ganz ernst wäre «sind die Dynamiker nicht auch die, welche in der Liebe nichts zu fühlen scheinen, weil sie entweder schon in der Phantasie geliebt haben oder erst das Wiederentglittene lieben werden? Man könnte doch auch das behaupten?»
«Ganz richtig!» sagte der Dozent.
«Sie sind unmoralisch und Träumer, diese Menschen, welche den rechten Punkt zwischen Zukunft und Vergangenheit niemals finden können - »
«Nun, das möchte ich doch nicht behaupten–—»
«Doch, doch. Sie können verrückt gute oder böse Taten begehn, weil ihnen das Gegenwärtige nichts bedeutet. » (Eigentlich sollte er sagen: Aus Ungeduld können sie verrückte Taten tun. > Darauf wußte der Kunsthistoriker nicht recht zu erwidern und fand, daß ihn Ulrich nicht verstand.
Die Unruhe wuchs. Der Sommer stieg heiß an. Die Sonne loderte wie eine Feuersbrunst bis an den Rand der Erde. Die Elemente füllten das Dasein an, so daß für das Menschliche kaum noch ein geduldeter Platz blieb.
Es kam vor, daß die Geschwister gegen Abend, wenn die glühende Luft schon leichte, erkaltende Falten warf, auf den Steilufern wandelten. Gelbe Ginsterstauden sprangen von der Glut der Steine ab und standen unmittelbar vor der Seele; grau wie Eselsrücken, schleiriges Grün des Karstgrases darüber geworfen, die Berge; heißes Dunkelgrün des Lorbeers. Wenn der Blick lechzend auf ihm ruhte, sank er in immer kühlere Tiefen. Unzählige Bienen summten; es verschmolz zu einem tiefen metallischen Ton, der kleine Pfeile abschoß, wenn sie in jäher Wendung am Ohr vorbeikamen. Heroisch, ungeheuer die glatt gekantete, steil abbrechende, in drei Wellen hintereinander herkommende Linie der Berge.
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«Heroisch?» fragte Ulrich. «Oder ist es nur das, was wir immer gehaßt haben, weil es für heroisch gelten soll? — Diese unzähligemale gemalte und gestochene, diese griechische, diese römische, diese nazarenische, klassizistische Landschaft, - diese tugendhafte, professorale, idealistische Landschaft? Und sie imponiert uns am Ende nur deshalb, weil wir ihr nun wirklich begegnet sind?! So wie man einen einflußreichen Mann verachtet und sich trotzdem geschmeichelt fühlt, weil man ihn kennt?»
Aber die wenigen Dinge, denen hier der Raum gehörte, respektierten einander, sie hielten voneinander Distanz und überfüllten nicht die Natur mit Eindrücken wie in Deutschland. Es half kein Spotten; wie nur ganz hoch im Gebirge, wo das Irdische immer weniger wird, diese Landschaft nicht mehr die Umgebung menschlicher Wohnungen, sondern ein Stück Himmel, an dessen Falten noch einige Arten von Insekten hingen.
Und auf der ändern Seite (dieser Demut) lag das Meer. Die große Geliebte, mit dem Pfauenrad geschmückt.
Die Geliebte mit dem ovalen Spiegel. Das aufgeschlagene Auge der Geliebten. Die Gott gewordene Geliebte. Die unerbittliche Forderung. Noch schmerzte das Auge und mußte wegsehn, von den aus dem Meer zurückschmetternden Speeren des Lichts getroffen. Aber bald wird die Sonne tiefer stehn. Es wird nur ein umgrenzter See von flüssigem Silber bleiben. Und dann muß man hinaussehn aufs Meer! Dann muß man es ansehn. Agathe und Ulrich fürchteten sich vor diesem Augenblick. Was kann man tun, um vor dieser ungeheuren, zuschauenden, aneifernden, eifersüchtigen Nebenbuhlerin bestehen zu bleiben? Wie soll man sich lieben? In die Knie sinken? Wie sie anfangs getan hatten? Die Arme ausbreiten? Schreien?
Kann man sich umarmen? Es ist so lächerlich, wie wenn man jemand zornig anschreien wollte, während nebenan alle Glocken eines Münsters läuten! Die fürchterliche Leere schloß sie wieder von allen Seiten ein.
Ulrich schüttelte den Kopf. «Man muß etwas beschränkt sein, um die Natur schön zu finden. So einer sein, wie der da unten, der lieber selbst spricht, statt einem zuzuhören, der ihm überlegen ist. Man muß sich durch sie an Schulaufsätze und schlechte Gedichte erinnert fühlen und imstande sein, sie im Augenblick des Sehens in einen Öldruck zu verwandeln. Sonst bricht man zusammen. Man muß dümmer sein als sie, um ihr standzuhalten, und muß schwätzen, damit man nicht die Sprache verliert. [»]
Zum Glück hielt ihre Haut der Hitze nicht stand. Schweiß brach aus. Eine Ablenkung war geschaffen und eine Entschuldigung; sie fühlten sich ihrer Aufgabe enthoben.
Aber während sie dem Haus zugingen, merkte Agathe, daß sie sich darüber freute, unten vor dem Hotel ganz gewiß den fremden Reisenden anzutreffen. Ulrich hatte gewiß recht, aber es lag ein großer Trost in der schnatternden, eng angedrängten Gesellschaft dieses Menschen. (Idee: sich zu entschulden, indem sie mit diesem gewöhnlichen…, der es will. >
Fürchterliche Augenblicke kamen nachmittags im Zimmer. Zwischen der ninausgespreizten, rotgestreiften Markise und dem Steingeländer des Balkons lag ein handbreites blau brennendes Band. Die glatte Wärme, die hart gedämpfte Helligkeit hatten alles, was nicht fest ist, aus dem Zimmer verdrängt. Ulrich und Agathe hatten nichts zum Lesen mitgenommen; so war ihr Plan gewesen; sie hatten alles, was Gedanke, Normalzustand - und sei es noch so scharfsinniger —, Verknüpfung mit der gewöhnlichen menschlichen Art des Lebens ist, zurückgelassen: nun lagen ihre Seelen da wie zwei hart gebrannte Ziegelsteine, aus denen jeder Tropfen Wasser entwichen ist. Dieses kontemplative Naturdasein hatte sie in eine unerwartete Abhängigkeit von den primitivsten Elementen versetzt.
Endlich kam ein Regentag. Der Wind peitschte. Die Zeit wurde in einer kühlen Weise lang. Sie richteten sich auf wie Pflanzen. Sie küßten sich. Die Worte, die sie sich sagten, erquickten sie. Sie waren wieder glücklich. Es ist nur Gewohnheit, in jedem Augenblick stets schon auf den nächsten zu warten, stau dies, und die Zeit tritt aus wie ein See. Die Stunden fließen zwar, aber sie sind breiter als lang. Es wird Abend, aber es ist keine Zeit vergangen.
Indes folgte ein zweiter Regentag; ein dritter. Was geschienen hatte, neue Steigerung zu sein, glitt als Ende abwärts. Die kleinste Hilfe, der Glaube, daß dieses Wetter eine persönliche Fügung sei, ein ungewöhnliches Schicksal, und das Zimmer ist voll seltsamen Wasserlichts oder wie aus einem Würfel dunklen Silbers ausgehöhlt. Aber wenn keine Hilfe kommt: wovon kann man sprechen? Man kann noch lächeln aus weiter Trennung einander zu; - sich umarmen — sich bis zur todähnlichen Müdigkeit schwächen, welche die Erschöpften wie eine endlose Ebene trennt; man kann hinübersagen: ich liebe dich; oder: du bist schön; oder: ich möchte lieber mit dir sterben, als ohne dich leben; oder: welches Wunder, daß Du und Ich, zwei so getrennte Wesen, aneinander geweht worden sind. Und man kann vor Nervosität weinen, wenn ganz leis 781
die Langweile das abzunagen beginnt…
Fürchterliche Gewalt der Wiederholung, fürchterliche Gottheit! Anziehung der Leere, die wie der Trichter eines Wirbels immer tiefer hineinzieht, dessen Wände ausweichen. Küsse mich, und ich beiße leicht und immer härter und immer wilder, immer trunkener, blutgieriger, auf den Schrei um Schonung lauschender in deine Lippen, die Schlucht des Schmerzes hinabkletternd, bis wir zum Schluß in der senkrechten Wand hängen und uns vor uns selbst fürchten. Da kommen die tiefen Stöße des Atems zu Hilfe, der den Körper zu verlassen droht, der Glanz im Auge bricht, der Blick rollt nach den Seiten, der Gesichtsausdruck des Sterbens beginnt. Tausendfältiges Entzücken aneinander und Staunen wirbelt in der Verzückung. Auf wenige Minuten konzentrierter Flug durch Seligkeit und Tod, endend, erneut, die Körper schwingen wie heulende Glocken. Aber am Schluß weiß man doch: es war nur tiefer Sündenfall in eine Welt, in der es auf hundert Stufen der Wiederholung schwebend abwärts geht. Agathe stöhnte: «Du wirst mich verlassen!»
(Ulrich suchte Worte der Begeisterung und so weiter. > «Nein! Süße! Verschworene!» - «Nein, » wehrte Agathe leise ab «ich vermag nichts mehr dabei zu fühlen… !»
Da es nun ausgesprochen war, wurde Ulrich kalt und gab die Mühe auf.
«Wenn wir an Gott geglaubt hätten, » fuhr Agathe fort «würden wir die Reden der Berge und Blumen verstanden haben. »
«Du denkst an Lindner?» forschte Ulrich, sofort eifersüchtig.
«Nein. Ich habe an den Kunsthistoriker gedacht. Sein Faden reißt niemals ab. » Agathe lächelte müde und schmerzlich. Sie lag [auf dem] Bett, Ulrich hatte die Tür zum Balkon aufgerissen, der Wind schleuderte Wasser herein.
«Es ist egal» sagte er rauh. «Denk an wen du willst. Wir müssen uns nach einem Dritten umsehn. Der uns zuschaut, beneidet oder Vorwürfe macht. » Er blieb vor ihr stehn und sagte langsam: «Zwischen zwei einzelnen Menschen gibt es keine Liebe!» Agathe richtete sich auf einem Ellbogen auf und lag da, mit großen Augen, als ob sie den Tod erwartete. «Wir sind einem Impuls gegen die Ordnung gefolgt» wiederholte Ulrich. «Eine Liebe kann aus Trotz erwachsen, aber sie kann nicht aus Trotz bestehn. Sondern, sie kann nur eingefügt in eine Gesellschaft bestehn. Sie ist kein Lebensinhalt. Sondern eine Verneinung, eine Ausnahme von den Lebensinhalten. Aber eine Ausnahme braucht etwas, wovon sie Ausnahme ist. Von einer Negation allein kann man nicht leben. »
«Schließ die Tür» bat Agathe. Dann stand sie auf und ordnete ihr Kleid. «Wir wollen also abreisen?»
Ulrich zuckte die Achseln. «Es ist ja alles vorbei. »
«Erinnerst du dich nicht mehr, unter welcher Bedingung wir hergekommen sind?»
Ulrich antwortete beschämt: «Wir wollten den Eingang ins Paradies finden!»
«Und uns töten, » sagte Agathe «wenn es uns nicht gelingt!»
Ulrich sah sie ruhig an. «Willst du denn?»
Agathe hätte vielleicht ja sagen können. Sie wußte nicht, aus welchem Grund es ihr aufrichtiger erschien, langsam den Kopf zu schütteln und nein zu sagen.
«Diesen Entschluß haben wir auch verloren» stellte sie fest.
Sie stand verzweifelt auf. Sprach mit den Händen an den Schläfen, auf die eigenen Worte horchend: «Ich wartete… Ich war fast schon überreif und lächerlich… Weil ich trotz meines Lebens noch immer wartete.
Ich konnte es nicht benennen und nicht beschreiben. Es war wie eine Melodie ohne Töne, ein Bild ohne Form. Ich wußte, es wird eines Tages von außen auf mich zukommen und wird das sein, was mich lieb hat, und mit dem es kein Übel mehr für mich geben wird, weder im Leben, noch im Tode… »
Ulrich, der sich ihr jäh zugewendet hatte, fiel parodierend ein, mit einer Gehässigkeit, durch die er sich selbst quälte: «Es ist eine Sehnsucht, ein Fehlendes: die Form ist da, nur die Materie fehlt. Dann kommt ein Bankbeamter oder ein Professor, und dieses Tierchen füllt langsam die Leere aus, die wie ein Abendhimmel gespannt war. Meine Liebe, alle Bewegung im Leben kommt vom Bösen und Rohen; das Gute schläft ein. Ist ein Tropfen eines Duftes; aber jede Stunde ist das gleiche Loch und gähnende Kind des Todes, das mit schwerem Schotter ausgefüllt werden muß. Du hast vorhin gesagt: <Wenn wir an Gott glauben könnten!> Aber eine Patience tut es auch, ein Schachspiel, ein Buch. Das hat der Mensch heute herausgebracht, daß er sich damit ebensogut trösten kann. Es muß bloß etwas sein, wo sich Brett an Brett legt, um über die leere Tiefe hinwegzuführen. »
«Aber lieben wir uns denn nicht mehr?!» rief Agathe aus. «Man darf nicht übersehn, » antwortete Ulrich 782
«wie sehr dieses Gefühl von der Umgebung abhängt. Wie es seinen Inhalt davon erhält, daß man sich ein gemeinsames Leben vorstellt, das heißt eine Linie zwischen den ändern Menschen durch. Vom guten Gewissen, weil alle ändern sich so freun, wie diese zwei sich lieben, oder auch vom bösen Gewissen… Was haben wir denn erlebt? Wir dürfen uns nichts Falsches vormachen: Ich war doch kein Narr, als ich das Paradies suchen wollte. Ich konnte es bestimmen, wie man einen unsichtbaren Planeten aus bestimmten Wirkungen erschließt. Und was ist geschehn? Es hat sich in eine seelischoptische Täuschung aufgelöst und in einen wiederholbaren physiologischen Mechanismus. Wie bei allen Menschen!»
«Es ist wahr, » sagte Agathe «wir haben die längste Zeit schon von dem gelebt, was du das Böse nennst; von der Unruhe, den kleinen Zerstreuungen, von Hunger und Sättigung des Körpers. »
«Dennoch, » antwortete Ulrich, wie in einer überaus schmerzlichen Vision «wenn es vergessen ist, wirst du wieder warten. Tage werden kommen, wo hinter vielen Türen jemand auf einer Trommel schlägt.
Gedämpft und beharrlich; schlägt, schlägt. Tage, als ob du in einem Bordell auf das Knarren der Treppe warten würdest: wird es ein Feldwebel oder ein Bankbeamter sein. Den dir das Schicksal schickt. Um dein Leben in Bewegung zu halten. Und doch meine Schwester bleibst. »
«Aber was soll denn aus uns werden?» Agathe sah nichts vor sich.
«Du mußt heiraten oder einen Geliebten––-Das meinte ich vorhin. »
«Aber sind wir denn nicht mehr ein Mensch??», fragte sie traurig.
«Auch der einige Mensch hat beides in sich. »
«Aber wenn ich dich liebe?!» schrie Agathe auf.
«Wir müssen leben. Ohne einander - für einander. Willst du den Kunsthistoriker?» Ulrich sagte es mit der Kälte einer großen Anstrengung. Agathe wies es bloß mit der Schulter ab. «Ich danke dir» sagte Ulrich. Er versuchte, ihre schlaffe Hand zu fassen und zu streicheln. «Ich bin ja auch noch nicht so - so fest überzeugt..
» (Noch einmal beinahe die große Vereinigung. Aber es scheint Agathe, daß Ulrich nicht genug Mut hat. ) Sie schwiegen eine Weile. Agathe schob Laden auf und zu und begann einzupacken. Der Sturm rüttelte an den Türen. Dann wandte sich Agathe um und fragte ruhig und verändert ihren Bruder: « Aber kannst du dir vorstellen, daß wir morgen oder übermorgen zuhause ankommen, die Zimmer vorfinden so, wie wir sie verlassen haben, Besuche zu machen beginnen?… »
Ulrich bemerkte nicht, wie groß der Widerstand war, mit dem sich Agathe gegen diese Vorstellung sträubte.
Er konnte sich alles das auch nicht denken. Aber er fühlte irgendeine neue Spannung, wenn es auch eine traurige Aufgabe war. Er gab in diesem Augenblick nicht genug auf Agathe acht.
95 Nach dem Besuch bei Moosbnugger
[Aus einem frühen Entwurf]
Von Meingast kam kein Brief, die Angelegenheit des Männerbundes blieb Clarisse entrückt; manchmal vergaß sie es über den neuen Ereignissen. Meingast war vor ihr geflohen, sie war wahrscheinlich zu stark für ihn. Das ist, wie 496
wenn Blitze ineinander schlagen! Walter wurde von ihr angezogen, immer wieder sein Talent in ihr zu morden, so sehr sie ihn auch zurückstieß. Sie trug ein schwarzes Medaillon an der Hüftbeuge und die Kranken errieten es, vielleicht können solche Leute durch die Kleider sehn und jubelten ihr entgegen. Die Tatsachen stimmten verwirrend zueinander. Sie mußte überlegen, wie sie wieder auf die Klinik kommen könne, Dr. Friedenthal zu Trotz, der ihr die Wiederkehr verboten hatte. Sie sah ein, daß es sehr schwer sein würde. «Über die Mauer des Parks zu klettern?» dachte sie; diese Vorstellung, wie ein Krieger in den verbotenen Raum einzudringen, sagte ihr sehr zu, aber da die Klinik nicht im Freien, sondern in der Stadt lag, konnte man das, um nicht gesehen zu werden, nur bei Nacht wagen, und wie sollte Clarisse sich dann im Park zwischen den vielen abgeschlossenen Häusern zurechtfinden?! Sie fürchtete sich. Obgleich sie wußte, daß es für ausgeschlossen gelten müßte, wurde sie von der Einbildung erschreckt, zwischen den schwarzen Bäumen einem Irrsinnigen in die Hände zu laufen und von ihm vergewaltigt oder erwürgt zu werden. Sie hatte noch immer den Schrei der Tobsüchtigen in den Ohren; auf der letzten Station, ehe sie, an den schönen Frauen vorbei, wieder ins vernünftige Leben zurückgekehrt war. Sie sah oft den nackten Mann vor sich, der in der Mitte eines ganz leeren Raumes stand, der nichts enthielt als eine niedere Liegestatt und einen Abort, die mit dem Boden verwachsen waren. Er hatte einen blonden Bart und hellbraune 783
Schamhaare. Er hatte weder das öffnen der Türe beachtet, noch die Menschen, die ihm zusahen; er stand mit gespreizten Beinen da, hielt den Kopf gesenkt wie ein Widder, hatte dicken Speichel im Bart, wiederholte wie ein Pendel immer wieder die gleiche Bewegung, ein flachkreisendes Vornherumwerfen des Oberleibs, immer mit einem Ruck, immer mit der gleichen Seite, sein Arm bildete dabei mit dem Körper einen steifen Winkel, und das einzige, was sich änderte, war, daß bei jeder dieser Bewegungen ein anderer Finger aus der geballten Faust vorsprang; er wurde von einem lauten, keuchenden Schrei begleitet, den die ungeheure Anspannung des ganzen Körpers, die dazu nötig war, hervorpreßte. Dr. Friedenthal hatte erklärt, daß das stundenlang dauere, und hatte Clarisse noch in andere Zellen blicken lassen, wo augenblicklich Ruhe war. Aber dieser Anblick war womöglich noch schrecklicher gewesen. Er zeigte den gleichen kahlen ausbetonierten Raum, der nichts als einen Menschen enthielt, dessen Anfall man erwartete, und einer von diesen Menschen saß noch in Straßenkleidung da, man hatte ihm bloß den Kragen und die Halsbinde abgenommen. Es war ein Rechtsanwalt mit einem schönen Vollbart und sorgsam gescheiteltem Haar; er saß da und blickte die Besucher an, als sei er eben im Begriff gewesen, zu Gericht zu gehen, und habe sich nur auf diese Steinbank gesetzt, weil er aus Gott weiß welchen Gründen gezwungen sei, zu warten. Über diesen Menschen war Clarisse besonders erschrocken, weil er so natürlich aussah; wie Dr.
Friedenthal sagte, hatte er aber erst vor wenigen Tagen in seinem ersten Anfall seine Frau ermordet, und so ziemlich alle Augenblicksbewohner dieser Abteilung waren Mörder gewesen. Clarisse fragte sich, warum sie sich vor ihnen fürchte, obgleich doch gerade diese Kranken am besten von allen verwahrt und bewacht wurden? Sie fürchtete sich vor ihnen, weil sie sie nicht verstand. Es gab in ihrer Erinnerung auch noch einige andere, wo es ihr ebenso erging. «Aber das ist doch kein Grund dafür, daß ich ihnen begegnen muß, wenn ich nachts durch den Park laufe!?» sagte sie sich. Nun war das aber so. Daß sie ihnen dabei begegnen könne, stand nahezu fest; das war eine Vorstellung, gegen die nichts zu unternehmen war, denn so oft sich Clarisse den Vorgang ausmalte, wie sie über die Mauer steigen und dann zwischen den weit auseinanderstehenden düsteren Bäumen vorwärtsschreiten werde, kam es früher oder später zu einem grauenvollen Zusammenstoß. Damit war also wohl eine Tatsache gegeben, mit der man rechnen mußte, und es fragte sich vernünftigerweise darum, was sie bedeuten solle. Selbst ein so gesetzter Mann wie der berühmte alte amerikanische Schriftsteller Ralph Waldo Emerson, den sie schon in ihrer Mädchenzeit gelesen hatte, weil ihre Freunde sagten, daß er wunderbar sei, hat behauptet, es sei ein allgemeines Natur-und Menschengesetz, daß Gleiches von Gleichem angezogen werde. Clarisse erinnerte sich ungefähr an einen Satz, der lautete, daß alles, was einem Menschen zukommt, von selbst zu ihm hinstrebe, so daß Ursache und Wirkung nur scheinbar aufeinander folgen, in Wahrheit aber bloß zwei Seiten derselben Sache seien und alle Klugheit schlecht sei, weil sie mit jeder Vorsichtsmaßregel gegen die Gefahr in die Gewalt dieser Gefahr versetze. Davon hatte Clarisse, weil sie sich daran erinnerte, bloß die persönliche Anwendung zu machen. Wenn es feststand, daß sie, wenn auch zunächst nur in einer geheimnisvollen gedanklichen Weise immer wieder den Mördern begegne, so zog sie diese Mörder an. Nun wird aber Gleiches von Gleichem angezogen? Also trug sie die Seele eines Mörders in sich. Man muß sich vorstellen, was es heißt, wenn solche ungewöhnlichen Gedanken plötzlich Boden unter den Füßen bekommen!
96 Clarisse besucht Walter im «Atelier»
[Entwurf]
Sie trifft Walter im «Atelier» an; kahler fröstelnder Raum. Er ist halb angezogen und hat einen Schlafrock darüber. Die Pinsel sind trocken, er sitzt vor Entwürfen. Eigentlich hätte er aber schon im Amt sein sollen.
Er ist erregt davon, daß Meingast ohne Abschied abgereist und Clarisse geheimnisvoll aufgeregt ist. Ev.
[entuell] hier: Eigentlich hatte er wollen… solange Meingast im Haus ist…
Schon in der Tür ruft ihm Clarisse zu: Komm, komm! Wir gehn zu Dr. Friedenthal und bitten ihn, daß er uns Moosbrugger zur Pflege überläßt.
Walter kann den Kopf nicht von ihr abwenden und sieht sie an.
«Frag nicht!» befiehlt Clarisse.
Konnte da Walter in diesem Augenblick noch daran zweifeln, daß ihr Geist verstört sei. Die Antwort darauf wird immer sehr von den Umständen abhängig sein. Clarisse sah heftig und schön aus. In ihren Augen lebte ein Feuer, das geradezu so aussah wie das Feuer eines gesunden Willens. Und so gewann in Walter Raum, 784
was ihr Bruder Siegmund über sie gesagt und erst vor kurzem wiederholt hatte, als ihn Walter abermals befragte. Siegmund hatte gesagt: Sie ist übernervös, du mußt sie einmal kräftig anfassen.
Vorderhand faßte aber Clarisse kräftig zu: Sie hüpfte unausgesetzt um Walter herum und wiederholte:
«Komm, komm, komm! Laß dich nicht so bitten!»
Die Worte schienen Walter ums Ohr zu fliegen, sie verwirrten ihn. Man hätte sagen können, er lege die Ohren zurück und stemme die Füße in den Boden, wie es ein Pferd, ein Esel, ein Kalb tut, mit dem Eigensinn, der die Willensstärke eines schwachen Geschöpfes ist: aber ihm stellte es sich in der Form dar: du wirst ihr jetzt den Herrn zeigen!
«Komm erst mit, » sagte Clarisse «dann wirst du schon merken warum!»
«Nein, » rief Walter aus «du wirst mir jetzt sofort sagen,
was du vorhast. »
«Was ich vorhabe? Ich habe etwas Unheimliches vor. »… Sie hatte inzwischen begonnen, was sie zum Ausgehen brauchte, im Nebenzimmer zusammenzutragen, nun zog sie die Gartenschuhe aus, hielt sie einen Augenblick in der Hand und schleuderte sie nun mit plötzlichem Schwung zwischen die Färb-und Pinseltöpfe ihres Gatten. Etwas stürzte um, etwas rollte, etwas klirrte. Clarisse beobachtete die Wirkung auf Walter und brach in Lachen aus. Walter bekam einen roten Kopf; er hatte nicht Lust, sie zu schlagen, aber er schämte sich dessen, daß er diese Lust nicht hatte. Clarisse lachte weiter und sagte: «Da hockst du nun Jahr und Tag bei diesen Töpfen und bringst nichts hervor. Ich werde dir zeigen, wie man es macht. Ich habe dir gesagt, daß ich dein Genie hervorholen werde. Ich werde dich unruhig, unduldsam, gewagt machen!»
und plötzlich war sie dann ruhig und sagte ernst: «Es ist unheimlich, sich den Irren gleichzustellen, aber es ist die Entscheidung zum Genialen! Glaubst du denn, daß wir so wie bisher zu etwas kommen werden?
Zwischen diesen Töpfen, die alle so brav rund sind? Und mit Musik nach dem Abendbrot? Warum sind denn alle Götter und Gottähnlichen antisozial gewesen?»
«Antisozial?» fragte Walter erstaunt.
«Wenn du genau sein mußt: unverbrecherisch antisozial. Denn Mörder oder Diebe waren sie ja nicht. Aber Demut, freiwillige Armut und Keuschheit sind auch ein Ausdruck antisozialer Gesinnung. Und wie hätten sie sonst die Menschen lehren können, wie die Welt zu verbessern wäre, für ihre Person aber die Welt verneint?!»
Nun war es um Walter aber so bestellt, daß er trotz seines anfänglichen Staunens fähig war, diese Behauptung richtig zu finden. Sie erinnerte ihn an die Frage «Kannst du dir Jesus als Bergwerksdirektor vorstellen?» Eine Frage, die so einfach und natürlich mit einem Nein zu beantworten gewesen wäre, hätte sich nicht für Bergwerksdirektor auch Beamter des Denkmalamtes setzen lassen und fühlte man sich nicht dabei von einem lächerlich heißen Ehrgeizfunken durchzuckt. Offenbar bestand nicht nur ein Widerspruch, sondern eine tiefere, eine zwei Weltsysteme trennende Unverträglichkeit zwischen der Pflege des Bürgerlichen und der des Göttlichen, aber Walter, unerachtet seiner schon längst vollzogenen Hinneigung zum Bürgerlichen, wollte beides, oder wollte, was noch schlimmer ist, auf keines verzichten, und Clarisse besaß das, was er einmal schon als «Gott anrufen» empfunden hatte, die Entschlossenheit der Entscheidung, die auf nichts Rücksicht nimmt. So kam es, daß er sich, nachdem sie gesprochen hatte, gerade so fühlte, wie sie es gesagt hatte, als wäre er in das Leben, das er sich schuf, bis zu den Knien eingeklemmt wie in einen gespaltenen Holzblock, während sie vor ihm als das Unruhige, Unduldsame, Gewagte und mit ihm Experimentierende gaukelte. Der Vielbegabte, der er war, wußte, daß das Geniale nicht so sehr in der Begabung liege als in den Willenskräften. Dem Erstarrenden, als den er sich ahnend begriff, erschien es verwandt mit dem Gärenden, dem Unausgegorenen, ja selbst mit dem bloßen Schaum. Er erkannte in ihr neidvoll das Unwahrscheinliche, die um den Mittelwert zuckende Variation der Art, das Geschöpf, das am Rand der Menge halb ihr voran mitgeht und halb verloren, wie es im Begriff des Genialen liegt. Clarisse war der einzige Mensch, an dem er dieses liebte, der ihn damit noch verband, und weil ihre Verbindung mit dem Genialen eine krankhafte war, war seine Angst um sie auch eine Angst um sich. So entstand aus der Zustimmung zu den Worten, mit denen sie ihn überredete und ihre Absicht begründete, und aus dem Reiz des Gefallens, den sie auf ihn ausübte, auf scheinbar natürliche Weise und ohne Bewußtsein des Widerspruchs der Wunsch, nicht auf sie zu hören, ja ihr «den Mann» [zu zeigen] wie Siegmund, der Bruder und Arzt, es ihm geraten hatte.
So sagte Walter nach einer kurzen Pause ziemlich rauh: «Jetzt aber sei vernünftig, Clarisse, laß das Gerede 785
und komm her!» Clarisse hatte sich inzwischen ihrer Kleider entledigt und war eben dabei, sich ein kaltes Bad zu bereiten. Sie sah in ihren kurzen Höschen und mit den mageren Armen wie ein Knabe aus. Sie fühlte die faule Wärme von Walters Körper nahe hinter sich und verstand sofort, worauf er aus war. Sie wandte sich um und setzte ihm die Hand vor die Brust. Aber Walter griff nach ihr. Er umklammerte mit der einen Hand ihren Arm und suchte sie mit der anderen am Kreuz zu umfassen und an sich zu ziehen. Clarisse riß an der Umklammerung, und als das nichts half, stemmte sie ihre freie Hand in Walters Gesicht, vor Nase und Mund. Er wurde rot im Gesicht, und das Blut zitterte in den Augen, während er mit Clarisse rang und sie nicht merken lassen wollte, daß ihm ihr Griff wehtat. Und als ihn die Atemnot zu betäuben drohte, mußte er ihre Hand aus seinem Gesicht schlagen. Blitzschnell fuhr sie wieder hin, und diesmal rissen die Nägel zwei blutende Furchen in seine Haut. Clarisse war frei.
So standen sie nun einander gegenüber. Keiner von beiden wollte sprechen. Clarisse erschrak über ihre Roheit, aber sie war außer sich. Ein Zugriff von oben hatte sie außer sich gerissen; sie war ganz nach außen gewendet, ein Busch voll Dornen. Sie befand sich in Ekstase. Keiner der Gedanken, die sie wochenlang beschäftigt hatten, fand sich jetzt in ihr vor, sie hatte sogar das nächste vergessen, und das, was sie wollte.
Ihre Person war weg, mit Ausnahme dessen, was sie zur Abwehr brauchte. Sie fühlte sich ungeheuer stark.
In diesem Augenblick haschte Walter von neuem nach ihr, und diesmal mit ganzer Kraft. Er war zornig geworden und fürchtete auf der ganzen Welt nichts so sehr, als wieder vernünftig zu werden. Clarisse schlug nach ihm. Sie war sogleich wieder bereit zu kratzen, zu beißen, ihm das Knie in den Bauch, den Ellbogen in den Mund zu stemmen, und es waltete nicht einmal Zorn oder Abneigung dabei vor, geschweige denn eine Überlegung, eher hatte sie ihn bei diesem Kampf in einer wilden Weise lieb, obwohl sie sich imstande fühlte, ihn zu töten. Sie hätte in seinem Blut baden mögen. Sie tat es mit ihren Nägeln und mit den kurzen Blicken, die entgeistert seinen Anstrengungen und den kleinen roten Rinnsalen folgten, die dabei in seinem Gesicht und auf seinen Händen aufsprangen. Walter schimpfte. Er beschimpfte sie.
Gemeine Worte kamen aus seinem Mund, die mit seinem gewöhnlichen Wesen gar nichts zu tun hatten.
Ihre lautere, unverdünnte Männlichkeit roch wie Branntwein, und es zeigte sich das Bedürfnis nach gemeinen, beleidigenden Reden plötzlich als ebenso ursprünglich wie das nach Zärtlichkeit.
Wahrscheinlich kam darin nichts als eine Mißgunst gegen allen geistigen Ehrgeiz hervor, der ihn Jahrzehnte lang gequält und gedemütigt hatte und sich zuletzt in Clarisse nun noch einmal wider ihn aufrichtete. Natürlich hatte er keine Zeit, daran zu denken. Aber er fühlte doch deutlich, daß er nicht bloß deshalb im Begriff stand, ihren Willen zu brechen, weil Siegmund es so geraten hatte, sondern daß er es auch wegen des Brechens und Knickens tat. Auf irgendeine Weise kamen ihm die lächerlich schönen Bewegungen eines Flamingos in den Sinn. «Es wird sich schon zeigen, was davon übrig bleibt, wenn ihn ein Bulldogg erwischt!» dachte er vom Flamingogeist, aber halblaut stieß er zwischen den Zähnen:
«dumme Gans!» hervor.
Und auch Clarisse war nur von dem Gedanken beseelt: «Er darf nicht seinen Willen haben!» Sie fühlte ihre Kräfte noch immer wachsen. Ihre Kleidung zerriß, Walter griff in die Fetzen, sie packte den Hals an, den sie vor sich hatte. Halbnackt, schlüpfrig wie ein zappelnder Fisch kämpfte sie in den Armen ihres Gatten.
Walter, dessen Kraft nicht ausreichte, sie ruhig zu überwältigen, schleuderte sie hin und her und suchte ihre Angriffe schmerzhaft zu blocken. Sie hatte den Schuh verloren und trat mit dem nackten Fuß nach ihm. Sie kamen zu Fall. Sie hatten das Ziel ihres Kampfes und seinen geschlechtlichen Ursprung beide scheinbar vergessen und kämpften nur, um ihren Willen durchzusetzen. In dieser höchsten, krampfartigen Zusammennähme ihrer Person verschwanden sie eigentlich. Ihre Wahrnehmungen und Gedanken nahmen allmählich eine völlig unbestimmbare Beschaffenheit an wie in blendendem Licht. Sie empfanden fast Verwunderung darüber, daß sie noch existierten (ihre Personen noch vorhanden waren).
Namentlich Clarisse war in ein solches Fieber geraten, daß sie sich gegen die ihr zugefügten Schmerzen unempfindlich fühlte, und wenn sie wieder zu sich kam, berauschte sie das durch die Überzeugung, die gleichen Geister, die sie in letzter Zeit erleuchtet hätten, stünden ihr nun bei und kämpften auf ihrer Seite.
Um so mehr entsetzte es sie, als sie mit der Zeit bemerken mußte, daß sie ermüdete. Walter war stärker und schwerer als sie; Ihre Muskeln wurden taub und locker. Es kamen Pausen, wo sie von seinem Gewicht an die Erde gedrückt wurde und sich nicht rühren konnte, und die Abfolgen von Abwehrbewegungen und rücksichtslosen Angriffen gegen empfindliche Körper-und Gesichtsstellen, in denen sie sich Luft schaffte, wurden immer öfter von Ohnmacht und erstickendem Herzklopfen abgelöst. So trat das ein, was Walter 786
erwartet hatte: die Natur siegte, Clarissens Körper ließ ihren Geist im Stich und verteidigte nicht mehr seinen Willen. Ihr kam das vor, als hörte sie in sich die Hahnen schrein am Ölberg: ungeheuerlich, Gott verließ ihre Welt, es bereitete sich etwas vor, das sie nicht absehen konnte. Und Walter schämte sich zuweilen schon. Wie ein Lichtstrahl traf ihn dann die Reue. Es kam ihm auch vor, daß Clarisse gräßlich verzerrt aussehe. Aber er hatte schon so viel gewagt, daß er nicht mehr ablassen wollte. Er benutzte die Ausrede, daß die Brutalität, die er begehe, sein Recht als Gatte sei, um sich weiter zu betäuben. Plötzlich schrie Clarisse. Sie bemühte sich, einen langen, schrillen, eintönigen Schrei auszustoßen, als sie ihren Willen entweichen sah, und bei dieser letzten, verzweifelten Abwehr lag ihr im Sinn, sie könnte vielleicht mit diesem Schrei und dem Rest ihres Willens selbst ihrem Körper entfahren. Aber sie hatte nicht mehr viel Atem; der Schrei dauerte nicht lange und niemand wurde von ihm herbeigezogen. Sie war allein gelassen.
Walter war über diesen Schrei erschrocken, verschärfte dann aber zornig seine Bemühungen. Sie fühlte nichts. Sie verachtete ihn. Schließlich verfiel sie noch auf ein Auskunftsmittel: sie zählte so schnell und so laut sie konnte «Eins, zwei, drei, vier, fünf. Eins, zwei, drei, vier, fünf», immer wieder. Es war Walter schrecklich, aber es hielt ihn nicht auf.
Und als sie sich verstört aufrichteten, sagte sie: «Warte, ich werde mich rächen!»
In dem Augenblick, wo dieser widerliche Auftritt beendet war, schlug die Beschämung über Walter zusammen. Clarisse saß mit finsterem Gesicht, nackt wie sie war, in einem Winkel und erwiderte nichts auf seine Bitten um Verzeihung. Er mußte sich ankleiden; Blut und Tränen flössen ihm in den Rasierschaum.
Er mußte forteilen. Er fühlte, daß er die Geliebte aller Tage seit seiner Jugend nicht in diesem Zustand zurücklassen könne. Er suchte sie wenigstens zu bewegen, daß sie sich ankleide. Clarisse entgegnete, sie könne nun ebenso gut so sitzen bleiben bis ans Ende aller Tage. Von seiner Verzweiflung und Hilflosigkeit wich da sein ganzes Mannesleben zurück, er warf sich auf die Knie und bat sie mit erhobenen Händen, ihm zu verzeihen, so wie er einst gegen Schläge gebeten hatte; es fiel ihm nichts anderes mehr ein.
«Ich werde alles Ulrich (den anderen) erzählen!» sagte Clarisse ein wenig versöhnt. Walter bettelte sie, es zu vergessen. Es lag in seiner Würdelosigkeit etwas, das mit ihm versöhnte; er liebte Clarisse, die Scham war wie eine Wunde, aus der wirkliches, warmes Blut quoll. Aber Clarisse verzieh ihm nicht. Sie konnte ihm so wenig verzeihn wie ein Kaiser verzeihen kann, der die Verantwortung für ein Reich trägt, solche Menschen sind etwas anderes als Privatperson. Sie ließ ihn schwören, sie nicht mehr anzurühren, ehe sie ihm es erlaube. Walter wurde zu einer Sitzung erwartet; er schwor rasch, mit der Uhr im Herzen. Dann gab ihm Clarisse dennoch den Auftrag, Ulrich herzuschicken; sie sagte zu, daß sie schweigen werde, aber sie brauchte die beruhigende Nähe eines vertrauten Menschen.
97 Walter bei Ulrich
[Früher Entwurf]
In einer Dienstpause nahm Walter einen Wagen, um so rasch es möglich war zu Ulrich zu kommen.
Ulrich war zu Hause. Sein Leben ödete ihn an. Er wußte nicht, wo Agathe war. Seit sie sich von ihm getrennt hatte, besaß er keine Nachricht von ihr. Sorge um ihr Ergehen marterte ihn. Alles erinnerte ihn an sie. Wie kurz war es her, daß er sie von einem unbesonnenen Entschluß zurückgehalten hatte. Trotzdem glaubte er nicht daran, daß sie das tun würde, ohne ihn noch einmal gesprochen zu haben. Vielleicht gerade deshalb; denn der Rausch - wirklicher Rausch, eine Bezauberung! - war vorbei. Unwiderruflich hatte der Versuch, ihr Verhältnis zueinander so zu gestalten, wie sie es unternommen hatten, fehlgeschlagen. Weite Gebiete des Gefühls und der Einbildungen, die das ganze Leben lang vordem wie ein opalisierender Himmel vielen Dingen einen Glanz unbekannter Herkunft gegeben hatten, waren jetzt verödet. Ulrichs Geist war trocken geworden wie ein Boden, unter dem sich die Feuchtigkeit führende Schicht, von der alles Grüne lebt, verloren hat. Wenn das ein Unsinn war, was er zu wollen gezwungen wurde, — und die Abspannung, mit der er daran denken mußte, ließ keinen Zweifel zu! — so war das Beste in seinem Leben immer ein Unsinn gewesen. Der Schimmer des Denkens, der Hauch von Übermut, diese zarten Boten einer besseren Heimat, die zwischen den Dingen der Welt wehn. Es blieb nichts übrig, als vernünftig zu werden, er mußte seiner Natur Gewalt antun und sie wahrscheinlich nicht nur in eine harte, sondern auch von vorneher langweilige Schule nehmen. Er wollte nicht geboren sein zum Müßiggänger und würde es jetzt sein, wenn er nicht bald anfinge, mit den Folgen dieses Fehlschlags Ordnung zu machen. Aber wenn er sie 787
prüfte, lehnte sich sein Wesen dagegen auf, und wenn sich sein Wesen dagegen auflehnte, sehnte er sich nach Agathe; ohne Überschwang geschah das, aber doch so, wie man nach einem Leidensgenossen verlangt, wenn er der einzige ist, mit dem man vertraut ist.
Walter erkundigte sich mit zerstreuter Höflichkeit nach Ulrichs Abwesenheit; Ulrich wartete verlegen darauf, daß er nach Agathe fragen werde, zum Glück vergaß es Walter. Er habe in der letzten Zeit gesehn, daß es Wahnsinn sei, an der Liebe einer Frau zu zweifeln, die man selbst liebe, begann er. Selbst wenn man getäuscht würde, käme es nur darauf an, sich fruchtbar täuschen zu lassen, so daß das innere Leben aller daran Beteiligten um eine Stufe gehoben werde. Alle negativen Empfindungen seien unfruchtbar; andererseits gebe es nichts, worin man nicht den Kern der Fruchtbarkeit finden könnte, wenn man die Schalen der Weltgemeinschaft davon abstreifte. Zum Beispiel: Er habe oft Unrecht getan, auf Ulrich eifersüchtig zu sein.
«Warst du wirklich auf mich eifersüchtig?» fragte Ulrich.
«Ja» bekannte Walter, und für einen Augenblick entblößten sich in unbewußt andeutender, aber lächerlich abschreckender Weise zwei Zähne. «Ich habe das natürlich nie anders als geistig betrachtet. Clarisse empfindet für deinen Körper eine gewisse Sinnesverwandtschaft. Du verstehst: weder dein Körper zieht ihren Körper, noch dein Geist ihren Geist an, sondern dein Körper ihren Geist; du wirst zugeben, daß das nichts Einfaches ist und daß es für mich nicht immer leicht war, mich richtig zu dir zu verhalten. »
«Und Meingast?»
«Meingast ist jetzt abgereist, » schickte Walter voraus «aber das war anders. Ich bewundere Meingast selbst.
An diesen Menschen kommt heute kein zweiter heran, wenn man alles in allem nimmt. Ich könnte es Clarisse gar nicht verbieten, ihn zu lieben. »
«Doch, das könntest du schon. Erstens müßtest du ihr sagen, daß Meingast ein Faselhans ist — »
«Laß das! Ich brauche heute deine Freundschaft, nicht Streit!»
«So könntest du Clarisse immer noch sagen, daß ein großer Mensch doch nicht die Aufgabe hat, wie ein Riesenmagnet die Nägel aus allen Ehen zu ziehen; also muß auch auf Seiten der Ehe etwas sein, das durch die Überlegenheit dieses dritten nicht verändert werden kann. Du bist doch konservativ, und wirst dir das doch wohl ausdenken können. Es ist übrigens eine fesselnde Frage. Überleg einmal: Jeder Dichter, Musiker, Philosoph, Führer, Chef findet heute Menschen, die ihn für das Höchste auf Erden halten. Die natürliche Folge wäre, besonders bei den leichter beweglichen Frauen, daß sie ihm als ganzer Mensch zuliefen. Dem Leibphilosophen und Leibdichter! Diese Worte haben ein Anrecht darauf, wörtlich genommen zu werden; denn wo sollte man sonst mit Seele und Leib hinwollen, wenn nicht zu diesem höchsten Ruhepunkt?!
Ebenso sicher ist es aber, daß das nicht geschieht. Nur hysterische Frauen laufen heute den großen Geistern nach. Was kann die Ursache sein?»
Walter antwortete widerwillig. «Du hast doch selbst gesagt, daß es für das Zusammenleben noch andere Gründe gibt. Kinder, das Bedürfnis nach einem festen Platz; und dann: es gibt ein Zusammenpassen zweier Menschen, das mehr ist als das Zusammenpassen ihrer Ansichten!»
«Ach, Ausreden! Das Zusammenpassen, von dem du sprichst, ist nichts anderes, als daß man den Ansichten noch weniger vertraut als einem gewohnten Leben, das sich nicht als gerade unerträglich herausgestellt hat.
Es ist einfach ein Glück, daß man den Menschen, die man bewundert, doch nicht ganz traut. Das Durcheinander, wobei immer eines vom anderen entkräftet wird, ist offenbar zu einem Mittel der Lebenserhaltung geworden. Die Neigungen halten durch einen feinen Rest von Abneigung gegen den dritten zusammen. Und insgesamt ist das natürlich nichts anderes als die Pharisäerseele, die, wenn sie einmal in einem Leib darin steckt, sich einbildet, daß jeder andere Leib geheime Nachteile hat!»
«Ich habe vorausgeschickt, » rief Walter empört aus «daß ich es Clarisse nicht verbieten könnte, wenn sie Meingast wirklich liebte!»
«Und warum erlaubst du ihr dann nicht, mich zu lieben?» fragte Ulrich lachend. «Weil du mich nicht magst.
Und du magst mich nicht, weil ich dich in unserer Jugend ein paarmal verprügelt habe. Als ob ich nie auf Stärkere gestoßen wäre, die mich verprügelt hätten! So unsinnig ist das, so borniert und gedankeneng. Ich mache dir keinen Vorwurf; wir haben alle diese Schwäche, daß wir nicht loskommen können, ja geradezu, daß solche albernen Zufälle das Material sind, das uns innerlich aufbaut, während unsere Erkenntnisse nur wie die Luft sind, die darum herumstreicht. Wer ist denn stärker: du oder ich? Herr Ing. Kurz oder Herr Kunsthistoriker Lang? Ein Meisterringer oder ein Kurzstreckenläufer? Ich meine, diese Sache hat heute 788
doch schon sehr ihren Sinn verloren. Wir sind einzeln alle nichts. Um in deiner Sprache zu reden: Wir sind Instrumentalisten, die sich in der Ahnung zusammengefunden haben, daß sie ein wunderbares Stück spielen sollen, dessen Partitur noch nicht aufgefunden worden ist. Was würde also geschehn, wenn sich Clarisse in mich verliebte? Daß man nur einen Menschen lieben könne, ist nichts als ein juristisches Vorurteil, das uns ganz und gar überwuchert hat. Sie würde auch dich lieben und gerade dann in der besten dir zukommenden Art, weil sie frei von dem Ärger wäre, daß du gewisse Eigenschaften nicht hast, an denen ihr doch auch etwas liegt. Die einzige Bedingung wäre, daß du dich mir gegenüber wirklich als ein Freund betragen müßtest; das heißt, du brauchst mich nicht zu verstehn, denn ich verstehe die Zellen in meinem Gehirn auch nicht, obgleich etwas viel Innigeres zwischen uns besteht als Verständnis! -und du dürftest mir mit allen deinen Gefühlen und Gedanken widersprechen, aber nur in einer bestimmten Weise: denn es gibt Widersprüche, die Fortsetzungen sind, zum Beispiel die in uns selbst, wir lieben uns samt ihnen. »
Walter war das vorgekommen, wie wenn ein Eimer eine Treppe hinab ausgegossen wird, Ulrichs Rede breitete sich aus und einmal mußte sie versiegen; er ging inzwischen im Zimmer auf und ab, aber er konnte es nicht abwarten. Er blieb stehn und sagte: «Ich muß dich unterbrechen. Ich will dir weder widersprechen, noch zustimmen. Ich weiß nicht, warum du das überhaupt sagst; mir kommt es in die Luft gesprochen vor.
Und wir sind beide einige dreißig Jahre alt, es hängt nicht mehr alles in der Luft wie mit neunzehn Jahren, man ist etwas, man hat etwas, und alles, was du sagst, ist grenzenlos undringlich. Aber das Entsetzliche ist, daß ich Clarisse habe versprechen müssen, dich heute noch zu ihr hinauszuschicken. Versprich mir, daß du mit ihr weniger unvernünftig reden wirst als mit mir!»
«Aber dazu müßte ich dir zuerst versprechen, daß ich hinausgehe. Ich habe heute nicht die geringste Lust dazu! Entschuldige mich: auch ich fühle mich nicht wohl. »
«Aber du mußt mir die Bitte erfüllen! Dir kommt es nicht darauf an, du verträgst schon etwas; aber Clarisse ist seit Tagen in einem beängstigenden Zustand. Ich habe mir noch dazu einen großen Fehler zuschulden kommen lassen, widerwärtig, versichere ich dir, man ist manchmal wie ein Tier. Ich habe Angst um sie!»
Die Erinnerung überwältigte ihn augenblicklich. Er hatte Tränen in den Augen und sah durch die Tränen hindurch Ulrich zornig an. Der begütigte ihn und versprach zu kommen.
«Geh gleich hinaus» bat Walter. «Ich habe sie sehr aufgeregt zurücklassen müssen. » Und er erzählte Ulrich in Eile, daß Meingasts unerwarteter und wirklich auch ihn sonderbar berührender Abschied Clarisse offenbar erschüttert habe, denn im Anschluß daran habe sie sich in letzter Zeit auffallend verändert. «Du weißt ja, wie sie ist» sagte Walter, dem immer von neuem ein Tränenschleier über die Augen rann. «Ihre ganze Natur hindert sie, etwas, das sie nicht für recht hält, gewähren zu lassen; das Geschehenlassen, von dem unsere ganze Zivilisation voll ist, ist für sie eine Hauptsünde !»… Dann fügte er leiser hinzu, Clarisse habe ihm nach Meingasts Abreise gestanden, daß sie während seines Aufenthalts oft an einer Art Zwangsgedanken gelitten habe, die alle darauf hinaus kamen, daß die ganze einzigartige Entwicklung zum Großen, die Meingast durchlaufen habe, seit er als ein gewöhnlicher junger Schwerenöter von ihnen fortgegangen war, ihren Grund darin habe, daß er die Sünden aller Menschen, seiner Freunde, die mit ihm zu tun hatten, auf sich nahm und überwand, und wie sich zeigte, auch die von Clarisse und Walter selbst.
Ulrich mußte seinen Jugendfreund wohl mit einer unwillkürlichen Frage angesehen haben, denn Walter schloß augenblicklich eine Verteidigung daran. Das klinge nur so beunruhigend, versicherte er, sei aber gar nicht überspannt. Jeder Mensch steige dadurch, daß er die Fehler anderer auf sich nehme und in sich verbessere. Clarisse habe bloß eine ungewöhnlich lebendige Heftigkeit, wenn sie plötzlich von solchen Fragen gepackt werde, und einen Ausdruck dafür ohne Zugeständnisse. «Aber du würdest, wenn du sie so genau kenntest wie ich, finden, daß hinter allem, was an ihr wunderlich erscheint, ein unvergleichliches Empfinden für die tiefsten Fragestellungen des Lebens liegt!» Die Liebe machte ihn blind, indem sie Clarisse für ihn durchsichtig bis auf den Grund machte, wo das liegt, was man meint, während alle Unterschiede zwischen erleuchteten und dummen, gesunden und kranken Köpfen sich in der weniger tiefen Schicht dessen abspielen, was man sagt und tut.
98 Waldszene. Ulrich und Clarisse
[Früher Entwurf]
Clarisse hatte nach dem Auftritt mit ihrem Mann sich am ganzen Körper gewaschen und war aus dem Haus 789
gelaufen. Sie wollte sich hinter der blauen Linie des Waldrandes verkriechen. Und während sie lief, war das Blinkende, Glitzernde, Tropfensprühende des weißen Wassers um sie, wie ein Stachelpanzer mit auswärts gerichteten Spitzen. Eine äußerste Gereiztheit des Reinlichkeitsbedürfnisses verfolgte sie. Als sie sich dem Wald näherte, sah sie zurück, sah gerade in die kleinen dunklen, wie Nasenlöcher offenen Fenster ihres Hauses, und vieles war schon damit vorbei. Kräuterduft brannte in der Vormittagssonne; Gewächse kitzelten sie; das Stechende, Harte, Heiße, Rücksichtslose der Natur tat ihr wohl. Sie fühlte sich der Enge des persönlichen Verhältnisses entrückt. Sie konnte denken. Es war offenbar geworden, daß Walter durch die Anziehung, die von ihr ausging, zugrundegerichtet wurde; viel tiefer als heute brauchte er kaum noch zu sinken.
Also war es auch an ihr, das Opfer zu bringen! Aber was war das, das Opfer? Solche Worte fallen wie ein Gedicht ein. Das Wort Opfer ergab sich auf die gleiche Weise, wie es sich ergeben hatte, daß sie die Seele eines Mörders in sich trage, und besonders nach dem Auftritt mit ihrem Gatten mußte sie annehmen, daß sie auch die Seele eines Satyrs, eines Bockes in sich beherberge. Gleiches wird ja nur von Gleichem angezogen.
Der aber erkennt, muß sich opfern: Das ist das unerbittliche Gesetz, nach dem das Große lebt. Clarisse begann zu verstehn; aber gleichzeitig mit dem Erkennen, daß sie die Seele eines Bockes in sich trage, begann auch der Schreck zu schmelzen, der wie ein Eisblock in sie gerollt war, und die dem Körper verursachte, von der Seele verhinderte Erregung taute in ihren Gliedern auf. Es war ein wundervoller Zustand. Die Berührung der Büsche drang durch die Haut tief in ihre Nerven ein. Das Schwellen des Mooses unter ihren Sohlen, das Zwitschern der Vögel wurden sinnlich und überzogen das Weltinnere wie mit dem Fleisch einer Frucht. «Ihr werdet mich verleugnen, wenn ihr mich erkennt!» dachte Clarisse. «Das heißt verleugnen, wenn und weil ich im Irrenhaus bin… » Sobald das gedacht war, zeigte sich auch schon, daß Walter sie wirklich verleugnen lernen müsse, denn nur so konnte er von ihr befreit werden. Eine große Trauer befiel sie bei diesem Gedanken. «Alle werden mich verleugnen» sagte sie sich noch einmal. «Und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, werdet ihr mündig sein. Erst wenn ihr alle mündig geworden seid, will ich euch wiederkehren!» fügte sie hinzu. Wie Ansätze von herrlichen Gedichten war das, deren zweite Zeile sich bereits in einem Übermaß von Erregung und Schönheit verlor. «Golgatha-Lied» nannte sie es.
Eine Spannung, als müßte sie im nächsten Augenblick in einen Tränenstrom ausbrechen, begleitete diese ungeheure Leistung. Was sie am tiefsten verwunderte, war die ungeheure Unfreiwilligkeit in diesem Sturm von Freiheit. «Wäre ich nur ein wenig abergläubisch und nicht von so harter Gesundheit», dachte sie «so würde ich mich jetzt vor mir fürchten müssen!» Ihre Gedanken waren bald so, als wäre sie nur ein Instrument, auf dem ein fremdes und höheres Wesen spielte, ihre Lichtgestalt, das ihr Antworten gab, ehe sie noch recht gefragt hatte, und Gedanken aufbaute, die wie die Umrisse ganzer Städte auf sie zukamen, so daß sie erstaunt stehenblieb; bald waren sie so, daß Clarisse selbst ganz leer zu sein schien, ein Federleichtes, das mit Mühe seine Schritte zurückhalten mußte, denn jedes Ding, worauf ihr Auge fiel, oder jede Erinnerung, die der Strahl des Gedächtnisses beleuchtete, führte sie hastig und gab sie an das nächste Ding und den nächsten Einfall weiter, so daß Clarissens Gedanken zuweilen neben ihr herzulaufen schienen und ein stürmischer Wettlauf mit ihrem Körper begann, bis die junge selig entrückte Frau einhalten mußte und sich erschöpft in die Waldbeeren warf.
Sie hatte eine Lichtung gefunden (Das ist aber nicht nur so ein Tun, sondern ein Fund, eine Entdeckung!), in die die Sonne hineinschien, und während sie die warme Erde fühlte, auf der sie lag, streckte sie sich wie auf einem Kreuz aus, und Nägel aus Sonnenstrahlen drangen durch ihre aufwärts gekehrten Hände.
Sie hatte für Ulrich einen Zettel in der Wohnung liegen gelassen, auf dem nichts stand, als daß sie ihn im Wald erwarte. (Ulrich muß das doch etwas sonderbar finden. >
Ulrich hatte nach dem Gespräch mit Walter sich aufgemacht und auch wirklich die Nachricht gefunden. Er nahm ohneweiters an, daß Clarisse irgendwo in einem Hinterhalt stecke und sich schon melden werde, wenn er den Wald betrete. Von dem heißen Morgen bedrückt, schritt er (unlustig) auf dem Weg aus, den sie gewöhnlich zu nehmen pflegten, wenn sie in den Wald gingen, und als er Clarisse nicht fand, drang er aufs Geratewohl weiter in den Wald ein. Aus Walters Erzählungen hatte am nachhaltigsten die Nachricht auf ihn gewirkt, daß Clarisse sich mit Moosbrugger beschäftige. Von ihm aus hätte Moosbrugger längst schon tot oder gehenkt sein können, denn er hatte sich wochenlang nicht an ihn erinnert, und das war doch recht merkwürdig, wenn man bedachte, daß gar nicht viel früher das Bild dieses roh phantastischen Menschen ordentlich ein Mittelpunkt in seinem Leben gewesen war. «Man fühlt wahrhaftig als sogenannter normaler 790
Mensch» sagte er sich «ebenso unzusammenhängend wie ein Wahnsinniger. » Die Hitze lok-kerte seinen Kragen und die Poren seines Gesichts auf, ging gleichsam durch die weich gewordene Haut ein und aus.
Das Zusammenkommen mit Clarisse bereitete ihm gar keine angenehme Erwartung. Was konnte er ihr sagen? Sie war immer das gewesen, was man verrückt nennt, ohne es ernst zu meinen; wenn sie es nun wirklich würde, konnte sie vielleicht häßlich und abstoßend sein, das wäre das einfachste; wenn sie ihn aber nicht abstieß? Nein; Ulrich nahm an, daß sie ihn abstoßen müsse, Der entartete Geist ist häßlich. So stolperte er mit einemmal beinahe über sie, denn beide waren unwillkürlich der Richtung eines breiten Pfads gefolgt, in dem sich der Weg fortsetzte, der sie zum Wald gebracht hatte. Clarisse hatte ihn kommen gesehn, bunt in den Waldkräutern liegend und seinem Blick entzogen. Sie war schnell auf seinen Weg gekrochen und dort sitzen geblieben. Sein Gesicht, das sich unbeobachtet glaubte und nur in vegetativem Rapport mit den Hindernissen lebte, durch die es daher kam, bereitete ihr durch die vielen, unbewußten, männlich entschlossenen Bewegungen darin ein wunderliches Gefühl. Ulrich hielt erst überrascht an, als er sie fast unter sich liegend gewahrte, den Blick lächelnd zu ihm emporgehoben. Sie war nicht im mindesten häßlich.
«Wir müssen Moosbrugger befrein» erklärte Clarisse, nachdem Ulrich sie gebeten hatte, ihm doch die Einfalle auseinanderzusetzen, von denen er gehört habe. «Wenn es nicht anders geht, müssen wir ihm eben zur Flucht verhelfen! Ich weiß gewiß, daß du mir helfen wirst!» Ulrich schüttelte den Kopf.
«Dann komm!» stieß Clarisse hervor. «Wir wollen tiefer in den Wald hineingehn, wo wir allein sind. » Sie war aufgesprungen. Der sinnlos wuchernde Wille, der von diesem kleinen Wesen ausging, war wie die in der Sonne dunstenden Brombeerranken, zwischen denen es von unbekanntem Geziefer flog und wimmelte; unmenschlich, aber angenehm. «Aber du bist erhitzt!» rief Clarisse aus. «Du wirst dich zwischen den Bäumen erkälten!» Sie nahm ein Tuch von ihrem warmen Körper und warf es ihm behend über den Kopf; dann kletterte sie an ihm empor, verschwand ebenfalls unter dem Tuch und küßte ihn wie ein übermütiges kleines Mädchen, ehe er sie von sich hinabwerfen konnte. Clarisse stolperte und kam zu sitzen. «Ich habe dir» drohte Ulrich brummend «nicht verziehen, daß ich in der Zeit, wo du in diesen Wirrkopf Meingast verliebt gewesen bist, für dich überhaupt nicht vorhanden war!» «So?» antwortete Clarisse. «Das verstehst du nicht. Meingast ist homosexuell. Da hast du mich also überhaupt nicht verstanden!»
«Aber was heißt dein Gerede von Erlösen?» fragte Ulrich streng. «Das ist doch auch erst durch ihn so ausgewachsen?» «Oh, das werde ich dir erklären, komm!» versicherte Clarisse.
Ulrich schickte voraus, was ihm schon Walter gesagt hatte. «Gut, ja. Aber das ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist der Bär. » «Der Bär?»
«Ja; die spitze Schnauze mit den Zähnen, die alles zerreißt. Ich wecke den Bären in euch!» Clarisse zeigte mit einer Bewegung, was sie meine, und lächelte unschuldig. «Aber Clarisse!» «Natürlich!» sagte Clarisse. «Du verleugnest mich, wenn ich aufrichtig bin! Aber sogar Walter glaubt daran, daß jeder Mensch ein Tier habe, dem er ähnlich sehe. Von dem muß man ihn erlösen. Nietzsche hatte den Adler, Walter und Moosbrugger haben den Bär. » «Und ich?» fragte Ulrich neugierig. «Das weiß ich eben noch nicht. » «Und du?»
«Ich bin ein Bock mit Adlerflügeln. » (Wenn Clarisse so etwas sagte, erinnerte sie an Totem. > So streiften sie durch den Wald, aßen hie und da Beeren, und wurden von Hitze und Hunger trocken wie Geigenholz. Zuweilen brach Clarisse ein trockenes Zweiglein ab und reichte es Ulrich; der wußte nicht, ob er es wegwerfen oder in der Hand halten solle, wie bei Kindern, wenn sie so etwas tun, lag etwas anderes dahinter, wofür kein Begriff vorhanden war. Nun blieb Clarisse in der Wildnis stehen, und die Lichter ihrer Augen leuchteten. Sie erklärte: «Moosbrugger hat einen Lustmord begangen, nicht wahr? Was ist das? Die Lust hat sich in ihm getrennt vom Menschlichen! Ist das in Walter aber nicht auch so? Und in dir?
Moosbrugger hat dafür büßen müssen. Muß man ihm nicht helfen ? Was sagst du dazu?» Von den Füßen der Bäume roch es nach Dunkelheit, Pilzen und Fäulnis, von oben nach sonnenbeschienenen Fichtenzweigen.
«Wirst du das für mich machen?» fragte Clarisse. Ulrich sagte wieder nein und bat Clarisse, nach Hause zu kommen.
Sie schlängelte neben ihm her und ließ den Kopf hängen. Sie waren weitab gekommen. «Wir haben Hunger» sagte Clarisse und zog ein Stück alten Brotes hervor, das sie in der Tasche getragen hatte. Sie gab auch Ulrich davon zu essen. Es war ein merkwürdig angenehm unangenehmes Gefühl, das den Hunger 791
stillte und den Durst quälte. «Die Mühle der Zeit mahlt trocken, » dichtete Clarisse dazu «Körnchen um Körnchen fühlst du fallen. »
Und Ulrich kam es vor, daß er sich zwischen diesen lauter sinnlosen Unannehmlichkeiten, ohne viel nachzudenken, so wohl fühlte wie schon lange nicht.
Clarisse setzte noch einmal an, ihn zu gewinnen. Sie wolle es selbst tun. Sie habe einen Plan, Sie brauche nur etwas Geld. Und er müsse einmal statt ihrer mit Moosbrugger sprechen, weil sie nicht mehr in die Klinik dürfe.
Ulrich versprach es. Diese Räuberromantik füllte die Zeit aus. Er verwahrte sich gegen alle Folgen. Clarisse lachte.
Als sie auf dem Heimweg waren, wollte es der Zufall, daß sie einem Mann begegneten, der einen gezähmten Bären führte. Ulrich scherzte darüber, Clarisse wurde aber ernst, und schien an der Nähe seines Körpers Schutz zu suchen und hatte ein ganz vertieftes Gesicht. Als sie die Wandernden überholten, rief sie plötzlich laut aus: «Ich zähme jeden Bär!» Es klang wie ein ungeschickter Scherz. Dabei griff sie aber nach der Schnauze des Bären, um sie am Maulkorb zu fassen, und Ulrich hatte Mühe, sie rasch genug von dem erschreckt aufbrummenden Tier zurückzureißen.
99 Werden eines Tatmenschen
Direktor Leo Fischel hätte trotz seines gesetzten Alters am liebsten jeden gefragt: Wissen Sie, wer Leona ist?
Aber er wußte, daß man das nicht tun dürfe. So blieb es sein Geheimnis. Wer war Leona? Leona war jene Leontine, die Ulrich so getauft hatte, weil sie ihm wie ein großes Löwenfell vorkam, das sich mit Delikatessen ausstopfte. Sie trat in kleinen Singspielhallen auf und sang bürgerliche Schmachtlieder mit außerordentlicher Ehrbarkeit. Sie aß und trank immer zuviel. Es war ihre Art von Vornehmheit. Wenn sie auf der Speisekarte Polmone à la Torlonia las, sprach sie es aus, wie wenn ein andrer beiläufig sagt, daß er mit dem Fürsten gleichen Namens gesprochen habe. Wenn ihr Magen sich hob - in jener leicht unangenehmen Weise, die noch lange kein Übergeben ist —, weil sie zu schwer gegessen und getrunken hatte, so empfand sie das wie eine gehobene gesellschaftliche Stellung. Es war eine üble Zeit Ulrichs gewesen, die er mit ihr verbracht hatte. Lange Nächte hindurch war ihm zumute gewesen, er habe sich in einen Käfig geschlichen und säße nun in der Ecke, während in der anderen dunklen Ecke ein unbekanntes Tier hockte, das ihn als seinen Mann ansehe. Er hatte sich bald und in einer anständigen Weise von Leona befreit, die es ihr ermöglichte, sich noch einige Monate in der Hauptstadt zu halten, von deren Genüssen sie sich nicht trennen wollte, und ohne es zu wissen, hatte er damit Leonas Glück begründet. Sie war das talentloseste Geschöpf, das je eine Bühne belastet hat, aber es gibt eine deutsche Wortverbindung «dumm und gefräßig», und durch die Beliebtheit dieser Wortverbindung machte sie ihr Glück. Natürlich gehörte auch Zufall dazu; sachliches Verdienst allein kommt ja nirgends vorwärts. Vielleicht war sogar auch an diesem Zufall Ulrich beteiligt; er hatte Arnheim, der als umsichtiger Reisender auch die niederen Vergnügungsstätten kennenlernen wollte, einmal in Gesellschaft Tuzzis zu einem Auftreten Leonas mitgenommen und sich das Unerlaubte erlaubt, auch Leo Fischel mit zubringen, der damals, um seine Frau zu ärgern, durchaus die Bekanntschaft Arnheims machen wollte. Der Abend war nicht gerade erfrealich verlaufen, aber Ulrich mochte wohl einige Erklärungen zu Leona gegeben haben, und Sektionschef Tuzzi, dem sie gefielen, mochte im Ministerium des Äußeren davon Gebrauch gemacht haben, da in der Diplomatie und Politik Anekdoten bekanntlich hoch im Wert stehn. Kurz, Leonas sehenswürdige Gefräßigkeit erregte die Wißbegierde einiger junger Adligen, und als sich herausstellte, daß diese Frau auch noch dumm und schön sei, war ihr Ruf begründet. Es wurde zum Spaß des Tages und galt einige Wochen hindurch für witzig, Leona nach der Vorstellung zu füttern, so wie in der kaiserlichen Menagerie die Seehunde gefüttert wurden; es gelang Leona dadurch sogar, einen vorteilhaften Engagementswechsel zu erreichen. Vielleicht war Leona überhaupt nicht dümmer, sondern nur gefräßiger als ihre neuen Freunde.
Man goß ihr Champagner, statt in den Mund, daran vorbei in den Busen, man streute ihr Kaviar ins Haar, man warf ihr Fleischschnitten oder Fische zu, nach denen sie schnappen sollte: aber schließlich bekam sie von alledem doch das meiste in den Mund, und sie hatte die Genugtuung, die Vergnügungen der besten Gesellschaft des Landes zu teilen. Wodurch sie den Ruf ihrer Dummheit aber immer von neuem bestärkte, war ihre Langsamkeit in allem, ausgenommen das Essen und Trinken. Man rief ihr ein gemeines oder rohes 792
Wort zu, und sie blickte mit sanften, fragenden Augen auf, durch die der Anblick so langsam hineinglitt wie ein Kaninchen in den Schlund einer Schlange, die gründlich einspeichelt. Und wenn man sie körperlich angriff, wehrte sie sich so verlegen dagegen wie ein Mensch, der unsicher ist, ob er seine Kraft einer Kleinigkeit opfern solle. So war sie auch in der Liebe, die ihr völlig gleichgültig blieb, bis auf ein Fünkchen von Wollust, wenn man so sagen darf, das irgendwann im Verlauf der Begebenheit wie eine Mücke in ihrem ungetrübten Gleichmut sichtbar wurde und verschwand. Behendere Menschen nennen so etwas dumm, und Leona hätte niemals darüber mit ihnen gestritten, obgleich sie es eher vornehm fand; außerdem hatte sie bald den Vorteil erraten, daß ihr aus dem Ruf, dumm und gefräßig zu sein, Bewunderung erwuchs.
Denn «dumm und gefräßig» ist eine Wortverbindung, die jedermann gerne ausspricht, obgleich man selten im Leben Gelegenheit hat, etwas zu sehen, das sie wirklich darstellt, und sieht man es, so fühlt man sich dadurch geschmeichelt und ausgezeichnet als der besondere Kerl, dem es gelungen ist, so etwas aufzustöbern. Man denke, was ein Mensch sich auf sich einbilden möchte, dem es zum Beispiel gelungen wäre, die eine Schwalbe zu besitzen, die noch keinen Sommer macht. Auch wenn man glaubt, das Wahre, Gute und Schöne in einer Person verleiblicht angetroffen zu haben, wird man ähnlich berührt. Und auf solchen Gründen beruhte auch der Erfolg Leonas, ohne daß sie es natürlich wußte. Leider ist die gute Gesellschaft flatterhaft und sucht schon nach wenigen Wochen neue geistige Anregung, so daß Leona bald in die Gefahr geriet, wieder im Dunkel zu versinken. Aber ehe sie das noch wußte und Zeit gefunden hatte, darüber zu erschrecken, trat Leo Fischel als Retter auf.
Direktor Fischel hatte schon bei jenem ersten Besuch mit Ulrich und Arnheim einen starken Eindruck von ihr empfangen und war einigemal wiedergekehrt, um sie zu bewundern. Er war ein Freigeist, und die Harmonie ihres Antlitzes erinnerte ihn an die Bildnisse von Königinnen. Er nannte sie bei sich eine edle Schönheit, um damit zu entschuldigen, daß er öfters einen Sitz in der ersten Reihe des teuren Varietes nahm, in dem sie damals auftrat, was ganz gegen seine Ansichten von der Sparsamkeit eines kaufmännischen Angestellten ging, als den er sich bitter bezeichnete. Daß er gehört hatte, die schöne Frau habe Verhältnisse mit Adligen, gefiel ihm und beruhigte ihn über die Aussichtslosigkeit jedes Verlangens; selbst ihr teurer Appetit, von dem er sich durch Ulrich gehört zu haben erinnerte, gewann dadurch jene Vornehmheit, die alles Unerreichbare hat. So kam sie ihm, wenn er sie durch ein Fernglas betrachtete, in ihrer Ruhe und Schönheit als das vor, wonach er sich sehnte, sooft er aus der Bank nachhause gehen sollte und annehmen durfte, daheim seine Gattin Klementine vorzufinden. Man kann beinahe sagen, sie war sein Ideal, ehe sie eines Tags seine Wirklichkeit wurde. Aber mit Leo Fischel gingen in jener Zeit große Veränderungen vor sich. Um es kurz zu sagen, aus dem verläßlichen Prokuristen mit dem Titel Direktor, der niemals mehr zum Kummer seiner Gattin Klementine ein wirklicher Direktor zu werden schien, begann gerade damals ein erpichter Spekulant zu werden; daran war aber nicht etwa Leona schuld, sondern Klementine, denn Leo Fischel hatte den Kummer in seinem Hause satt. Er wäre zeit seines Lebens ein verläßlicher kaufmännischer Beamter geblieben, wenn seine Gattin zu ihm aufgeblickt und seine Tochter Gerda ihn anerkannt hätte. Seit Jahren geschah aber von beidem das Gegenteil. Leo Fischel liebte es, das Leben als vernünftig begründet zu erkennen und täglich ein wenig darüber zu sprechen; ein in der Volkswirtschaft schaffender Mensch erübrigt aber nicht viel Zeit dafür, und Widerspruch ist für ihn so viel wie ein Raubanfall. Dies vorausgesetzt, läßt sich sagen, daß Fischel von den zwei Frauen seit Jahren gemordet wurde. Möge ein andrer versuchen, was es heißt, wenn man ohne Ausnahme von seiner Umgebung bestritten und geleugnet wird. Eine Frau wird unschön, sobald ihr durch längere Zeit niemand sagt, daß sie schön sei, und ein Geist, der niemals Erfolg findet, welkt ab, sofern er nicht zu gewaltigem Trotz entartet, wozu aber Leo Fischel keine Zeit hatte. Da trat an ihn die Versuchung in Form eines Kom-paniegeschäfts heran, das man ihm anbot. Es war eine Spekulation, und er sollte sich mit keinem großen Betrag beteiligen, es kam mehr auf den Einblick an, den er durch seine Stellung in gewisse Geschehnisse besaß. Um es kurz zu sagen, er verdiente mit einem Schlag und ohne Mühe, wenn auch auf keine ganz schöne Weise, ein ziemliches Stück Geld, stieg ein zweitesmal hinein und verdiente noch mehr. Das Fischeische Einkommen hatte bisher für die Bedürfnisse ausgereicht und kleine Rücklagen ermöglicht, die durch Badereisen und andere außerordentliche Ausgaben jedesmal wieder aufgezehrt wurden; zum erstenmal seit seiner Verheiratung erkannte Leo Fischel jetzt wieder den Reiz, das sanfte und warme Geborgensein, das sich einstellt, sobald ein Mensch mehr einnimmt als er verbraucht. Aber das war nicht die Hauptsache. Was sein Schicksal entschied und ihn binnen kurzer Zeit veränderte, war die Erkenntnis seiner Kraft und des ruhigen 793
Wohlgefühls, das sich einstellt, wenn ein Mann von seiner Kraft Gebrauch macht. Die Zeit, wo er nicht spekuliert hatte, obgleich sie sein ganzes Leben ausmachte, kam ihm vor wie eine Entmannung. Wie konnte er, wenn er schon Bankmann war, so feig gewesen sein, das nicht zu benützen! Seine Grundsätze waren mit einem Schlag vergessen. Nach diesen Grundsätzen war das Geld eine vernünftige Macht, dazu bestimmt, durch Angebot und Nachfrage die Zivilisation zu befruchten und von Ausschreitungen zurückzuhalten. Leo Fischel hatte einmal in einer nachdenklichen Stunde Schiller so umgedichtet: Wohltätig ist des Geldes Macht, wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht. Vielleicht war es sogar das, was Schiller eigentlich hatte ausdrücken wollen, und der Beruf des Bankbeamten erschien Fischel als eine heilige Feuerwache. Niemals hätte er zugegeben, daß man selbst die Hand ins Feuer stecken und spielen dürfe, obgleich er wußte, daß die Obersten es taten; aber die Obersten erschienen ihm nicht als Spekulanten, sondern als Gewaltige, die einen derartigen Überblick über den Geldmarkt hatten, daß sie ihre Taschen geradezu hätten zunähen müssen, wenn nicht unwillkürlich etwas hineinfließen sollte. Er war der geborene Subalterne. Aber es schien nur so; in Wahrheit hatte ihn nur sein Idealismus zum Untergebenen gemacht, denn jeder irdische Idealismus hat den Zweck, die Begierden auf Höheres abzulenken und in einer den Macht-habern genehmen Weise zu entkräften. Fischel kam sich hereingefallen vor. Er hatte treu an das Hohe geglaubt, an die fortschreitende geistige Rentabilität der Welt; er war arm geblieben, seine Frau hatte ihn nicht mehr respektiert, er hatte es erleben müssen, daß ein bübischer Antisemit sich seiner Tochter bemächtigte, und wenn er sich gegen etwas verwahrte, behandelte man ihn nachsichtig wie einen Kranken oder einen, der durch Unglück im Zuchthaus gesessen ist! So hatte sich die Abwendung Fischeis von seinen Grundsätzen schon lange vorbereitet, und die Ereignisse, die in sein Leben eingetreten waren, hatten diesen Grundsätzen bloß einen letzten gewaltigen Tritt gegeben. Es war Fischel nicht um das Verdienen zu tun, er stürzte sich nicht auf den Besitz, sondern auf eine neue rettende Idee seines Lebens; die ver heerende Leidenschaft einer großen Greisenliebe für die ewige Jugend und Unmoral des Geldes war in ihm entfacht
worden.
Von dem Augenblick an, wo Fischel unerlaubte Geschäfte machte, ließen ihn die säuerlichen Antworten seiner Gattin Klementine kalt. Die Frage, ob in einer guten Familie Zahnstocher auf den Tisch kommen dürfen oder nicht, die mindestens einmal in jeder Woche einen Streit ausgelöst hatte, der zwei Weltanschauungen in Brand setzte, beantwortete er damit, daß er am Familientisch auf den Zahnstocher entgegenkommend verzichtete, dagegen oft unter dem Vorwand geschäftlicher Besprechung dem Familientisch fernblieb. Selbst die materielle Gesinnung, die ihm so oft morgens am Frühstückstisch nach peinlichem nächtlichen Erlebnis die steife Verachtung seiner Gattin zugezogen hatte, schien jetzt von ihm geschwunden zu sein, und Klementine, die er verachtete, aber, um sie nicht argwöhnisch zu machen, öfters mit kleinen Aufmerksamkeiten beschenkte, begann zuweilen über ihrem gefrorenen Fleisch einen dünnen Hauch ihrer einstigen Zärtlichkeit erblicken zu lassen. Natürlich hätte sie die Veränderung im Benehmen ihres Gatten geradezu mißtrauisch machen müssen, aber Leo war trotz seines Alters noch ein Anfänger, und Klementine hätte es niemals für möglich gehalten, was geschah; sie nahm gläubig an, daß Aufmerksamkeiten und Abwesenheiten ihres Gatten mit erhöhter geschäftlicher Tätigkeit und freudig stimmenden Vergütungen dafür zusammenhingen.
Leo aber hatte sich, als Geld in seinen Besitz kam, stracks Leona genähert. Leona in ihrer Ahnungslosigkeit behandelte ihn anfangs, obgleich sie mit ihren Erfolgen bei anderen schon wieder im Abstieg war, schrecklich von oben herab, aber ihre Dummheit brachte ihr auch in dieser veränderten Anwendung Glück, denn Leo war es als erfahrenem Mann klar, daß er auf dem neuen Gebiet nicht über genügend Kenntnisse verfüge, und die ersten Erfahrungen schüchterten ihn ein. Ihre roten und grünen Seidenhemden kamen ihm unvergleichlich eleganter vor als die soliden Hemden seiner Frau. Ihre körperliche Gleichgültigkeit war ihm nichts Neues. Daß sie eine Monatsgeliebte war, ekelte ihn nicht, im Gegenteil, es schmeichelte ihm, der Nachfolger hochgeborener Männer zu sein, und verschmolz in seinem Bewußtsein mit Leonas Vorliebe für Leckerbissen. Es kam dazu, daß Leonas Schönheit etwas Altmodisches hatte; die Frauenbilder, zu denen er als Knabe mit dem trüben Feuer der ersten Empfindungen aufgeblickt hatte, hatten so ausgesehen, und wenn sich Leonas vollgegessener Körper aus den Kleidern wickelte, war ihm wie beim Einzug in ein Träumeland zumute. Mit einem Wort, er war so glücklich, wie ein Mann nur sein kann, denn ein Mann ist nie so glücklich, wie wenn es ihm gelingt, sich so zu benehmen, wie er es sich als Knabe gewünscht hat, und das machte Fischel zu einem liebenswürdigeren Mann und Vater, als er es vordem gewesen war. Es 794
erzog ihn aber auch zu einem Verhalten gegen sich selbst, das man als größere Gewissenhaftigkeit bezeichnen muß. Schon wenn ein Mann nach jahrelanger Treue die Vorbereitungen zum ersten Ehebruch trifft, ist das, wie wenn ein altes Schiff neu gestrichen und getakelt wird. Was gibt es da nicht alles zu bemerken und zu verbessern, von den vernachlässigten Zehen angefangen bis zur Krawatte, die keine schäbige Stelle haben darf, die man beim Binden kunstvoll verschwinden läßt! Da gibt es keine geflickten Hemden und gestopften Socken, die das Bild der Treue sind, sondern ein Mann auf Abwegen ist immer proper und überlegt bis ins kleinste.
Als Leo Fischel die neuen Eigenschaften natürlich geworden waren, lichtete sich übrigens der Glanz ein wenig, mit dem ihn Leona geblendet hatte. Der Begriff Leo und Leona war jetzt nicht mehr ein Glücksstrahl, der in Fischeis Seele fiel, sondern nur noch ein Stück in einer vornehmen Herrengarderobe. Fischel nahm sich Leonas Finanzen an, indem er ihre Einnahmen während des letzten Jahres nachrechnete und ihr bewies, daß sie unkaufmännisch gewirtschaftet habe und elend verkommen werde, wenn sie nicht rechtzeitig lerne, mit kleineren Beträgen auszukommen. Leona ließ sich dies lange Zeit gefallen, weil ihre Faulheit vor einem Wechsel zurückschreckte und Fischel wenigstens an ihren gastronomischen Neigungen wie einem überkommenden Erbstück nicht rührte, aber zum erstenmal dämmerte ihr, daß sie gefallen sei. Fischel wandte sein Geld indes neuen Aufgaben zu. «Gerda!» sagte er zu seiner ungebärdigen Tochter. «Du hast durch meine Anstrengungen viel Geld, wenn du heiraten willst. Du kannst dir jeden Mann aussuchen!» Aber Gerda, die dem gütigen Tonfall ihres Vaters nicht mit einem Angriff wegen Hans begegnen wollte, antwortete jedesmal bloß: «Danke, Papa, man muß nicht heiraten!» Da war es dann leichter, ein Wort über die Verrücktheit der Welt zu unterdrücken, wenn Leo daran dachte, daß ihn abends Leona erwarte und er vorher eine Ausrede ersinnen müsse. Es schien ihm auf diese Weise, daß Gerda netter und nachgiebiger geworden sei, und daß man nicht ganz so viel sich über sie ärgern müsse wie früher.
100 Werden eines Tatmenschen. Fortsetzung
Ulrich hatte das schlechte Gewissen zu Gerda getrieben; seit jenem traurigen Auftritt zwischen ihnen hatte er nichts von ihr gehört und wußte nicht, wie sie mit ihrem Zustand fertig geworden sei. Zu seiner Überraschung traf er bei Fischeis Papa Leo an; Mama Klementine war mit Gerda ausgegangen. Leo Fischel ließ Ulrich nicht fort; er war selbst ins Vorzimmer herausgeeilt, als er seine Stimme erkannte. Ulrich hatte das Gefühl von Veränderungen. Direktor Fischel schien den Schneider gewechselt zu haben; sein Einkommen mußte größer und seine Gesinnung weniger groß geworden sein. Auch war er sonst immer länger in der Bank geblieben; er arbeitete niemals zuhause, seit die Luft dort so unerfreulich geworden war.
Heute aber schien er an seinem Schreibtisch gesessen zu haben, obgleich dieser «sausende Webstuhl der Zeit» seit Jahren unbenutzt war; ein Paket Briefe lag auf dem grünen Tuch, und das vernickelte Telefon, das sonst nur den Damen diente, stand schief, als sei es eben in Gebrauch gewesen. Nachdem Ulrich Platz genommen hatte, drehte sich ihm Fischel mit dem Schreibtischsessel zu und polierte sein Glas mit einem Taschentuch, das er aus der Brusttasche zog, obgleich er früher bestimmt gegen solche Geckerei eingewandt hätte, daß es einem Goethe genügt hat, seine Taschentücher in der Hosentasche zu tragen; mochte das nun stimmen oder nicht.
«Lange nicht gesehen» sagte Direktor Fischel. «Ja» sagte Ulrich.
«Sie haben viel geerbt?» fragte Fischel. «Ach» sagte Ulrich. «Hinlänglich. » «Ja, man hat Sorgen. »
«Sie sehen aber ausgezeichnet aus? Sie haben sich irgendwie verjüngt. »
«O, danke, beruflich ging es ja immer. Aber sehen Sie, » er wies schwermütig auf den Brief stoß, der auf dem Schreibtisch lag «Sie kennen doch Hans Sepp?»
«Natürlich. Sie haben mich ja ins Vertrauen gezogen. » «Richtig!» sagte Fischel. «Das sind wohl Liebesbriefe?»
Das Telefon klingelte. Fischel setzte den Kneifer auf, den er beim Sprechen abgenommen hatte, fingerte ein Blatt mit Notizen aus dem Rock und sagte: «Kaufen!» Dann sprach die Stimme auf der anderen Seite des Drahts eine lange Weile unhörbar auf ihn ein. Von Zeit zu Zeit blickte Fischel über das Glas zu Ulrich auf, einmal sagte er sogar: «Entschuldigen Sie!» Dann rief er in den Apparat: «Nein, danke; die zweite Sache liegt mir nicht! Reden? Ja, noch einmal darüber reden können wir» und hängte mit einem ganz kurzen befriedigten Nachdenken ab.
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«Sehen Sie» sagte Fischel. «Da ist jemand in Amsterdam; viel zu teuer! Die Sache war vor drei Wochen nicht die Hälfte wert und in drei Wochen wird sie nicht einmal die Hälfte wert sein von dem, was sie jetzt kostet. Aber dazwischen wäre ein Geschäft zu machen. Ein großes Risiko!»
«Sie haben ja auch nicht gewollt» meinte Ulrich. «Ach, das ist noch nicht gesagt. Aber ein großes Risiko!…
Und trotzdem, lassen Sie sich sagen, ist das Bauen in Marmor, Stein auf Stein! Kann man auf die Gesinnung, die Liebe, die Ideale eines Menschen bauen?!» Er dachte an seine Frau und an Gerda. Wie anders war das anfangs gewesen! Das Telefon klingelte wieder, aber diesmal war es ein Irrtum.
«Früher haben Sie feste moralische Werte sogar höher bewertet als eine feste Börse» sagte Ulrich. «Wie oft haben Sie es mir verübelt, daß ich Ihnen darin nicht folgen konnte!»
«Ach, » antwortete Fischel «Ideale sind wie Luft, die sich verändert, du weißt nicht wie; bei geschlossenen Fenstern! Hat man vor fünfundzwanzig Jahren eine Ahnung vom Antisemitismus gehabt? Nein, man hatte die großen Gesichtspunkte der Humanität! Sie sind zu jung. Ich aber habe noch einige große Parlamentsdebatten gehört. Die Ausklänge! Verläßlich ist nur, was man in Ziffern ausdrücken kann!
Glauben Sie mir, die Welt wäre viel vernünftiger, wenn man sie einfach dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage überließe, statt sie mit Panzerschiffen, Bajonetten, wirtschaftsfremden Diplomaten und sogenannten nationalen Idealen auszurüsten. »
Ulrich unterbrach ihn mit dem Einwand, daß doch gerade die Schwerindustrie und die Banken durch ihre Ansprüche die Völker zu Rüstungen antrieben.
«Nun, sollen sie nicht??» erwiderte Fischel. «Wenn die Welt ist, wie sie ist, und am hellen Tag in Narrenkostümen herumläuft, sollen sie nicht damit rechnen? Wenn nun einmal Militär für Zollverhandlungen oder gegen Streikende gut ist?! Wissen Sie, das Geld hat seine eigene Vernunft, damit läßt sich nicht spaßen! Übrigens à propos, haben Sie etwas Neues von den Arnheimschen Erzlagern gehört?» Wieder hatte das Klingelzeichen gerufen; aber mit der Hand am Apparat wartete Fischel die Antwort Ulrichs ab. Das Gespräch war kurz, und Fischel hatte den Faden des Gesprächs nicht verloren; da Ulrich von Arnheim nichts Neues wußte, wiederholte er, daß das Geld eine eigene Vernunft habe. «Geben Sie acht» fügte er hinzu. «Wenn ich Hans Sepp 500 Mark anbieten ließe, damit er sich an eine Universität seines über alles geliebten Deutschlands verzieht, so würde er sie entrüstet zurückweisen. Wenn ich ihm 1000 biete, gleichfalls. Ließe ich ihm jedoch 10 000 anbieten - aber das werde ich nie im Leben tun, selbst wenn ich noch so viel Geld hätte!» Es sah beinahe so aus, als hätte Direktor Fischel vor Schreck über einen solchen Einfall den Zusammenhang
verloren, aber er überlegte nur und fuhr fort: «Das kann man eben nicht, weil Geld seine eigene Vernunft hat. Bei einem Mann, der unsinnige Ausgaben macht, bleibt es nicht; es flieht ihn, es macht ihn zu einem Verschwender. Daß die 10 000 Mark sich weigern, Hans Sepp angeboten zu werden, beweist, daß dieser Hans Sepp nichts Reelles, kein Wert, sondern ein gottsträfliches Schwindelgewächs ist, mit dem mich der Herr züchtigt. »
Wieder wurde Fischel unterbrochen. Diesesmal durch lange Mitteilungen. Ulrich fiel auf, daß er sich solche Geschäfte in die Wohnung bestellt habe, statt ins Büro. Fischel gab drei Aufträge zu kaufen und einen auf Verkauf. Dazwischen hatte er Zeit an seine Frau zu denken. - Wenn ich nun ihr Geld bieten möchte, damit sie sich von mir scheiden lasse, fragte er sich, würde es Klementine tun? - Eine innere Gewißheit erwiderte ihm: «Nein!»; Leo Fischel verdoppelte in Gedanken die Summe. «Gerade nicht!» sagte die innere Stimme.
Fischel vervierfachte. «Aus Prinzip nicht» fiel ihm ein. Da steigerte er in einem Zuge, atemlos die Summe über jede menschliche Widerstandskraft und Leistungsfähigkeit hinaus und hielt ärgerlich inne. Er mußte seinen Geist hurtig auf kleinere Vermögen umstellen, das zog sich förmlich in seinem Kopf so zusammen, wie man bei schnellem Lichtwechsel die Pupillen sich einziehen fühlt; aber er war nicht einen Augenblick von seinen Geschäften ab gewesen und machte keinen Fehler.
«Aber jetzt sagen Sie mir endlich einmal, » bat Ulrich, der schon ungeduldig geworden war «was das für Briefe sind, die Sie mir zeigen wollten. Das scheinen Liebesbriefe zu sein. Haben Sie Gerda bei Liebesbriefen erwischt?»
«Diese Briefe habe ich Ihnen zeigen wollen. Sie sollen sie lesen. Ich möchte jetzt bloß noch wissen, was Sie dazu sagen. » Fischel reichte Ulrich das ganze Paket und setzte sich zurecht, um, mit irgendwelchen anderen Gedanken inzwischen beschäftigt, durch seinen Kneifer in die Luft zu schauen.
Ulrich blickte in die Briefe; dann nahm er einen heraus und las ihn langsam durch. Direktor Fischel fragte: 796
«Sagen Sie, Doktor, Sie haben doch einmal diese Sängerin gekannt, Leontine oder Leona, die wie die selige Kaiserin Elisabeth aussieht; Gott soll mich strafen, dieses Weib hat wirklich einen Löwenappetit!»
Ulrich sah stirnrunzelnd auf; der Brief hatte ihm gefallen, und die Unterbrechung störte ihn.
«Nun, Sie brauchen nicht zu antworten, » begütigte Fischel «ich habe nur gefragt. Sie brauchen sich nicht zu schämen. Es ist eine königliche Person. Ich habe sie vor einiger Zeit durch einen Bekannten kennengelernt; wir haben dabei festgestellt, daß Sie befreundet waren. Sie ißt viel. Soll sie essen! Wer ißt nicht gerne?!» Fischel lachte.
Ulrich senkte den Blick wieder in den Brief, ohne zu antworten. Fischel blickte wieder träumend ins Firmament des Zimmers.
Der Brief begann: «Geliebter Mensch! Menschliche Göttin! Wir sind verurteilt, in einem erloschenen Jahrhundert zu leben. Niemand hat den Mut, an die Wirklichkeit des Mythos zu glauben. Du mußt dir inne machen, daß auch du davon betroffen wirst. Du hast nicht den Mut zu deiner Natur als Göttin.
Menschenfurcht hält dich zurück. Du hast recht, wenn du die gewöhnliche Menschenbrunst für gemein hältst; ja schlimmer als das, für einen lächerlichen Rückfall aus dem Leben von uns Zukünftigen in bloße Atavismen! Und noch einmal hast du recht, wenn du sagst, daß Liebe zu einem Menschen, Tier oder Ding schon der Anfang seiner Besitznahme sei! Und darüber, daß Besitzen der Anfang von Entgeistigen ist, brauchen wir nicht zu reden! Aber dennoch müßtest du etwas scheiden: Gefühltwerden, vielleicht sogar schon Empfundenwerden heißt Meinsein. Ich fühle nur, was mein ist; ich höre nicht, was nicht für mich bestimmt ist! Wäre dem nicht so, so würden wir Intellektualisten sein. Das ist vielleicht eine unentrinnbare Tragik, daß wir mit Augen, Ohren, Atem und Gedanken besitzen müssen, wenn wir lieben! Aber bedenke: Ich fühle, daß ich nicht bin, solange ich nur ich selbst, Ichselbst bin. In den Dingen außer mir entdecke ich mich erst. Auch das ist eine Wahrheit. Ich liebe eine Blume, einen Menschen, weil ich ohne sie nichts war.
Das Große am Erlebnis des Mein ist, sich ganz dahinschmel-zen zu fühlen, wie ein Häuflein Schnee unter den Strahlen der Sonne; emporzuschweben wie ein leichter Hauch, der sich auflöst! Das schönste am Mein ist die letzte Ausrottung des Besitzes meiner selbst! Das ist der reine Sinn des Mein, daß ich nichts besitze, sondern von der ganzen Welt besessen werde. Alle Bäche fließen von den Höhen in die Täler, und auch du, meine Seele, wirst nicht eher Mein sein, als bis du ein Tropfen im Meer der Welt geworden bist, ganz ein Glied in der Weltbrüderschaft und Weltgemeinschaft! Dieses Mysterium hat nichts mehr gemein mit der nichtssagenden Überschätzung, welche die persönliche Liebe erfährt. Man muß trotz der Brunst dieses Zeitalters den Mut zur Inbrunst, zum In-Brennen haben! Die Tugend macht die Handlung tugendhaft; nicht machen Handlungen die Tugend! Versuche es! Das Jenseitige offenbart sich sprunghaft, und wir werden nicht mit einem Sprung in die Region des unbedingten Lebens entrückt werden. Aber Augenblicke werden kommen, wo wir menschenferne Menschen in menschenfernen Augenblicken der Gnade sein werden. Wirf nicht Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit in einen Topf des Gewesenen! Habe den Mut, Göttin zu sein! Das ist deutsch! -» «Nun?» fragte Fischel.
Ulrich hatte einen roten Kopf bekommen. Er fand diesen Brief lächerlich und ergreifend. Hatten diese jungen Leute gar keine Scheu vor dem Übertriebenen, Unmöglichen, vor dem Wort, das sich nicht einlösen läßt? Worte spannen da immer neue Worte an, und ein Kern von Wahrheit überzog sich mit ihrem sonderbaren Gespinst. «Also, so ist jetzt Gerda?» dachte er. Aber in diesem Gedanken dachte er einen unausgesprochenen zweiten, eine Beschämung; ungefähr sagte sie: «Bist du nicht zu wenig übertrieben und unmöglich?» «Nun?» wiederholte Fischel.
«Sind alle Briefe so?» fragte Ulrich und gab sie ihm zurück. «Was weiß ich, welchen Sie gelesen haben!»
antwortete Fischel. «Alle sind so!»
«Dann sind sie sehr schön» sagte Ulrich. «Das habe ich mir gedacht!» platzte Fischel heraus. «Darum habe ich sie Ihnen wohl gezeigt! Meine Frau hat diesen Fund gemacht. Von mir erwartet aber niemand in solchen Seelenfragen einen klugen Rat. Also schön! Sagen Sie das meiner Frau!»
«Ich möchte lieber mit Gerda selbst darüber sprechen; vieles in dem Brief ist natürlich sehr unklug. »
«Unklug? Gering gesagt! Aber sprechen Sie! Und sagen Sie Gerda, daß ich kein Wort von diesem Jargon verstehen kann, daß ich aber bereit wäre, 5000 Mark - nein! sagen Sie lieber nichts! Sagen Sie nur, daß ich sie trotzdem liebe und bereit sein werde, ihr zu verzeihen!»