TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN

Der erste Band von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, enthaltend den ersten Teil (Eine Art Einleitung) und den zweiten Teil (Seinesgleichen geschieht), erschien 1931 im Berliner Verlag von Ernst Rowohlt. 1933 edierte derselbe Verleger einen zweiten Band, enthaltend die ersten 38 Kapitel von Ins Tausendjährige Reich.

881

Weitere 20 Kapitel lagen im Jahre 1938 als Satzfahnen vor. Der Wiener Verlag von Gottfried Bermann-Fischer plante damals eine Neuausgabe des Romans; der erste Teil war in einem Nachdruck auch schon erschienen. Satzspiegel, Paginierung, selbst kleine Unregelmäßigkeiten im Satzbild zeigen übrigens, wie der Vergleich ergibt, völlige Übereinstimmung mit der Erstausgabe. Gottfried Bermann muß die Möglichkeit gehabt haben, Stehsatz oder Matern der in Mährisch-Ostrau gedruckten Erstausgabe wiederzuverwen-den. Der Einmarsch von Hitlers Truppen in Österreich verhinderte dann jegliche weitere Ausführung des Projekts.

1943, ein Jahr nach Musils Tod, wurde in Lausanne ein Nachlaßband gedruckt; Herausgeberin war Musils Witwe. Der Band brachte insgesamt vierzig bisher unveröffentlichte Kapitel, darunter die von Musil mittlerweile überarbeiteten Texte der Fahnen von 1938.

1952 veranstaltete Ernst Rowohlt in Hamburg eine Neuausgabe des gesamten Werkes. Der verantwortliche Herausgeber hieß Adolf Frisé. Seine Fassung lieferte außer allen bis dahin jemals publizierten Texten des Romans 43 neue, zum Teil äußerst fragmentarische Kapitel. Damit lag der Romantofso vor, soweit ihn der Autor selbst irgend bewältigt hatte.

Der Erfolg dieser Ausgabe war außerordentlich. Ein österreichischer Schriftsteller des Namens Robert Musil war wiederentdeckt; nach Lage der Dinge kam dies einer Neuentdeckung gleich. Der Erfolg, wie derlei geschieht, beförderte auch eine umfängliche Sekundärliteratur, die sich unter anderem textkritisch äußerte. Es kam schließlich zu äußerst vehementen Angriffen gegen die Prinzipien und Ergebnisse von Frisés Arbeit.

Adolf Frise hat mit recht unzulänglichen Hilfsmitteln und unter starken Terminzwängen arbeiten müssen.

Dies erklärt Flüchtigkeiten und Fehler der von ihm verantworteten Texte. Sie waren zum Teil gravierend, wurden jedoch in den späteren Auflagen des Romans weitestgehend getilgt.

Anfechten ließ sich bei Frisé indessen auch die Gesamtanordnung des Nachlaßteiles. Sie erweckt, wie sie sich präsentiert, den Eindruck, Musil habe von Beginn an eine fest umrissene und unveränderte Konzeption seines Romanwerkes gehabt, dessen einzelne Teile halt lediglich zu verschiedenen Graden von Ausführung und Ausführlichkeit gediehen. Nun ist unzweifelhaft, daß eine Reihe von Figuren und Handlungssträngen seit den frühesten auf uns gekommenen Notaten Robert Musils fast unverändert blieben; andere aber wurden ständig umgeschrieben, revidiert oder völlig neu konzipiert; die Veränderungen mögen häufig genug bloß Details betreffen; in der Addition ergeben auch solche Details eine Veränderung von Handlung.

So etwa hieß der männliche Held des Buches in den früheren Fassungen noch A. (=Anders). Frisé hat in allen Fällen, da er Texte aus jener Arbeitsphase übernahm, für Anders Ulrich gesetzt. Dies betraf besonders jenen Kapitelentwurf, der ihm die massivste Schelte eintrug und der in mancher Hinsicht zum Auslöser für die gesamte Musil-Textkritik wurde: Die Reise ins Paradies. Frise konnte sich bei seiner Namensänderung auf entsprechende Arbeitsnotizen Musils berufen. Bedenklich ist eine solche von außen her vollstreckte Änderung vom konsequent textkritischen Standpunkt aus gleichwohl.

Wer freilich solche Vorwürfe erhebt, übersieht die Tatsache, daß Adolf Frise eine textkritische Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften überhaupt nicht liefern wollte. In den ausufernden Diskursen zu dem Wenn und Aber seiner Fassung konnte er sich stets darauf berufen, er habe eine „Lese-Ausgabe” vorlegen wollen: nicht mehr und nichts anderes. Sie enthält, wie sie sich darstellt, zugleich eine dezidierte Herausgebermeinung hinsichtlich des als richtig oder wahrscheinlich erachteten Handlungsablaufes. Man kann über diese Meinung diskutieren, aber zunächst einmal ist sie zu akzeptieren als das, was sie darstellt: eine Meinung. Zweifellos wäre es, nach nunmehr zweiundzwanzig Jahren, allmählich Zeit für eine textkritische Fassung des Mann ohne Eigenschaften. Theoretische Vorarbeiten liegen auch vor. Ein praktisches Resultat existiert bis heute nicht. Was immerhin anzudeuten vermag, wie überaus schwierig ein solches Unternehmen sich gestaltet.

Im Falle unserer Ausgabe für die DDR waren, schon aus urheberrechtlichen Gründen, textkritisch motivierte Eingriffe nicht zu leisten. Wir hätten lediglich die Möglichkeit gehabt, unsere Ausgabe mit dem Kapitel Atemzüge eines Sommertags abzuschließen. Es ist der letzte von Musil als endgültig verabschiedete Text, und bis hierher, unter Eliminierung der von Frisé interpolierten beiden Kapitel um Stumm von Bordwehr (49 und 50 unserer Ausgabe), dürfte nach dem augenblicklichen Forschungsstand eine gewissenhafte Neuedition vorerst nur gehen. Der Preis wäre gewesen, auf fünfhundert Druckseiten Romanprosa zu verzichten. Dieser Preis erschien uns zu hoch.

882

Kommt hinzu, daß die nunmehr seit anderthalb Jahrzehnten anhaltende Diskussion um Frisés Fassung gegenwärtig immer mehr zu der Überzeugung zurückkehrt, Frise sei bei seiner Ausgabe von den letzten Absichten des Dichters hinsichtlich der Fortsetzung des Romans eigentlich gar nicht so weit entfernt. Man muß auch diese Meinung als das nehmen, was sie ist: eine Meinung. Bei einem Torso dieses Zuschnitts (und einem Romanautor dieses selbstkritischen Temperaments) werden alle Versuche einer nachträglichen Komplettierung letztlich Spekulation bleiben und mit Risiken be-hängt. Frise hat den ersten, den umfänglichsten und den nach unserer Meinung immer noch überzeugendsten Versuch einer solchen Komplettierung unternommen. Es gab keinen einsichtigen Grund gegen eine Übernahme des von ihm verantworteten Textes, sofern auch dessen Konditionen mitgeteilt werden, was hiermit geschah.

Eigentümlichkeiten von Grammatik, Orthographie und Interpunktion gehen auf Robert Musil zurück.