<Spekulation à la baisse in menschlichen Wertem. Der Mensch hat sich lieber als einen Faden im Gewebe des Weltstoffes sehen wollen denn als einen auf diesem Teppich Stehenden; und es läßt sich gut verstehen, daß auch die Seelenlehre, als sie, nachzüglerisch lärmend, in ihre materialistischen Flegeljahre eintrat, ein luziferisches, herabsetzendes Verlangen nach Seelenlosigkeit abbekommen hat. Das ist ihr später von allen frommen Feinden naturwissenschaftlichen Denkens gotteshausmeisterlich übelgenommen worden, aber seinem heimlichsten Wesen nach ist es doch nichts gewesen als eine gutartig düstere Romantik, eine gekränkte Kinderliebe zu Gott, und darum auch zu seinem Ebenbild, die in dessen Mißhandlung unbewußt noch heute nachwirkt. »
«Doch es ist immer gefährlich, wenn eine Ideenquelle in Vergessenheit gerät, ohne daß es bemerkt wird, und so hat sich manches, was bloß davon seine unbefangene Gewißheit empfangen hatte, in der medizinischen Psychologie ebenso unbefangen auch weiter erhalten, woraus stellenweise ein vernachlässigter Zustand entstanden ist, an dem gerade die grundlegenden Begriffe, und dann nicht zuletzt die Begriffe Trieb, Affekt und Triebhandlung, teilhaben. Schon die Frage, was ein Trieb sei und welche oder wieviel Triebe es gebe, wird nicht nur ganz ungleich beantwortet, sondern es geschieht auch ohne alles Zagen. Ich habe eine Darstellung vor mir gehabt, worin die <Triebgruppen> der Nahrungsaufnahme, der Sexualität und des Schutzes vor Gefahr unterschieden worden sind; eine andere, die ich mit ihr verglich, hat einen Lebenstrieb, einen Geltungstrieb und fünf andere angeführt; die Psychoanalyse, die nebenbei wohl auch als Triebpsychologie bezeichnet werden darf, schien lange Zeit nur einen einzigen Trieb zu kennen; und so geht es weiter. Auch das Verhältnis zwischen Triebhandlung und Affekt ist mit ebenso großen Verschiedenheiten bestimmt worden: Wohl heißt es gewöhnlich in Übereinstimmung, daß der Affekt das
<Erlebnis> der Triebhandlung sei; aber ob dabei die ganze Triebhandlung als Affekt erlebt werde, also auch das äußere Verhalten, oder ob nur das innere Geschehen, oder ob Teile von ihm, oder Teile des äußeren und inneren Vorgangs in einer besonderen Vereinigung, davon wird bald das eine, bald das andere behauptet und manchmal beides nebeneinander. Nicht einmal, was ich zuvor aus dem Gedächtnis ohne Einwand niedergeschrieben habe, daß eine Triebhandlung <ohne Absicht und Überlegung> geschehe, stimmt in allen Stücken. »
«Ist es dann verwunderlich, wenn hinter den physiologischen Erklärungen unseres Gehabens sehr oft zu guter Letzt doch wieder nichts anderes zum Vorschein kommt als die vertraute Vorstellung, daß wir es von Kettenreflexen und Sekreten und Geheimnissen des Körpers bloß darum steuern ließen, weil wir die Lust suchten und die Unlust mieden? Und nicht nur in der Seelenkunde, auch in der allgemeinen Lebenslehre, ja in der Volkswirtschaftslehre, kurz überall, wo man ein Verhalten begründen möchte, spielen Lust und Unlust noch immer diese Rolle, also zwei so dürftige Gefühle, daß sich etwas Einfacheres kaum noch denken läßt. Der weitaus vielfältigere Gedanke der Triebbefriedigung wäre wohl imstande, das Bild bunter zu gestalten, aber die alte Gewohnheit ist so stark, daß man mitunter sogar lesen kann, die Triebe strebten nach Befriedigung, weil diese Erfüllung eben Lust sei, was ungefähr ebensoviel ist, wie den Auspuff für den treibenden Teil an einem Motor zu halten!»
So war Ulrich am Ende denn auch auf die Frage der Einfachheit zu sprechen gekommen, obgleich es wohl eine Abschweifung war.
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«Woran liegt der Reiz, die besondere Versuchung für den Geist, daß er glaubt, die Welt der Gefühle auf Lust und Unlust oder auf die einfachsten physiologischen Vorgänge zurückführen zu müssen? Warum billigt er einem psychologischen Etwas umso mehr Erklärungswert zu, je einfacher es ist? Warum einem physiologisch-chemischen noch mehr als einem psychologischen, und schließlich der Zurückführung auf die Bewegung physikalischer Atome den allermeisten? Es geschieht selten aus Vernunftgründen, eher halbbewußt, aber auf irgendeine Weise ist dieses Vorurteil gewöhnlich wirksam. Worauf beruht also dieser Glaube, daß das Geheimnis der Natur einfach sein müsse?
Zuerst ist da zweierlei zu unterscheiden. Die Zerlegung des Zusammengesetzten in das Einfache und Kleine ist im Alltag eine durch nützliche Erfahrung gerechtfertigte Gewohnheit; dieser lehrt uns tanzen, indem er uns die Schritte beibringt, und er lehrt uns, daß man ein Ding besser versteht, nachdem man es zerlegt und wieder zusammengeschraubt hat. Die Wissenschaft bedient sich dagegen der Vereinfachung eigentlich nur als einer Zwischenstufe; auch was als Ausnahme erscheint, ordnet sich dem unter. Denn am Ende führt sie nicht das Zusammengesetzte auf das Einfache zurück, sondern das Besondere des einzelnen Falls auf die allgemein gültigen Gesetze, die ihr Ziel sind, und die sind nicht sowohl einfach als vielmehr allgemein und zusammenfassend. Sie vereinfachen die Mannigfaltigkeit des Geschehens erst durch ihre Anwendung, also in zweiter Hand.
Und so heben sich überall im Leben zwei Einfachheiten von einander ab: was es zum voraus ist, und was es erst nachher wird, sind in verschiedener Bedeutung einfach. Was es zum voraus ist, mag es was immer sein, ist meistens einfach aus Mangel an Inhalt und Form, und darum gemeinhin auch einfältig, oder es ist noch nicht durchschaut. Was aber erst einfach wird, mag es ein Gedanke oder ein Handgriff oder gar der Wille sein, hat Teil und hat in sich von der Gewalt der Wahrheit und des Könnens, die das verwirrt Vielfältige bezwingt. Diese beiden Einfachheiten werden gewöhnlich miteinander verwechselt: es geschieht in der frommen Rede von der Einfalt und Unschuld der Natur; es geschieht in dem Glauben, daß eine einfache Sittlichkeit unter allen Umständen dem Ewigen näher stehe als eine verwickelte; es geschieht auch in der Verwechslung des rohen Willens mit dem starken. »
Als Agathe so weit gelesen hatte, glaubte sie, auf dem Kies des Gartens Ulrichs zurückkehrende Schritte zu hören, und schob alle Blätter eilig wieder in die Lade zurück. Als sie sich aber davon überzeugt hatte, daß ihr Gehör sie getäuscht habe, und gewiß geworden war, daß ihr Bruder noch im Garten verweile, zog sie die Blätter wieder hervor und las noch ein Stück des Folgenden weiter.
72 Die Referate D und L
Als General Stumm von Bordwehr im Garten darzulegen begonnen hatte, warum er glaube, über eine Idee gestolpert zu sein, zeigte sich alsbald, daß er mit der Freude erzähle, die ein Stoff bereitet, der gut durchdacht ist. Den Anfang habe es gemacht, berichtete er, daß er wegen des unbesonnenen Beschlusses, der den Kriegsminister gezwungen hätte, Diotimas Haus fluchtartig zu verlassen, die erwartete Nase bekommen habe. «Ich habe ja alles vorausgesagt!» beteuerte Stumm selbstbewußt und fügte bescheidener hinzu: «Nur das nicht, was danach gekommen ist. » Es war nämlich trotz aller Gegenmaßnahmen etwas von dem leidigen Zwischenfall in die Zeitungen durchgesickert und bei den Ausschreitungen wieder zum Vorschein gekommen, deren Opfer dann Graf Leinsdorf wurde. Graf Leinsdorf aber war, wie es Stumm schon in Agathes Gegenwart angedeutet hatte und jetzt ausführte, auf der Rückreise von seinen böhmischen Gütern in einer Stadt, wo er den Eilzug erreichen wollte, mit dem Wagen zwischen die zwei Fronten eines politischen Zusammenstoßes geraten, und Stumm beschrieb nun das Weitere folgendermaßen: «Sie haben ihre Unruhen natürlich wegen etwas ganz anderem veranstaltet gehabt; wegen irgend einer Verordnung der Regierung über den Gebrauch der Landessprachen in den Ämtern, oder wegen einer ändern von diesen Sachen, über die man sich schon so oft geärgert hat, daß man kaum noch kann. Und so sind auch bloß auf der einen Seite der Straßen die deutschsprachigen Stadtbewohner gestanden und haben zu den ändern hinübergeschrien: <Pfui!>, und auf der ändern Seite sind die anderssprachigen gestanden und haben zu den Deutschen hinübergeschrien: <Schande!>; und es wäre weiter auch nichts geschehn. Aber der Leinsdorf ist als Friedensstifter bekannt; er will, daß die in der Monarchie vereinigten Volksstämme ein Staatsvolk bilden, und das sagt er auch immer. Und du weißt doch auch, wenn ich hier so sagen darf, wo es niemand hört, daß zwei Hunde einander oft unentschlossen anknurren, daß sie aber in dem Augenblick, wo man sie 692
beruhigen will, aufeinander losfahren. Wie der Leinsdorf erkannt worden ist, hat das also den Gefühlen einen ungeheuren Aufschwung gegeben; und sie haben zuerst im Sprechchor auf zwei Sprachen angefangen zu fragen: <Was ist mit der Enquete zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung, Herr Graf?> und dann haben sie geschrien: <Nach außen heuchelst du Frieden, und im eigenen Haus bist du ein Mörder !> Erinnerst du dich an die Geschichte, die man ihm nachsagt, daß einmal, vor hundert Jahren, als er noch jünger gewesen ist, eine Kokotte in der Nacht gestorben sein soll, wo sie bei ihm war? Auf das haben sie nämlich damit auch anspielen wollen, sagt man jetzt. Und das alles ist bloß wegen diesem dummen Beschluß geschehn, daß man sich für seine eigenen Ideen töten lassen soll, aber ja nicht für fremde; wegen einem Beschluß also, den es gar nicht gibt, weil ich seine Protokollierung verhindert hab>! Aber anscheinend hat er sich herumgesprochen, und weil wir ihn nicht zugelassen haben, verdächtigt man jetzt uns alle, daß wir Volksmörder sein wollen! So etwas ist vollkommen unvernünftig, aber es ist schließlich logisch!»
Ulrich fiel diese Unterscheidung auf.
Der General zuckte die Achseln. «Die geht auf den Kriegsminister selbst zurück. Nämlich schon wie er mich nach dem Krakeel bei Tuzzis hat zu sich rufen lassen, hat er zu mir gesagt: <Lieber Stumm, du hättest es nicht so weit kommen lassen dürfen!> Ich habe ihm aber darauf, was mir nur einfiel, vom Zeitgeist erwidert und davon, daß der Zeitgeist eine Äußerung und anderseits auch wieder einen Halt braucht: mit einem Wort, ich habe ihm zu beweisen getrachtet, wie wichtig es ist, eine Zeitidee zu suchen und sich für sie zu begeistern, selbst wenn es vorderhand noch zwei Ideen sind, die einander widersprechen und sich gegenseitig in Wut treiben, so daß man unmöglich in jedem Augenblick wissen kann, was daraus entstehen wird. Doch er hat mir erwidert: <Lieber Stumm, du bist ein Philosoph! Ein General aber muß wissen! Wenn du eine Brigade in ein Rencontre-Gefecht führst, vertraut dir der Feind auch nicht an, was er vorhat und wie stark er ist!> Und danach hat er mir ein für allemal die größte Zurückhaltung anbefohlen. » - Stumm unterbrach seine Erzählung nur, um einen neuen Vorrat an Atem zu schöpfen, und fuhr fort: «Darum habe ich mich, wie dann auch noch die Geschichte mit dem Leinsdorf dazugekommen ist, gleich selbst beim Minister melden lassen; denn ich habe vorhergesehen, daß man wieder der Parallelaktion schuld geben wird, und habe dem die Spitze abbrechen wollen. <Exzellenz!> habe ich begonnen. <Es ist unvernünftig gewesen, was das Volk dort getan hat, aber das hätte man wissen können, denn es ist immer so. Ich rechne darum in einem solchen Fall nicht mit der Vernunft, sondern mit Leidenschaften, Einbildungen, Schlagworten und ähnlichem. Aber abgesehen davon, hätte auch das nichts genutzt, denn Seine. Erlaucht ist ein eigensinniger und schwer zu beeinflussender alter Herr ->. So ungefähr habe ich also gesprochen, und der Kriegsminister hat mich auch die ganze Zeit still angehört und hat genickt. Aber entweder hat er selbst vergessen gehabt, was er mir das Mal zuvor vorgehalten hat, oder er ist scheinbar sehr grantig gewesen, denn plötzlich hat er erwidert: <Du bist eben doch ein Philosoph, Stumm! Mich interessiert weder Seine Erlaucht noch das Volk; aber du sagst bald Vernunft, bald Logik, so als ob das ein und dasselbe wäre, und ich muß dich aufmerksam machen, daß es nicht ein und dasselbe ist! Vernunft kann ein Zivilist haben, und braucht sie auch nicht zu haben. Aber das, womit man der Vernunft begegnen muß und was ich darum von meinen Generalen verlangen muß, ist Logik. Das gewöhnliche Volk hat keine Logik, aber es muß sie über sich spüren!> Und damit ist die Unterredung beendet gewesen» schloß Stumm von Bordwehr.
«Ich verstehe das zwar nicht im mindesten, aber es kommt mir vor, daß dein Zweithöchster Kriegsherr im ganzen nicht ungnädig mit dir umgeht» bemerkte Ulrich.
Sie wandelten die Gartenwege auf und ab, und Stumm machte jetzt einige Schritte, ohne zu erwidern, blieb dann aber so heftig stehn, daß der Kies unter seinen Sohlen knirschte. «Das verstehst du nicht?!» rief er aus und fügte hinzu: «Zuerst habe ich es auch nicht verstanden. Aber nach und nach ist mir die ganze Tragweite aufgegangen, warum Seine Exzellenz, der Herr Kriegsminister, recht hat! Und warum hat er recht?» fragte er unversöhnlich. «Weil der Kriegsminister immer recht hat! Ich kann, wenn es bei Diotima einen Skandal gibt, nicht vor ihm weggehen, und ich kann auch nicht in die Zukunft von Böhmen blicken; es ist unvernünftig, das von mir zu verlangen! Und ich darf auch nicht, wie in dem Falle Leinsdorf, für etwas in Ungnade fallen, womit ich so wenig zu tun habe wie mit der Geburt meiner seligen Großmutter! Aber trotzdem hat der Kriegsminister, der mir das alles zumutet, recht, weil der Vorgesetzte immer recht hat: das ist nämlich eine Banalität, und auch keine! Verstehst du es jetzt?»
«Nein» sagte Ulrich.
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«Aber schau, » beschwor ihn Stumm «du willst mir bloß Schwierigkeiten machen, weil du dich unabhängig fühlst oder weil du ein Rechtsgefühl hast oder aus solchen Gründen, und gibst nicht zu, daß es sich hier um etwas Ernsteres handelt! Aber wirklich erinnerst du dich ganz gut; denn beim Militär hat man doch auch dir seinerzeit bei jeder Gelegenheit gesagt: ein Offizier muß logisch denken können! Logik ist ja gerade das, was in unseren Augen das Militär vom Zivil unterscheidet. Aber meint man damit Vernunft? Nein.
Vernunft hat der Feldrabbiner oder der Feldkurat oder der Herr vom Kriegswissenschaftlichen Archiv.
Aber Logik ist nicht Vernunft. Logik heißt: handle unter allen Umständen ehrenvoll, aber konsequent, rücksichtslos und ohne Gefühl; und laß dich durch nichts irre machen! Denn die Welt wird nicht von der Vernunft regiert, sondern muß mit eiserner Logik beherrscht werden, wenn auch auf ihr, seit sie besteht, geredet wird! - Das ist es also, was mir der Kriegsminister zu verstehen gegeben hat; und du wirst einräumen, daß es in mir nicht auf den unfruchtbarsten Boden gefallen ist, denn es ist ja nichts als die alte, bewährte Offiziersmentalität. Ich habe seither wieder etwas mehr davon in mir; und du wirst es auch nicht leugnen können: Wir müssen schlagfertig sein, bevor wir alle anfangen, vom Ewigen Frieden zu sprechen; wir müssen zuerst unsere Versäumnisse und Schwächen gutmachen, damit wir dann bei der allgemeinen Verbrüderung nicht im Nachteil sind. Und unser Geist ist nicht schlagfertig! Er ist überhaupt nie fertig! Der Zivilgeist ist ein bedeutsames Hin und Her, ein Empor und Hinab, und du hast ihn einmal den tausendjährigen Glaubenskrieg genannt: aber davon können wir uns nicht ruinieren lassen! Es muß also jemand da sein, der, wie man beim Militär sagt, Initiative hat und die Führung übernimmt, und dazu ist der Vorgesetzte berufen: Das sehe ich jetzt selbst ein; und ich bin nicht ganz sicher, ob ich früher, in meiner Teilnahme für alle geistigen Bestrebungen, nicht doch manchmal zu weit hingerissen worden bin. »
Ulrich fragte: «Und was wäre geschehn, wenn du das nicht eingesehen hättest? Hätte man dir den Zylinder geschickt?»
«Nein, das nicht» berichtigte Stumm. «Natürlich vorausgesetzt, daß ich es nicht auch am militärischen Gefühl für die Kräfteverhältnisse fehlen lasse. Aber eine Landwehrbrigade in Wladischmirschowitz oder in Knobljoluka hätten sie mir verliehen, statt daß ich wie bisher am Kreuzungspunkt soldatischer Macht und ziviler Erleuchtung sitze und der uns allen gemeinsamen Kultur vielleicht doch noch etwas nützen kann!»
Sie hatten nun die Wege zwischen dem Haus und der Ausfahrt, in deren Nähe der Wagen wartete, schon einigemal zurückgelegt, und auch diesmal bog der General wieder ab, ehe sie ans Gitter gelangten. «Du mißtraust mir» beklagte er sich: «du hast mich nicht ein einzigesmal gefragt, was gar erst geschehen ist, wie auf einmal der Friedenskongreß da war!»
«Also, was ist geschehen? Der Kriegsminister hat dich wieder rufen lassen, und was hat er gesagt — ?»
«Nein! Nichts hat er gesagt! Ich habe acht Tage darauf gewartet: aber nichts mehr hat er gesagt!»
berichtigte der andere. Und nach einem Augenblick des Verstummens konnte er es nicht mehr bei sich behalten und verkündete: «Aber das Referat <D> haben sie mir da abgenommen!»
«Was ist das Referat <D>?» fragte Ulrich, obwohl es ihm ahnte.
«Referat <Diotima> natürlich» gab Stumm mit schmerzlichem Vergnügen zur Antwort. «In einem Ministerium wird doch für jede größere Frage ein Referat eingerichtet, und so hat das auch geschehen müssen, wie Diotima ihre Hauskongresse zur Ermittlung einer patriotischen Idee begonnen hat und durch die lebhafte Anteilnahme des Arnheim unsere Aufmerksamkeit erregt worden ist. Dieses Referat ist mir zugeteilt worden, wie du wohl bemerkt haben wirst, und da bin ich eben auch gefragt worden, wie man es benennen soll; denn schließlich kann man so etwas doch nicht einfach einreihen wie ein Medikamentendepot oder einen Intendanzkurs, und der Name Tuzzi hat aus interministeriellen Rücksichten nicht genannt werden dürfen. Mir selbst ist aber auch nichts Bezeichnendes eingefallen, und darum habe ich, damit ich nicht zuviel und nicht zuwenig sage, schließlich vorgeschlagen, es Referat <D> zu nennen; <D>, das ist für mich Diotima gewesen, aber das hat niemand gewußt, und für die ändern hat es doch ganz hervorragend echt geklungen, wie der Name eines Dienstbuches, wenn nicht gar wie ein nur dem Generalstab zugängliches Geheimnis. Das ist eine meiner besten Ideen gewesen!» schloß Stumm und fügte seufzend bei: «Damals habe ich eben noch Ideen haben dürfen!»
Er schien sich aber nicht genug ermuntert zu fühlen, und als Ulrich - dessen weltrückfällige Laune beinahe schon verbraucht war, zumindest ihren Mundvorrat an Gesprächigkeit fast aufgezehrt hatte - jetzt nach einem anerkennenden Lächeln in Schweigen verfiel, beklagte sich Stumm von neuem. «Du traust mir nicht.
Du hältst mich nach dem, was ich gesagt hab’, für einen Militaristen. Aber, auf Ehrenwort, ich wehre mich 694
dagegen, einer zu sein, und will nicht ohneweiters fahren lassen, woran ich so lange geglaubt habe! Diese großartigen Ideen machen den Soldaten doch erst zum Menschen: Ich sage dir, Freund, wenn ich daran denke, komme ich mir wie ein Witwer vor, dem seine bessere Hälfte in den Tod vorangegangen ist!» Er ereiferte sich noch einmal. «Die Republik der Geister ist natürlich gerade so unordentlich wie eine jede Republik; aber wie glücklich macht allein schon die große Idee, daß keiner die Weisheit allein gepachtet hat und daß es eine Menge Ideen gibt, die man — vielleicht gerade wegen der mangelnden Ordnung, die unter ihnen herrscht! - überhaupt noch nicht gefunden hat! Für das Militär bin ich damit ein Neuerer gewesen! Sie haben zwar im Generälstab mich und mein Referat <D> wegen meiner wechselvollen Anregungen den
<Mobilen Be-leuchtungszug> geheißen, aber auch sie haben von der Fülle, die ich ausgestreut habe, ganz gern genossen!»
«Und das ist alles aus?»
«Es wäre nicht unbedingt aus; aber ich selbst habe mein Vertrauen in den Geist teilweise eingebüßt!»
grollte Stumm, Trost fordernd.
«Da tust du recht daran» bemerkte Ulrich trocken.
«Das sagst jetzt auch du?!»
«Ich habe es immer gesagt. Ich habe dich seit je gewarnt, früher als der Minister. Geist eignet sich nur in beschränktem Maße zum Regieren. »
Stumm wollte die Belehrung zurückweisen, darum versicherte er: «Das ist immer auch meine Meinung gewesen!»
Ulrich fuhr fort: «Der Geist ist ins Leben verflochten wie in ein Rad, das er treibt und von dem er gerädert wird. »
Stumm ließ ihn aber nicht weiter kommen. «Wenn du vermuten solltest, daß für mich solche äußere Umstände bestimmend gewesen sind, » unterbrach er ihn «so würdest du mich aber erniedrigen! Es handelt sich auch um eine geistige Läuterung! Das Referat <D> ist mir außerdem in allen Ehren abgenommen worden. Der Minister hat mich rufen lassen, um mir selbst mitzuteilen, daß es notwendig ist, weil der Chef des Generalstabs eine persönliche Berichterstattung über den Weltfriedenskongreß verlangt; und darum haben sie gleich das Ganze aus dem Militärbildungswesen herausgenommen und der Nachrichtenabteilung des Evidenzbüros angegliedert — »
«Der Spionage-Abteilung?!» warf Ulrich ein, nun von
neuem belebt.
«Wem denn sonst!? Wer nicht weiß, was er selbst will, muß wenigstens wissen, was die anderen wollen!
Und, ich bitte dich, was soll der Generalstab auf einem Weltfriedenskongreß wollen? Ihn behindern, das wäre barbarisch, und ihn pazifistisch fördern, das wäre unmilitärisch! Also beobachten sie ihn. Wer hat gesagt: <Bereitschaft ist alles>? Na, egal, jedenfalls ist es jemand gewesen, der vom Militär etwas verstanden hat. -» Stumm hatte seinen Kummer vergessen. Er drehte sich auf den Beinen hin und her und versuchte, mit der Scheide des Säbels eine Blume zu köpfen. «Ich fürchte ja bloß, daß es ihnen zu schwer sein wird und daß sie mich noch kniefällig zurückholen werden, damit ich mein Referat wieder selbst übernehme!» plauderte er. «Schließlich wissen wir doch, du und ich, mit unserer fast schon einjährigen Erfahrung, wie sich so ein Ideenkongreß in Beweise und Gegenbeweise zerspaltet! Glaubst du überhaupt daran, daß - also jetzt abgesehen von den besonderen Schwierigkeiten des Regierens! — eine Ordnung sozusagen nur vom Geiste ausgehen kann?»
Er hatte jetzt auch seine Beschäftigung mit den Blumen eingestellt und sah mit gefalteter Stirn, die Säbelscheide in der Hand haltend, seinem Freunde eindringlich ins Gesicht.
Dieser lächelte ihn an und schwieg.
Stumm ließ den Säbel fallen, weil er die Fingerspitzen beider in weißen Handschuhen steckenden Hände zu einer delikaten Begriffsbestimmung brauchte: «Du mußt mich richtig verstehn, wenn ich zwischen Geist und Logik unterscheide. Logik ist Ordnung. Und Ordnung muß sein! Das ist der Grundsatz des Offiziers, und ihm beuge ich mich! Auf Grund welcher Ideen aber Ordnung gemacht wird, das ist egal; das ist Geist oder wie es der Kriegsminister etwas altmodisch ausgedrückt hat, Vernunft - und das ist nicht Sache des Offiziers. Aber der Offizier mißtraut der Fähigkeit des Zivils, daß es von selbst vernünftig wird, auf Grund welcher Ideen es das auch immer versucht. Denn ganz gleich, welchen Geist es wann immer gegeben hat, immer ist am Ende ein Krieg daraus entstanden!»
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So erläuterte Stumm seine neuen Einsichten und Zweifel, und Ulrich faßte das unwillkürlich in eine Anspielung auf einen bekannten Ausspruch zusammen, indem er fragte: «Du möchtest also eigentlich sagen, daß der Krieg ein Element der von Gott eingesetzten Weltordnung ist?»
«Da redest du aber schon zu geistig!» pflichtete Stumm wohl bei, doch mit Vorbehalt. «Ich frage mich bloß schlicht, ob der Geist nicht einfach entbehrlich ist. Denn wenn ich den Menschen mit Sporen und Zaum behandeln soll wie ein Stück Vieh, dann muß ich auch ein Stück Vieh in mir tragen, weil ein wirklich guter Reiter dem Roß nähersteht als beispielsweise der Rechtsphilosophie! Die Preußen nennen das den Schweinehund, den jeder in sich trägt, und bezwingen ihn mit einem spartanischen Geist. Als österreichischer General möchte ich aber lieber sagen: Je besser, schöner und geordneter ein Staat ist, desto weniger braucht man darin den Geist, und in einem vollkommenen Staat braucht man ihn überhaupt nicht!
Das halte ich für ein sehr schwieriges Paradoxon! Übrigens von wem ist das, was du gesagt hast? Ist das von jemandem?»
«Das ist von Moltke. Er hat gesagt, daß sich die edelsten Tugenden des Menschen, Mut, Entsagung, Pflichttreue, Opferwilligkeit, erst im Krieg entwickeln und daß die Welt ohne den Krieg in dumpfem Materialismus versumpfen müßte. »
«Schau!» rief Stumm aus. «Auch interessant! Da hat er schon etwas gesagt, was ich mir ebenfalls manchmal denke!»
«Aber Moltke sagt in einem ändern Brief an den gleichen Menschen, fast in demselben Atem tut er es also, daß selbst ein siegreicher Krieg ein nationales Unglück ist» gab Ulrich zu bedenken.
«Siehst du, da hat ihn der Geist gezwickt!» versetzte Stumm überzeugt. «Ich habe nämlich nie eine Zeile von ihm gelesen, er ist mir immer viel zu militärisch vorgekommen. Und du kannst mir wirklich glauben, daß ich immer ein Antimilitarist gewesen bin. Ich habe mein Leben lang gedacht: Kein Mensch glaubt heutzutage mehr an einen Krieg, man macht sich damit nur lächerlich. Und — ich möchte nicht, daß du glaubst, ich habe mich geändert, weil ich jetzt anders bin!» Er hatte den Wagen herbeigewinkt und den Fuß schon aufs Trittbrett gesetzt, zögerte aber und sah Ulrich nötigend an. «Ich bin mir selbst treu geblieben!»
fuhr er fort. «Aber wenn ich den zivilen Geist früher mit den Gefühlen eines jungen Mädchens geliebt habe, liebe ich ihn jetzt, wenn ich so sagen darf, mehr wie eine reife Frau: Er ist kein Ideal, er läßt sich nicht einmal dahin bringen, daß er mit sich selbst eines Sinnes wird. Darum habe ich dir - nicht erst heute, sondern schon lange - gesagt, daß man mit den Menschen sowohl in Güte wie auch mit starker Hand verfahren muß, man muß sie also lieben und kujonieren, damit es zu etwas Rechtem kommt. Und das ist schließlich nichts als die überparteiliche militärische Gesinnung, die den Soldaten auszeichnen soll. Ich beanspruche kein persönliches Verdienst daran, aber ich will dir zeigen, daß sie schon früher aus mir gesprochen hat!»
«Jetzt wirst du noch wiederholen, daß der Bürgerkrieg vom Jahre Sechsundsechzig daraus entstanden ist, daß sich alle Deutschen als Brüder erklärt haben» meinte Ulrich lächelnd.
«Ja, natürlich!» bestätigte Stumm. « Und jetzt erklären sich noch dazu alle Menschen als Brüder! Da muß ich mich doch fragen, was daraus entstehen wird! Es kommt ja so unerwartet, was wirklich kommt. Da haben wir fast ein Jahr lang nachgedacht, und dann ist es auch ganz anders gekommen. Und so ist es anscheinend mein Verhängnis, daß mich der Geist, indem ich ihn aufmerksam durchforschte, wieder zum Militär zurückführt. Trotzdem, wenn du alles überlegst, was ich gesagt habe, so wirst du finden: Ich identifiziere mich also mit nichts; aber ich finde an allem etwas Wahres: das wäre ungefähr der Extrakt von dem, was wir gesprochen haben!»
Stumm wollte nach einem Blick auf die Uhr das Zeichen zur Abfahrt geben, denn sein Vergnügen, sich ausgesprochen zu haben, war so lebhaft, daß er alles übrige vergessen hatte. Aber Ulrich legte jetzt freundschaftlich Hand an ihn und sagte: «Du hast mir noch nicht mitgeteilt, was dein neues <Auftragerl> ist.
»
Stumm weigerte sich: «Heute reicht die Zeit nicht mehr. Ich muß fort. »
Aber Ulrich hatte ihn an einem der goldenen Knöpfe gefaßt, die auf seinem Bauch glänzten, und hielt so lange fest, bis sich Stumm ergab. Er angelte nach Ulrichs Kopf und zog das Ohr an seinen Mund. «Also unter strengster Diskretion, » flüsterte er: «Leinsdorf!»
«Ich nehme an, daß er beseitigt werden soll, du politischer Meuchelmörder!» flüsterte Ulrich wieder, aber so unbefangen, daß Stumm verletzt auf den Kutscher deutete. Sie richteten sich auf, und Ulrich trat vom 696
Wagenschlag zurück. Sie zogen es jetzt vor, laut zu sprechen und bloß den Namen zu vermeiden. «Laß mich selbst nachdenken und versuchen, » bat Ulrich «ob ich noch irgend etwas von eurer Welt weiß: <Er> hat den letzten Kultusminister gestürzt, und seit der neuen ihm widerfahrenen Beleidigung muß man darauf gefaßt sein, daß <Er> es dem jetzigen auch so macht. Das wäre aber augenblicklich eine unangenehme Störung, und dem muß man vorbaun. Und aus irgendeinem Grund hält <Er> halt immer an seinen Überzeugungen fest: daß die Deutschen die Gefahr für den Staat sind, daß gerade der Baron Wisnietzky, den sie nicht leiden können, der geeignete Mann ist, bei ihnen Propaganda zu machen, daß die Regierung nicht hätte ihren Kurs wechseln sollen, und so weiter - »
Stumm hätte Ulrich unterbrechen können, aber er hörte freiwillig zu, und jetzt mischte er sich sogar selbst ein. «Schließlich ist unter ihm in der Aktion doch auch die <Parole der Tat> entstanden, und während alle ändern bloß sagen: das ist ein neuer Geist!, sagt <Er> jedem, der es ungern hört: es muß etwas geschehn!»
«Und stürzen kann man ihn nicht, er ist eine Privatperson. Und die Parallelaktion hat man ihm ohnehin schon unter dem Sattel weggeschossen» meinte Ulrich.
«Also ist jetzt die Gefahr entstanden, daß er etwas Neues anfangt!» ergänzte es der General.
«Aber was kannst denn du dagegen tun?!» fragte Ulrich
neugierig.
«Gott! Ich hab’ halt die Aufgabe bekommen, ihn ein bissei abzulenken und zu beschäftigen, und wenn du willst, auch ein bissei zu beaufsichtigen - »
«Also: ein Referat <L>? Du trügerisches Himmelblau!»
«Unter uns kannst du es ja so nennen, aber einen dienstlichen Namen hat es natürlich nicht. Ich habe einfach den Auftrag, mich dem Leinsdorf» - diesmal wollte Stumm den Namen doch auch mitgenießen, flüsterte ihn aber wieder -«an den Hals zu setzen wie eine Zecke: das sind die eigenen huldvollen Worte Seiner Exzellenz!»
«Aber er muß dir doch auch ein Ziel gegeben haben, das du erreichen sollst?»
Der General lachte. «Reden! Ich soll mit ihm reden. Auf alles eingehn, was er sich denkt, und so viel darüber reden, daß er sich womöglich auf diese Weise verausgabt und nichts Unvorhergesehenes tut. <Saug ihn aus> hat Seine Exzellenz gesagt und hat das einen sehr ehrenvollen Vertrauensbeweis und Auftrag genannt. Und wenn du mich noch fragen solltest, ob das alles ist, so kann ich dir nur erwidern: es ist sehr viel! Diese alte Erlaucht ist ungeheuer gebildet und eigentlich ein hervorragend interessanter Mensch!» Er hatte dem Kutscher das Zeichen zum Losfahren gegeben und rief zurück: «Alles andere das nächste Mal!
Ich rechne auf dich!»
Und erst als der Wagen davonrollte, kam Ulrich der Einfall, daß Stumm vielleicht auch die Absicht haben könnte, ihn selbst unschädlich zu machen, den man früher verdächtigt hatte, daß er den Geist des Grafen Leinsdorf einmal noch zu einem ganz ungewöhnlichen Einfall verleiten könnte.
73 Naive Beschreibung, wie sich ein Gefühl bildet
Von den folgenden Blättern hatte Agathe noch einen großen Teil gelesen.
Sie enthielten zunächst noch nicht die versprochene Darlegung der Entwicklung, die der Begriff des Gefühls gegenwärtig mitmacht; denn ehe sich Ulrich von diesen Auffassungen Rechenschaft gab, aus denen er den meisten Gewinn zu ziehen hoffte, hatte er sich, nach seinen eigenen Worten, «das Entstehen und Wachstum eines Gefühls so naiv und mit grobem Finger buchstabierend vorzustellen» getrachtet, «wie es einem geistig nicht ungeübten Laien erscheinen mag. »
Und diese Aufzeichnung fuhr folgendermaßen fort: «Man pflegt das Gefühl als etwas anzusehen, das Ursachen und Folgen hat, und ich will mich darauf beschränken, daß die Ursache ein äußerer Reiz sei.
Natürlich gehören aber zu diesem Reiz auch geeignete Umstände, das heißt sowohl passende äußere Umstände als auch innere, eine innere Bereitschaft, und erst diese Dreiheit entscheidet darüber, ob und wie er beantwortet wird. Denn ob sich ein Gefühl überraschend oder verzögert einstellt, wie es sich ausbreitet und abläuft, welche Ideen es mit sich bringt, und überhaupt welches Gefühl es ist, hängt gewöhnlich nicht minder von dem Vorzustand des Fühlenden und der Umwelt als vom Reiz ab. Von dem persönlichen Zustand des Fühlenden, also von Temperament, Charakter, Alter, Erziehung, von den Anlagen, Grundsätzen, vorangegangenen Erlebnissen und vorhandenen Spannungen, gilt das wohl als selbst697
verständlich, obwohl diese Bedingungen keine genaue Grenze haben und sich in das Wesen der Person und ihres Schicksals verlieren. Aber auch die äußere Umgebung, ja schon ein Wissen von ihr oder bloß ihre stillschweigende Voraussetzung können ein Gefühl unterdrücken oder begünstigen, und das gesellige Leben bietet unzählige Beispiele dafür dar, denn in jeder Lage gibt es Gefühle, die sich schicken oder nicht schicken, auch wechselt es mit den Landstrichen und der Zeit, welche Gefühlsgruppen im öffentlichen und im Eigenleben vorherrschen, oder doch begünstigt werden, und welche unterdrückt werden, ja sogar schlechthin gefühlvolle und gefühlarme Zeiten haben einander schon abgelöst.
Zu alledem kommt dann noch hinzu, daß äußere und innere Umstände, ja auch diese und der Reiz, wie sich leicht ermessen läßt, nicht unabhängig von einander sind. Denn der innere Zustand ist dem äußeren und seinen Gefühlsreizen angepaßt gewesen, war also auch von ihnen abhängig, und der äußere muß auf irgendeine Weise aufgenommen worden sein, so daß seine Erscheinung von dem inneren Zustand abhing, ehe eine Störung dieses Gleichgewichts ein neues Gefühl hervorruft und dieses einen neuen Ausgleich entweder anbahnt oder selbst schon darstellt. Ebenso wirkt aber auch der <Reiz> gewöhnlich nicht unmittelbar, sondern erst kraft seiner Aufnahme, und das Innere wieder vollzieht diese Aufnahme erst auf Grund von Wahrnehmungen, mit denen Anfänge der Erregung doch wohl schon verbunden sein müssen.
Davon abgesehen, hängt der Reiz, der ein Gefühl zu erregen vermag, mit diesem aber auch schon insofern zusammen, als das, was beispielsweise einen Hungernden erregt, einem Beleidigten gleichgültig ist, und umgekehrt. »
«Ähnliche Verwicklungen ergeben sich, wenn das Weitere <der Reihe nach> beschrieben werden soll. So ist schon die Frage, wann ein Gefühl <da> sei, nicht zu beantworten, obwohl nach der zugrundeliegenden Auffassung, wonach es bewirkt werden und dann selbst wirken solle, doch angenommen werden müßte, daß es einen solchen Zeitpunkt gebe. In Wahrheit schlägt aber der erregende Reiz nicht in einen bestehenden Zustand ein wie die Kugel in die mechanische Scheibe, die nun ein Spielwerk von Folgen in Gang setzt, sondern dauert weiter und ruft einen Nachschub an inneren Kräften hervor, die sowohl in seinem Sinn wirken als auch seine Wirkung abändern. Und ebenso wenig gibt sich das Gefühl, einmal vorhanden, sofort an seine Wirkungen aus, noch bleibt es sich auch nur einen Augenblick selbst gleich und ruht gleichsam in der Mitte zwischen den Vorgängen, die es aufnimmt und entsendet, sondern ist mit einer dauernden Veränderung von allem verbunden, wozu es außen und innen Beziehung hat, und empfängt auch von beiden Seiten eine Rückwirkung.
Es ist den Gefühlen die lebhafte, oft leidenschaftliche Bestrebung zu eigen, die Reize abzuändern, denen sie ihre Entstehung verdanken, und sie zu beseitigen oder zu begünstigen; und die Hauptlebensrichtungen sind die nach außen und von außen. Darum trägt der Zorn schon den Gegenangriff in sich, das Verlangen die Annäherung, und die Furcht den Übergang in Flucht, in Erstarren oder zwischen beiden in den Schrei. Aber auch durch die Rückwirkung dieses tätigen Verhaltens empfängt ein Gefühl nicht wenig von seiner Eigentümlichkeit und von seinem Inhalt; und der bekannte Ausspruch eines amerikanischen Psychologen:
<Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern sind traurig, weil wir weinen> mag übertrieben sein, doch ist es sicher, daß man nicht bloß so handelt, wie man fühlt, sondern bald auch so fühlen lernt, wie man, aus welchen Gründen immer, handelt. Ein bekanntes Beispiel dieses Hin-und Rückweges ist das Spiel von Hunden, die im Scherz zu balgen beginnen und in einem blutigen Zweikampf enden; aber auch an Kindern und einfachen Menschen läßt sich ähnliches beobachten. Und ist schließlich nicht die ganze schöne Theatralik des Lebens ein großes solches Beispiel, mit ihren halb gewichtigen, halb gewichtslosen Gebärden der Ehre und Ehrung, der Drohung, Artigkeit, Gemessenheit und alles anderen, Gebärden des Etwas-darstellen-Wollens und der Darstellung, die das Urteil beiseitesetzen und unmittelbar das Gefühl beeinflussen. Sogar der <Drill> gehört dazu und beruht auf der Wirkung, daß ein lang aufgezwungenes Verhalten am Ende die Gefühle erzeugt, von denen es ausgehen sollte. »
«Wichtiger als die Rückwirkung des Tuns ist es freilich in diesen und anderen Beispielen, daß ein Erlebnis die Bedeutungwechselt, wenn sein Verlauf aus dem Bereich der ihm zu Anfang eigentümlichen lenkenden Kräfte in den Bereich anderer seelischer Anschlüsse gerät. Denn Ähnliches wie auf der Außenseite vollzieht sich auf der inneren. Das Gefühl drängt nach innen; es <erfaßt den ganzen Menschern>, wie die Umgangssprache nicht unzutreffend sagt, es verdrängt, was sich nicht zu ihm schickt, und begünstigt, wovon es sich nähren kann. In einem Lehrbuch der Psychiatrie habe ich dafür die sonderbaren Namen
<Schaltkraft> und <Schalt-arbeit> gelesen. Dabei wird durch das Gefühl aber auch das Innere angeregt, 698
daß es sich ihm zuwende. Die innere Bereitschaft, die nicht schon mit dem ersten Augenblick verausgabt ist, drängt ihm nach und nach zu; und vollends wird das Gefühl, sobald es größere in Gedanken, Erinnerungen, Grundsätzen oder anderem aufgespeicherte Kräfte ergreift, auch von ihnen ergriffen, und sie verändern es so, daß sich nun wieder schwer entscheiden läßt, ob man von einem Ergreifen oder einem Ergriffenwerden reden sollte.
Hat ein Gefühl durch solche Vorgänge aber seinen Höhepunkt erreicht, so muß es durch die gleichen wohl auch wieder geschwächt und verdünnt werden. Denn Gefühle und Erlebnisse werden dann seinen Bereich durchkreuzen, die sich ihm nicht mehr völlig unterwerfen und es am Ende sogar verdrängen. Ja eigentlich beginnt dieses gegenläufige Geschehen der Befriedigung und Abnützung schon mit der Entstehung des Gefühls; denn daß es um sich greift bedeutet nicht nur eine Vergrößerung seiner Macht, sondern zugleich auch eine Entspannung der Bedürfnisse, denen es entspringt oder deren es sich bedient.
Auch im Verhältnis zur Handlung ist das zu beachten; denn das Gefühl steigert sich nicht nur im Tun, sondern entspannt sich auch darin; und seine Sättigung geht, wenn es nicht durch ein anderes Gefühl gestört wird, bis zum Überdruß fort, das heißt so lange, bis eben doch ein neues Gefühl da ist. »
«Etwas ist besonders zu erwähnen. Solange sich ein Gefühl das Innere unterwirft, kommt es auch in Berührung mit Tätigkeiten, die am Erleben und Verstehen der äußeren Welt mitwirken; und so wird es auch die Welt, wie wir sie verstehen, teilweise nach seinem eigenen Muster und Sinn zu schabionisieren vermögen, um durch den rückwirkenden Anblick in sich selbst bestärkt zu werden. Die Beispiele dafür sind bekannt: Ein heftiges Fühlen macht blind gegen das, was Unbefangene wahrnehmen, und macht gewahren, was andere nicht sehn. Der Traurige sieht Schwarz und straft mit Nichtachtung, was es aufhellen könnte; dem Heiteren leuchtet die Welt, und er ist nicht imstande, etwas wahrzunehmen, wovon das gestört werden könnte; dem Liebenden begegnen die bösesten Wesen mit Vertrauen; und der Argwöhnische findet nicht nur sein Mißtrauen allerorten bestätigt, sondern die Bestätigungen suchen ihn geradezu heim. Auf diese Art schafft sich jedes Gefühl, wenn es eine gewisse Stärke und Dauer erlangt, eine ausgewählte und anzügliche, seine eigene Welt, was keine kleine Rolle in den menschlichen Verhältnissen spielt! Dahin gehört auch unser berüchtigter Wankelmut und unser wechselndes Gutdünken. »
Hier hatte Ulrich einen Strich gezogen und war auf kurze Zeit zu der Frage zurückgekehrt, ob ein Gefühl ein Zustand oder ein Vorgang sei, deren Eigentümlichkeit als Scheinfrage jetzt deutlich hervortrat.
Zusammenfassend und weiterführend knüpfte sich an die gegebene Beschreibung Folgendes an:
«Von der gewohnten Vorstellung ausgehend, das Gefühl sei ein Zustand, der von einer Ursache kommt und Folgen bewirkt, bin ich in der Ausführung zu einer Beschreibung geführt worden, die zweifellos einen Vorgang darstellt, wenn das Ergebnis über längere Strecken betrachtet wird. Gehe ich aber dann von dem Gesamteindruck eines Vorgangs aus und will diese Vorstellung festhalten, so sehe ich ebenso deutlich, daß zwischen benachbarten Stücken allenthalben das Nacheinander fehlt, das Eins-hinter-dem-anderen, das doch zu einem Vorgang gehört, ja sogar jede Andeutung eines Ablaufs in bestimmter Richtung. Im Gegenteil, es deutet sich zwischen den einzelnen Schritten eine wechselseitige Abhängigkeit und Voraussetzung an, ja sogar das Bild von Wirkungen, die ihren Ursachen voranzugehen scheinen. Auch Zeitverhältnisse kommen nirgends in der Beschreibung vor, und alles das weist aus verschiedenen Gründen nun wieder auf einen Zustand hin.
Ich kann also streng genommen vom Gefühl bloß sagen, daß es sowohl ein Zustand als auch ein Vorgang zu sein scheint, ebenso wie es weder ein Zustand noch ein Vorgang zu sein scheint; und eines von beiden will so berechtigt erscheinen wie das andere.
Selbst das hängt aber, wie sich leicht zeigen läßt, mindestens ebenso sehr von der Art der Beschreibung ab als von dem, was beschrieben wird. Denn es ist keine besondere Eigentümlichkeit des Seelischen, geschweige denn eine des Gefühls, sondern kommt auch auf anderen Gebieten der Naturbeschreibung vor, beispielsweise allenthalben, wo von einem System und seinen Gliedern oder von einem Ganzen und seinen Teilen die Rede ist, daß in Ansehung des einen als Zustand erscheinen kann, was in Ansehung des anderen als Vorgang gilt. Ja schon die Andauer eines Vorgangs ist für uns mit dem Begriff eines Zustands verbunden. Ich könnte wohl nicht sagen, daß die Logik dieser doppelten Vorstellungsbildung klar sei, aber wahrscheinlich hängt sie damit zusammen, daß die Unterscheidung zwischen Zuständen und Vorgängen mehr der sprachlichen Denkweise angehört als dem wissenschaftlichen Tatsachenbild, das sie vielleicht neu ausbilden, vielleicht aber auch hinter anderem verschwinden lassen wird. »
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«Die deutsche Sprache sagt: Zorn ist in mir, und sagt: Ich bin in Zorn. Sie sagt: ich bin zornig, ich fühle mich zornig, ich fühle Zorn. Sie sagt: ich bin verliebt, und: Ich habe mich verliebt. Die Namen, die sie den Gefühlen gegeben hat, weisen sprachgeschichtlich wohl oft darauf zurück, daß sie vom Eindruck der Handlungen und durch das gefährliche oder in die Augen springende Verhalten zu ihnen bewogen worden ist; trotzdem spricht sie vom Gefühl bald als von einem Zustand, der verschiedene Vorgänge umschließt, bald als von einem Vorgang, der aus einer Reihe von Zuständen besteht; auch bezieht sie, wie die Beispiele zeigen, ohneweiters und bald so, bald anders die Vorstellungsbilder der Person und des Außen und Innen in ihre Ausdrucksweise ein; und im ganzen verfährt sie so launisch und unberechenbar, als hätte sie von Anfang an die deutsche Gefühlsverwirrung begründen wollen.
Die Verschiedenartigkeit des sprachlichen Bildes unserer Gefühle, das aus eindringlichen, aber unvollkommenen Erfahrungen entstanden ist, spiegelt sich noch heute in der Ideenbildung der Wissenschaft wider; namentlich dann, wenn diese mehr der Breite als der Tiefe nach genommen wird. Es gibt Lehren der Psychologie, in denen das Ich als das Gewisseste und in jeder Seelenregung, vornehmlich aber im Gefühl Erfahrbare auftritt, wie es auch Lehren gibt, die es völlig weglassen und nur die Beziehungen zwischen den Äußerungen für erfahrbar ansehen und so beschreiben, als wären es Erscheinungen in einem Kraftfeld, dessen Ursprung außer Betracht bleibt. Es gibt also Ichpsychologien und Psychologien ohne Ich. Aber auch die anderen Unterschiede sind gelegentlich ausgestaltet worden, und so erscheint das Gefühl einmal als ein Vorgang, den die Beziehung eines Ich zur Außenwelt durchläuft, ein andermal als ein besonderer Fall und Zustand der Bezogenheit und so weiter, Unterscheidungen, die sich eben bei einer mehr begrifflichen Richtung der Wißbegierde, solange die Wahrheit nicht deutlich ist, leicht davorstellen.
Vieles bleibt hier noch der Meinung überlassen, auch wenn man sich sorgfältig bemüht, die Tatsachen von ihr zu unterscheiden. Es scheint uns klar zu sein, daß sich ein Gefühl nicht irgendwo in der Welt, sondern im, Innern eines lebenden Wesens bildet, und daß <Ich> es bin, der fühlt oder in der Erregung sich selbst fühlt. Es geht deutlich etwas in mir vor, wenn ich fühle, und ich verändere auch meinen Zustand; und obwohl das Gefühl eine lebhaftere Beziehung zur Außenwelt herstellt als eine Sinnesempfindung, scheint es mir <innerlicher> zu sein als sie. Das ist die eine Gruppe der Eindrücke. Anderseits ist mit dem Gefühl aber auch eine Stellungnahme der ganzen Person verbunden, und das ist die andere Gruppe. Ich weiß vom Gefühl, im Unterschied von der Sinnesempfindung, daß es mehr als diese <mich ganz> angeht. Auch geschieht es nur auf dem Weg über die Person, daß ein Gefühl außen etwas bewirkt, sei es dadurch, daß diese handelt, sei es dadurch, daß sie die Welt anders zu sehen beginnt. Ja es ließe sich nicht einmal behaupten, daß ein Gefühl eine Veränderung im Innern einer Person sei, ohne hinzuzufügen, daß deren Beziehung zur Außenwelt dabei Veränderungen erfährt. »
«Vollzieht sich also das Werden und Sein eines Gefühls <in> uns oder an uns und mit uns? So komme ich wieder auf meine eigene Beschreibung zurück. Und wenn ich ihrer Unbefangenheit Glauben schenken darf, so bekräftigen die von ihr vorsichtig durchleuchteten Verhältnisse noch einmal das gleiche: Mein Gefühl bildet sich in mir und außer mir; es verändert sich von innen und von außen; es verändert die Welt unmittelbar von innen und tut es mittelbar, das heißt durch mein Verhalten, von außen; und es ist also, mag das auch unserem Vorurteil widersprechen, innen und außen zugleich, oder zumindest mit beidem so verschlungen, daß die Frage, was an einem Gefühl innen und was außen sei und was davon Ich und was Welt sei, fast allen Sinn einbüßt.
Das muß also doch wohl den Grundtatbestand abgeben und kann es auch ohneweiters tun, denn in maßvolleren Worten ausgedrückt, besagt es bloß, daß in jedem Fühlen etwas von einer doppelten Richtung erlebt wird, was ihm die Natur einer Durchgangserscheinung verleiht: nach innen, oder auf die Person zurück, und nach außen, oder zu dem Gegenstand hin, von dem es beschäftigt wird. Was hingegen Innen und Außen ist, und erst recht, was es bedeutet, zum Ich oder zur Welt zu gehören, das also, was am Ende dieser beiden Richtungen steht und darum ihre Erscheinung erst ganz verstehen ließe: das wird natürlich nicht schon im ersten Erleben klar erfaßt und ist von Ursprung nicht deutlicher als alles andere, was man erlebt, und weiß nicht wie, und ein wirklicher Begriff davon bildet sich erst durch fortdauernde Erfahrung und Erforschung aus.
Darum wird eine Psychologie, die Wert darauf legt, eine wirkliche Erfahrungswissenschaft zu sein, auch nicht anders, als sie mit den Begriffen des Zustands und Vorgangs verfährt, diese Begriffe behandeln, und 700
die nah verwandten Gedanken der Person, der Seele und des Ich, aber auch schon die vollen Vorstellungen des Innen und Außen werden ihr als etwas erscheinen, das zu erklären ist, und nicht als etwas, mit dessen Hilfe man ohne weiters anderes erklärt. »
«Merkwürdig gut stimmt damit auch eine Alltagswahrheit der Psychologie überein, denn wir setzen gewöhnlich, ohne viel zu überlegen, voraus, daß einer, der sich so zeigt, wie es einem bestimmten Gefühl entspricht, auch wirklich so fühle. Es geschieht also nicht selten, vielleicht sogar sehr oft, daß ein äußeres Verhalten mitsamt den Gefühlen, die es einschließt, unmittelbar und ungeteilt und mit großer Sicherheit erfaßt wird.
Wir erleben, ob die Gesinnung eines Wesens, das sich uns nähert, freundlich oder gefährlich sei, zuerst unmittelbar am Ganzen, und die Überlegung, ob es auch richtig sei, kommt bestenfalls nachher. Es nähert sich uns im ersten Eindruck auch nicht etwas, das sich vielleicht als fürchterlich erweisen könnte, sondern die Fürchterlichkeit selbst kommt uns nahe, möge es sich immerhin einen Augenblick später schon als Täuschung herausstellen. Und gelingt es uns, den unmittelbaren Eindruck wieder herzustellen, so läßt sich diese scheinbare Umkehrung einer vernünftigen Reihenfolge auch an Erlebnissen wahrnehmen wie dem, daß etwas schön und entzückend oder beschämend oder ekelerregend sei.
Das hat sich sogar in einem doppelten Sprachgebrauch erhalten, der gang und gäbe ist; denn wir sagen sowohl, daß wir etwas für schrecklich, lieblich und anderes hielten, und betonen damit, daß die Gefühle von der Person abhängen, als wir auch sagen, daß etwas schrecklich, lieblich und anderes sei, und von dem Schrecklichen und dem Lieblichen sprechen, womit wir-betonen, daß der Ursprung unserer Gefühle wie eine Eigenschaft in den Dingen und Geschehnissen wurzle. Diese Zweiseitigkeit, ja amphibische Zweideutigkeit der Gefühle unterstützt den Gedanken, daß sie nicht nur im Innern, sondern auch in der äußeren Welt zu beobachten sind. »
Mit diesen letzten Bemerkungen war Ulrich aber schon bei der dritten Antwort auf die Frage, wie der Begriff des Gefühls zu bestimmen sei, angelangt, oder zurückhaltender gesagt, bei der heute vorherrschenden Auffassung dieser Frage.
74 Fühlen und Verhalten Die Unsicherheit des Gefühls
«Die Schule der theoretischen Psychologie, die gegenwärtig am erfolgreichsten ist, behandelt das Gefühl und die Gefühlshandlung als eine unlösliche Gemeinschaft. Was wir handelnd fühlen, ist für sie die eine, und wie wir fühlend handeln, die andere Seite ein und desselben Vorgangs. Sie untersucht beide gemeinsam. Für Lehren, die dieser Gruppe angehören, ist das Gefühl - mit Worten ausgedrückt, die sie selbst gebrauchen - ein inneres und äußeres Verhalten, Geschehen und Handeln; und weil sich diese Zusammenfassung von Gefühl und Verhalten sehr gut bewährt hat, ist die Frage, wie sie schließlich wieder zu trennen und von einander zu unterscheiden seien, vorläufig fast nebensächlich geworden: Darum gibt es statt einer Antwort darauf ein ganzes Bündel, und dieses ist etwas unordentlich. »
«Manchmal heißt es, das Gefühl sei schlechthin ein und dasselbe wie die äußeren und inneren Geschehnisse, gewöhnlich aber bloß, diese seien ihm gleichzuhalten. Manchmal wird es in einem etwas undeutlichen Sinne als <der Gesamtvorgang>, manchmal bloß als das innere Handeln, Verhalten, Ablaufen und Geschehen angesprochen. Manchmal scheint es auch, daß nebeneinander zwei Begriffe des Gefühls in Gebrauch stehen; wobei dieses im weiteren Sinn das <Ganze>, im engeren Sinn aber ein Teilergebnis wäre, das auf eine nicht recht einleuchtende Art dem Ganzen seinen Namen, ja seine Natur aufprägt. Und manchmal scheint man der Vermutung zu folgen, daß ein und dasselbe, was sich der Beobachtung als mannigfaltiger Vorgang darstelle, im Erlebnis zum Gefühl werde, also daß Gefühl dann das Erlebnis und sozusagen der Bewußtseinsertrag des Vorgangs wäre.
Der Ursprung dieser Widersprüche ist wohl immer der gleiche. Denn jede solche Beschreibung eines Gefühls weist Teile auf, und sogar beiweitem in der Überzahl, die offenkundig keine Gefühle sind, weil sie eben kund gleicher Offenheit Empfindung, Auffassung, Gedanke, Wille oder ein äußerer Vorgang sind, als das jederzeit erlebt werden können und auch gerade so, wie sie sind, in dem Gesamterlebnis mitsprechen.
Ebenso deutlich gibt es in oder über alledem aber auch etwas, das an und für sich, im einfachsten und unverwechselbarsten Sinn Gefühl zu sein scheint, und eben nichts anderes; weder ein Handeln, noch ein Denken, noch irgend etwas anderes.
701
Darum lassen sich auch alle diese Erklärungen in zwei Gruppen zusammenfassen: Entweder bezeichnen sie das Gefühl als eine <Seite>, einen <Teil>, ein <Moment> des Gesamtablaufs, oder sie bezeichnen es als dessen <Be-wußtwerdem, sein <inneres Erlebnis> und ähnliches: Ausdrücke, denen deutlich genug die Verlegenheit um bessere anzumerken ist!
Der eigenartigste Gedanke dieser Lehren ist nun der, daß sie das Verhältnis des Gefühls zu alledem, was es nicht ist, und wovon es doch erfüllt wird, zunächst unbestimmt lassen, dafür aber sehr wahrscheinlich gemacht haben, daß diese Verbindung auf jeden Fall, und wie immer man sie sich im übrigen denken möge, so beschaffen sei, daß sie keine unzusammenhängenden Änderungen zuläßt und daß sich alles gleichsam in einem Atem ändert.
Man denkt es sich nach dem Beispiel der Melodie. In dieser haben die Töne ihre Selbständigkeit und lassen sich einzeln erkennen, und auch ihre Nachbarschaft, ihr Beisammen, Nacheinander, und was sich sonst hören läßt, ist kein bloßer Begriff, sondern bis an den Rand voll sinnlicher Darbietung; aber obwohl sich alles das also trotz seiner Verbundenheit einzeln hören läßt, läßt es sich auch verbunden hören, denn gerade das ist die Melodie, und wird sie gehört, so ist nicht neben den Tönen, Tonabständen und Zeiten etwas Neues da, sondern mit ihnen. Die Melodie kommt nicht als eine Beigabe hinzu, sondern als eine zweite*
Art zu erscheinen, eine besondere Existenzform, unter der sich die Form der Einzelexistenz gerade noch ausnehmen läßt; und auch das gilt vom Gefühl im Verhältnis zu den Gedanken, Bewegungen, Empfindungen, Absichten und stummen Kräften, die sich in ihm vereinen. Auch so empfindlich, wie es eine Melodie gegen jede Veränderung an ihren <Teilen> ist, so daß sie gleich eine andere Gestalt annimmt oder ganz zerstört wird, so empfindlich kann ein Gefühl gegen eine Handlung oder einen hineinsprechenden Einfall sein.
In welchem Verhältnis das Gefühl zum <äußeren und inneren Verhalten also immer stehe, zeigt das, wie jeder Veränderung in diesem eine bestimmte Veränderung in ihm entsprechen könne, und umgekehrt, als wären sie Kehrseiten. »
«(Es gibt viele genaue Schul-und Versuchsbeispiele, von denen die große Tragweite dieses theoretischen Gedankens bestätigt wird, und andere, noch aus der Wissenschaft fallende, die er unsicher erhellt, sei es mit Schein oder Wahrheit. Eines von diesen möchte ich festhalten: Die Inbrunst mancher Bildnisse - und es gibt Bildnisse, nicht nur Bilder, auch von Dingen - beruht nicht zuletzt darauf, daß sich in ihnen das einzelne Dasein in sich hinein öffnet und gegen die übrige Welt abschließt. Denn die selbständigen Gebilde des Lebens, mögen sie sich auch verhältnismäßig geschlossen darstellen, haben doch immer mit dem zerstreuenden Kreis einer wechselnden Umgebung Gemeinschaft. Als ich also Agathe auf den Arm nahm und wir uns beide aus dem Rahmen des Lebens genommen und in einem anderen vereinigt fühlten, war vielleicht etwas Ähnliches mit unserem Gefühl geschehen. Ich kannte das ihre nicht, und sie nicht das meine, aber sie waren nur für einander da, und hingen geöffnet aneinander, während alle andere Abhängigkeit verschwand; und darum sagten wir, wir wären aus der Welt gewesen, und in uns, und haben für dieses bewegte Ein-und Innehalten, diese wahre Einkehr und dieses Einswerden aus fremden Teilen den sonderbaren Vergleich mit einem Bild gebraucht. )»
«Der eigentümliche Gedanke, von dem ich zu reden habe, lehrt also, daß die Veränderungen und Modulationen des Gefühls und die des äußeren und inneren Verhaltens einander Punkt für Punkt entsprechen können, ohne daß das Gefühl dem Verhalten oder einem Teil von ihm gleichgesetzt oder etwas anderes von ihm behauptet werden müßte, als daß es Eigenschaften besitze, die auch anderswo schon Bürgerrecht in der Natur haben. Dieses Ergebnis hat den Vorzug, daß es den natürlichen Unterschied zwischen einem Gefühl und einem Geschehen nicht antastet, und doch so überbrückt, daß er seine Bedeutung verliert. Er beweist auf das allgemeinste, wie sich zwei Geschehensbereiche, die einander völlig unähnlich bleiben können, doch in einander abzubilden vermögen.
Die Frage, wie denn ein Gefühl aus anderen seelischen, ja sogar aus körperlichen Vorgängen <bestehen> solle, erhält dadurch offenbar eine ganz neue und überaus beachtenswerte Wendung; aber es ist auf diese Weise nur erklärt, wie einer jeden Veränderung des Verhaltens eine Änderung des Gefühls entspricht, und umgekehrt, und nicht, wie es wirklich zu solchen Veränderungen kommt, die während der ganzen Dauer des Gefühls stattfinden. Denn wäre, wonach es nun aussieht, das Gefühl bloß das Echo der Gefühlshandlung und diese das Spiegelbild jenes, so ließe sich schwer verstehen, daß sie sich wechselweise verändern.
702
Hier hebt sonach der zweite Hauptgedanke an, der sich der neu angebahnten Wissenschaft vom Gefühl entnehmen läßt; ich will ihn den der Ausgestaltung und Verfestigung nennen. »
«Dieser Gedanke baut sich aus mehreren Vorstellungen und Überlegungen auf. Da ich ihn mir deutlich machen möchte, greife ich zuerst darauf zurück, daß wir sagen, ein Gefühl bewirke ein Verhalten und das Verhalten wirke auf das Gefühl zurück; denn dieser groben Beobachtung läßt sich leicht die bessere entgegensetzen, daß zwischen den beiden eher ein Verhältnis der gegenseitigen Verstärkung und Resonanz besteht, ein schwellendes Ineinanderfassen, wobei freilich beide Teile auch gemeinsam verändert werden.
Das Gefühl wird in die Sprache der Handlung übersetzt, und die Handlung in die Sprache des Gefühls, wodurch, wie bei jeder Übersetzung, einiges neu hinzukommt und einiges verlorengeht.
Unter den einfachsten Verhältnissen spricht davon schon der bekannte Ausdruck, daß ein Schreck in die Glieder fahre; denn es darf ebensogut gesagt werden, daß auch die Glieder in den Schreck führen: ein Unterschied wie der zwischen <starrem Schreck> und <schlotternder Angst> beruht ganz auf diesem zweiten. Und was damit von der einfachsten Ausdrucksbewegung behauptet wird, gilt auch von der umfangreichen Gefühlshandlung: Also nicht erst als Folge der Handlung, die von ihm hervorgerufen wird, verändert sich ein Gefühl, sondern tut das schon in ihr, von der es auf eigenartige Weise aufgenommen, wiederholt und verändert wird, wodurch sie sich gegenseitig ausgestalten und verfestigen. Auch Gedanken, Wünsche und Antriebe aller Art gehen auf diese Weise in ein Gefühl ein und dieses in sie. »
«Ein solches Verhältnis setzt aber natürlich auch eine Verschiedenheit des Ineinandergreifenden voraus; denn dieses soll sich staffelartig in der Führung ablösen, so daß bald das Fühlen, bald das Handeln, bald ein Beschluß, Zweifel oder Gedanke überwiegen, die Führung übernehmen und einen Beitrag erstatten, der alle Teile in einer gemeinsamen Richtung vorwärtsbringt. So liegt es in der Vorstellung einer gegenseitigen Ausgestaltung und Verfestigung, die erst dadurch vollständig wird.
Auf der Gegenseite muß zugleich die zuvor geschilderte Einheit die Fähigkeit haben, Veränderungen aufzunehmen, und dabei doch auch in ihrer Eigenart als ein mehr oder minder bestimmtes fühlendes Verhalten beharren zu können; sie muß aber auch die Fähigkeit auszuschließen haben, denn sie nimmt Einflüsse von innen und außen auf oder wehrt sie ab. Bisher kenne ich von ihr nur das Gesetz ihres fertigen Zustands. Es muß darum auch die Herkunft dieser Einflüsse angegeben werden können und schließlich erklärt werden, dank welcher Vorsehung oder Vorrichtung es dazu kommt, daß sie im Sinne einer gemeinsamen Entwicklung in das Vorhandene eingehen. »
«Nun kann aller Voraussicht nach der Einheit allein, dem Gebilde als solchem, der bloßen Gestalt des Geschehens ein eigenes Beharrungs-und Wiederherstellungsvermögen, eine Festigkeit und ein Festigkeitsgrad, also auch schließlich eine eigene <Energie> nicht zugeschrieben werden, auch ist es wenig wahrscheinlich, daß es mitwirkende andere, darauf besonders gerichtete Kräfte des Innern gebe. Dagegen ist es wahrscheinlich, daß diesen nicht mehr als eine Nebenrolle zufiele; denn hauptsächlich beherrschen wohl dieselben mannigfach auf dem Sprung stehenden Verhältnisse des Innern und dieselben dauernden Anlagen, Neigungen, Grundsätze, Absichten und Bedürfnisse, die unsere Handlungen hervorrufen, auch unsere Gefühle und Gedanken. Sie sind deren Kraftspeicher, und es ist anzunehmen, daß die von ihnen ausgehenden Kräfte irgendwie die Ausgestaltung und Verfestigung des Gefühls bewirken. »
«Wie das geschieht, will ich mir an einem Vorurteil klarmachen, das recht verbreitet ist, denn es läßt sich oft die Meinung hören, daß zwischen einem Gefühl, dem Gegenstand, dem es gilt, und dem verbindenden Handeln eine <innere Verwandtschaft> bestehe. Man meint, es wäre dann leichter verständlich, daß sie ein einheitliches Ganzes bilden, daß sie einander ablösen und dergleichen mehr. Der Kern ist der, daß sich ein bestimmter Trieb oder ein bestimmtes Gefühl, zum Beispiel Nahrungstrieb und Hunger, nicht auf beliebige Gegenstände und Handlungen richten, sondern natürlich vorab auf solche, die Befriedigung verheißen.
Einem Hungernden ist nicht mit einer Sonate geholfen, sondern mit Nahrung, das heißt mit etwas, das einer mehr oder minder bestimmten Gruppe von Dingen und Geschehnissen angehört; und so entsteht der Anschein, daß diese Gruppe und dieser Erregungszustand ein für allemal verbunden seien, und es ist ja auch etwas Wahres daran. Diese Wahrheit ist aber nicht geheimnisvoller, als wir zur Suppe den Löffel, und nicht die Gabel benutzen.
Wir tun es, weil er uns als geeignet erscheint; und nichts anderes als dieses gewöhnliche Als-geeignet-Erscheinen ist das, was die Aufgabe erfüllt, zwischen einem Gefühl, seinem Gegenstand, den dazugehörenden Handlungen, Gedanken, Entschlüssen und jenen tieferen Antrieben zu vermitteln, die sich 703
meistens der Beobachtung entziehn. Wenn wir in einer Absicht oder in einem Wunsch oder zu einem Zweck handeln, beispielsweise jemand zu nützen oder zu schaden, so erscheint es uns natürlich, daß unser Tun durch die Forderung bestimmt wird, daß es sich eigne, im übrigen aber ganz verschieden ausfallen kann. Das gleiche gilt von jedem Gefühl. Auch ein Gefühl verlangt nach allem, was geeignet erscheint, es zu befriedigen, wobei dieses Kennzeichen bald strenger, bald loser verwandt wird; und gerade diese lockere Verbindung ist der natürliche Weg zur Ausgestaltung und Verfestigung.
Denn selbst den Trieben widerfährt es gelegentlich, daß sie fehlgehn; und wo immer sich ein Gefühl auslebt, kommt es vor, daß eine Handlung bloß versucht wird, eine Absicht oder ein Gedanke einfließen, die sich späterhin als ungeeignet erweisen und wieder fallen gelassen werden, und daß das Gefühl in den Bereich einer Kraftquelle gerät, oder diese in den seinen, von der es sich wieder loslöst. Nicht alles wird also im Verlauf des Geschehens ausgebildet und verfestigt, manches wird auch wieder aufgegeben. Mit ändern Worten, es gibt auch eine Ausgestaltung ohne Verfestigung, und diese bildet einen unentbehrlichen Teil der sich verfestigenden Ausgestaltung; denn indem von der Einheit des fühlenden Verhaltens alles aufgenommen werden kann, was geeignet erscheint, den lenkenden Kräften zu dienen, aber davon nur behalten wird, was wirklich geeignet ist, kommen von selbst in das Fühlen, Handeln und Denken der gemeinsame Zug, die Ablösung und das Beharren, die” es verstehen lassen, daß sie sich gegenseitig zunehmend verfestigen und ausgestalten. »
«Der schwache Punkt dieser Erklärung liegt dort, wo die genau beschriebene Einheit, die am Ende entsteht, mit dem ungenau begrenzten, sich ins Unbekannte verlierenden Bereich der Antriebe verbunden werden soll, der am Ur-Sprung liegt. Dieser Bereich ist kaum etwas anderes als das, was von den Inbegriffen Person und Ich nach dem Maße ihrer Beteiligung umfaßt wird, und wir wissen wenig darüber. Bedenkt man aber, daß im Augenblick eines Gefühls auch das Innerste umgeschmolzen werden kann, so wird man es nicht undenkbar finden, daß sich in einem solchen Augenblick auch die gestaltete Einheit des Geschehens bis dorthin erstreckt. Bedenkt man hingegen, wieviel vorangehen muß, einen solchen Erfolg vorzubereiten, daß ein Mensch Grundsätze und Gewohnheiten aufgibt, so wird man wieder von jeder auf die Augenblickswirkung zugespitzten Vorstellung ablassen. Und gäbe man sich schließlich auf die Weise zufrieden, daß für das Quellengebiet des Gefühls andere Gesetze und Zusammenhänge gelten sollen als für den Austritt, wo es als inneres und äußeres Geschehen wahrnehmbar wird, so stieße man wieder auf den Mangel, daß jede Vorstellung davon noch fehlt, nach welchem Gesetz sich der Übergang von den bewirkenden Kräften zum bewirkten Gebilde vollziehen könnte. Vielleicht läßt sich die Annahme einer lockeren, allgemeinen, den ganzen Verlauf umfassenden Einheit damit vereinen, daß aus ihr am Ende eine bestimmte und feste hervortritt: aber diese Frage reicht über die Psychologie hinaus, und sie reicht auch gegenwärtig noch über unser Können hinaus. »
«Dieser Bescheid, daß sich im Werdegang eines Gefühls wohl von der Quelle bis zur Mündung eine Einheit andeute, nicht aber gesagt werden könne, wann und wie sie die geschlossene Form annehme, die dem vollkommen ausgebildeten fühlenden Verhalten zu eigen sein soll (und zu deren Darlegung ich die Fügung einer Melodie als Beispiel benutzt habe): dieser recht abschlägige Bescheid gestattet merkwürdigerweise, einen Gedanken anzuknüpfen, durch den die bis jetzt verzögerte Antwort auf die Frage, wie der Begriff des Gefühls in der neueren Forschung aussieht, zu einem eigenartigen Abschluß kommt. Es ist das Zugeständnis, daß das wirkliche Geschehen überhaupt nicht ganz, und auch nicht in seiner Endgestalt, dem gedanklichen Bild entspreche, das man sich von ihm gemacht habe, was sich in einer Art doppelter Verneinung nützlich erweist. Man sagt sich: Es ist wirklich vielleicht nie die reine Einheit da, die nach der Theorie das Gesetz des fertigen Gefühls darstellt; ja es mag sie gar nicht geben können, weil sie so vollkommen in sich abgezirkelt wäre, daß sie keinerlei Einflüsse mehr aufnehmen könnte; aber, so sagt man sich nun, - es ist ja auch nie ein vollkommen abgezirkeltes Gefühl da! Mit anderen Worten: Gefühle kommen nie rein, sondern stets bloß in annähernder Verwirklichung zustande. Und nochmals mit anderen Worten: Der Vorgang der Ausgestaltung und Verfestigung kommt niemals zu Ende. »
«Nun ist das aber nichts anderes, als allenthalben jetzt das psychologische Denken kennzeichnet. Man sieht in den seelischen Grundbegriffen ohnehin bloß gedankliche Vorlagen, nach denen sich das innere Geschehen ordnen läßt, erwartet aber nicht mehr, daß es sich wirklich aus Elementen solcher Art aufbaue wie ein Vierfarbendruck. In Wahrheit sind nach dieser Anschauung die reinen Beschaffenheiten des Gefühls, der Vorstellung, der Empfindung und des Willens in der inneren Welt so wenig anzutreffen wie 704
etwa in der äußeren ein Stromfaden oder ein schwerer Punkt, und es gibt bloß ein verflochtenes Ganzes, das bald zu wollen und bald zu denken scheint, weil diese oder jene Beschaffenheit in ihm überwiegt.
Es bezeichnen die Namen der einzelnen Gefühle also bloß Typen, denen die wirklichen Erlebnisse nahekommen, ohne daß sie aber mit ihnen ganz übereinfielen; und damit tritt, mag alles das auch ein wenig grob gesprochen sein, an die Stelle des Axioms der älteren Psychologie, wonach das Gefühl, als eines der elementaren Erlebnisse, eine unverwechselbare Beschaffenheit hätte, oder auf eine Weise erlebt würde, die es von den anderen Erlebnissen ein für allemal unterschiede, ein Leitsatz ungefähr folgenden Inhalts: Es gibt keine Erlebnisse, die von Anfang an ein bestimmtes Gefühl sind, ja nicht einmal Gefühl schlechthin; sondern es gibt bloß Erlebnisse, die dazu berufen sind, zum Gefühl und zu einem bestimmten Gefühl zu werden.
Auch die Vorstellung der Ausgestaltung und Verfestigung erhält dadurch die Bedeutung, daß sich in diesem Vorgang das Gefühl und Verhalten nicht nur ausbilde, verfestige und, soweit es ihm gegeben ist, bestimme, sondern daß es in ihm überhaupt erst entstehe: also daß zu Anfang niemals genau dieses oder jenes bestimmte Gefühl - etwa in schwachem Zustand - mitsamt seiner Handlungsweise vorhanden ist, sondern bloß etwas, das dazu bestimmt und geeignet ist, ein solches Gefühl und Handeln zu werden, was sich aber niemals rein vollendet. »
«Natürlich ist dieses Etwas aber auch nicht völlig beliebig; soll es doch etwas sein, das zum voraus und seiner Anlage nach dazu bestimmt oder geeignet ist, ein Gefühl, und dazu ein bestimmtes Gefühl, zu werden. Denn Zorn ist schließlich nicht Müdigkeit, und wahrscheinlich auch anfänglich nicht; und ebensowenig sind Sättigung und Hunger auch nur im Ansatz zu verwechseln. Es wird also wohl zu Beginn etwas Unfertiges, ein Ansatz, ein Kern, etwas Gefühlartiges und diesem Gefühl Zugeartetes schon vorhanden sein. Ich möchte sagen, ein Fühlen, aber noch kein Gefühl; doch ist es besser, ich führe ein Beispiel aus, und ich will dazu das verhältnismäßig einfache des von außen treffenden körperlichen Schmerzes wählen:
Er kann eine örtlich begrenzte Empfindung sein, die an einer Stelle bohrt oder brennt und unangenehm, aber fremd ist. Diese Empfindung kann aber auch aufflammen und die ganze Person mit Pein überschütten.
Auch ist anfangs oft nur ein leerer Fleck an ihrer Stelle, aus dem erst im nächsten Augenblick Empfindung oder Gefühl aufquillt; denn nicht nur Kindern widerfährt es, daß sie anfangs oft nicht wissen, ob etwas schmerzt. Man hat früher angenommen, daß in diesen Fällen ein Gefühl zu der Empfindung hinzukommt; heute zieht man aber die Annahme vor, daß sich ein Erlebniskern, der ursprünglich noch ebensowenig eine Empfindung wie ein Gefühl sei, sowohl zu der einen wie auch zum ändern entwickeln könne.
Zu diesem ursprünglichen Erlebnisbestand gehört auch schon der Beginn einer Reflex-oder Triebhandlung, eines Zurückzuckens, Zusammenfahrens, Abwehrens oder eines unwillkürlichen Gegenangriffes; und weil das mehr oder minder eine Beteiligung der ganzen Person mit sich bringt, wird damit auch ein innerer Flucht-oder Abwehrzustand verbunden sein, also eine Gefühlsfärbung von der Art der Angst oder des Angriffs. Noch stärker geht sie natürlich von den alarmierten Trieben aus, denn diese sind ja nicht nur Anlagen zu einem zweckmäßigen Handeln, sondern verbreiten bei ihrer Erweckung auch unbestimmte Gemütszustände, die wir als Stimmung der Ängstlichkeit, Gereiztheit, in anderen Fällen der Verliebtheit, Empfänglichkeit und so weiter bezeichnen. Selbst das Nichtgeschehen und Nichtstunkönnen hat eine solche Gefühlsfarbe; meistens sind die Triebe aber mit einer mehr oder weniger bestimmten Willensbildung verbunden, und dann findet alsbald auch eine bewußte Erkundung der Lage statt, die an sich selbst ein Sichstellen und also angreifend gefärbt ist. Sie kann aber auch auf Kühle und Ruhe hinwirken; oder es ist der Schmerz sehr heftig, dann unterbleibt sie, und man geht seiner Quelle plötzlich aus dem Wege: Schon dieses Beispiel spielt also, und schon in den ersten Augenblicken, zwischen Empfindung, Gefühl, selbsttätiger Erwiderung, Wille, Flucht, Abwehr, Angriff, Schmerz, Zorn, Neugierde und kühler Sammlung hin und her und zeigt dadurch, daß nicht sowohl ein ursprünglicher Gefühlszustand da ist, als vielmehr wechselnde Ansätze zu deren mehreren einander ablösen oder ergänzen. Das gibt der Behauptung, es sei wohl ein Fühlen da, aber noch kein Gefühl, den Sinn, daß immer die Anlage zu einem Gefühl da sei, sich aber nicht zu erfüllen brauche, und daß immer ein Ansatz da sei, der aber hinterdrein auch als Ansatz zu einem anderen Gefühl gedient haben kann. »
«Die eigentümliche Weise, auf die das Gefühl dabei sowohl von Anfang an vorhanden als auch nicht vorhanden ist, läßt sich aber durch den Vergleich ausdrücken, daß man sich sein Wachsen und Werden nach 705
dem Bild eines Waldes vorstellen müsse, und nicht nach dem eines Baumes. Eine Birke beispielsweise bleibt vom Keimen bis zum Absterben sie selbst; ein Birkenwald kann dagegen als gemischter beginnen und wird ein Birkenwald, sobald diese Bäume - zufolge von Ursachen, die recht verschieden sein können -
in ihm überwiegen und die Abweichungen vom reinen Gepräge des Birkenschlags nicht mehr ins Gewicht fallen.
So verhält es sich auch mit dem Gefühl und, was immer mißverstanden werden kann, mit der Gefühlshandlung. Sie haben immer eine Eigenart, aber diese ändert sich mit allem, was in sie hineinspielt, bis sie mit wachsender Bestimmtheit die Merkmale eines bekannten Gefühls annimmt und seinen Namen
<verdient>, was immer eine Spur von freier Würdigung an sich behält. Gefühl und Gefühlshandlung können sich aber von diesem Typus auch wieder entfernen und sich einem anderen annähern, was nichts Ungewöhnliches ist, weil doch ein Gefühl schwanken kann und überhaupt verschiedene Verfassungen durchmacht. Der Unterschied von der gewöhnlichen Auffassung liegt darin, daß nach dieser das Gefühl als ein bestimmtes Erlebnis gilt, das wir nicht immer mit Bestimmtheit erkennen; die neuer begründete schreibt dagegen die Unbestimmtheit dem Gefühl zu und sucht sie aus seinem Wesen zu verstehen und bündig abzugrenzen. »
In einem Anhang folgten nun noch einzelne Beispiele, die eigentlich Randbemerkungen hätten sein sollen, an der ihnen zugedachten Stelle aber unterdrückt worden waren, damit sie die Darlegung nicht unterbrächen. Und so gehörten diese aus dem Zusammenhang geratenen Nachzügler nun auch nicht mehr zu einer bestimmten Stelle, obwohl sie zum Ganzen gehörten und Einfalle zu dessen möglicher Anwendung festhielten:
«Was in die Beziehung <Etwas lieben> so ungeheure Unterschiede trägt wie den zwischen Gottesliebe und Liebe zum Fischen, ist nicht die Liebe, sondern das <Etwas>. Das Gefühl selbst - das Hangen, Bangen, Begehren, Sehren, Zehren: mit einem Wort, das Lieben - läßt einen Unterschied nicht erkennen. »
«Seinen Spazierstock oder die Ehre zu lieben, ist aber ebenso gewiß nicht nur darum tausend und eins, weil diese beiden einander nicht gleichen, sondern auch weil der Gebrauch, den wir von ihnen machen, die Umstände, unter denen sie wichtig werden, kurz, die ganze Erfahrungsgruppe verschieden ist. Es ist die Unverwechselbarkeit einer Erfahrungsgruppe, woraus wir die Sicherheit gewinnen, unser Gefühl zu kennen. Darum kennen wir es in Wahrheit erst, nachdem es in die Welt gewirkt und sich an ihr ausgestaltet hat; wir wissen nicht, was wir fühlen, ehe nicht unser Handeln darüber entschieden hat. »
«Und wo wir sagen, unser Gefühl sei geteilt, dort sollten wir eher sagen, es sei noch nicht fertig oder wir seien noch nicht festgelegt. »
«Und wo es als Widerspruch oder paradoxe Vermischung erscheint, liegt oft etwas anderes vor. Wir sagen, der Tapfere achte des Schmerzes nicht; in Wahrheit schäumt aber das bittere Salz des Schmerzes in der Tapferkeit auf. Und im Märtyrer hebt es sich flammend zum Himmel. Im Feigen dagegen gewinnt der Schmerz durch die ihn erwartende Angst unerträgliche Verdichtung. Noch deutlicher als diese Beispiele ist das des Abscheus, zu dem, mit Gewalt angetan, gerade die Empfindungen werden, die, freiwillig empfangen, höchste Wollust sind.
Natürlich sind da verschiedene Quellen, und es entstehen auch Mischungen; vornehmlich entstehen aber verschiedene Richtungen der Ausbildung des vorherrschenden Gefühls. »
«Weil sie beständiger Fluß sind, lassen sich Gefühle nicht anhalten; sie lassen sich also nicht <unter die Lupe> nehmen; das heißt, je genauer wir sie beobachten, desto weniger wissen wir, was wir fühlen. Die Aufmerksamkeit ist schon eine Veränderung des Gefühls. Wären sie aber eine <Mischung>, müßte diese eigentlich im Augenblick des Anhaltens am deutlichsten sein, auch wenn sich die Aufmerksamkeit einmischt. »
«Weil die äußere Handlung keine selbständige Bedeutung für die Seele hat, lassen sich Gefühle nicht nach ihr allein unterscheiden. Unzähligemal wissen wir nicht, was wir fühlen, obgleich wir lebhaft und entschieden handeln. Auf dieser Undeutlichkeit beruht sodann die ungeheure Zweideutigkeit dessen, was ein argwöhnisch oder eifersüchtig beobachtender Mensch tut. »
«Die Undeutlichkeit des Gefühls beweist aber nicht etwa seine Schwäche, denn gerade im höchsten Fühlen vergehen die Gefühle. Schon in den hohen Graden sind sie äußerst labil; siehe zum Beispiel den <Mut der Verzweiflung» oder das Umschlagen von Glück in Schmerz. Auch bewirken sie da widerspruchsvolle Handlungen, wie Lähmung statt Flucht oder vom eigenen Zorn <Erwürgtwerden>. Bei ganz heftigen 706
Erregungen verlieren sie aber sozusagen ihre Farbe, so daß bloß eine tote Empfindung der sie begleitenden körperlichen Erscheinungen übrig bleibt, des Schauders der Haut, des Rasens des Bluts, der Ferne der Sinne.
Und vollends in den höchsten Graden tritt geradezu eine Blendung ein, so daß sich sagen ließe, daß die Einrichtung des Gefühls, und damit die ganze Welt unseres Gefühls, nur für mittlere Grade gilt. »
«In diesen durchschnittlichen Graden erkennen und benennen wir ein Gefühl natürlich nicht anders als andere Erscheinungen, die im Fluß sind, um das nochmals zu sagen. Die Unterscheidung zwischen Haß und Zorn festzulegen, ist so leicht und so schwer wie die zwischen Mord und Totschlag oder einem Becken und einer Schüssel zu bestimmen. Es waltet nicht Namenswillkür, aber jede Seite und Biegung kann dem Vergleich und der Begriffsbildung dienen. Und so hängen auf diese Weise wohl auch die hundert und ein Arten der Liebe zusammen, über die Agathe und ich nicht ganz ohne Kummer gescherzt haben. Die Frage, wie es kommt, daß so ganz Verschiedenes mit dem einen Wort Liebe bezeichnet wird, hat die gleiche Antwort wie die Frage, warum wir unbedenklich von Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-, Weg-und anderen Gabeln reden! Allen diesen Gabeleindrücken liegt ein gemeinsames <Gabeligsein> zugrunde; aber es steckt nicht als ein gemeinsamer Kern in ihnen, sondern fast ließe sich sagen, es sei nicht mehr als ein zu jedem von ihnen möglicher Versuch. Denn sie brauchen nicht einmal untereinander alle ähnlich zu sein, es genügt schon, wenn eins das andere gibt, wenn man von einem zu anderen kommt, wenn nur Nachbarglieder einander ähnlich sind; entferntere sind es dann durch ihre Vermittlung. Ja, auch das, was die Ähnlichkeit ausmacht, das die Nachbarn Verbindende, kann in einer solchen Kette wechseln; und so kommt man ereifert von einem Ende des Wegs zum ändern und weiß kaum noch selbst, auf welche Weise man ihn zurückgelegt hat. »
«Wollten wir aber, wozu wir neigen, die zwischen allen Lieben bestehende Ähnlichkeit für ihre Ähnlichkeit mit einer Art von <Urliebe> ansehen, die gleichsam ohne Arme und Beine in ihrer aller Mitte säße, so wäre es anscheinend der gleiche Fehler wie der Glaube an eine <Urgabel>. Und doch kennen wir das lebendige Zeugnis dafür, daß es solches Gefühl wirklich gibt. Bloß der Grad dieses <Wirklich> läßt sich schwer bestimmen. Es ist ein anderes als das der wirklichen Welt. Ein Gefühl, das nicht Gefühl für etwas ist; ein Gefühl ohne Begehren, ohne Bevorzugung, ohne Bewegung, ohne Kenntnis, ohne Grenzen; ein Gefühl, zu dem kein bestimmtes Verhalten und Handeln gehört, jedenfalls kein ganz wirkliches Verhalten: so wahrhaftig dieses Gefühl nicht von Armen und Beinen bedient wird, so wahrhaftig ist es uns immer wieder entgegengetreten und ist uns lebendiger als das Leben erschienen! Liebe ist schon ein zu besonderer Name dafür, wenngleich es mit einer Liebe, für die Zärtlichkeit oder Geneigtheit noch zu handgreifliche Ausdrücke sind, wohl die allernächste Verwandtschaft hat. Es verwirklicht sich auf vielerlei Art und in vielen Beziehungen, aber es läßt sich niemals ganz von dieser Verwirklichung ablösen, die es verunreinigt.
So ist es uns erschienen und verschwunden, eine Ahnung, die immer gleich blieb. Scheinbar haben die nüchternen Überlegungen, womit ich diese Blätter gefüllt habe, wenig damit zu tun, und doch bin ich fast sicher, daß sie mich an den richtigen Übergang gefühlt haben!»
75 Zurück zur Wirklichkeit. Oder Der Tugut singt
Professor August Lindner sang ein Lied. Er wartete auf Agathe.
Ach, des Knaben Augen sind Mir so schön und klar erschienen, Und ein Etwas strahlt aus ihnen, Das mein ganzes Herz gewinnt.
Blickt er doch mit diesen süßen Augen nach den meinen hin! Säh er dann sein Bild darin, Würd er wohl mich liebend grüßen.
Und so geb ich ganz mich hin, Seinen Augen nur zu dienen, Denn ein Etwas strahlt aus ihnen, Das mein ganzes Herz gewinnt.
Es war ursprünglich ein spanisches Lied. In Lindners Wohnung stand ein kleines Klavier aus Frau Professor Lindners Zeiten, das zuweilen der Aufgabe diente, die Bildung und Erziehung des Sohnes Peter abzurunden, weshalb dieser schon einige Saiten daraus entfernt hatte. Lindner selbst benutzte es niemals, es sei denn, daß er hie und da ein paar weihevolle Akkorde darauf anschlug; und obgleich er schon lange vor dem Tongerät auf und ab gegangen war, hatte er sich zu seinem ungewöhnlichen Versuch erst hinreißen lassen, nachdem er sich vorsichtig davon überzeugt hatte, daß sowohl seine Wirtschafterin als auch Peter aus dem Hause wären. Seine Stimme hatte ihm sehr Wohlgefallen, sie war ein hoher, zum Gefühlsausdruck 707
offenbar recht geeigneter Bariton; und nun hatte Lindner das Klavier nicht geschlossen, sondern stand, den Arm darauf gestützt, das Spielbein über das Standbein gekreuzt, überlegend daneben. Agathe hatte über eine Stunde Verspätung. Die Leere des Hauses, die einesteils davon, andernteils von seinen AnOrdnungen herrührte, kam ihm als schuldhafte Vorbereitung zu Bewußtsein.
Er hatte eine Seele gefunden, die er zu retten bemüht war, die den Eindruck hervorrief, sich ihm anzuvertrauen, und die von verwirrendem Reichtum war; und welchen Mann entzückte es nicht, ein kaum noch erwartetes weibliches Geschöpf zu finden, das er nach seinem Sinn erziehen könnte! Aber tiefe Töne des Mißbehagens mischten sich darein. Lindner hielt Pünktlichkeit für eine Gewissensforderung und stellte sie nicht niedriger als Vertragstreue und Ehrlichkeit; auch erschienen ihm Menschen ohne eine feste Zeiteinteilung krankhaft zerfahren, und zwangen sie vollends ihre ernsteren Mitmenschen dazu, Teile ihrer Zeit mit ihnen zu verlieren, so erachtete er sie ärger als Straßenräuber. Er nahm es dann als seine Pflicht in Anspruch, solchen Naturen höflich, aber unerbittlich Achtung davor beizubringen, daß seine Zeit nicht ihm, sondern seiner Tätigkeit gehöre; und weil Notlügen das eigene Gemüt schädigen, die Menschen aber ungleich sind, manche einflußreich und manche nicht, hatte er vielfältige Charakterübungen daraus gewonnen, so daß ihm davon nun eine Menge der kräftigsten und geschmeidigsten Merksprüche einfielen und die sanfte Erregung durch das Lied störten.
Immerhin hatte er seit seiner Studienzeit kein religiöses Lied mehr gesungen und genoß es mit bedachtsamem Schreck. «Welche südliche Naivität und welchen Liebreiz» dachte er «strahlen diese so weltlichen Verse aus! Wie entzückend und zart ist ihre Beziehung zu dem Knaben Jesu!» Er versuchte, ihre Unbefangenheit in seinem Inneren nachzuahmen, und kam zu dem Ergebnis: «Wüßte ich es nicht besser, so vermöchte ich jetzt zu glauben, in mir das keusche Hoffen eines Mädchens zu seinem Knaben hin zu vernehmen !» Man sollte also wohl sagen können, daß eine Frau, die solche Huldigungen heraufbeschwöre, an das Edelste im Manne rühre, selbst ein edles Wesen sein müsse. Aber da lächelte Lindner unzufrieden und entschloß sich, den Deckel des Klaviers zu schließen. Sodann machte er mit den Armen eine seiner Bewegungen, die die Harmonie der Persönlichkeit fördern, und hielt wieder inne. Ein unangenehmer Gedanke war ihm dazwischen gekommen. «Sie hat kein Gefühl!» seufzte er hinter zusammengebissenen Zähnen. «Sie würde lachen!»
Er hatte in diesem Augenblick etwas in seinem Gesicht, das seine selige Mutter an den Knaben erinnert hätte, dem sie jeden Morgen vor dem Schulweg eine schöne große Schleife unter das Kinn band; man hätte dieses Etwas den völligen Mangel an männlicher Roheit nennen können. Dieser Mangel macht einen Knaben unter Knaben unmöglich. Auf der röhrenbeinig hohen, kraftlos großen Erscheinung saß das Haupt wie auf eine Lanze gespießt über der brüllenden Arena der Schulkameraden, die seine von Mutterhand geschaffene Masche verhöhnte; und in Angstträumen sah sich Professor Lindner jetzt noch manchmal so dastehn und für das Gute, Schöne und Wahre leiden. Aber gerade darum gab er auch niemals zu, daß die Roheit eine dem Manne unentbehrliche Eigenschaft sei, dem Kies vergleichbar, der in den Mörtel gemischt werden muß, um ihm Festigkeit zu leihen; und zumal seit er der Mann geworden, der zu sein er sich schmeichelte, sah er in jenem frühen Mangel bloß eine Bestätigung dafür, daß er geboren worden sei, die Welt, auch wenn in bescheidenem Maße, zu verbessern. Nun ist man ja wohl die Erklärung, daß die großen Redner aus den Zungenfehlern erstehn und die Helden aus der Schwäche, mit anderen Worten die Erklärung, daß unsere Natur immer erst eine Grube gräbt, wenn sie will, daß wir darüber einen Berg errichten, heute allgemein gewohnt; und weil die Halbwissenden und Halbwilden, von denen der Gang des Lebens vornehmlich bestimmt wird, schon bald jeden Stotterer als einen Demosthenes ausrufen, gilt es umso leichter als ein Zeichen für den guten geistigen Geschmack, daß man nur ja als die Hauptsache an einem Demosthenes das ursprüngliche Stottern erkenne. Doch ist es noch nicht gelungen, die Taten des Herakles darauf zurückzuführen, daß er ein schwächliches Kind gewesen wäre, die höchsten Leistungen im Schnellauf und Springen auf einen Plattfuß, und den Mut auf die Ängstlichkeit, und so muß wohl doch zugegeben werden, daß zu einer besonderen Begabung auch noch etwas anderes gehört als ihr Fehlen!
Durchaus nicht war Professor Lindner also zu dem Bekenntnis verhalten, daß die Neckereien und Prügel, die er als Knabe gefürchtet hatte, eine Ursache seiner geistigen Entwicklung gewesen sein könnten.
Trotzdem leistete ihm die Einrichtung seiner Grundsätze und Gefühle aber heute den Dienst, daß jeder aus dem Gedränge der Welt kommende Eindruck davon in einen geistigen Triumph verwandelt wurde; und sogar seine Gewohnheit, kriegerische und sportliche Ausdrücke in seine Rede einzuflechten, sowie seine 708
Neigung, allem, was er tat und sagte, das Gepräge eines unbeugsamen und strengen Willens zu geben, hatte sich in dem Maße zu entwickeln begonnen, als er, heranreifend, und nun auch unter gereifteren Gefährten lebend, unmittelbaren körperlichen Angriffen entrückt war. Er war sogar auf der Universität einer der Studentenverbindungen beigetreten, die Wams, Mütze, Stiefel, Band und Waffe ebenso malerisch trugen wie die Raufbolde, die von ihnen verachtet wurden, davon aber nur friedliche Anwendung machten, weil ihre Weltanschauung den Zweikampf verbot. Dabei hatte sich seine Lust an der Tapferkeit, von der man keinen blutigen Gebrauch machen muß, endgültig ausgebildet; zugleich legte es aber auch ein Zeugnis davon ab, wie man eine edle Gesinnung mit überschäumendem Lebensdrang verbinden kann oder, freilich mit anderen Worten, daß Gott am bequemsten in den Menschen fährt, wenn er es dem Teufel nachmacht, der vor ihm dagewesen ist!
Sobald Lindner also, wie es leider öfters geschehen mußte, seinem untersetzteren Sohne Peter vorhielt, daß auch die Nachgiebigkeit gegen den Gedanken der Kraft den Menschen verweichliche, oder daß die Kraft der Demut und der Mut zu verzichten höher stehen als Körperkraft und -mut, sprach er nicht als Laie in Mutfragen, sondern genoß die Aufregungen eines Magiers, dem es gelingt, Dämonen in den Dienst des Guten zu zwingen. Denn obwohl es auf der Höhe seines Wohlergehens eigentlich nichts gab, was ihn aus dem Gleichgewicht bringen konnte, war ihm doch eine beinahe an Angst streifende Abneigung - ähnlich wie eine geheilte Wunde ein Hinken zurückläßt - gegen Witze und Gelächter eigentümlich, selbst wenn er bloß deren blanke Möglichkeit argwöhnte. «Die Kitzel des Witzes und des Humors» pflegte er seinen Sohn darüber zu belehren «entspringen dem satten Lebensbehagen, der Bosheit und der müßigen Phantasie, und sie verleiten den Menschen gar leicht dazu, etwas zu sagen, das durch sein besseres Selbst verurteilt wird!
Dagegen ist die Übung, seine <witzigen> Einfalle und Vorstellungen zu verschweigen, eine schöne Kraftprobe und stählende Willensprüfung, und sie fällt umso segensreicher für den ganzen Menschen aus, je mehr man das errungene Schweigen dazu benutzt, seinen Witz näher zu betrachten: Da sehen wir gewöhnlich erst, » schloß diese stehende Ermahnung «wieviel Wünsche auf eigene Überhebung und Verkleinerung des anderen, wieviel Gefallsucht und wieviel Leichtfertigkeit hinter den meisten Witzen stecken, wieviel Verfeinerung des Mitgefühls in uns und anderen durch sie erstickt wird, ja wieviel erschreckende Roheit und Spottsucht im Gelächter der Zuhörer, um das wir gebuhlt haben, zutage tritt!»
Peter mußte darum seine jugendliche Neigung zur Spottsucht und zum Witzemachen sorgfältig vor seinem Vater verbergen; aber er besaß sie, und Professor Lindner fühlte oft den Atem des bösen Geistes in seiner Umgebung, ohne das giftige Gespenst stellen zu können. Es konnte soweit führen, daß der Vater den Sohn mit bändigendem Blick in Furcht hielt, insgeheim sich aber selbst vor ihm fürchtete, und erinnerte dann an etwas Unbestimmbares, das schon zwischen dem Ehepaar Lindner bestanden hatte, als die rundliche Frau Professor noch auf Erden war. Herr in seinem Hause zu sein, dessen Geist zu bestimmen und die Familie als einen friedlichen Garten um sich zu wissen, in den er seine Grundsätze gepflanzt hatte, gehörte für ihn zu den unerläßlichen Voraussetzungen der Zufriedenheit; Frau Lindner aber, die er kurz nach dem Abschluß seiner Studien geheiratet hatte, während deren er «Zimmerherr» bei ihrer Mutter gewesen war, hatte leider bald danach aufgehört, seine Grundsätze zu teilen, hingegen sie eine Art, ihm ungern zu widersprechen, annahm, die ihn mehr reizte als Widerspruch. Es blieb ihm unvergeßlich, manchmal einen Blick aus dem Augenwinkel aufgefangen zu haben, während ihr Mund gehorsam schwieg; und jedesmal hatte er sich danach in einer Lage vorgefunden, gegen die vielleicht etwas einzuwenden gewesen wäre; zum Beispiel in einem zu kurzen Nachthemd, darüber predigend, daß ihre Würde der Frau jedes Gefallen an den lockeren und rauhen Gesellen verbieten sollte, die mit ihrer Trunkenheit und ihren Schrammen damals noch das studentische Leben beherrschten und darum auch als Mieter nicht so ungern gesehen waren, wie man fordern dürfte.
Überhaupt ist die heimliche Spottsucht der Frau ein Kapitel, das eng mit ihrem Unverständnis für die wichtigsten männlichen Angelegenheiten zusammenhängt; und in dem Augenblick, als Lindner sich daran erinnerte, gaben die geistigen Vorgänge, die sich bis dahin ohne deutliche Gestalt in ihm gewälzt hatten, den Gedanken an Agathe frei. Wie mochte sie sein, wenn man innig mit ihr zusammen lebte? «Sie ist ohne Zweifel nicht das, was man beruhigt einen guten Menschen nennen möchte. Sie macht ja nicht einmal ein Hehl daraus!» sagte er sich, und einer ihrer Aussprüche, der ihm dabei einfiel, die lachende Behauptung, daß die guten Menschen heute an der Verderbnis des Lebens nicht weniger Schuld trügen als die schlechten, sträubte ihm die Haare. Aber er hatte diesen «fürchterlichen Ansichten», wenn sie ihn auch jedesmal von 709
neuem erregten, im ganzen doch schon «die Giftzähne ausgebrochen», indem er sich ein für allemal davon die Erklärung gemacht hatte: «Sie kennt die Wirklichkeit nicht!» Denn er hielt Agathe für ein edles Wesen, wenn auch für eine «Evatochter» voll böser Unruhe. Das rechte Verhalten, so gewiß es dem Gläubigen ist, ihr schien es der denkungewisseste Gegenstand, die Lösung der äußersten und schwierigsten Aufgabe des Lebens zu sein! Sie schien sich eine traumhaft verworrene Vorstellung von Güte und Recht zu machen, eine ordnungsfeindliche, die nicht mehr Zusammenhang besaß als eine zufällige Zusammenstellung von Gedichten. «Sie ist wirklichkeitsfremd!» wiederholte er. «Kennte sie beispielsweise die Liebe, wie möchte sie so zynische Äußerungen darüber machen, daß sie unmöglich sei und dergleichen!» Es mußte ihr also die wahre Liebe gezeigt werden.
Aber da bereitete Agathe nun wieder neue Schwierigkeiten. Wollte er es sich nur ungescheut und mutig eingestehen: sie war verletzend! Sie riß allzu gerne von seinem Piedestal, was man sorgsam hochstellte; und tadelte man sie, so hielt sich ihre Kritik vor nichts zurück, und sie zeigte offen, daß sie verletzen wolle.
Es gibt solche Naturen, die wider sich selbst wüten und nach der Hand schlagen, die ihnen Hilfe bringt; aber ein fester Mann wird sein Verhalten nie vom Verhalten anderer abhängen lassen, und in diesem Augenblick hatte Lindner das Bild eines ruhigen Mannes mit langem Bart vor sich, der sich über eine ängstlich abwehrende Kranke beugt und eine Wunde ganz tief an ihrem Herzen sieht. Der Augenblick war fern von Logik, und so war damit nicht gesagt, daß er selbst dieser Mann sei; aber Lindner richtete sich auf, und das tat er wirklich, griff nach seinem Bart, der inzwischen sehr an Fülle verloren hatte, und eine nervöse Röte überflog sein Antlitz. Es war ihm erinnerlich geworden, daß Agathe die verwerfliche Gewohnheit besaß, ihn mehr, als es je ein anderer Mensch zuwege gebracht hätte, in den Glauben zu versetzen, sie vermöchte seine erhabensten und seine geheimsten Gefühle zu teilen, ja sie warte in ihrer bedrängten eigenen Lage sogar auf eine besondere Anstrengung von deren Seite, um ihn dann, wenn er die Schätze seines Inneren preisgab, höhnisch zu beleidigen. Sie beflügelte ihn! Lindner gestand es sich ein und hätte auch nicht anders können, denn in seiner Brust war ein fremdes, unruhiges Gefühl, das man lieblos, was ihm freilich fern lag, mit einem Korb voll Hühner hätte vergleichen können, die durcheinander drängen. Aber dann konnte sie auch mit einemmal auf äußerst unbestimmbare Art lachen oder etwas weltlich Liebloses andeuten, das ihn ins Herz schnitt, als hätte sie alles nur darauf angelegt gehabt, ihn zu täuschen! Und hatte sie ihn denn nicht auch heute, noch ehe sie da war, schon in eine solche Lage gebracht, fragte sich Lindner, mit diesem Klavier. Er sah es an. Wie eine Hausmagd stand es neben ihm, an der sich der Herr vergangen hat!
Er konnte nicht wissen, was Agathe bewog, ihr Spiel mit ihm zu treiben, und sie selbst hätte sich mit niemand darüber aussprechen können, durchaus nicht einmal mit Ulrich. Sie verhielt sich launenhaft; aber sofern das heißt, mit wechselndem Gefühl, geschah es doch auch mit Absicht und bedeutete ein Rütteln und Lockern des Gefühls, wie ein Mensch seine Glieder dehnt, auf denen eine süße Schwere lastet. So hatte die wunderliche Anziehung, die sie mehrmals heimlich zu Lindner führte, von Anfang an eine Widersetzlichkeit gegen Ulrich, oder doch gegen die völlige Abhängigkeit von ihm, enthalten; der fremde Mann wendete ihre Gedanken ein wenig ab und erinnerte sie an die Vielfältigkeit der Welt und der Männer. Aber es geschah nur, um sie ihre Abhängigkeit von ihrem Bruder desto wärmer fühlen zu lassen, und war überdies das gleiche wie Ulrichs Heimlichkeit mit den Aufzeichnungen, die er vor ihr verschloß, ja schon wie schlechthin sein Entschluß, neben dem Gefühl, und über dieses, auch den Verstand urteilen zu lassen.
Doch während er damit genug zu tun hatte, bedurfte ihre Ungeduld und ihre für ein Abenteuer, von dem sich noch nicht sagen ließ, welchen Weg es nehmen werde, bereitgehaltene Spannung des Auslasses, und in dem Maße, als Ulrich sie begeisterte oder entmutigte, machte Lindner, dem sie sich überlegen fühlte, sie wieder geduldig oder übermütig. Sie gewann Herrschaft über sich selbst, indem sie den Einfluß mißbrauchte, den sie auf ihn ausübte, und hatte das nötig.
Dabei spielte aber doch auch noch etwas anderes mit. Denn zu dieser Zeit war zwischen ihr und Ulrich weder von ihrer Scheidung und Hagauers Briefen noch von dem leichtsinnig oder eigentlich abersinnig, in einem ausgesprungenen Augenblick veränderten Testament die Rede, das eine Gutmachung forderte, entweder eine bürgerliche oder eine wunderbare. Agathe wurde manchmal von dem bedrückt, was sie getan hatte, und sie wußte auch, daß Ulrich in der Unordnung, die man in einem tieferen Lebenskreis zurückläßt, keine gute Vorbedeutung für die Ordnung sah, die man in einer höheren Bedeutung anstrebt; er hatte es ihr offen genug gesagt, und wenn sie sich auch nicht mehr an alle Einzelheiten des Gesprächs erinnerte, das sich an die Verdächtigungen angeschlossen hatte, die von Hagauer gegen sie erhoben wurden, so fand sie 710
sich doch in einen Wartezustand zwischen Wohl und Übel verbannt. Etwas hob zwar alle ihre Eigenschaften nach oben zur wunderbaren Rechtfertigung, aber sie durfte noch nicht daran glauben, und so war es auch ihr beleidigtes widerspenstiges Rechtsgefühl, was sich im Streit mit Lindner einen Ausweg schuf. Sie war ihm sehr dankbar dafür, daß er ihr alle schlechten Eigenschaften anzudichten schien, die auch Hagauer an ihr entdeckt hatte, und daß er sie, ohne es zu wollen, schon durch den Anblick beruhigte, den er dabei darbot.
Lindner, der also nie in der Beurteilung Agathes mit sich ins reine kam, hatte jetzt begonnen, unruhig in seinem Zimmer auf und ab zu wandern, und unterzog die Besuche, die sie ihm machte, einer strengen Prüfung im einzelnen. Es schien ihr bei ihm zu gefallen, sie fragte nach vielen Einzelheiten seines Hauses und seines Lebens, nach seinen Erziehungsgrundsätzen und nach seinen Büchern. Er irrte sich bestimmt nicht, wenn er annahm, daß man mit solcher Teilnahme nur nach einem Leben fragt, das zu teilen man sich angezogen fühlt; freilich, wie sie sich dabei ausdrückte, mußte man als ihre Eigenart einstweilen hinnehmen! So entsann er sich, daß sie ihm einmal von einer Frau erzählt hatte - sträflicherweise einer gewesenen Geliebten ihres Bruders! -, die jedesmal einen Kopf «wie eine Kokosnuß» bekäme, «mit den Haaren nach innen», wenn sie sich in einen Mann verschaute; und daran hatte sie die Bemerkung geknüpft, daß es ihr so mit seiner Wohnung erginge. Es sei alles so einheitlich, daß man ordentlich «Angst um sich selbst» bekomme! Aber diese Angst schien ihr Vergnügen zu bereiten, und Lindner erkannte in diesem widerspruchsvollen Zug die geängstigte Hingabebereitschaft der weiblichen Psyche, umsomehr als sie ihm andeutete, ähnliche Eindrücke seien ihr auch aus der ersten Zeit ihrer Ehe im Gedächtnis.
Nun ist es wohl nur natürlich, daß einem Mann wie Lindner Heiratsgedanken eher kommen als sündige.
Und so hatte er inner-und außerhalb der für Lebensfragen vorgesehenen Zeiten schon manchmal verstohlen dem Gedanken stattgegeben, daß es vielleicht gut wäre, dem Kinde Peter wieder eine Mutter zu geben; und es geschah auch jetzt, daß er, statt Agathes Verhalten weiter zu zergliedern, bei einer Erscheinung anhielt, die ihn geheimnisvoll ansprach. Denn in tiefer Vorwegnahme seines Schicksals redete Agathe seit Beginn ihrer Bekanntschaft von nichts so leidenschaftlich wie von ihrer Scheidung. Er konnte diese Sünde unmöglich gutheißen, konnte aber auch nicht verhindern, daß ihm ihre Vorzüge mit jedem Tage mehr einleuchteten; und unerachtet seiner sonstigen Anschauungen vom Wesen des Tragischen neigte er dazu, dieses Los tragisch zu finden, das ihn zwang, bittere Abneigung gegen das zu äußern, was er selbst fast schon wünschte. Nun geschah es aber noch dazu, daß Agathe dieses Widerstreben am meisten ausnützte, um in ihrer verletzenden Art anzudeuten, sie glaube der Wahrheit seiner Überzeugung nicht. Er mochte die Moral vorkehren, die Kirche davorstellen, alle die Sätze aussprechen, die ihm ein Leben lang so geläufig waren, sie lächelte bei ihrer Antwort, und dieses Lächeln erinnerte ihn an das Frau Lindners in den späteren Jahren der Ehe, hatte aber davor die beunruhigende Kraft des Neuen und Geheimnisvollen voraus.
«Es ist das Lächeln der Mona Lisa!» rief Lindner innerlich aus. «Spöttisch in frommem Gesicht!» und er war von dieser bedeutenden vermeintlichen Entdeckung so bestürzt und geschmeichelt, daß er im Augenblick gegen die Anmaßung, ihn nach der Sicherheit seiner Gottesgewißheit auszufragen, die sich diesem Lächeln anzuschließen pflegte, weniger Abweisung aufbrachte als sonst. Diese Ungläubige wollte nicht die ausgesendete Belehrung, sie wollte die Hand in die Quelle stecken; und vielleicht war ihm gerade das auferlegt, wirklich einmal wieder den Stein darüber zu öffnen, um ihr ein wenig Einblick zu gewähren: wer wollte ihn davor bewahren, daß es nicht so sei, so unangenehm, ja beängstigend dieser Gedanke auch für ihn selbst war! Und plötzlich trat Lindner, obwohl er sich allein in dem Zimmer befand, fest auf den Boden und sagte laut: «Sie sollen nicht denken, daß ich Sie nicht verstehe! Ach, glauben Sie nicht, daß die Unterwerfung, die Sie an mir bemerken, aus einem von Beginn an unterworfenen Wesen kommt!»
Die Geschichte, wie Lindner der geworden, der er war, war freilich beiweitem alltäglicher, als er glaubte.
Sie begann damit, daß er auch ein anderer hätte werden können; denn er erinnerte sich noch genau an die Vorliebe, die er als Knabe für die Geometrie besessen hatte, deren schöne, klug angelegte Beweise sich am Ende mit einem leisen Schnappen um die Wahrheit schlössen und ihm ein Vergnügen bereiteten, als hätte er einen Riesen in einer Mausefalle gefangen. Es sprach nichts dafür, daß er besonders religiös angelegt gewesen wäre; und er war auch heute noch der Anschauung, daß man einen Glauben «erwerben» müsse, und nicht als Wiegengeschenk empfangen. Was ihn im Religionsunterricht damals zum vorzüglichen Schüler machte, war die gleiche Freude am Wissen und Besserwissen, die er auch den anderen Unterrichtsgegenständen entgegenbrachte. Allerdings hatte sein Inneres doch wohl die Ausdrucksweise der 711
religiösen Überlieferung schon angenommen, und es wehrte sich bloß sein früh entwickelter Bürgersinn noch dagegen, was in der einzigen ungewöhnlichen Stunde, die sein Leben enthielt, einmal unerwartet zum Ausdruck kam. Es geschah zur Zeit der Vorbereitung auf die Reifeprüfung; er hatte schon durch Wochen übermäßig gearbeitet und saß abends lernend in seiner Stube, als sich auf einmal eine unbegreifliche Ver
änderung mit ihm vollzog. Sein Körper schien gegen die Welt zu so leicht zu werden wie zarte Papierasche, und eine unsägliche Freude erfüllte ihn, als wäre im dunklen Gewölbe der Brust eine Kerze entzündet worden und sendete ihren sanften Glanz bis in alle Glieder; und ehe er sich noch ob solcher Einbildung zur Rede stellen konnte, umlagerte dieses Licht auch sein Haupt mit einem strahlenden Zustand. Er war sehr erschrocken davor; aber sein Kopf sandte trotzdem Licht aus. Eine wundervolle geistige Klarheit überflutete nun alle seine Sinne, und die Welt spiegelte sich so weithin gesehen darin, wie es kein natürliches Auge erfassen kann. Er blickte auf und sah nichts als sein halberleuchtetes Zimmer; das war also keine Vision, aber der Aufschwung hielt an, mochte es auch in Widerspruch dazu stehn. Er tröstete sich damit, daß er anscheinend irgendwie nur «als geistiger Mensch» das erlebe, während «der körperliche»
doch nüchtern und deutlich auf seinem Stuhl säße und ganz den gewohnten Raum einnähme; und so verharrte er eine Weile und hatte sich schon halb mit seinem bedenklichen Zustand abgefunden, da man sich auch an das Ungewöhnliche rasch gewöhnt, solange nur Hoffnung besteht, es werde sich schon noch als eine Geburt, und sei es auch eine Ausgeburt, der Ordnung herausstellen. Aber da geschah etwas Neues, denn er hörte mit einemmal eine Stimme, die gemäßigt, als hätte sie schon länger gesprochen, aber ganz deutlich zu ihm die Worte sagte: «Lindner, wo suchst du mich? Sis tu tuus et ego ero tuus», was sich etwa so übersetzen ließe: werde du nur Lindner, und ich werde bei dir sein! Es war aber nicht sowohl der Inhalt dieser Rede, der den ehrgeizigen Studenten bestürzte, denn er mochte ihn wenigstens zum Teil schon gelesen oder gehört und danach vergessen haben, als vielmehr das sinnliche Erklingen; denn dieses kam so unabhängig und überraschend von außen und war von einer solchen sofort überzeugenden Fülle und Festigkeit und hatte einen so anderen Klang als den trockenen des zähen Fleißes, auf den die späte Stunde abgestimmt war, daß davon jeder Versuch, die Erscheinung auf eine Übermüdung und Überreizung des Innern zurückzuführen, zum voraus entwurzelt wurde. Daß dieser Ausweg so nahe lag, und doch versperrt war, steigerte natürlich die Verwirrung; und als auch noch hinzukam, daß sich mit der Verwirrung der Zustand in Lindners Kopf und Herzen immer herrlicher erhob und bald durch den ganzen Körper zu fließen begann, war das zuviel. Er packte seinen Kopf, schüttelte ihn zwischen den Fäusten, sprang von seinem Stuhl auf, stieß drei «Nein!» hervor und sagte beinahe schreiend das erstbeste Gebet her, das ihm einfiel, worauf endlich der Zauber verschwand, und der tödlich erschrockene zukünftige Lehramtskandidat ins Bett flüchtete.
Bald danach legte er die Reifeprüfung mit Auszeichnung ab und bezog die Universität. Er fühlte nicht die innere Berufung zum geistlichen Stand in sich - die er übrigens, törichten Fragen Agathens zu antworten, während seines ganzen Lebens niemals empfand - und war zu jener Zeit nicht einmal ganz und ohne Anfechtung gläubig, denn auch ihn suchten die Zweifel heim, die keinem werdenden Verstand erspart bleiben. Aber der tödliche Schreck über die religiösen Kräfte, die er in sich berge, ging ihm sein Leben lang nicht mehr verloren. Je länger es her war, desto weniger glaubte er natürlich, daß wirklich Gott zu ihm gesprochen habe, und begann darum die Phantasie als eine zügellose Macht zu fürchten, die leicht zu geistiger Umnachtung führen kann. Auch sein Pessimismus, dem der Mensch überhaupt als bedrohtes Wesen erschien, gewann an Tiefe, und so war sein Beschluß, Pädagoge zu werden, einesteils wohl der Beginn einer sozusagen posthumen Erziehung der Schulkameraden, die ihn gequält hatten, andernteils aber auch der einer Erziehung des bösen Geistes oder irregulären Gottes, der möglicherweise noch in der Höhle seiner Brust hauste. Aber war es ihm somit unklar, bis zu welchem Grade er gläubig sei, so wurde ihm doch rasch klar, daß er ein Gegner der Ungläubigen sei, und er erlernte es, mit Überzeugung zu denken, daß er überzeugt sei und daß man überzeugt zu sein habe. Er lernte an der Universität auch umso eher die Schwächen des der Freiheit überlassenen Geistes erkennen, als ihm nur in bescheidenem Maße bekannt war, wie sehr den schöpferischen Kräften die Bedingung der Freiheit angeboren ist.
Es ist schwer, von diesen Schwächen das Maßgebliche in wenigen Worten zu sagen. Man könnte es zum Beispiel darin sehen, daß die großen Gedankengebäude der selbständigen philosophischen Welterklärung, deren letzte zwischen den Mitten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts errichtet worden sind, von den Veränderungen des Lebens, vornehmlich aber von den Ergebnissen des Denkens und der Erfahrung 712
selbst, unterhöhlt worden sind; ohne daß die Fülle der neuen, von den Wissenschaften fast mit jedem Tag ans Licht gebrachten Erkenntnisse zu einer neuen, festen, wenn auch abwartenden, menschlichen Gesinnung geführt hätte, ja auch ohne daß sich der Wille dazu ernst und öffentlich genug regte, so daß der Reichtum der Kenntnisse fast ebenso bedrückend wie beglückend geworden ist. Man kann aber auch ganz allgemein davon ausgehen, daß sich ein außerordentliches Gedeihen von Besitz und Bildung bis zu einem schleichenden Notstand gesteigert hatte, der nicht gar lange nach diesem Tag, da Lindner, zu seiner Erholung von dem anstrengenderen Teile seiner Lebenserinnerungen, über die Irrtümer der Welt nachdachte, von dem ersten Vernichtungsschlag unterbrochen werden sollte. Denn angenommen, daß jemand 1871, in dem Jahre der Geburt Deutschlands, auf die Welt gekommen sei, so hätte er schon mit einigen dreißig Jahren gewahren können, daß sich während seines Daseins die Länge der Eisenbahnen in Europa verdreifacht und auf der ganzen Erde mehr als viermal vergrößert habe, der Postverkehr sich auf das dreifache ausgedehnt, die Telegrafenlinien es gar auf das siebenfache getan hätten; und auch vieles andere hatte sich in demselben Sinne entwickelt. Der Wirkungsgrad der Kraftmaschinen war von 50 auf 90 v. H.
gesteigert worden; die Petroleumlampe war in dieser Zeit der Reihe nach durch Gasbeleuchtung, Auerlicht und Elektrizität, die immer neue Beleuchtungsarten hervorbringt, ersetzt worden; das Pferdegespann, das jahrtausendelang seinen Platz gehalten hatte, durch den Kraftwagen; und die Flugmaschinen waren nicht nur in die Welt getreten, sondern auch schon aus den Kinderschuhen. Auch die durchschnittliche Lebensdauer hatte sich, dank der Fortschritte der Medizin und Hygiene, auffallend gehoben, und die Beziehungen zwischen den Völkern wurden seit der letzten kriegerischen Auseinandersetzung zusehends milder und vertrauensvoller. Der Mensch, der das miterlebte, konnte wohl glauben, daß es nun endlich zu dem lange erwarteten dauernden Fortschritt der Menschheit gekommen sei, und wer möchte das nicht als angemessen erachten einer Zeit, in der er selbst auf der Welt ist!
Aber es scheint, daß dieser bürgerliche und seelische Wohlstand auf ganz bestimmten und keinesfalls unvergänglichen Voraussetzungen geruht hat, und man erklärt uns heute, daß es damals noch ungeheure Anbauflächen und andere natürliche Reichtümer in der Welt gegeben habe, die gerade erst in Besitz genommen worden seien; daß es wehrlose farbige Völker gegeben habe, die noch nicht beraubt waren (den Vorwurf, es zu tun, glich man durch den Gedanken aus, daß man ihnen dafür die Zivilisation schenke); und daß auch Millionen weißer Menschen vorhanden gewesen seien, die wehrlos die Kosten des industriellen und kaufmännischen Fortschritts bezahlen mußten (aber man stärkte sein Gewissen durch die feste und nicht einmal völlig unbegründete Zuversicht, daß es nach fünfzig oder hundert Jahren weiteren Fortschritts auch den Enterbten besser gehen werde als vor der Enterbung). Jedenfalls war das Füllhorn, aus dem das leibliche und geistige Gedeihen kam, so groß und unübersehbar, daß es unsichtbar wirkte und nur der Eindruck des Wachstums in allen Leistungen übrig blieb; und es ist heute schier unmöglich, noch einmal begreiflich zu machen, wie natürlich es damals war, an die Dauer dieses Fortschritts zu glauben und Gedeihen und Geist für etwas zu halten, das, wie Gras, überall fortkommt, wo es nicht geradezu absichtlich ausgerottet wird.
Gegen diese Vertrauensseligkeit, diesen Gedeihniswahn, diesen verhängnisvoll frohsinnigen Freisinn besaß der blasse, unüppige und von seinem Wachstum körperlich sogar geplagte Student Lindner eine natürliche Abneigung, und es war ihm ein natürliches Ahnungsvermögen für alle Fehler und eine wache Aufnahmebereitschaft für jedes Lebenszeugnis zu eigen, das dagegen aussagte. Wohl war sein Fach nicht Volkswirtschaft, und er lernte diese Tatsachen erst später richtig würdigen; umso hellsichtiger war er aber für die andere Seite der Entwicklung und die sich dort vollziehende Fäulnis einer Gesinnung, die im Anfang den freien Handel im Namen eines freien Geistes an die Spitze der menschlichen Tätigkeiten gesetzt und dann den freien Geist dem freien Handel überlassen hat, und Lindner witterte den geistigen Zusammenbruch, der ja auch nicht ausgeblieben ist. Dieser Glaube an das Verhängnis, inmitten einer sich ihre Fortschritte behagen lassenden Welt, war die kräftigste von allen seinen Eigenschaften; aber er hätte dabei wahrscheinlich auch ein Sozialist werden können oder einer der einsamen und fatalistischen Menschen, die sich höchst ungern auf Politik einlassen, wenn sie auch voll Erbitterung wider das Ganze sind, und die den Fortbestand des Geistes sichern, indem sie in ihrem engeren Kreis auf das Rechte halten und für ihre Person das Bedeutende tun und die Kulturheilkunde den Kurpfuschern überlassen. Wenn sich Lindner also heute fragte, wie er dennoch geworden sei, der er sei, so durfte er sich die beruhigende Antwort geben, daß das genau so geschehen sei, wie man ansonsten in einen Beruf hineinkommt. Er hatte 713
schon in der letzten Klasse des Gymnasiums einem Zirkel angehört, dessen Arbeitsplan es war, kühle, bedächtige Kritik sowohl an dem halbamtlich an der Schule bewunderten «antiken Heidentum» als auch an dem außerhalb der Schule umgehenden «modernen Geist» zu üben; in der Fortsetzung war er, abgestoßen von dem freien studentischen Treiben der Universität, einer Verbindung beigetreten, in deren Kreise, wie der Bart das Milchgesicht, bereits die Einflüsse des politischen Kampfes die harmlosen Jünglingsgespräche verdrängten; und als er so in die höheren Semester gekommen war, hatte sich an ihm schon gebieterisch die für jede Art von Gesinnung gültige Denkwürdigkeit geltend gemacht, daß die beste Stütze des Glaubens der Unglaube ist, da er, an anderen bemerkt und bekämpft, dem Gläubigen immer Gelegenheit gibt, sich eifrig zu fühlen.
Von der Stunde an, da sich Lindner entschlossen gesagt hatte, daß auch Religion vornehmlich eine Einrichtung für Menschen sei, und nicht für Heilige, hatte sich Friede über ihn gebreitet. Zwischen den Wünschen, Kind oder Diener Gottes zu sein, war für ihn die Wahl gefallen. In dem ungeheuren Palast, darin er dienen wollte, gab es zwar einen innersten Raum, wo die Wunder aufbewahrt wurden und ruhten, und jeder dachte bei Gelegenheit daran, aber in diesem Heiligtum hielt sich keiner seiner Diener dauernd auf, sondern sie lebten alle nur davon, ja es wurde ängstlich vor der Zudringlichkeit Unberufener geschützt, mit der man nicht gerade die besten Erfahrungen gemacht hat. Das sagte Lindner ungemein zu. Er schied zwischen Überhebung und Erhebung. Der Vorzimmerbetrieb, in seinen würdigen Formen und voll seiner hundertfach abgestuften Tätigkeiten und Angestellten, erfüllte ihn mit Bewunderung und Ehrgeiz; und die Außenarbeit, der er sich nun selbst unterzog, die Einflußnahme auf das moralische, politische und erzieherische Vereinswesen und die Durchdringung der Wissenschaft mit religiösen Grundsätzen, enthielt Aufgaben, für die er nicht ein, sondern tausend Leben hätte verbrauchen können, schenkten ihm dafür aber auch jene dauernde Bewegung bei innerer Unveränderlichkeit, die das Glück der seligen Geister ist: wenigstens meinte er das, in zufriedenen Stunden, vielleicht verwechselte er es aber mit dem Glück der politischen Geister. Und so trat er von da an in Vereine ein, schrieb Broschüren, hielt Vorträge, besuchte Versammlungen, knüpfte Beziehungen an, und ehe er die Universität verlassen hatte, war aus dem Rekruten der gläubigen Bewegung ein junger Mann geworden, der in der Offiziersliste evident gehalten wurde und einflußreiche Gönner besaß.
Eine Persönlichkeit mit so breiter Grundlage und so geläuterter Höhe hatte es also wahrhaftig nicht nötig, sich von der vorlauten Kritik einer jungen Frau einschüchtern zu lassen, und als Lindner zur Gegenwart zurückkehrte, zog er die Uhr und stellte fest, daß Agathe noch immer nicht da sei, obwohl es fast schon an der Zeit war, daß Peter zurückkehren konnte. Trotzdem schlug er noch einmal das Klavier auf, und wenn er sich auch nicht der Unberechenbarkeit des Gesanges auslieferte, so ließ er doch sein Auge wiederholend über die Worte des Lieds wandern und begleitete sie mit leisem Flüstern. Dabei wurde er zum erstenmal gewahr, daß er sie falsch betonte, viel zu gefühlvoll, und nicht im Einklang mit der bei allem Liebreiz strengen Musik. Er sah einen Jesusknaben vor sich, der «irgendwie von Murillo» war, das heißt, auf eine sehr unbestimmte Art außer den schwarzen Kirschenaugen auch die malerischen Lumpen der älteren Bettlerknaben dieses Meisters besaß, so daß er mit dem Gottessohn und Erlöser gerade nur das rührend Vermenschlichte gemein hatte, dieses aber offenbar recht übertrieben und eigentlich geschmacklos. Es machte auf ihn einen unangenehmen Eindruck und flocht nun wieder Agathe in seine Gedanken ein, denn er entsann sich, sie hätte einmal ausgerufen, es wäre wirklich nichts so merkwürdig, wie daß der Geschmack, der die gotischen Dome und Passionen hervorgebracht habe, durch einen Geschmack abgelöst worden sei, dem heute Papierblumen, Perlenstickereien, gezackte Deckchen und eine süßliche Sprache gefielen, so daß der Glaube geschmacklos geworden wäre und die Gabe, das Unerfaßliche duften und schmecken zu machen, fast nur noch unter ungläubigen oder zweifelhaften Menschen bewahrt würde!
Lindner sagte sich, daß Agathe «eine ästhetische Natur» sei, und das bedeutete etwas, das an den Ernst der Volkswirtschaft und der Moral nicht heranreicht, in einzelnen Fällen aber sehr anregend sein kann, und zu ihnen gehörte auch dieser. Denn Lindner hatte die Erfindung der Papierblumen bisher schön und sinnig gefunden, entschied sich aber plötzlich, einen Strauß von ihnen, der auf dem Tisch stand, dort zu entfernen, und versteckte ihn einstweilen hinter seinem Rücken.
Es war beinahe unwillkürlich geschehn, und er war ein wenig bestürzt ob dieser Handlung; stand aber dabei unter dem Eindruck, er wüßte über die von Agathe beobachtete «Merkwürdigkeit», bei der sie es hatte bewenden lassen, wohl eine Erklärung abzugeben, die sie nicht von ihm erwartete. Ein Apostelwort fiel ihm 714
ein: «Wenn ich mit Menschen-und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle!» Und mit gerunzelter Stirn zu Boden blickend, bedachte er, daß nun schon seit vielen Jahren alles, was er tue, in Beziehung zur ewigen Liebe stehe. Er gehörte einer wunderbaren Liebesgemeinschaft an - und gerade das unterschied ihn von einem gewöhnlichen Intellektuellen -worin nichts geschah, dem sich nicht, und mochte es auch noch so irdisch bedingt und getan sein, eine allegorische Beziehung zum Ewigen hätte geben lassen, ja dem diese Beziehung nicht als tiefste Bedeutung eingewohnt hätte, mochte das Bewußtsein davon auch nicht immer blank geputzt sein. Es besteht aber ein mächtiger Unterschied zwischen der Liebe, die man als Überzeugung besitzt, und der Liebe, die einen besitzt; ein Unterschied an Frische, mochte er sagen, wenn auch gewiß der zwischen geläutertem Wissen und trüber Turbulenz gleichfalls zu Recht bestand. Lindner zweifelte nicht daran, daß die geläuterte Überzeugung höher zu stellen sei; aber je älter sie ist, umsomehr läutert sie sich, das heißt, sie befreit sich von den Unregelmäßigkeiten des Gefühls, das sie erzeugt hat; und allmählich bleibt von diesen Leidenschaften nicht einmal mehr die Überzeugung übrig, sondern nur noch die Bereitschaft, sich jederzeit, wenn man sie braucht, ihrer erinnern und bedienen zu können. Und das mag erklären, warum die Werke des Gefühls abdorren, wenn sie nicht aus unmittelbarer Liebeserfahrung noch einmal erfrischt werden.
Mit solchen beinahe ketzerischen Erwägungen war Lindner beschäftigt, als plötzlich die Glocke schrillte.
Er zuckte mit den Achseln, schloß das Klavier wieder zu und entschuldigte sich bei sich selbst mit den Worten: «Das Leben braucht nicht nur Beter, sondern auch Arbeiter!»
76 Die Wirklichkeit und die Ekstase
Agathe hatte die Aufzeichnungen ihres Bruders nicht zu Ende gelesen, als sie zum zweitenmal seine Schritte auf dem kiesbestreuten Weg unter den Fenstern vernahm, und diesmal so wirklich, daß es jede Täuschung ausschloß. Sie nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit, die sich darbieten werde, wieder in sein Versteck einzudringen, ohne daß er es wisse; denn so fremd ihrem Wesen diese Art zu überlegen auch war, wollte sie doch sie kennenlernen und verstehen. Auch war ein wenig Rache dabei; und sie wollte Heimliches mit Heimlichem vergelten; darum mochte sie nicht überrascht werden. So ordnete sie hastig die Blätter, legte sie zurück und verwischte jede Spur, die ihre Mitwisserschaft hätte verraten können. Ein Blick nach der Uhr sagte ihr außerdem, daß sie längst das Haus hätte verlassen sollen und anderswo wahrscheinlich schon gereizt erwartet wurde, wovon nun freilich wieder Ulrich nichts wissen durfte. Dieses doppelte Maß, das sie anwandte, machte sie plötzlich lächeln. Sie wußte, daß ihr eigener Mangel an Offenheit der Treue nicht wirklich Abbruch tat; und daß er überdies viel schlimmer war als der Ulrichs.
Diese natürliche Genugtuung ließ sie merklich versöhnt von ihrer Entdeckung scheiden.
Als ihr Bruder wieder sein Arbeitszimmer betrat, fand er sie darin nicht mehr vor, wunderte sich aber auch nicht darüber. Er hatte endlich zurückgefunden, nachdem ihm die Personen und Verhältnisse, von denen die Rede gewesen war, so lebhaft den Kopf erfüllt hatten, daß er nach Stumms Abfahrt noch eine Weile im Garten umhergewandert war. Ein rasch getrunkenes Glas Wein kann nach langer Entbehrung eine ähnliche, bloß angeheiterte Lebendigkeit bewirken, hinter deren buntem Szenenwechsel man finster und unberührt verharrt; und so war es ihm denn auch nicht einmal in den Sinn gekommen, daß die Personen, an deren Schicksal er scheinbar wieder so lebhaft Anteil nahm, nicht gar weit von ihm wohnten und alsbald zu erreichen gewesen wären. Die wirkliche Beziehung zu ihnen war gelähmt geblieben wie ein durchschnittener Muskel.
Immerhin machten einige Erinnerungen davon eine Ausnahme und hatten Gedanken erweckt, zu denen es Brücken des Gefühls auch jetzt noch gab, obwohl bloß sehr brüchige. So bereitete ihm das, was er als
«Rückkehr des Sektionschefs Tuzzi von der Inseite des Gefühls zu dessen äußerer Behandlung» bezeichnet hatte, das tiefere Vergnügen, ihn daran zu erinnern, daß seine Aufzeichnungen einer Unterscheidung dieser beiden Seiten des Gefühls zustrebten. Er sah aber auch Diotima in ihrer Schönheit vor sich, die anders als die Agathes war, und es schmeichelte ihm, daß sie seiner noch gedachte, obgleich er ihr auch die Züchtigung durch ihren Gatten wieder von Herzen gönnte, in den Minuten, wo dieses Herz sozusagen wieder im Fleische wandelte. Er entsann sich nun von allen mit ihr geführten Gesprächen gerade des einen, worin sie es als nicht unmöglich hingestellt hatte, daß in der Liebe okkulte Kräfte entstünden; es war ihre Liebe zu dem reichen Mann, der auch Seele haben wollte, die ihr das eingab, und so dachte er nun auch an 715
Arnheim. Ulrich war ihm noch die Antwort auf das gefühlvolle Angebot schuldig, das ihm Einfluß auf das wirkende Leben verschaffen sollte, und fragte sich deshalb, was wohl aus dem ebenso großmütigen und nicht minder unbestimmten Heiratsantrag geworden sein möge, der einst Diotima berauscht hatte.
Wahrscheinlich das gleiche; Arnheim würde sein Wort halten, wenn man ihn daran erinnerte, hatte aber nichts dagegen, daß man es vergaß. Die höhnische Spannung, die bei der Erinnerung an Diotimas Höchstzeit in seinem Gesicht hervorgetreten war, milderte sich wieder. Es wäre eigentlich ganz anständig von ihr, daß sie Arnheim nicht festhielte, dachte er. Eine vernünftig sprechende Stimme in ihrem übervölkerten Inneren. Sie hätte zuweilen nüchterne Anwandlungen, wo sie sich von allem Höheren verlassen fühle, und wäre dann ganz nett. Irgendeine kleine Zuneigung inmitten aller Abneigung hatte Ulrich immer für sie gefühlt und wollte nun nicht ausschließen, daß sie endlich selbst bemerkt habe, welch lächerliches Paar sie mit Arnheim abgab: sie bereit, das Opfer des Ehebruchs zu bringen, Arnheim das Opfer der Heirat, so daß sie wieder nicht zusammenkamen und sich schließlich etwas
Himmlisch-Unerreichbares einredeten, um sich des Erreichbaren zu überheben. Als ihm aber Bonadeas Erzählung von der Liebesschule Diotimas einfiel, sagte er sich am Ende, sie wäre doch eine unbehagliche Person und nichts schlösse aus, daß sie ihre gesamte Liebeskraft einmal auch noch auf ihn werfen könnte.
So ungefähr hatte Ulrich seine Gedanken nach dem Gespräch mit Stumm weiterlaufen lassen, und es war ihm vorgekommen, so müßten wohlbeschaffene Menschen denken, wenn sie sich auf herkömmliche Art miteinander beschäftigten; ihm selbst aber war es ganz ungewohnt geworden.
Und als er das Haus betreten hatte, war alles das ins Nichts verschwunden. Er zögerte einen Augenblick, wieder vor seinem Schreibtisch stehend, und ließ seine Aufzeichnungen durch die Finger gleiten.
Er überlegte. In seinen Papieren schlössen sich an die begriffliche Darlegung des Gefühls gleich einige Bemerkungen über ekstatische Zustände an, und er fand diesen Platz richtig. Ein Verhalten, das ganz unter der Herrschaft eines einzelnen Gefühls stand, wie er es gelegentlich erwähnt hatte, war doch wohl schon ein ekstatisches. Dem Zorn oder der Angst Verfallensein ist eine Ekstase. Die Welt vor den Augen eines Einzelnen, der nur Rot oder Bedrohung sieht, hält freilich nicht lange vor, man spricht darum auch nicht von einer Welt, sondern nur von Eingebungen und Täuschungen; wenn aber Massen ihr erliegen, entstehen Halluzinationen von furchtbarer Kraft und Ausdehnung.
Eine andere Ekstase, die er auch schon angedeutet hatte, war die der höchsten Gefühlsgrade. Werden diese erreicht, so ist das Handeln nicht mehr einseitig, sondern wird im Gegenteil unsicher, ja oft widersinnig; die Welt verliert in einer Art kalter Glut ihre Farben; und das Ich geht verloren bis auf die leere Hülle. Dieses Hören-und Sehen-Vergehn ist ja wohl eine verarmende Ekstase - übrigens ist jeder verzückte Seelenzustand ärmer an Mannigfaltigkeit als der gewöhnliche - und wichtig wird es nur durch seine Verbindung mit der orgiastischen Ekstase, der rasenden Verzückung, oder mit dem Zustand unerträglicher körperlicher Anstrengungen, verbissener Willensäußerungen, schwerer Qualen, zu denen allen es den letzten Teil bilden kann. Ulrich hatte der Kürze wegen die überquellende und die versiegende Form des Sichverlierens in diesen Beispielen zusammengeworfen, und das nicht ohne Recht; denn wenn der Unterschied von anderem Gesichtspunkt auch ganz bedeutend war, so wuchs er doch in Hinblick auf die letzten Äußerungen fast zu. Der orgiastisch Verzückte springt in sein Verderben wie in ein Licht, und Zerreißen oder Zerrissenwerden sind ihm lodernde Liebesgeschehnisse und Freiheitstaten, ähnlich wie sich, bei aller Verschiedenheit, der tief Ermüdete und der tief Verbitterte in sein Unheil fallen läßt und in diesem letzten Geschehnis die Erlösung, also auch etwas empfängt, das von Freiheit und Liebe versüßt wird. So verschmelzen Tun und Erleiden in den höchsten Graden, wo sie noch erlebt werden. Diese Ekstasen der Alleinherrschaft und der Krisis eines Gefühls sind aber natürlich mehr oder minder bloß Gedankenbilder, und die wirklichen Ekstasen - mögen es die mystischen, die kriegerischen, die von Liebes-oder anderen enthusiastischen Gemeinschaften sein - haben immer eine Gruppe untereinander verwandter Gefühle zur Voraussetzung und entstehen aus einem Ideenkreis, der diese widerspiegelt. In wenig fester, sich gelegentlich verhärtender und gelegentlich wieder auflösender Form sind solche unwirkliche, im Sinn von besonderen Ideen-und Gefühlsgruppen gestaltete Weltbilder (als Weltanschauung, als persönlicher Pips) im Alltag so häufig, daß die meisten von ihnen gar nicht als Ekstasen angesehen werden, obwohl sie deren Vorzustand ungefähr auf die gleiche Art sind, wie ein feuersicheres Zündholz in seiner Schachtel den Vorzustand eines brennenden Zündholzes bedeutet.
An letzter Stelle hatte Ulrich dann noch vorgemerkt, daß ein seinem Wesen nach ekstatisches Weltbild auch 716
dann entsteht, wenn das Gefühl und die ihm dienenden Ideen schlechthin der Nüchternheit und der Überlegung vorangestellt werden; es ist das schwärmerische, das gefühlvolle Weltbild, das enthusiastische Leben, das es zuzeiten in der Literatur, und wahrscheinlich in größeren oder kleineren Lebensgemeinschaften teilweise auch wirklich gegeben hat. Nur fehlte in dieser Aufzählung freilich gerade das, was Ulrich am wichtigsten war, die Anführung des einen und einzigen Seelen-und Weltzustands, den er für eine Ekstase hielt, die der Wirklichkeit ebenbürtig sein könnte; aber seine Gedanken drängten jetzt vom Gegenstand ab, denn wenn er sich über die Würdigung dieser verführerischesten Ausnahme schlüssig werden wollte, war es unbedingt nötig - und wurde ihm auch dadurch nahegelegt, daß er in unsicherem Wechsel bald von einer Welt, bald bloß von einem Weltbild der Ekstase gesprochen hatte - zuvor die Beziehung kennen zu lernen, die zwischen unserem Gefühl und der wirklichen, das ist der Welt besteht, der wir, im Gegensatz zu den Illusionen der Ekstase, diese Geltung zusprechen.
Die Maße, mit denen wir diese Welt ermessen, sind aber die der Erkenntnis, und die Bedingungen, unter denen das geschieht, sind gleichfalls die ihren. Das Erkennen hat aber - mag auch die feinere und feinste Darlegung seiner Grenzen und Rechte dem Verstand recht große Schwierigkeiten in den Weg stellen -
gerade im Verhältnis zum Gefühl eine leicht zu gewahrende und bezeichnende Eigentümlichkeit, nämlich die, daß wir, um zu erkennen, unsere Gefühle möglichst beiseitelassen müssen. Wir schalten sie aus, um
«objektiv» zu sein, oder versetzen uns in einen Zustand, worin sich die verbleibenden Gefühle gegenseitig unwirksam machen, oder überlassen uns einer Gruppe kühler Gefühle, die mit Vorsicht behandelt, dem Erkennen selbst förderlich sind. Was wir in diesem nüchternen Zustand erkennen, ziehen wir zum Vergleich heran, wenn wir in anderen Fällen von «Täuschungen» durch das Gefühl sprechen; und somit ist ein Nullzustand, ein Neutralisationszustand, kurz ein bestimmter Gefühlszustand, die stillschweigende Voraussetzung der Erfahrungen und Denkvorgänge, mit deren Hilfe wir das, was uns andere Gefühlszustände vorspiegeln, bloß für subjektiv halten. Eine jahrtausendelange Erfahrung hat bestätigt, daß wir noch am ehesten befähigt sind, der Wirklichkeit dauernd zu genügen, wenn wir uns immer wieder in diesen Zustand versetzen, und daß seiner auch bedarf, wer beileibe nicht bloß erkennen, sondern handeln will. Vermag doch nicht einmal ein Faustkämpfer der Objektivität zu entbehren, die in seinem Fall «ruhig Blut bewahren» heißt, und darf zwischen den Seilen so wenig zornig werden, wie er mutlos werden darf, wenn er nicht den kürzeren ziehen will! Auch unser fühlendes Verhalten hängt also, wenn es der Wirklichkeit angepaßt ist, nicht nur von den Gefühlen ab, die uns gerade bewegen, oder von ihren triebhaften Untergründen, sondern zugleich von dem dauernden und wiederkehrenden Gefühlszustand, der das Verstehen der Wirklichkeit gewährleistet und gewöhnlich so wenig sichtbar wird wie die Luft, in der wir atmen.
Diese persönliche Entdeckung eines gewöhnlich weniger berücksichtigten Zusammenhangs hatte Ulrich zu weiterem Nachdenken über das Verhältnis des Gefühls zur Wirklichkeit verführt. Man muß hier zwischen den Sinneswahrnehmungen und den Gefühlen einen Unterschied machen. Auch jene «täuschen», und bekanntlich ist weder das sinnliche Bild der Welt, das sie uns darstellen, die Wirklichkeit selbst, noch ist das gedankliche Bild, das wir aus ihm erschließen, unabhängig von der menschlichen Geistesart, wenngleich es unabhängig von der persönlichen ist. Aber obwohl keinerlei greifbare Ähnlichkeit zwischen der Wirklichkeit und selbst dem genauesten Vorstellungsbild besteht, das wir von ihr besitzen, ja eher ein unausfüllbarer Abgrund an Unähnlichkeit, und obwohl wir das Original nie zu Gesicht bekommen, vermögen wir doch auf eine verwickelte Weise zu entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen dieses Bild richtig sei. Anders bei den Gefühlen; denn diese geben, um in der gleichen Ausdrucksweise zu bleiben, auch schon das Bild falsch, und doch erfüllen sie damit ebensogut die Aufgabe, uns in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu halten, bloß tun sie es auf eine andere Weise. Vielleicht hatte diese Forderung, in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu bleiben, eine besondere Anziehungskraft auf Ulrich, aber sie bedeutet gleichwohl schlechthin auch das Merkmal alles dessen, was sich im Leben behauptet; und darum leitet sich von ihr eine vorzügliche abkürzende Formel und Probe dessen her, ob das Bild, das uns Wahrnehmung und Verstand von etwas geben, richtig und wahr sei, wenngleich diese Formel nicht alles erschöpft: wir verlangen, daß die Folgen aus dem geistigen Bild, das wir uns von der Wirklichkeit gemacht haben, mit dem gedanklichen Bild der Folgen übereinstimmen, die in Wirklichkeit eintreten, und nur dann halten wir ein Verstandesbild für richtig. Im Gegensatz dazu ließe sich von den Gefühlen sagen, daß sie die Aufgabe übernommen haben, uns dauernd in Irrtümern zu erhalten, die einander dauernd aufheben.
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Und doch ist das nur die Folge einer Arbeitsteilung, bei der sich das von den Sinneswerkzeugen bediente Empfinden und die von ihm recht beeinflußten Denkvorgänge entwickelt, und kurz gesagt, zu Erkenntnisquellen entwickelt haben, während dem Bereich der Gefühle die Rolle des mehr oder minder blinden Antreibers übriggeblieben ist; denn in der Urzeit waren sowohl unsere Gefühle als auch unsere Sinnesempfindungen in der gleichen Wurzel vereinigt, nämlich in einem das ganze Geschöpf beteiligenden Verhalten, wenn es ein Reiz getroffen hatte. Die später hinzugekommene Arbeitsteilung läßt sich noch heute zutreffend mit den Worten ausdrücken, daß die Gefühle das ohne Erkenntnis tun, was wir mit Erkenntnis täten, wenn wir ohne einen anderen Antrieb als Erkenntnis überhaupt etwas täten! Könnte man lediglich ein Bild des fühlenden Verhaltens entwerfen, so müßte es dieses sein: wir nehmen von den Gefühlen an, daß sie das richtige Bild der Welt verfärben und verzerren und es falsch darstellen. Sowohl die Wissenschaft als auch das alltägliche Verhalten zählen das Gefühl zu den «Subjektivitäten»; sie setzen voraus, daß es bloß «die Welt, die wir sehen», verändere, denn sie rechnen damit, daß sich ein Gefühl nach einiger Zeit verflüchtigt und daß die von ihm am Anblick der Welt bewirkten Veränderungen vergehen, so daß «die Wirklichkeit» sich über kurz oder lang wieder «durchsetzt».
Es war Ulrich recht bemerkenswert vorgekommen, daß dieser teilweis gelähmte Gefühlszustand, der dem wissenschaftlichen Erfahren und dem sachlichen Verhalten zugrunde liegt, ein Seiten-und Gegenstück daran hat, daß sich die Aufhebung des Gefühls auch als ein Kennzeichen des zeitlichen Lebens wiederfindet. Denn der Einfluß unserer Gefühle auf das, was als wahr und notwendig gelten bleibt, auf die sachlichen Vorstellungen unseres Geistes, hebt sich sowohl über die Länge der Zeit als auch über die Breite des nebeneinander Bestehenden ungefähr zu Null auf; und der Einfluß des Gefühls auf seine unsachlichen Vorstellungen, auf die aus wechselndem Gefühl geborenen, schwankenden Ideen und Ideologien, Gedanken, Anschauungen und Haltungen des Geistes, die das historische Leben hintereinander und nebeneinander beherrschen, hebt sich ebenfalls auf, wenngleich zum Gegenteil der Gewißheit, wenngleich schlimmer als zu nichts, zum Zufall, zu ohnmächtiger Unordnung und Wandelbarkeit, kurz zu dem, was Ulrich unwillig «Sache des Gefühls» nannte.
Er hätte diesen Hinweis gerne genauer ausgebildet, als er ihn wieder las; konnte es aber nicht tun, weil der Gedankengang, dessen Niederschrift hier endete und noch in Schlagworten ein Stück weiterging, von ihm forderte, daß er Näherliegendes zum Abschluß bringe. Denn wenn wir das intellektuelle, das der Wirklichkeit entsprechende Bild der Welt (und mag es immer bloß Bild sein, ist es doch das richtige Bild) unter der Voraussetzung eines bestimmten Gefuhlszustandes entwerfen, so war nun wohl jetzt an der Reihe zu fragen, was geschähe, wenn wir ebenso wirkungsvoll nicht von ihm, sondern von anderen Gefühlszuständen beherrscht würden. Daß dies keine ganz sinnlose Frage ist, geht schon daraus hervor, daß jeder starke Affekt das Bild der Welt auf seine Weise verzerrt; und ein tief Schwermütiger oder ein Heiter-Verstimmter könnten gegen die «Einbildungen» eines neutralen und ausgeglichenen Menschen einwenden, daß sie beileibe nicht sowohl durch ihr Blut düster oder heiter seien als vielmehr wegen ihrer Erfahrungen in einer Welt, die voll schwerer Düsternis oder himmlischer Leichtigkeit steht. Und so, wie sich ein Bild der Welt auf Grund der Vorherrschaft eines Gefühls oder einer Gruppe von Gefühlen denken läßt, zum Beispiel auch der orgiastischen, kann es auch darauf beruhen, daß überhaupt das Gefühl vorangestellt wird wie in der schwärmerischen und gefühlvollen Verfassung eines einzelnen oder einer Gemeinschaft; vollends ist es aber alltäglich, daß sich auf Grund von bestimmten Ideengruppen die Welt verschieden malt und daß das Leben, bis zum offenkundigen Abersinn, verschieden gelebt wird.
Ulrich war nicht im mindesten gesonnen, die Erkenntnis für einen Irrtum oder die Welt für eine Täuschung zu halten, doch schien es ihm zulässig zu sein, daß man nicht nur von einem veränderten Weltbild, sondern auch von einer anderen Welt spreche, wenn statt des Fühlens, das der Anpassung an die Wirklichkeit dient, ein anderes vorherrscht. Diese Welt wäre «unwirklich» in dem Sinne, daß ihr fast jede Sachlichkeit fehlte; es gäbe in ihr keine der Natur angepaßten Vorstellungen, Berechnungen, Entscheidungen und Handlungen, und es könnten Zerwürfnisse unter Menschen vielleicht längere Zeit ausbleiben, wären aber, einmal vorhanden, kaum zu heilen. Aber schließlich wäre das nur dem Grade nach anders als in unserer Welt, und über die Möglichkeit entscheidet nur die Frage, ob eine unter solchen Bedingungen stehende Menschheit noch lebensfähig bliebe und eine gewisse Stetigkeit im Kommen und Gehn der Zugriffe der Außenwelt und in ihrem eigenen Verhalten erzielen könnte. Und es läßt sich vieles aus der Wirklichkeit entfernt oder durch anderes ersetzt denken, ohne daß in der so entstehenden Welt nicht noch Menschen leben könnten. Es ist 718
vieles der Wirklichkeit fähig und weltfähig, was in einer bestimmten Wirklichkeit und Welt nicht vorkommt.
Nachdem Ulrich das geschrieben hatte, war er nicht gerade zufrieden damit, denn er mochte nicht haben, daß es so aussehe, als wären alle diese möglichen Wirklichkeiten gleichberechtigt. Er stand auf und durchwanderte sein Zimmer. Es fehlte noch etwas von der Art einer UnterScheidung zwischen
«Wirklichkeit» und «voller Wirklichkeit» oder der Unterscheidung zwischen «Wirklichkeit für jemand»
und «wirklicher Wirklichkeit» oder, mit anderen Worten, es fehlte eine Ausführung der Rangunterschiede des Anspruches auf Wirklichkeits-und Weltgeltung und eine Begründung dessen, daß wir für das, was uns unter allen Umständen als wirklich und wahr gilt, einen von ausführbaren Bedingungen abhängigen Vorrang vor dem beanspruchen, was nur unter besonderen Umständen gilt. Denn einerseits findet sich ja auch ein Tier trefflich in der Wirklichkeit zurecht, und weil es das gewiß nicht in völliger seelischer Finsternis tut, muß selbst in ihm etwas sein, das den menschlichen Vorstellungen von Welt und Wirklichkeit entspricht, ohne daß es mit ihnen auch nur die geringste Ähnlichkeit deshalb haben müßte; und anderseits besitzen ja auch wir nicht die wahre Wirklichkeit, sondern können bloß in einem unendlichen Vorgang unsere Vorstellungen von ihr verbessern, während wir im Drang des Lebens sogar Vorstellungen von recht verschiedener Tiefe nebeneinander benutzen, wie es Ulrich selbst im Verlauf dieser Stunde am Beispiel eines Tisches und einer schönen Frau vorgefunden hatte. Nachdem er sich das aber ungefähr so überlegt hatte, war Ulrich auch seiner Unruhe wieder ledig und beschloß, daß es genug sei; denn was immer da noch gesagt werden konnte, war nicht ihm vorbehalten und auch nicht dieser Stunde. Er überzeugte sich bloß noch einmal davon, daß in seiner Ausführung voraussichtlich nichts gegen eine genauere Abfassung verstieße, und schrieb ehrenhalber einige Worte auf, die in die Richtung des Fehlenden wiesen.
Und als das geschehen war, unterbrach er seine Tätigkeit vollends, sah aus dem Fenster in den Garten, der da im Spätnachmittagslicht lag, und ging sogar für eine Weile hinab, um seinen Kopf der Luft auszusetzen.
Er zagte fast davor, daß er jetzt entweder zuviel oder zuwenig behaupten könnte; denn was seiner wartete, damit er es niederschreibe, dünkte ihn wichtiger als alles andere.
77 Ulrich und die zwei Welten des Gefühls
«Womit beginne ich am günstigsten?» fragte sich Ulrich hin und her wandernd im Garten, während ihn bald die Sonne an Gesicht und Händen brannte, bald der Schatten kühlende Blätter darauf legte. «Soll ich gleich damit anfangen, daß jedes Gefühl auf zweierlei Weise in der Welt ist und den Ursprung von zwei Welten in sich trägt, die so verschieden sind wie Tag und Nacht? Oder tue ich besser daran, daß ich an die Bedeutung anknüpfe, die das ernüchterte Gefühl für unser Weltbild hat, und dann auf umgekehrtem Wege zu dem Einfluß komme, den unser aus Handeln und Wissen geborenes Weltbild auf das Bild ausübt, das wir uns von unseren Gefühlen machen? Oder soll ich sagen, daß es schon Ekstasen gewesen sind, was ich andeutend als Welten beschrieben habe, in denen sich die Gefühle nicht gegenseitig aufheben?» Aber während er sich noch diese Fragen stellte, entschied es sich schon, daß er mit allem gleichzeitig begann; denn der Gedanke, um den ihm so bangte, daß er das Schreiben unterbrochen hatte, war so beziehungsreich wie eine alte Freundschaft, und es ließ sich gar nicht mehr sagen, wie oder wann er entstanden sei. Während seiner ordnenden Beschäftigung war Ulrich diesem Gedanken immer näher gerückt - und er hatte sie auch nur seinetwegen aufgenommen gehabt - aber nun, wo er ans Ende gekommen war, mußte sich hinter zerteilten Nebeln Klarheit oder Leere zeigen. Es war kein angenehmer Augenblick, als er die ersten Worte fand, bei denen es verbleiben sollte: «Es stecken in jedem Gefühl zwei grundverschiedene Entfaltungsmöglichkeiten, die gewöhnlich zu einer verschmelzen; sie können aber auch einzeln zur Geltung kommen, und vornehmlich geschieht das in der Ekstase!»
Er nahm sich vor, sie fürs erste die äußere und die innere Entfaltung zu nennen, und sie von der harmlosesten Seite zu betrachten - es standen ihm eine Menge Beispiele dafür zur Verfügung: Gefallen, Liebe, Zorn, Mißtrauen, Großmut, Ekel, Neid, Verzagtheit, Angst, Begehren…, und er ordnete sie in Gedanken zu einer Reihe. Dann bildete er eine zweite Reihe: Wohlgesinntheit, Zärtlichkeit, Gereiztheit, Argwohn, Gehobenheit, Ängstlichkeit, Sehnsucht, der nur die Glieder fehlten, für die er keinen Namen fand, und verglich die beiden Reihen. Die eine enthielt bestimmte Gefühle, wie sie zumal durch ein 719
bestimmtes Zusammentreffen in uns erregt werden, die andere enthielt unbestimmte Gefühle, die am stärksten sind, wenn man nicht weiß, was sie erregt hat; und doch waren es beidemal die gleichen Gefühle, hier in einem allgemeinen, dort in einem besonderen Zustand. «Ich werde also sagen, daß an jedem Gefühl eine Entwicklung zur Bestimmtheit und eine zur Unbestimmtheit zu unterscheiden ist» dachte Ulrich.
«Besser ist es aber, wenn ich zuvor gleich alle Unterschiede aufzeichne, die damit verbunden sind. »
Er hätte die meisten von ihnen im Schlaf aufsagen können, aber sie werden jedem geläufig erscheinen, wenn er für die «unbestimmten Gefühle», aus denen Ulrich die zweite Reihe gebildet hatte, das Wort Stimmungen gebraucht, obwohl es Ulrich nicht ohne Absicht mied. Denn unterscheidet man zwischen Gefühl und Stimmung, so ist leicht zu bemerken, daß das «bestimmte Gefühl» allemal einem Etwas gilt, einer Lebenslage entspringt, ein Ziel hat und sich in einem mehr oder minder eindeutigen Verhalten ausdrückt, wogegen eine Stimmung von alledem ungefähr das Gegenteil zeigt: sie ist umfassend, ziellos, ausgebreitet, untätig, enthält bei aller Deutlichkeit etwas Unbestimmtes und ist bereit, sich auf jeden Gegenstand zu ergießen, ohne daß etwas geschieht und ohne daß sie sich dabei ändert. So entspricht dem bestimmten Gefühl ein bestimmtes Verhalten zu etwas und dem unbestimmten ein allgemeines, ein Verhalten zu allem, und das eine zieht uns in Geschehen, während uns das andere bloß hinter einem farbigen Fenster daran teilnehmen läßt.
Bei diesem Unterschied, wie sich bestimmte und unbestimmte Gefühle zur Welt verhalten, verweilte Ulrich jetzt einen Augenblick. Er sagte sich: «Ich werde dies anfügen: Wenn sich ein Gefühl zur Bestimmtheit entwickelt, spitzt es sich gewissermaßen zu, es verengt seine Bestimmung und endet schließlich außen und innen wie in einer Sackgasse; es führt zu einer Handlung oder zu einem Beschluß, und wenn es darin auch nicht aufhört zu sein, so geht es doch später so verändert weiter wie Wasser hinter der Mühle: Entwickelt es sich hingegen zur Unbestimmtheit, so hat es anscheinend gar keine Tatkraft. Aber während das bestimmt entwickelte Gefühl an ein Wesen mit greifenden Armen erinnert, verändert das unbestimmte die Welt auf die gleiche wunschlose und selbstlose Weise, wie der Himmel seine Farben, und es verändern sich in ihm die Dinge und Geschehnisse wie die Wolken am Himmel; das Verhalten des unbestimmten Gefühls zur Welt hat etwas Magisches an sich und - Gott helfe mir! - im Vergleich mit dem bestimmten etwas Weibliches!» So sagte sich Ulrich, und dann fiel ihm etwas ein, das weit verführte: denn natürlich ist es vornehmlich die Entwicklung zum bestimmten Gefühl, was die Unbeständigkeit und Hinfälligkeit des seelischen Lebens nach sich zieht. Daß man niemals den Augenblick des Fühlens festhalten kann, daß die Gefühle rascher verwelken als Blumen oder daß sie sich in Papierblumen verwandeln, wenn sie erhalten bleiben wollen, daß das Glück und der Wille, die Kunst und Gesinnung vorbeigehn, alles dies hängt von der Bestimmtheit des Gefühls ab, die ihm auch eine Bestimmung unterschiebt und es in den Gang des Lebens zwingt, von dem es aufgelöst oder verändert wird. Dagegen ist das in seiner Unbestimmtheit und Unbegrenztheit verharrende Gefühl verhältnismäßig unveränderlich. Ein Vergleich fiel ihm ein: «Das eine stirbt wie ein Einzelwesen, das andere dauert an wie eine Art oder Gattung. » Vielleicht wiederholt sich dabei in der Einrichtung des Gefühls sogar wirklich, wenn auch sehr mittelbar, eine allgemeine Lebenseinrichtung; er vermochte es nicht abzuschätzen, hielt sich aber auch nicht damit auf, denn in der Hauptsache meinte er nun so deutlich wie noch nie zuvor zu sehen.
Er wäre jetzt bereit gewesen, auf sein Zimmer zurück zu eilen, verweilte aber doch noch ein wenig, denn er wollte zuvor den ganzen Plan im Kopf überschlagen, ehe er ihn schriftlich ausführe. «Ich habe von zwei Entwicklungsmöglichkeiten und Zuständen ein und desselben Gefühls gesprochen, » überlegte er «aber dann muß natürlich auch schon am Ursprung des Gefühls etwas sein, womit das anheben kann. Und wirklich zeigen ja auch die Triebe, die unsere Seele mit einem Leben speisen, das fast noch wie Tierblut ist, schon diese zweiteilige Anlage. Ein Trieb treibt zum Handeln, und das ist anscheinend seine Hauptaufgabe; aber er stimmt auch die Seele. Hat er noch kein Ziel gefunden, so ist sogar das unbestimmte Sichweiten und
-dehnen an ihm sehr deutlich, ja, es werden sich viele Leute finden, die gerade darin das Anzeichen eines erwachenden Triebes sehen; zum Beispiel des Geschlechtstriebs, aber natürlich gibt es auch eine Sehnsucht des Hungers und anderer Triebe. So ist im Trieb also das Bestimmte und das Unbestimmte. Ich werde hinzufügen, » dachte Ulrich «daß die leiblichen Organe, die daran beteiligt sind, daß die Außenwelt einen Affekt in uns weckt, diesen bei anderer Gelegenheit auch selbst hervorbringen können, wenn sie von innen gereizt werden; mehr braucht es gar nicht, um bis zur Ekstase zu gelangen!»
Dann besann er sich darauf, daß nach den Ergebnissen der Forschung und erst recht nach der Auslegung, 720
die er ihnen in seinen Aufzeichnungen gab, auch anzunehmen sei, daß der Ansatz zu einem Gefühl immer auch zu einem anderen Gefühl dienen könne und daß kein solches in dem Vorgang seiner Ausgestaltung und Verfestigung jemals zu einem ganz bestimmten Ende komme. War das aber richtig, so erreichte nicht nur kein Gefühl seine volle Bestimmtheit, sondern höchst wahrscheinlich auch keines eine vollkommene Unbestimmtheit, und es gab weder ein ganz bestimmtes noch ein ganz unbestimmtes Gefühl. Und wirklich geschieht es auch fast immer, daß sich die beiden Möglichkeiten des Gefühls zu einer gemeinsamen Wirklichkeit verbinden, worin die Eigenart des einen oder des anderen bloß vorherrscht. Es gibt keine
«Stimmung», die nicht auch bestimmte Gefühle enthielte, die sich in ihr bilden. und wieder auflösen; und es gibt kein bestimmtes Gefühl, das nicht wenigstens dort, wo sich von ihm sagen läßt, daß es «ausstrahle»,
«erfasse», «aus sich selbst wirke», sich «ausdehne» oder «unmittelbar», ohne eine äußere Bewegung auf die Welt einwirke, die Eigenart des unbestimmten durchblicken ließe. Wohl aber gibt es Gefühle, die mit großer Annäherung dem einen oder dem anderen entsprechen.
Natürlich haftet an den Worten «bestimmt» und «unbestimmt» der Nachteil, daß auch ein bestimmtes Gefühl immer ungenügend bestimmt bleibt, und in diesem Sinne unbestimmt ist, aber das war wohl von der wesentlichen Unbestimmtheit leicht zu unterscheiden. «Es wird also nur noch auszumachen sein, warum die Eigenart des unbestimmten Gefühls, und die ganze Entwicklung zu ihr, für weniger wirklich gilt als ihr Gegenspiel», dachte Ulrich. «In der Natur liegt beides. Also mag die verschiedene Bewertung wohl damit zusammenhängen, daß uns die äußere Entfaltung des Gefühls wichtiger ist als die innere oder daß uns die Richtung zur Bestimmtheit wichtiger ist als die zur Unbestimmtheit. Und unser Leben müßte wahrhaftig auch ein anderes sein, als es ist, wenn dem nicht so wäre! Es ist eine nicht zu übersehende Eigentümlichkeit der europäischen Kultur, daß in ihr alle naslang die <Welt des Innern> für das Schönste und Tiefste erklärt wird, was das Leben birgt, desungeachtet diese innere Welt aber doch bloß als ein Anbau der äußeren behandelt wird. Und es ist geradezu das Bilanzgeheimnis dieser Kultur, wie das gemacht wird, wenn es ein öffentliches Geheimnis ist: Man stellt die äußere Welt und die <Persönlichkeit> einander gegenüber; man nimmt an, daß die äußere Welt in einer Person innere Vorgänge erregt, die sie befähigen müssen, zweckentsprechend zu erwidern; und indem man in Gedanken diese Bahn herstellt, die von einer Veränderung der Welt durch die Veränderung einer Person wieder auf eine Veränderung der Welt führt, gewinnt man die eigentümliche Zweideutigkeit, die es uns gestattet, die Welt des Innern als den eigentlichen menschlichen Hoheitsbereich zu ehren, und doch von ihr vorauszusetzen, daß alles, was in ihr vorgeht, zuletzt die Aufgabe habe, wieder in eine ordentliche Wirkung nach außen zu münden. »
Es fuhr Ulrich durch den Kopf, daß es lohnend sein müßte, das Verhalten der Zivilisation zur Religion und zur Kunst in diesem Sinne zu betrachten; aber es war ihm wichtiger, die Richtung, die seine Gedanken eingeschlagen hatten, beizubehalten. An die Stelle von «Welt des Innern» ließ sich auch einfach «Gefühl»
setzen, denn vornehmlich hat dieses die zweideutige Stellung, daß es recht eigentlich das Innere ist, und doch zumeist wie ein Schatten des Äußeren behandelt wird; und besonders haftet das natürlich an allem, was Ulrich als die innere und unbestimmte Entfaltung des Gefühls unterscheiden zu können glaubte. Es zeigt sich schon darin, daß die Ausdrücke, in denen wir das innere Walten beschreiben, fast alle dem äußeren entnommen sind; denn offenbar übertragen wir die tätige Art des äußeren Geschehens selbst dann schon auf das anders geartete innere, wenn wir dieses als eine Tätigkeit darstellen, mag es ein Ausstrahlen oder ein Schalten, ein Ergreifen oder ähnliches sein; denn diese Bilder, der Außenwelt entnommen, sind für die Innenwelt nur darum bezeichnend und geläufig geworden, weil wir dort besserer ermangeln. Sogar die wissenschaftlichen Lehren, die das Gefühl als ein Ineinander oder als ein auf gleichem Fuße stehendes Nebeneinander von äußeren und inneren Handlungen beschreiben, machen -eben dadurch, daß sie durchwegs von einem Handeln sprechen und die Handelnsfernheit des rein Innerlichen übergehen - ein Zugeständnis an diese Gewohnheit. Und schon aus diesen Gründen ist es schier unvermeidlich, daß uns die innere Gefühlsentfaltung gewöhnlich bloß als ein Anbau der äußeren erscheint, ja als deren Wiederholung und Trübung, die sich von ihr durch weniger scharfe Formen und ver-wischtere Zusammenhänge unterscheidet und so eben den ein wenig vernachlässigten Eindruck eines Nebengeschehens hervorruft.
Nun steht da aber natürlich nicht bloß eine Ausdrucksweise auf dem Spiel oder ein gedanklicher Vorgang, sondern es ist das, Was wir «in Wirklichkeit» fühlen, selbst hundertfältig von der Wirklichkeit abhängig, und also auch von der bestimmten und äußeren Entfaltung des Gefühls, der sich die innere und unbestimmte unterordnet, ja, von der sie gleichsam aufgesogen wird. «Auf die Einzelheiten soll es nicht 721
ankommen, » nahm sich Ulrich vor «aber es ließe sich wohl auch an jeder von ihnen zeigen, daß nicht nur der Begriff, den wir uns von unseren Gefühlen machen, die Aufgabe hat, deren <subjektives> Teil dienlich den Vorstellungen einzugliedern, die wir von der Wirklichkeit haben, sondern daß auch im Fühlen selbst die beiden Anlagen zu einem Gesamtvorgang verschmolzen sind, der auf sehr ungleiche Weise die Entfaltung nach außen und die nach innen verbindet. Mit einfachen Worten: wir sind handelnde Wesen; wir bedürfen der Sicherheit des Denkens für unser Handeln; wir bedürfen also auch eines der Neutralisation fähigen Gefühls - und unser Fühlen hat seine besondere Gestalt dadurch angenommen, daß wir es in das Bild der Wirklichkeit einordnen, und nicht das Umgekehrte, das Ekstatische tun. Eben deshalb muß in uns aber auch die Möglichkeit liegen, unser Fühlen umzukehren und unsere Welt anders zu erleben!»
Er war jetzt ungeduldig zu schreiben, und fühlte sich sicher, daß diese Gedanken auch einer ausführlichen Prüfung standhalten müßten. Auf seinem Zimmer angelangt, machte er Licht, weil die Wände schon im Schatten lagen. Von Agathe war nichts zu hören. Einen Augenblick zauderte er, ehe er begann.
Es hemmte ihn, daß er sich entsann, in der abkürzenden Ungeduld des Planes und Entwerfens die Begriffe
«Innen» und «Außen», und wohl auch die Begriffe «Person» und «Welt», zuletzt so gebraucht zu haben, als ob die Unterscheidung zwischen den beiden Wirksamkeiten des Gefühls mit diesen Vorstellungen übereinfiele. Dem war natürlich nicht so. Die eigenartige Unterscheidung zwischen der Anlage und Ausgestaltungsmöglichkeit zum bestimmten oder unbestimmten Gefühl, die von Ulrich gemacht wurde, durchschneidet, wenn man sie gelten läßt, die anderen Unterschiede. Sowohl nach außen und in die Welt als auch nach innen und in die Person entfaltet sich das Gefühl auf die eine und andere Art. Er sann über ein rechtes Wort dafür nach, denn die Worte «bestimmt» und «unbestimmt» gefielen ihm nicht sehr, obwohl sie bezeichnend waren. «Der ursprüngliche Erfahrungsunterschied liegt am nacktesten und doch am ausdrucksvollsten darin, daß es sowohl eine Äußerung des Gefühls als auch eine Innerlichkeit nach außen und innen gibt!» überlegte er und war im Augenblick zufrieden, ehe er auch diese Worte ebenso ungenügend fand wie alle anderen, von denen er noch ein Dutzend ausprobte. An seiner Überzeugung änderte das aber nichts mehr, es erschien ihm nur noch als eine Mühe bei der ihm bevorstehenden Ausführung, davon hervorgerufen, daß die Sprache nicht für diese Seite des Daseins geschaffen ist. «Wenn ich alles noch einmal prüfe und richtig finde, soll es mir nichts ausmachen, am Ende bloß immer von unserem gewöhnlichen Gefühl und unserem <anderen> zu reden!» beschloß er.
Er holte lächelnd ein Buch von der Wand, worin sich ein Lesezeichen befand, und setzte vor seine eignen Worte die folgenden fremden: «Wenn auch der Himmel, ebenso wie die Welt, einer Folge wechselnder Ereignisse unterworfen ist, so fehlt doch den Engeln jeder Begriff und jede Vorstellung von Raum und Zeit.
Obwohl sich auch bei ihnen alle Vorgänge nacheinander abspielen, in völliger Übereinstimmung mit der Welt, wissen sie nicht, was Zeit bedeutet, weil im Himmel weder Jahre noch Tage, sondern Zustandsänderungen herrschen. Wo Jahre und Tage sind, herrschen Zeiten, wo Zustandsänderungen sind, Zustände. Da die Engel keine Vorstellung von der Zeit haben, wie die Menschen, so fehlt ihnen auch die Bestimmung der Zeit; sie kennen nicht einmal ihre Einteilung in Jahre, Monate, Wochen, Stunden, in morgen, gestern und heute. Hören sie einen Menschen davon reden - und Gott hat ständig den Menschen Engel zugesellt -, dann verstehen sie darunter Zustände und Zustandsbestimmungen. Der Mensch denkt aus der Zeit, der Engel aus dem Zustand; so wird die natürliche Vorstellung der Menschen bei den Engeln zu einer geistigen. Alle Bewegungsvorgänge in der geistigen Welt geschehen durch innere Zustandsänderungen. Als ich darüber in Besorgnis geriet, wurde ich in die Sphäre des Himmels zum Bewußtsein der Engel erhoben und von Gott durch die Reiche des Himmels geführt und zu den großen Gestirnen des Weltalls geleitet, und zwar im Geiste, während mein Körper an derselben Stelle blieb. Alle Engel bewegen sich so von Ort zu Ort, deshalb gibt es für sie keine Abstände, folglich auch keine Entfernungen, sondern nur Zustände und Zustandsänderungen. Jede Annäherung ist eine Ähnlichkeit innerer Zustände, jede Entfernung eine Verschiedenheit; Räume im Himmel sind nichts als äußere Zustände, die den inneren entsprechen. Jeder wird in der geistigen Welt dem anderen sichtbar erscheinen, sobald er ein dringendes Verlangen nach dessen Gegenwart hat, denn dann versetzt er sich in seinen Zustand; umgekehrt wird er sich bei vorhandener Abneigung von ihm entfernen. Ebenso kommt jemand, der in seiner Gemeinschaft, in Hallen oder Gärten, seinen Aufenthalt wechselt, schneller dorthin, wenn er sich danach sehnt, und langsamer, wenn seine Sehnsucht geringer ist; das habe ich oft staunend gesehen.
Und da die Engel sich keinen Begriff von der Zeit machen können, so haben sie auch eine andere 722
Vorstellung von der Ewigkeit als die irdischen Menschen; sie verstehen darunter einen unendlichen Zustand, nicht eine unendliche Zeit. »
Ulrich hatte das einige Tage zuvor durch Zufall beim Blättern in einer Auswahlausgabe von Swedenborg aufgefunden, die er besaß, aber noch nie recht gelesen hatte; und hatte es ein wenig zusammengedrängt und so viel davon abgeschrieben, weil es ihm sehr angenehm war, diesen alten Metaphysikus und gelehrten Ingenieur - von dem übrigens Goethe, ja sogar Kant keinen geringen Eindruck empfangen hatte - so sicher vom Himmel und den Engeln reden zu hören, als wären es Stockholm und seine Bewohner. Es paßte so gut zu seiner eigenen Beschäftigung, daß sich die verbleibende, und ja auch nicht geringe, Verschiedenheit unheimlich deutlich davon abhob. Es machte ihm große Lust, an ihr festzuhalten und die in ihrer verfrühten Selbstgewißheit zwar trocken-unträumerisch, doch aber schrullig wirkenden Behauptungen eines Geistersehers aus den vorsichtiger gefaßten Begriffen eines späteren Jahrhunderts auf neue Art hervorzuzaubern.
Und so schrieb er nieder, was er gedacht hatte.
78 Nachtgespräch
[Entwurf und Studie]
Er hatte im Zimmer ein Licht nach dem anderen angezündet, als sollten in dem erregenden Überfluß der Strahlen die Worte leichter fallen, und hatte lange Zeit eifrig geschrieben. Aber nachdem das Wichtigste geschehen war, bemächtigte sich seiner das Gefühl, daß Agathe noch nicht zurückgekehrt sei, und wurde immer störender. Ulrich wußte nicht, daß sie bei Lindner war, und überhaupt nichts von diesen Besuchen; aber da dieses Geheimnis und sein Tagebuch das einzige war, was sie vor einander verbargen, konnte er mutmaßen und fast auch verstehen, was sie tat. Er nahm es nicht ernster als nötig und war eher erstaunt darüber als eifersüchtig; auch schrieb er sich und seiner eigenen Unentschlossenheit die Schuld zu, wofern sie eigene Wege ging, die er nicht billigen mochte. Trotzdem hemmte es ihn immer mehr und verminderte die zwischen den Gedanken webende Glaubensbereitschaft, daß er in dieser Stunde der Sammlung nicht einmal wisse, wo sie sei und warum sie sich verspäte. Er beschloß, sich zu unterbrechen und auch auszugehen, um sich dem entnervenden Einfluß des Wartens zu entziehen, wollte die Arbeit aber bald wieder aufnehmen. Als er das Haus verließ, fiel ihm ein, daß es ihn nicht nur am kräftigsten ablenken könnte, wenn er ein Theater aufsuchte, sondern sogar anregen müßte; und so tat er das, obwohl er nicht dafür angekleidet war. Er wählte einen unauffälligen Platz und empfand im Anfang recht stark das Vergnügen, mitten in eine Vorstellung einzutreten, die schon lebhaft im Gange ist. Es rechtfertigte, daß er gekommen war, denn dieses lebhafte Widerspiegeln hundertfältig bekannter Gefühle, von dem das Theater unter dem Vorwand zu leben pflegt, daß es ihm einen Sinn gebe, erinnerte Ulrich an den Wert der zu Hause zurückgelassenen Aufgabe und erneute den Wunsch, den Weg zu beenden, der, von den Ursprüngen der Gefühle ausgehend, schließlich zu ihrem Sinn führen mußte. Als er wieder sein Bewußtsein den Vorgängen auf der Bühne erschloß, fiel ihm ein, daß die meisten der Schauspieler, die sich dort oben so schön wie bedeutungslos mit der Nachbildung von Leidenschaften beschäftigten, den Titel von Hofräten oder Professoren führten, denn Ulrich befand sich im Hoftheater, was dem Ganzen auch noch eine Steigerung zur Staatskomik gab. So verließ er zwar noch vor dem Ende des Stückes das Schauspielhaus, kehrte aber gleichwohl in erfrischter Laune heim. Wieder setzte er sein Zimmer ganz unter Licht, und es bereitete ihm Vergnügen, in der durchlässigen Nachtstille seinem eigenen Schreiben zuzuhören. Diesmal hatten ihm allerhand flüchtige, ja kaum mit Bewußtsein aufgenommene Anzeichen bei Betreten des Hauses gesagt, daß Agathe wieder zurückgekehrt sei; aber als er sich nachträglich darauf besann und alles lautlos war, fürchtete er sich nachzusehen. So wurde es spät in der Nacht. Er war noch einmal im Garten gewesen, der völlig im Dunkel lag, so ungastlich, ja tödlich feindlich wie eine schwarze Wassertiefe; er hatte sich trotzdem bis zu einer Bank durchgetastet und ziemlich lange ausgeharrt. Es war schwer, auch unter diesen Umständen daran zu glauben, daß es wichtig sei, was er schreibe. Aber als er wieder im Licht saß, machte er sich daran, es zu Ende zu schreiben, soweit sein Plan diesmal reichte. Es fehlte nicht mehr viel, doch hatte er kaum damit begonnen, als ihn ein leises Geräusch unterbrach. Denn Agathe, die schon in seinem Zimmer gewesen war, als er sich noch im Theater befand, und diesen heimlichen Besuch während seines Aufenthaltes im Garten wiederholt hatte, war bei seiner Rückkehr hinausgeschlüpft, hatte hinter der Türe 723
eine kleine Weile gezögert und drückte jetzt leise deren Klinke nieder.
Ich habe gelesen.
Du hättest es nicht tun dürfen.
Agathe lacht. (Wie lacht sie eigentlich? Schallend? Nein. Ein angenehmer Klang, von dem man nichts genaues erfährt; aber eine strahlende Ausgelassenheit, die sich in dem stillen Zimmer verbreitet. Doch ist der Ton dunkel, dunkelheiter; wie eine tief gestimmte Silberschelle, mit dunklem Grundton und silbernem, weichem Glanz (einer weichen Heiterkeit) darüber).
Es ist untreu von dir gewesen, daß du es mir verborgen hast!
Ulrich: Ich schreibe, weil ich manches besser verstehen möchte.
Agathe: Aber warum willst nur du, und heimlich, es besser verstehn? Geht es mich nichts an?
Ulrich: Doch, es geht dich viel an. Aber… - Warum besuchst du heimlich den Tränenmann Lindner?
Agathe: Auch, um mich besser zu verstehn. Übrigens weint er Zornestränen.
Ulrich: Warst du heute bei ihm?
Agathe: Ja.
Ulrich: Es gefällt mir nicht von dir.
Agathe: Ich gefalle mir auch nicht ganz dabei. Aber, was du schreibst gefällt mir; der Anfang und das Ende natürlich; aber auch was dazwischen ist, wenngleich ich es nicht ganz verstanden habe. Ich habe alles gelesen; manches solltest du mir erklären; manches brauchst du mir gar nicht erklären, weil ich es doch nicht verstehen werde; ich habe beschlossen, es dir zu glauben.
Ulrich hatte noch ihre Frage, warum schreibst du? im Ohr. Ich habe mich (meine Moral - die Mitte meines Lebens oder ähnliches - mein Tun und Lassen) jetzt in einigen Tagen besser verstehn gelernt als vorher in Monaten, wiederholte er. Es ist mir auch klar geworden, um wieviel weiter ich heute bin als vor einem Jahr (als zur Zeit unseres Wiedersehns), wieviel besser ich mich und meinen Willen verstehe… Ich habe dir nichts davon erzählt, weil ich unbeeinflußt bleiben wollte. (Lachend: ) Es hätte ein Verrat sein sollen. Du weißt, daß wir nicht glauben sollen, ehe wir nicht unser bestes Wissen erschöpft haben.
Agathe: ––-tut irgend etwas, das ihr Gesicht von ihm abwendet: Sei mir nicht böse, aber etwas daran ist unheimlich komisch. Du zergliederst sorgfältig die Möglichkeit, deine Hand auszustrecken, nach Natur-und Denkgesetzen. Warum streckst du sie nicht einfach aus?
Ulrich: Ich kann sie nicht einfach ausstrecken. Erinnerst du dich an die «Geschichte der Frau Major»?
Agathe nickt.
Ulrich: Es soll nicht enden wie sie (diese).
Agathe: (einem nachträglichen Einwand stattgebend: ) Die Frau Major ist eine dumme (niedrige) Person gewesen, erklärte sie gelassen.
Ulrich: Ja. Aber mein Gefühl hat mir Erlebnisse vor Augen gezaubert, die wie ein Wald von großen Blüten gewesen sind; ich habe diese Blüten berühren können, so oft ich wollte, aber niemals auseinanderbiegen, um mich zwischen ihnen aufzuhalten!
(Wie eine aus Nässe in Sand führende Spur rasch auftrocknet: ) Überdies, das gewöhnliche Leben, das kraftvoll und tätig dahinstreicht, säumt nicht bei Überlegungen. Man fühlt, um zu handeln; und über ein solches allerwegen benutztes Verkehrs-und Fortbewegungsmittel denkt niemand nach. Es mißachtet darum auch alle Gefühle, die nicht nach Maß-Art durchschnittlich und vorgeschrieben sind -oder beugt sich den sehr starken -, und seine Gefühle zu «zerfasern» gilt im Leben als schwächlich. Spricht man aber von seinem Gefühl, was trotzdem sehr oft geschieht, so spricht man es «aus»; man spricht fühlend davon, man sagt (aus), was und wie man fühlt, also daß die auf die Gefühle selbst gerichtete Aufmerksamkeit, die geistige Beobachtung, die psychologische Neugierde auch dann nicht zur Entfaltung kommen, und wo immer sie sich einstellen, eigentlich schon eine Störung des natürlichen Fühlens anzeigen. Das gilt aber nicht für ungewöhnliche Fälle. (Da könnte Agathe erinnern, — und holt es wahrscheinlich später nach - der Liebende darf die Liebe nicht verlassen und ähnliches).
Agathe: Ich habe dir nichts von Lindner erzählt, weil es gleichgültig ist. Oder weil ich wußte, daß es einmal ganz gleichgültig sein wird. Du bist stärker als ich; ich bin stärker als er. Es sind Geschehnisse in einem Liliputaner-Reich.
Eventuell dazwischen Ulrich: Du wirst nicht mehr hingehen?
[Agathe: ] Kannst du dir nicht vorstellen, daß man aus Kleinmut davonläuft? Kannst du dir nicht vorstellen, 724
daß ich dann stärker (mutiger) zurückkehre?
Ulrich: Gehst du nicht auch hin, weil er nicht bloß so wie ich in Klammern und Nebensätzen von Gott spricht und von der Teilnahme aneinander in Gott?
(Agathe müßte jetzt zum Tagebuch einlenken: ) Erkläre mir lieber deine Gedanken, Ich habe den Eindruck: darin ist alles enthalten. Warum haben wir so lange hin und her gesprochen? Nun ist alles in Ordnung. Bloß verstehe ich es nicht ganz. Ich habe mir zum Beispiel immer gedacht, das Wichtigste an einer Ekstase sei, daß man seine Seele aufgibt, seine gewöhnliche Seele. Aber gerät man in eine andere Welt? Oder ist man bloß sehr verliebt? Stirbt man für die Außenwelt ab? Oder ist man bloß ganz begeistert? Genügt es, daß alle Überlegung aufhört? Nein, es ist besser, du erklärst dich mir!
79 Unterhaltungen mit Schmeißer
[Entwurf]
Daß Graf Leinsdorf die Absicht äußerte, ein Realpolitiker müsse sich sogar der Sozialdemokratie bedienen, um in ihr einen Verbündeten gegen den Fortschritt wie gegen den Nationalismus zu finden, geschah nicht zum erstenmal, denn er hatte Ulrich schon wiederholt gebeten, diese Beziehungen zu pflegen, bei denen er sich in eigener Person aus politischen Gründen vorderhand nicht betreten lassen wollte. Darum hatte er auch selbst den Rat erteilt, anfangs nicht an die führenden, sondern lieber an jüngere Persönlichkeiten heranzutreten, die durch ihre Tatkraft und noch nicht vollendete Verdorbenheit hoffen ließen, daß man durch sie einen patriotisch verjüngenden Einfluß auf die Partei gewinne. Da hatte sich Ulrich bei guter Laune daran erinnert, daß in seinem Haus ein junger Mann wohne, der ihn nicht grüßte, sondern verstockt wegsah, wenn er ihm begegnete, was allerdings selten genug geschah. Das war der Kandidat der Technischen Wissenschaften Schmeißer, und sein Vater war ein Gärtner, der schon auf dem Grundstück gewohnt hatte, als Ulrich dieses übernahm, und der seither als Entgelt für freies Quartier und gelegentliche Zuwendungen den kleinen alten Park teils mit eigener Hand in Ordnung hielt, teils in der Weise, daß er die notwendig werdenden Arbeiten angab und überwachte. Ulrich billigte es, daß ihn der junge Mann, der bei seinem Vater lebte und sein Studiengeld durch Stundengeben und kleine literarische Leistungen erwarb, als einen reichen Müßiggänger ansah, dem man Geringschätzung zu erweisen habe; das Experiment der Untätigkeit, dem er unterworfen war, versetzte ihn manchmal vor sich selbst in diesen Anschein, und es bereitete ihm Vergnügen, seinen Tadler herauszufordern, als er ihn eines Tages ansprach. Es zeigte sich dabei, daß auch der Student, der übrigens, in der Nähe besehn, schon ungefähr sechsundzwanzig Jahre alt sein mochte, nur auf diesen Augenblick gewartet hatte und daß sich die Spannung solcher Nachbarschaft sofort in heftigen Angriffen entlud, die zwischen einem Bekehrungsversuch und der Darbringung persönlicher Verachtung die Mitte innehielten. Ulrich erzählte von der Parallelaktion und vermeinte es gut zu machen, wenn er seinen Auftrag so lächerlich, wie dieser war, hinstellte, aber zugleich die Vorteile andeutete, die ein entschlossener Mensch daraus zu schöpfen vermöchte. Er erwartete, daß Schmeißer auf die Anzettelung eingehen werde, die sich dann mit Gottes Hilfe etwas seltsam entwickeln mochte; aber dieser junge Mann war kein bürgerlicher Romantiker und Abenteurer, sondern hörte mit kniffligen Lippen zu, bis Ulrich nichts mehr zu sagen wußte. Er hatte eine schmale Brust zwischen Schultern, die breitknochig waren, und trug scharfe Brillengläser. Diese sehr scharfen Brillen waren die Schönheit in dem Gesicht, das eine fahle, fette, schlecht durchblutete Haut hatte, in harten Nächten über Büchern und Pflichtarbeiten notwendig geworden, und geschärft durch Armut, der nicht gleich bei den ersten Anzeichen ein Arzt zur Verfügung gestanden hatte, war die scharfe Brille für Schmeißers einfaches Gefühl zu einem Sinnbild der Selbstbefreiung geworden: wenn er sein finniges Gesicht mit der gesattelten Nase und den proletarisch spitzen Wangen, von ihr überglänzt, im Spiegel erblickte, erschien es ihm als die vom Geist gekrönte Armut, und besonders oft geschah das, seit er wider Willen Agathe von ferne bewunderte. Seither haßte er auch den athletisch gebauten Ulrich, den er früher wenig beachtet hatte, und dieser las nun seine Verdammung in den Brillengläsern und kam sich plaudernd wie ein spielendes Kind vor zwei Kanonenrohren vor. Als er geendet hatte, antwortete ihm Schmeißer, mit Lippen, die sich vor Wohlgefallen an dem, was sie sagten, kaum von einander trennen konnten: «Die Partei hat solche Abenteuer nicht nötig; wir kommen auf unserem eigenen Weg ans Ziel!»
Da hatte es nun der Bourgeois!
725
Es war schwer für Ulrich nach dieser Ablehnung noch weitere Worte zu finden, aber er ging den Gegner gerade an und sagte schließlich lachend: «Wenn ich der wäre, für den Sie mich halten, sollten Sie mir Gift in die Wasserleitung tun, oder die Bäume ansägen, unter denen ich lustwandle: warum wollen Sie so etwas nicht in einem Falle tun, wo es vielleicht wirklich am Platze wäre?»
«Sie haben keine Ahnung, worauf es in der Politik ankommt, » erwiderte Schmeißer «denn Sie sind ein sozial-romantischer Bürger, bestenfalls ein Individualanarchist! Ernsthafte Revolutionäre denken nicht an blutige Revolutionen!»
Seither hatte Ulrich öfter kleine Unterhaltungen mit diesem Revolutionär, der keine Revolution machen wollte; «daß über kurz oder lang die Menschheit in irgend einer Form sozialistisch organisiert sein wird, »
sagte er ihm «das habe ich schon als Kavallerieleutnant gewußt; es ist sozusagen die letzte Chance, die ihr Gott gelassen hat. Denn der Zustand, daß Millionen Menschen auf das roheste hinabgedrückt werden, damit tausende mit der Macht, die ihnen daraus erwächst, doch nichts Hohes anzufangen wissen, dieser Zustand ist nicht bloß ungerecht und verbrecherisch, sondern auch dumm, unzweckmäßig und selbstmörderisch!»
Und Schmeißer erwiderte ihm höhnisch: «Aber Sie haben sich immer damit begnügt, das zu wissen. Nicht wahr? Das ist der bürgerliche Intellektuelle! Sie haben einigemal zu mir von einem Bankdirektor gesprochen, mit dem Sie befreundet sind: ich versichere Ihnen, dieser Bankdirektor ist mein Feind, ich bekämpfe ihn, ich weise ihm nach, daß seine Überzeugungen nur Vorwände für seinen Profit sind, aber er hat doch wenigstens Überzeugungen! Er sagt ja, wo ich nein sage! Dagegen Sie? In Ihnen hat sich alles schon aufgelöst, in Ihnen hat sich die bürgerliche Lüge bereits zu zersetzen begonnen!»
Friedlich räumte Ulrich ein: «Es mag sein, daß meine Art zu denken bürgerlicher Herkunft ist; für einen Teil ist das sogar wahrscheinlich. Aber: Inter faeces et urinam nascimur - warum nicht auch unsere Meinung? Was beweist das gegen ihre Richtigkeit?!»
Denn wenn Ulrich so sprach, höflichen Geistes, konnte Schmeißer nie an sich halten und zerbarst jedesmal von neuem: «Alles, was Sie sagen, entspringt der sittlichen Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft!»
verkündete er dann oder etwas Ähnliches, denn er haßte nichts so sehr wie die vernunftwidrige Form der Güte, die an der Liebenswürdigkeit ist; ja die Form überhaupt, selbst die der Schönheit, war ihm verdächtig.
Niemals nahm er darum auch eine der Einladungen Ulrichs an und ließ sich höchstens mit Tee und Zigaretten bewirten wie in russischen Romanen. Ulrich liebte es, ihn zu reizen, obwohl diese Gespräche völlig sinnlos waren. Er fühlte keine Teilnahme an der Politik. Seit dem Freiheitsjahr Achtundvierzig und der Gründung des Deutschen Reichs, Ereignissen, deren sich nur noch eine Minderheit persönlich erinnerte, erschien wohl der Mehrzahl der Gebildeten Politik eher als ein Atavismus denn als eine Hauptsache. Fast an nichts war zu erkennen, daß sich hinter diesen gewohnheitsmäßig weitergehenden äußeren Vorgängen die geistigen schon auf jene Entstaltung vorbereiteten, auf jene Untergangsbereitschaft und aus Überdruß an sich selbst entstehende Selbstmordwilligkeit, die einen Zustand weich machen und wahrscheinlich immer die passive Vorbedingung der Zeitabschnitte gewaltsamer politischer Veränderungen bilden. So war auch Ulrich durch sein ganzes Leben daran gewöhnt worden, von der Politik nicht zu erwarten, daß sie das vollbringe, was geschehen müßte, sondern bestenfalls das, was längst schon hätte geschehen sein sollen.