«Schade!» bedauerte der General. «Deine Schwester ist die bewundernswerteste Frau, die ich je gesehen habe!»
«Ich dachte, das sei Diotima?» meinte Ulrich.
«Auch» erwiderte Stumm. «Auch sie ist bewundernswert. Aber seit sie sich der Sexualwissenschaft ergibt, komme ich mir wie ein Schulbub vor. Ich blicke ja gern zu ihr auf; denn, mein Gott, der Krieg ist, wie ich immer sag, ein einfaches und rauhes Handwerk; aber gerade auf sexuellem Gebiet widerstrebt es sozusagen der Offiziersehre, sich als Laie behandeln zu lassen!»
Sie hatten indessen doch den Wagen bestiegen und waren im schärfsten Trab davongefahren.
«Ist deine Freundin wenigstens hübsch?» erkundigte sich Stumm mißtrauisch.
«Eigenartig ist sie, du wirst ja sehen» erwiderte Ulrich.
«Also heute abend» seufzte der General «beginnt etwas. Ich erwarte ein Ereignis. »
«Das hast du noch jedesmal gesagt, wenn du zu mir gekommen bist» verwahrte sich Ulrich lächelnd.
«Kann schon sein, aber trotzdem ist es wahr. Und heute abend wirst du Zeuge der Entrevue zwischen deiner Kusine und der Professor Drangsal sein. Du hast doch hoffentlich nicht alles vergessen, was ich dir schon darüber gesagt hab? Also die Drangsal — so nennen wir sie nämlich, deine Kusine und ich - die Drangsal also hat deine Kusine so lang drangsaliert, bis es dazu gekommen ist; alle Leut hat sie ha-ranguiert, heute 534
sollen sich die zwei aussprechen. Wir haben bloß noch auf den Arnheim gewartet, damit er sich auch ein Urteil bilden kann. »
«So?» Das hatte Ulrich auch nicht gewußt, daß Arnheim, den er lange nicht gesehen hatte, zurückgekommen sei.
«Aber natürlich. Für ein paar Tage» erläuterte Stumm.
«Da haben wir die Sache in die Hand nehmen müssen - » Plötzlich unterbrach er sich und prallte aus den schwankenden Polstern mit einer Geschwindigkeit gegen den Kutschbock, die ihm niemand zugetraut hätte:
«Sie Trottel, » brüllte er gemessen ins Ohr der Ordonnanz, die als Zivilfuhrmann verkleidet die ministeriellen Pferde lenkte, und klammerte sich, hilflos gegen die Schwankungen des Wagens, an den Rücken des Beschimpften. «Sie fahren ja einen Umweg!» Der Soldat in Zivil hielt den Rücken steif wie ein Brett, empfindungslos gegen die außerdienstlichen Rettungsversuche, die der General daran anstellte, warf den Kopf genau um neunzig Grade herum, so daß er weder seinen General, noch seine Pferde sehen konnte, und meldete stolz einer ins Leere endenden Senkrechten, daß der nächste Weg wegen Straßenarbeiten auf dieser Strecke nicht zu befahren sei, aber bald wieder erreicht sein werde. «Na also, da habe ich doch recht!» rief Stumm zurückfallend aus, teils vor der Ordonnanz, teils vor Ulrich den vergeblichen Ausbruch seiner Ungeduld beschönigend: «Da muß der Kerl einen Umweg fahren, und ich soll doch meinem Exzellenz heute noch Vortrag halten, der um vier Uhr nach Haus will und selbst noch vorher dem Minister einen Vortrag halten muß!… Seine Exzellenz, der Minister, hat sich nämlich für heute abend persönlich bei Tuzzis angesagt!» fügte er, ausschließlich für Ulrichs Ohren, leiser hinzu.
«Was du nicht sagst?!» Ulrich zeigte sich von dieser Nachricht überrascht.
«Ich sag dir ja schon lang, es liegt was in der Luft. »
Jetzt wollte Ulrich doch wissen, was in der Luft liege. «So sag schon, was der Minister will?!» forderte er.
«Das weiß er doch selbst nicht» erwiderte Stumm gemütlich. «Seine Exzellenz hat das Gefühl: jetzt ist es an der Zeit. Der alte Leinsdorf hat auch das Gefühl: jetzt ist es an der Zeit. Der Chef des Generalstabs hat ebenfalls das Gefühl: jetzt ist es an der Zeit. Wenn viele das haben, dann kann schon etwas Wahres daran sein. »
«Aber wozu an der Zeit?» forschte Ulrich weiter.
«Das braucht man deshalb noch nicht zu wissen!» belehrte ihn der General. «Das sind eben so absolute Eindrücke! Wie viele werden wir übrigens heute sein?» fragte nun er, sei es zerstreut, sei es nachdenklich.
«Wie kannst du das mich fragen?» erwiderte Ulrich erstaunt.
«Ich hab jetzt gemeint, » erklärte Stumm «wieviel wir sein werden, die ins Narrenhaus gehn? Entschuldige!
Komisch was, so ein Mißverständnis? Es gibt halt Tage, wo zu viel auf einen eindringt! Also wieviel werden wir sein?»
«Ich weiß nicht, wer mitkommt; je nachdem drei bis sechs Leute. »
«Ich hab nämlich sagen wollen, » äußerte der General bedenklich « wenn wir mehr als drei sind, müssen wir einen zweiten Wagen nehmen. Du verstehst, weil ich in Uniform bin. »
«Ja, natürlich» beruhigte ihn Ulrich.
«Da darf ich nicht wie in einer Sardinenbüchse fahren. »
«Gewiß. Aber sag, wie kommst du auf die absoluten Eindrücke?»
«Aber werden wir denn da draußen auch einen Wagen bekommen?» grübelte Stumm. «Da sagen sich doch die Fuchs gute Nacht!?»
«Wir werden unterwegs einen mitnehmen» erwiderte Ulrich entschieden. «Und jetzt erklär mir, bitte, wieso ihr den absoluten Eindruck habt, daß jetzt etwas an der Zeit sei?»
«Da ist gar nichts zu erklären» entgegnete Stumm. «Wenn ich von etwas sag, daß es absolut so und nicht anders sein muß, dann heißt das doch gerade, daß ich es nicht erklären kann! Man könnte höchstens hinzufügen, daß die Drangsal so eine Art Pazifistin ist, wahrscheinlich weil der Feuermaul, den sie lanziert, Gedichte darüber macht, daß der Mensch gut ist. Daran glauben jetzt viele. »
Ulrich wollte ihm nicht traun. «Du hast mir doch erst unlängst das Gegenteil erzählt: daß man in der Aktion jetzt für eine Tat ist, für die starke Hand und ähnliches!»
«Auch» gab der General zu. «Und einflußreiche Kreise setzen sich halt für die Drangsal ein; so etwas versteht sie ja ausgezeichnet. Man verlangt von der Vaterländischen Aktion eine Handlung der menschlichen Güte. »
535
»So?» sagt Ulrich.
«Ja, du kümmerst dich eben auch um gar nichts mehr!
Anderen Leuten macht das Sorgen. Ich erinnere dich zum Beispiel daran, daß der deutsche Bruderkrieg von Sechsundsechzig daraus entstanden ist, daß sich alle Deutschen im Frankfurter Parlament als Brüder erklärt haben. Natürlich will ich damit nicht im geringsten gesagt haben, daß vielleicht der Kriegsminister oder der Generalstabschef diese Sorgen hat; das wäre ein Unsinn von mir. Aber es kommt halt so eins zum ändern: So ist es! Verstehst du mich?»
Das war nicht klar, aber es war richtig. Und dem fügte der General etwas sehr Weises hinzu. «Schau, du verlangst immer Klarheit» hielt er seinem Nachbarn vor. «Ich bewundere dich ja dafür, aber du mußt auch einmal geschichtlich denken: Wie sollen denn die an einem Ereignis unmittelbar Beteiligten im voraus wissen, ob es ein großes wird? Doch höchstens, weil sie sich einbilden, daß es eines ist! Wenn ich also paradox sein darf, möchte ich behaupten, daß die Weltgeschichte früher geschrieben wird, als sie geschieht; sie ist zuerst immer so eine Art Tratsch. Und da stehen die energischen Menschen eben vor einer sehr schwierigen Aufgabe. »
«Da hast du recht» lobte Ulrich. «Und jetzt erzähl mir doch alles!»
Aber der General wurde, obwohl er selbst davon zu sprechen wünschte, in diesen überlasteten Augenblicken, als die Pferdehufe schon weichen Straßengrund zu treten begannen, plötzlich wieder von anderen Sorgen ergriffen: «Ich bin doch für den Minister, falls er mich rufen läßt, schon angezogen wie ein Christbaum» rief er aus und unterstrich es, indem er auf seinen hellblauen Waffenrock und die daran hängenden Orden hinwies: «Meinst du nicht, daß es zu peinlichen Zwischenfällen führen kann, wenn ich mich so in Uniform den Narren zeige ? Was mach ich zum Beispiel, wenn einer meinen Rock beleidigt? Da kann ich doch nicht den Säbel ziehn, und zu schweigen ist für mich auch höchst gefährlich!?»
Ulrich beruhigte seinen Freund, indem er ihm in Aussicht stellte, daß er über der Uniform einen weißen Arztkittel tragen werde; aber ehe sich Stumm noch von dieser Lösung zufriedengestellt erklärt hatte, begegnete ihnen Ciarisse in großer Sommerkleidung, die ihnen, von Siegmund begleitet, ungeduldig auf dem Fahrweg entgegenkam. Sie erzählte Ulrich, daß sich Walter und Meingast geweigert hätten mitzukommen. Und nachdem auch ein zweiter Wagen aufgetrieben war, sagte der General zufrieden zu Ciarisse: «Gnädige haben, wie Sie da den Weg herabgekommen sind, ausgesehen wie ein Engerl!»
Als er aber beim Tor der Klinik den Wagen verließ, sah Stumm von Bordwehr rot und etwas verstört aus.
33
Die Irren begrüßen Ciarisse
Ciarisse drehte ihre Handschuhe zwischen den Fingern, sah an den Fenstern empor und stand keinen Augenblick still, während Ulrich den Mietwagen bezahlte. Stumm von Bordwehr wollte nicht zulassen, daß Ulrich das tue, und der Kutscher saß wartend am Bock und lächelte geschmeichelt, während die beiden Herren einander aufhielten. Siegmund bürstete wie gewöhnlich mit den Fingerspitzen ein Stäubchen vom Rock oder starrte ins Leere. Leise sagte der General zu Ulrich: «Eine sonderbare Frau ist deine Freundin.
Sie hat mir auf der Fahrt auseinandergesetzt, was Wille ist. Ich habe kein Wort verstanden!»
«So ist sie» sagte Ulrich.
«Hübsch ist sie» flüsterte der General. «Wie ein vierzehnjähriges Ballettmäderl. Aber warum sagt sie, daß wir hierhergefahren sind, um uns unserem <Wahn> zu überlassen? Die Welt ist zu <wahnfrei>, sagt sie?
Weißt du darüber etwas Näheres? Es war so peinlich. Ich hab ihr eigentlich nicht ein Wort erwidern können.
»
Der General verzögerte ersichtlich die Verabschiedung der Fuhrwerke nur deshalb, weil er diese Fragen stellen wollte; aber ehe Ulrich eine Antwort gab, wurde er ihrer durch einen Abgesandten enthoben, der die Angekommenen im Namen des Chefs der Klinik begrüßte und, seinen Herrn bei General von Stumm mit dringender Arbeit für eine kleine Weile entschuldigend, die Gesellschaft in einen Warteraum hinaufführte.
Ciarisse ließ keinen Stein der Treppe und der Gänge außer Augen, und auch in dem kleinen Empfangszimmer, das mit seinen Stühlen aus verschossenem grünen Samt an die altmodischen Wartesäle erster Klasse auf Bahn-höfen erinnerte, war ihr Blick fast die ganze Zeit über in langsamer Bewegung. Da saßen 536
die vier, nachdem sie der Abgesandte verlassen hatte, und sprachen anfangs kein Wort, bis Ulrich, um das Schweigen zu brechen, Ciarisse mit der Frage neckte, ob ihr nicht schon davor grusele, Moosbrugger von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.
«Ach!» sagte Ciarisse wegwerfend. «Er hat ja nur Ersatzweiber gekannt; da hat es so kommen müssen!»
Der General wollte sich wieder zu Ehren bringen, weil ihm nachträglich etwas eingefallen war. «Wille ist jetzt sehr modern» sagte er. «Auch in der Patriotischen Aktion beschäftigen wir uns viel mit diesem Problem. »
Ciarisse lächelte ihn an und dehnte die Arme, um die Spannung darin zu beruhigen. «Wenn man so warten muß, fühlt man das Kommende in den Gliedern, als ob man durch ein Fernrohr schaute» erwiderte sie.
Stumm von Bordwehr dachte nach, er wollte nicht wieder zurückstehen. «Richtig!» sagte er. «Das hängt vielleicht mit der modernen Körperkultur zusammen. Mit der befassen wir uns auch!»
Dann kam der Hofrat mit seiner Kavalkade von Assistenten und Volontärinnen hereingefegt, war sehr liebenswürdig, namentlich zu Stumm, erzählte etwas von etwas Dringendem und bedauerte, sich gegen seine Absicht auf diese Begrüßung beschränken zu müssen und nicht selbst die Führung übernehmen zu können. Er stellte Dr. Friedenthal vor, der das an seiner Stelle tun werde. Dr. Friedenthal war ein großer, schlanker und etwas weichlich gebauter Mann, hatte einen üppigen Scheitel und lächelte bei der Vorstellung wie ein Akrobat, der die Leiter hinaufsteigt, einen Todessprung vorzuführen. Als sich der Chef empfahl, wurden die Kittel gebracht.
«Um die Patienten nicht zu beunruhigen» erläuterte Dr. Friedenthal.
Ciarisse fühlte, während sie in den ihren schlüpfte, einen eigenartigen Kraftzuwachs. Wie ein kleiner Arzt stand sie da. Sie kam sich sehr männlich und sehr weiß vor.
Der General suchte einen Spiegel. Es war schwierig, einen Kittel zu finden, der sich dem ihm eigentümlichen Verhältnis von Höhe und Breite anpaßte; als es endlich gelang, seinen Körper vollständig einzuhüllen, sah er wie ein Kind im zu langen Nachthemd aus. «Meinen Sie nicht, daß ich die Sporen ablegen sollte?» fragte er Dr. Friedenthal.
«Militärärzte tragen auch Sporen!» widersprach Ulrich. Stumm machte noch eine hilflose und verwickelte Anstrengung, um einen Blick in seinen Rücken zu erhäschen, wo sich die ärztliche Hülle in mächtigen Falten über den Sporen stauchte; dann setzten sie sich in Bewegung. Dr. Friedenthal bat, sich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen.
«Bis jetzt ist alles leidlich abgegangen!» flüsterte Stumm seinem Freunde zu. «Aber eigentlich interessiert mich das gar nicht; ich könnte ganz gut die Zeit nutzen, um mit dir über den heutigen Abend zu reden. Also gib acht, du hast gesagt, ich soll dir alles aufrichtig erzählen; das ist nämlich sehr einfach: Alle Welt rüstet.
Die Russen haben eine ganz neue Feldartillerie. Gibst du acht? Die Franzosen haben ihre Zweijährige Dienstzeit dazu benutzt, ihr Heer gewaltig auszubauen. Die Italiener -»
Sie waren die fürstlich-altmodische Treppe, die sie gekommen waren, wieder hinabgestiegen, hatten sich irgendwie zur Seite gewandt und befanden sich in einem Gewirr kleiner Zimmer und winkliger Gänge, deren weißgetünchte Balken aus der Decke hervorstanden. Es waren größtenteils Wirtschafts-und Kanzleiräume, die sie durchschritten, aber wegen des in dem alten Gebäude herrschenden Platzmangels hatten sie etwas Abseitiges und Düsteres. Unheimliche Personen, teils in Anstaltskleidung, teils in Zivil, bevölkerten sie. Auf einer Tür stand: «Aufnahme», auf der anderen: «Männer». Dem General versiegte die Rede. Er hatte ein Vorgefühl von Zwischenfällen, die jeden Augenblick entstehen könnten und durch ihre unvergleichliche Natur große Geistesgegenwart erforderten. Wider seinen Willen beschäftigte ihn auch die Frage, wie er sich zu verhalten hätte, wenn ihn ein unwiderstehliches Bedürfnis zwingen sollte sich abzusondern und er sodann allein und ohne sachverständige Begleitung an einem Ort, wo alle Menschen gleich sind, mit einem Geisteskranken zusammenstieße. Ciarisse dagegen ging immer einen halben Schritt vor Dr.
Friedenthal. Daß er gesagt hatte, sie müßten die weißen Mäntel tragen, um die Kranken nicht zu erschrecken, hob sie wie eine Schwimmweste in den Strömenden Eindrücken empor. Lieblingsgedanken beschäftigten sie. Nietzsche: «Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins? Das Verlangen nach dem Furchtbaren als dem würdigen Feind? Ist Wahnsinn vielleicht nicht notwendig ein Symptom der Entartung?» Sie dachte es nicht wörtlich, aber sie erinnerte sich im ganzen daran; ihre Gedanken hatten es zu einem ganz kleinen Paket zusammengepreßt und so wunderbar auf den kleinsten Raum gebracht wie das Einbruchswerkzeug eines 537
Räubers. Für sie war dieser Weg halb Philosophie und halb Ehebruch.
Dr. Friedenthal blieb vor einer eisernen Tür stehn und holte aus der Hosentasche einen Stechschlüssel hervor. Als er öffnete, drang blendende Helle auf die Wanderer ein, sie traten aus dem Schutz des Hauses, und im gleichen Augenblick vernahm Ciarisse einen gellenden und fürchterlichen Schrei, wie sie noch im Leben keinen gehört hatte. Trotz ihrer Tapferkeit zuckte sie zusammen.
«Bloß ein Pferd!» sagte Dr. Friedenthal und lächelte.
Wirklich befanden sie sich auf einem Stück Straße, das von der Anfahrt längs des Amtsgebäudes nach hinten zu dem Wirtschaftshof der Anstalt führte. Nichts unterschied es von anderen Straßenstücken mit alten Radspuren und gemütlichem Unkraut, und die Sonne brannte heiß darauf. Trotzdem waren auch alle anderen bis auf Friedenthal sonderbar davon überrascht, ja auf eine verdutzte und verworrene Weise darüber empört, daß sie sich auf einer gesunden und gewöhnlichen Straße befanden, nachdem sie schon einen langen abenteuerlichen Weg überstanden hatten. Die Freiheit hatte im ersten Augenblick etwas Befremdendes, wenn sie auch ungemein behaglich war, und man mußte sich zunächst wieder an sie gewöhnen. In Ciarisse, wo alle Zusammenstöße unvermittelter waren, zerklirrte die Spannung in ein lautes Kichern.
Dr. Friedenthal schritt lächelnd über die Straße voran und öffnete auf der gegenüberliegenden Seite ein kleines, schweres Eisentor, das in eine Parkmauer eingelassen war. «Jetzt kommt es erst!» sagte er sanft.
Und nun befanden sie sich wirklich in jener Welt, die Ciarisse schon wochenlang unbegreiflich angezogen hatte, und nicht nur mit dem Schauer des Unvergleichlichen und Abgeschlossenen, sondern so, als ob es ihr bestimmt wäre, dort etwas zu erleben, das sie sich vorher nicht vorstellen könne. Zunächst konnten die Eingetretenen aber in nichts diese Welt von einem großen alten Park unterscheiden, der in einer Richtung sanft anstieg und auf seiner Höhe zwischen Gruppen mächtiger Bäume kleine, weiße, villenartige Gebäude zeigte. Dahinter gab das Aufsteigen des Himmels den Vorgeschmack einer schönen Aussicht, und auf einem dieser Aussichtspunkte bemerkte Ciarisse Kranke mit Wärtern, die in Gruppen standen und saßen und wie weiße Engel aussahen. General von Stumm hielt den Zeitpunkt für geeignet, das Gespräch mit Ulrich wieder aufzunehmen. «Also ich möchte dich noch auf heute abend vorbereiten» begann er. «Die Italiener, die Russen, die Franzosen und dann auch die Engländer, du verstehst, die rüsten alle, und wir —»
«Ihr wollt eure Artillerie haben, das weiß ich doch schon» unterbrach ihn Ulrich.
«Auch!» fuhr der General fort. «Aber wenn du mich nie ausreden läßt, werden wir gleich wieder bei den Narren sein und nicht in Ruhe sprechen können. Ich habe sagen wollen, wir sitzen in der Mitte und befinden uns in einer militärisch sehr gefährlichen Position. Und in dieser Lage verlangt man nun bei uns - jetzt rede ich von der patriotischen Aktion -nichts als menschliche Güte!»
«Und da seid ihr dagegen! Das habe ich schon begriffen. » «Aber im Gegenteil!» beteuerte von Stumm.
«Wir sind nicht dagegen! Wir nehmen den Pazifismus sehr ernst! Nur möchten wir unsere Artillerievorlage durchbringen. Und wenn wir das sozusagen Hand in Hand mit dem Pazifismus tun könnten, so wären wir am besten vor allen imperialistischen Mißverständnissen geschützt, die gleich behaupten, daß man den Frieden stört! Ich geb dir also zu, daß wir mit der Drangsal tatsächlich ein wenig unter einer Decke stecken.
Aber andrerseits muß man das mit Vorsicht tun; denn andrerseits ist ja ihre Gegenpartei, die nationalistische Strömung, die wir jetzt auch in der Aktion haben, gegen den Pazifismus, aber für militärische Ertüchtigung!»
Der General kam nicht zu Ende und mußte die Fortsetzung mit einem bitteren Gesicht hinunterschlucken, denn sie waren beinahe auf die Höhe gelangt und Dr. Friedenthal wartete auf seine Schar. Der Platz der Engel erwies sich als leicht umgittert, und der Führer durchschritt ihn, ohne ihm Bedeutung zu geben, als ein bloßes Vorspiel. «Eine Friedliche Abteilung>» erläuterte der Arzt.
Es waren nur Frauen darin; sie hatten das Haar offen auf die Schultern fallen, und ihre Gesichter waren abstoßend, mit fetten, verwachsenen, weichen Zügen. Eines dieser Weiber kam sofort zu dem Arzt gelaufen und drängte ihm einen Brief auf. «Es ist immer die gleiche Sache» erläuterte Friedenthal und las vor:
«Adolf, Geliebter! Wann kommst du?! Hast du mich vergessen?!» Die etwa sechzigjährige Alte stand mit stumpfem Antlitz daneben und hörte zu. «Du beförderst ihn doch gleich?!» bat sie. «Gewiß!» versprach Dr.
Friedenthal, zerriß den Brief noch vor ihren Augen und lächelte der Aufsichtsschwester zu. Ciarisse stellte ihn sofort zur Rede: «Wie können Sie das tun?!» sagte sie. «Man muß die Kranken ernst nehmen!»
«Kommen Sie!» erwiderte Friedenthal. «Es lohnt nicht, daß wir hier unsere Zeit verlieren. Wenn Sie wollen, 538
zeige ich Ihnen nachher hunderte solcher Briefe. Sie haben doch bemerkt, daß es die Alte gar nicht berührt hat, als ich den Brief zerriß. »
Ciarisse war verdutzt, denn was Friedenthal sagte, war richtig, aber es störte ihre Gedanken. Und ehe sie diese ordnen konnte, wurden sie noch einmal gestört, denn im Augenblick, wo sie den Platz verließen, hob eine andere Alte, die dort gelauert hatte, ihren Kittel hoch und zeigte den vorbeigehenden Herren über den groben Woll-Strümpfen ihre häßlichen Altweiberschenkel bis zum Bauch.
«So eine alte Sau!» sagte halblaut Stumm von Bordwehr und vergaß empört und angeekelt für eine Weile die Politik.
Ciarisse aber hatte entdeckt, daß das Bein dem Gesicht ähnlich sah. Es zeigte wahrscheinlich die gleichen Stigmata des fetten körperlichen Verfalls wie dieses, doch in Ciarisse entstand daraus zum ersten Mal der Eindruck fremdartiger Zusammenhänge und einer Welt, in der es anders zugehe, als man es mit den gewöhnlichen Begriffen erfassen könne. In diesem Augenblick fiel ihr auch ein, daß sie die Verwandlung der weißen Engel in diese Weiber nicht wahrgenommen, ja obwohl sie mitten hindurchging, nicht einmal unterschieden habe, welche von ihnen Kranke und welche Wärterinnen seien. Sie wandte sich um und blickte zurück, konnte aber, weil sich der Weg um ein Haus gebogen hatte, nichts mehr sehen und stolperte wie ein Kind, das den Kopf abwendet, hinter ihren Begleitern weiter. Aus der Folge von Eindrücken, die damit begannen, bildete sich nun nicht mehr der durchsichtig strömende Bach von Geschehnissen, als den man das Leben hinnimmt, sondern ein schaumiges Wirbeln, aus dem sich bloß gelegentlich glatte Flächen hervorhoben und im Gedächtnis verharrten.
«Gleichfalls eine <Ruhige Abteilung>. Diesmal für Männer» erläuterte Dr. Friedenthal, der an der Pforte des Hauses seine Gefolgschaft sammelte, und als sie vor dem ersten Krankenbett haltmachten, stellte er seinen Insassen den Besuchern mit höflich gedämpfter Stimme als «Depressive Dementia paralytica» vor.
«Ein alter Syphilitiker. Ver-sündigungs-und nihilistische Wahnideen» flüsterte Siegmund, das Wort erklärend, seiner Schwester zu. Ciarisse befand sich einem alten Herrn gegenüber, der allem Anschein nach einst der höheren Gesellschaft angehört hatte. Er saß aufrecht im Bett, mochte Ende der Fünfzig sein und hatte eine sehr weiße Gesichtshaut. Ebenso weißes, reiches Haar umrahmte sein gepflegtes und durchgeistigtes Antlitz, das so unwahrscheinlich edel aussah, wie man es nur in den schlechtesten Romanen beschrieben liest. «Kann man den nicht malen lassen?» fragte Stumm von Bordwehr. «Die leibhaftige Geistesschönheit: das Bild möchte ich deiner Kusine schenken!» erklärte er Ulrich. Dr. Friedenthal lächelte schwermütig dazu und erläuterte: «Der edle Ausdruck kommt vom Nachlassen der Spannung in den Gesichtsmuskeln. » Dann zeigte er den Besuchern mit einer flüchtigen Handbewegung noch die reflektorische Pupillenstarre und führte sie weiter. Die Zeit war knapp bei der Fülle des Materials. Der alte Herr, der schwermütig zu allem genickt hatte, was an seinem Bett gesprochen wurde, antwortete noch leise und bekümmert, als die fünf schon einige Betten weiter beim nächsten Fall haltmachten, den Friedenthal ausersehen hatte.
Diesmal war es einer, der selbst der Kunst oblag, ein fröhlicher dicker Maler, dessen Bett nahe beim hellen Fenster stand; er hatte Papier und viele Bleistifte auf seiner Decke liegen und beschäftigte sich damit den ganzen Tag. Was Ciarisse gleich auffiel, war die heitere Ruhelosigkeit dieser Bewegung. «So sollte Walter malen!» dachte sie. Friedenthal, der ihre Anteilnahme gewahrte, entwendete dem Dicken rasch ein Blatt und reichte es Ciarisse; der Maler kicherte und gehabte sich wie ein Weibsbild, das man gekniffen hat.
Ciarisse sah aber zu ihrer Überraschung einen vollendet sicher gezeichneten, durchaus sinnvollen, ja im Sinn sogar banalen Entwurf zu einem großen Gemälde vor sich, mit vielen perspektivisch ineinander verwickelten Figuren und einem Saal, dessen Anblick peinlich genau ausgeführt war, so daß das Ganze derart gesund und professoral wirkte, als käme es aus der Staatsakademie. «Überraschend gekonnt!» rief sie unwillkürlich aus.
Friedenthal aber lächelte geschmeichelt.
«Etsch!» rief ihm trotzdem der Maler zu. «Siehst du, dem Herrn gefällt es! Zeig ihm doch mehr!
Überraschend gut hat er gesagt! Zeig ihm nur! Ich weiß schon, du lachst bloß über mich, aber ihm gefällt es!» Er sagte das gemütlich und schien mit dem Arzt, dem er nun auch seine anderen Bilder hinhielt, auf gutem Fuß zu stehn, obwohl dieser seine Kunst nicht würdigte.
«Wir haben heute keine Zeit für dich» erwiderte ihm Friedenthal, und zu Ciarisse gewandt, faßte er seine Kritik in die Worte: «Er ist nicht schizophren; leider haben wir im Augenblick keinen ändern, das sind oft 539
große, ganz moderne Künstler. »
«Und krank?» zweifelte Ciarisse.
«Weshalb nicht?» erwiderte Friedenthal schwermütig.
Ciarisse biß die Lippe.
Indessen standen Stumm und Ulrich schon an der Schwelle des nächsten Raums, und der General sagte:
«Wenn ich das seh, tut es mir wirklich leid, daß ich meine Ordonnanz vorhin einen Trottel geschimpft hab; ich will es auch nie wieder tun!» Sie blickten nämlich in ein Zimmer mit schweren Idioten.
Ciarisse sah es noch nicht und dachte: «Sogar eine so ehrbare und anerkannte Kunst wie die akademische hat also ihre verleugnete, beraubte, dennoch zum Verwechseln ähnliche Schwester im Irrenhaus?!» Es machte ihr beinahe mehr Eindruck als die Bemerkung Friedenthals, daß er ihr ein andermal expressionistische Künstler zeigen könne. Aber sie nahm sich vor, auch darauf zurückzukommen. Sie hatte den Kopf gesenkt und biß immer noch auf ihre Lippe. Da stimmte etwas nicht. Es erschien ihr offenkundig falsch, so begabte Menschen einzusperren; die Ärzte verstünden ja wohl die Krankheiten, dachte sie, aber wahrscheinlich doch nicht in ihrer ganzen Tragweite die Kunst. Sie hatte das Gefühl, daß da etwas geschehen müsse. Aber es wollte ihr noch nicht klar werden was. Doch verlor sie nicht die Zuversicht, denn der dicke Maler hatte sie gleich als «Herr» angesprochen: das kam ihr als ein gutes Zeichen vor. Friedenthal betrachtete sie mit Neugierde. Als sie seinen Blick fühlte, sah sie mit ihrem schmalen Lächeln auf und ging zu ihm, aber ehe sie etwas sagen konnte, löschte ein furchtbarer Eindruck alle Überlegung aus. In ihren Betten hing und saß in dem neuen Zimmer eine Reihe des Grauens. Alles an den Körpern schief, unsauber, verbildet oder gelähmt. Entartete Gebisse. Wackelnde Köpfe. Zu große, zu kleine und ganz verwachsene Köpfe. Schlaff herabhängende Kiefer, aus denen Speichel troff, oder tierisch malmende Bewegungen des Mundes, in dem weder Speise noch Wort war. Meterdicke Bleibarren schienen zwischen diesen Seelen und der Welt zu liegen, und nach dem leisen Lachen und Schwirren in dem ändern Zimmer fiel auch ins Ohr ein dumpfes Schweigen, in dem es nur dunkel grunzende und murrende Laute gab. Solche Säle mit Idioten hohen Grades gehören zu den erschütterndsten Eindrücken, die man in der Häßlichkeit des Irrenhauses findet, und Ciarisse fühlte sich einfach in ein völliges grauenvolles Schwarz gestürzt, darin nichts mehr zu unterscheiden war.
Der Führer Friedenthal aber sah auch im Dunklen, und auf verschiedene Betten weisend, erklärte er: «Das ist Idiotie, und das hier ist Kretinismus. »
Stumm von Bordwehr horchte auf: «Ein Kretin und ein Idiot sind nicht dasselbe?!» fragte er.
«Nein, das ist medizinisch etwas Verschiedenes» belehrte ihn der Arzt.
«Interessant» sagte Stumm. «Auf so etwas kommt man im gewöhnlichen Leben gar nicht!»
Ciarisse ging von Bett zu Bett. Sie bohrte ihre Augen in die Kranken und strengte sie aufs äußerste an, ohne von diesen Gesichtern, die von ihr nicht Kenntnis nahmen, auch nur das Geringste zu verstehn. Alle Einbildungen erloschen daran. Dr. Friedenthal folgte ihr leise und erklärte: «Amaurotische familiäre Idiotie». «Tuberose hypertrophische Sklerose». «Idiotia thymica»…
Der General, der inzwischen genug von den «Trotteln» gesehen zu haben vermeinte und das gleiche von Ulrich voraussetzte, blickte auf die Uhr und sagte: «Wo sind wir denn eigentlich stehen geblieben? Wir müssen die Zeit ausnutzen!» Und etwas unvermutet fing er an: «Also erinnere dich, bitte: Das Kriegsministerium gewahrt auf seiner einen Seite die Pazifisten und auf der ändern die Nationalisten - »
Ulrich, der sich nicht so gelenkig wie er von der Bindung an die Umgebung loslösen konnte, sah ihn ohne Verständnis an.
«Aber ich mach doch keine Witze!» erklärte Stumm. «Das ist Politik, was ich rede! Es muß etwas geschehn.
Dabei sind wir doch schon einmal stehen geblieben. Wenn nicht bald etwas geschieht, kommt der Geburtstag vom Kaiser, und wir sind blamiert. Aber was soll geschehn? Diese Frage ist logisch, nicht wahr?
Und wenn ich das jetzt etwas grob zusammenfasse, was ich dir alles schon gesagt hab, so verlangen die einen von uns, wir sollen ihnen helfen, alle Menschen zu lieben, und die zweiten, wir sollen ihnen erlauben, die ändern zu kujonieren, damit das edlere Blut siegt, oder wie man das nennen will. Beides hat etwas für sich. Und darum solltest du es, kurz gesagt, irgendwie vereinen, damit kein Schaden entsteht!»
«Ich?» verwahrte sich Ulrich, nachdem sein Freund dergestalt seine Bombe platzen ließ, und würde ihn ausgelacht haben, wenn es der Ort gestattet hätte.
«Natürlich du!» erwiderte der General fest. «Ich will dir gern beistehn, aber du bist der Sekretär der Aktion 540
und die rechte Hand vom Leinsdorf!»
«Ich werde dir hier eine Unterkunft besorgen!» erklärte Ulrich entschieden.
«Schön!» meinte der General, der aus der Kriegskunst wußte, daß man einem unerwarteten Widerstand am besten ausweiche, ohne sich bestürzt zu zeigen. «Wenn du mir hier einen Platz besorgst, lerne ich vielleicht doch jemand kennen, der die größte Idee von der Welt erfunden hat. Draußen haben sie ohnehin keine Freude mehr an den großen Gedanken. » Er sah wieder nach der Uhr. «Da soll es doch welche geben, die der Papst sind oder das Weltall, erzählt man: von denen haben wir noch keinen einzigen gesehn, und gerade auf die habe ich mich gefreut! Deine Freundin ist furchtbar gründlich» klagte er.
Dr. Friedenthal löste Ciarisse vorsichtig von dem Anblick-der Oligophrenen los.
Die Hölle ist nicht interessant, sie ist furchtbar. Wenn man sie nicht humanisiert hat - wie Dante, der sie mit Literaten und Prominenten bevölkerte und dadurch die Aufmerksamkeit vom Straftechnischen ablenkte -
sondern versucht hat, eine ursprüngliche Vorstellung von ihr zu geben, sind selbst die phantasievollsten Menschen nicht über läppische Qualen und gedankenarme Verrenkungen irdischer Eigenheiten hinausgekommen. Aber gerade der leere Gedanke der unvorstellbaren und darum unabwendbaren unendlichen Strafe und Qual, die Voraussetzung einer für alle Gegenanstrengungen unempfindlichen Veränderung zum Schlechten, hat die Anziehung eines Abgrunds. So sind auch Irrenhäuser. Sie sind Armenhäuser. Sie haben etwas von der Phantasielosigkeit der Hölle. Aber viele Menschen, die in die Ursachen von Geisteskrankheiten keinen Einblick haben, fürchten nebst der Möglichkeit, daß sie ihr Geld verlieren könnten, keine andere so sehr wie die, daß sie eines Tags den Verstand verlieren könnten; und es ist merkwürdig, wie zahlreich diese Menschen sind, die von der Vorstellung geplagt werden, sie könnten sich plötzlich verlieren. Aus der Überschätzung dessen, was sie von sich haben, folgt wahrscheinlich die Überschätzung der Schauer, von denen sich die Gesunden die Häuser der Kranken umgeben denken. Auch Ciarisse litt etwas unter einer leichten Enttäuschung, die von einer unbestimmten, mit ihrer Erziehung aufgenommenen Erwartung kam. Das war bei Dr. Friedenthal umgekehrt. Er war diesen Weg gewohnt.
Ordnung wie in einer Kaserne oder jeder anderen Massenanstalt, Linderung vordringlicher Schmerzen und Beschwerden, Bewahrung vor vermeidlichen Verschlimmerungen, ein wenig Besserung oder Heilung: das waren die Elemente seines täglichen Tuns. Viel beobachten, viel wissen, aber ohne eine ausreichende Erklärung der Zusammenhänge zu besitzen, war sein geistiges Teil. Auf dem Rundgang durch die Häuser, außer den Arzneien gegen Husten, Schnupfen, Verstopfung und Wunden, ein paar Beruhigungsmittel zu verordnen, seine tägliche Heilarbeit. Er empfand die spukhafte Verruchtheit der Welt, in der er lebte, nur noch dann, wenn durch eine Berührung mit der gewöhnlichen der Gegensatz geweckt wurde; man kann es nicht täglich, aber Besuche sind solche Gelegenheiten, und darum war das, was Ciarisse zu sehen bekam, nicht ohne eine Art Gefühl für Spielleitung aufgebaut und setzte sich, nachdem er sie aus ihrer Versunkenheit geweckt hatte, sogleich wieder mit etwas Neuem und gesteigert Dramatischem fort. Denn kaum da sie den Raum verlassen hatten, schlössen sich ihnen mehrere große Männer mit fleischigen Schultern, freundlichen Feldwebelgesichtern und sauberen Kitteln an. Es geschah so stumm, daß es wie ein Trommelwirbel wirkte. «Jetzt kommt eine unruhige Abteilung» kündigte Friedenthal an, und schon begannen sie sich auch einem Schreien und Schnattern zu nähern, das aus einem ungeheuren Vogelkäfig zu dringen schien. Als sie vor der Türe standen, zeigte diese keine Klinke, aber einer der Wärter öffnete sie mit einem Stecher, und Ciarisse schickte sich an, wie sie es bisher getan hatte, als erste einzutreten; aber jäh riß sie Dr. Friedenthal zurück. «Hier heißt es warten!» sagte er, ohne sich zu entschuldigen, bedeutungsvoll und müd. Der Wärter, der die Tür aufschloß, hatte sie nur zu einem schmalen Spalt geöffnet, den sein mächtiger Körper verdeckte, und nachdem er in das Innere zuerst gelauscht, dann gespäht hatte, schob er sich eilig hinein, und ein zweiter Wärter folgte ihm, der auf der ändern Seite des Eingangs Stellung bezog.
Ciarisse begann das Herz zu klopfen. Der General sagte anerkennend: «Vorhut, Nachhut, Flankendeckung!» Und so gedeckt, traten sie ein und wurden von den Wärterriesen von Bett zu Bett gebracht. Was in den Betten saß, flatterte, aufgeregt und schreiend, mit Armen und Augen; es machte den Eindruck, daß jeder in einen Raum hineinschreie, der nur für ihn da sei, und doch schienen alle in einer tobenden Konversation begriffen zu sein, wie fremde, in einen gemeinsamen Käfig gesperrte Vögel, von denen jeder die Sprache eines ändern Eilands spricht. Manche saßen frei, und manche waren mit Schlingen an den Bettrand gefesselt, die den Händen nur wenig Spielraum ließen. «Wegen Selbstmordgefahr» erläuterte der Arzt und nannte die Krankheiten: Paralyse, Paranoia, Dementia praecox und andere waren die 541
Rassen, denen diese fremden Vögel angehörten.
Ciarisse fühlte sich anfangs von dem verworrenen Eindruck wieder eingeschüchtert und fand keinen Halt.
Und da war es auch wie ein freundliches Zeichen, daß ihr schon von ferne einer lebhaft winkte und ihr Worte entgegenschrie, als sie noch durch viele Betten von ihm getrennt war. Er fuhr in dem seinen hin und her, als wollte er sich verzweifelt befreien, um ihr entgegenzueilen, übertrumpfte den Chor mit seinen Anklagen und Zornausbrüchen und zog Clarissens Aufmerksamkeit immer stärker an sich. Je näher sie ihm kam, desto mehr beunruhigte sie der Eindruck, daß er bloß zu ihr zu sprechen schien, während sie in keiner Weise zu verstehen vermochte, was er ihr ausdrücken wolle. Als sie endlich bei ihm waren, erzählte der Oberwärter dem Arzt etwas so leise, daß Ciarisse es nicht verstand, und Friedenthal traf irgendeine Anordnung mit sehr ernstem Gesicht. Dann aber machte er sich einen Scherz und sprach den Kranken an.
Der Irre erwiderte nicht gleich darauf, aber plötzlich fragte er: «Wer ist der Herr?» und gab durch eine Bewegung zu verstehen, daß er Ciarisse meine. Friedenthal wies auf ihren Bruder und antwortete, dieser sei ein Arzt aus Stockholm. «Nein, dieser!» entgegnete der Kranke und beharrte auf Ciarisse. Friedenthal lächelte und behauptete, das sei eine Ärztin aus Wien. «Nein. Das ist ein Herr» widersprach der Kranke und.
schwieg. Ciarisse fühlte ihr Herz schlagen. Auch der hielt sie also für einen Mann!
Da sagte der Kranke langsam: «Das ist der siebente Sohn des Kaisers. »
Stumm von Bordwehr stieß Ulrich an.
«Das ist nicht wahr» gab Friedenthal zur Antwort und setzte das Spiel fort, indem er sich an Ciarisse mit der Aufforderung wandte: «Sagen Sie ihm doch selbst, daß er sich irrt. »
«Es ist nicht wahr, mein Freund» sprach Ciarisse leise, die vor Aufregung kaum ein Wort hervorbringen konnte, den Kranken an.
«Du bist doch der siebente Sohn!» gab er hartnäckig zurück.
«Nein, nein» versicherte Ciarisse und lächelte ihm vor Erregung zu, wie in einer Liebesszene mit Lippen, die vor Lampenfieber ganz steif waren.
«Du bist es!» wiederholte der Kranke und sah sie mit einem Blick an, für den sie keine Bezeichnung wußte.
Es fiel ihr ganz und gar nichts ein, was sie noch antworten könnte, sie sah hilflos freundlich dem Irren in die Augen, der sie für einen Prinzen hielt, und lächelte immer weiter. In ihr ging dabei etwas Merkwürdiges vor sich: es bildete sich die Möglichkeit, ihm recht zu geben. Es löste sich unter dem Druck seiner wiederholten Behauptung etwas in ihr auf, sie verlor in irgendetwas die Herrschaft über ihre Gedanken, und neue Zusammenhänge bildeten sich, die ihre Umrisse aus Nebeln hervorstreckten: er war nicht der erste, der wissen wollte, wer sie sei, und sie für einen «Herrn» hielt. Aber während sie ihm noch, in diese sonderbare Verbundenheit verfangen, ins Gesicht blickte, von dessen Alter sie sich ebensowenig Rechenschaft gab wie von den anderen Resten des freien Lebens, die noch darin ausgeprägt waren, ging in dem Gesicht und an dem ganzen Menschen etwas gänzlich Unverständliches vor sich. Es sah aus, als würde ihr Blick plötzlich zu schwer für die Augen, auf denen er ruhte, denn in diesen begann ein Gleiten und Fallen. Aber auch die Lippen gerieten in eine lebhafte Bewegung, und wie dicke Tropfen, die immer dichter zusammenflössen, mischten sich in ein flüchtiges Geschnatter vernehmliche Unzüchtigkeiten. Ciarisse war von dieser abgleitenden Verwandlung so bestürzt, als entglitte ihr selbst etwas, und machte unwillkürlich eine Bewegung mit beiden Armen zu dem Unseligen hin; und ehe es noch jemand hinderte, sprang ihr da auch der Kranke entgegen: er warf seine Decke ab, kniete im gleichen Augenblick am Bettende und bearbeitete mit der Hand sein Glied, wie Affen in Gefangenschaft masturbieren. «Treib keine Schweinereien!» sagte rasch und streng der Arzt, und im gleichen Augenblick packten die Wärter den Mann und die Decken und machten im Nu ein reglos liegenbleibendes Bündel aus beiden. Aber Ciarisse war dunkelrot geworden; ihr war so wirr wie in einem Lift, wenn man plötzlich das Gefühl unter den Füßen verliert. Es kam ihr plötzlich vor, daß alle Kranken, an denen sie schon vorbeigekommen war, hinter ihr drein schrien, und die anderen, die sie noch nicht besucht hatte, ihr entgegenschrien. Und der Zufall wollte es, oder die ansteckende Kraft der Erregung, daß auch der Nächste, ein freundlicher Alter, der gutmütige Witzchen zu den Besuchern gemacht hatte, als sie noch nebenan standen, in dem Augenblick, wo Ciarisse an ihm vorbeieilte, aufsprang und zu schimpfen begann, mit unflätigen Worten, die einen widerlichen Schaum vor seinem Mund bildeten.
Auch ihn faßten die Fäuste der Wärter wie schwere Stempel, die jeden Widerstand zermalmen.
Aber der Zauberkünstler Friedenthal verstand seine Darbietungen noch zu steigern. Von den Begleitern ebenso wie beim Eintritt gesichert, verließen sie den Saal an seinem anderen Ende, und mit einemmal 542
schien das Ohr in sanfte Stille zu tauchen. Sie befanden sich in einem sauberen, mit Linoleum belegten, freundlichen Gang und trafen auf sonntäglich aussehende Menschen und hübsche Kinder, die voll Vertrauen und Höflichkeit den Arzt grüßten. Es waren Besucher, die hier darauf warteten, zu ihren Angehörigen vorgelassen zu werden, und wieder war der Eindruck der gesunden Welt ein sehr befremdlicher; diese sich bescheiden und höflich verhaltenden Menschen in ihren besten Kleidern wirkten im ersten Augenblick wie Puppen oder sehr gut nachgemachte, künstliche Blumen. Friedenthal schritt aber rasch hindurch und kündigte seinen Freunden an, daß er sie nun in eine Versammlung von Mördern und ähnlich schwer verbrecherischen Irren führen wolle. Vorsicht und Mienen der Begleiter, als sie bald danach vor einem neuen Eisentor standen, verhießen denn auch Schlimmes. Sie traten in einen abgeschlossenen Hof, der von einer Galerie umzogen war und einem der modernen Kunstgärten glich, wo es viele Steine und wenig Pflanzen gibt. Wie ein Würfel aus Schweigen stand zunächst die leere Luft darin; erst nach einer Weile entdeckte man Menschen, die stumm an den Wänden saßen. Nahe dem Eingang kauerten idiotische Jungen, rotzig, unsauber und regungslos, als ob sie ein grotesker Bild-hauereinfall an den Pfeilern des Tors angebracht hätte. Neben ihnen saß, als erster an der Wand und von den weiteren abgerückt, ein einfacher Mann, noch in seiner dunklen Sonntagskleidung, nur ohne Kragen; er mußte erst vor kurzem eingeliefert worden sein und war in seinem Nirgendhingehören unsagbar rührend. Ciarisse stellte sich plötzlich den Schmerz vor, den sie Walter zufügen würde, wenn sie ihn verließe, und weinte beinahe darüber. Zum erstenmal geschah ihr das, aber sie kam rasch darüber hinweg, denn die ändern, an denen sie vorbeigeführt wurde, machten bloß jenen Eindruck der schweigenden Gewöhnung, den man in Gefängnissen kennt; sie grüßten scheu und höflich und trugen kleine Bitten vor. Bloß einer von ihnen, ein junger Mensch, wurde aufdringlich und begann sich zu beschweren; Gott allein wußte, aus welcher Vergessenheit er auftauchte.
Er verlangte vom Arzt, hinausgelassen zu werden und Auskunft, warum er hier wäre, und als dieser ausweichend entgegnete, daß nicht er, sondern nur der Direktor darüber entscheide, ließ der Frager nicht nach; seine Bitten begannen sich wie eine immer rascher ablaufende Kette zu wiederholen, und allmählich kam der Ton des Bedrängens in seine Stimme, steigerte sich zur Drohung und schließlich zur tierhaft-wissenlosen Gefährdung. Als er so weit gekommen war, drückten ihn die Riesen auf die Bank nieder, und er kroch stumm wie ein Hund in sein Schweigen zurück, ohne Antwort erhalten zu haben.
Ciarisse kannte das nun schon, und es ging bloß in die allgemeine Aufregung ein, die sie fühlte.
Sie hatte auch zu anderem keine Zeit, denn am Ende des Hofes war eine zweite Panzertür, und an diese pochten nun die Wärter. Das war etwas Neues, da sie bisher die Türen bloß mit Vorsicht, aber ohne Ankündigung geöffnet hatten. An dieses Tor schlugen sie dagegen viermal mit der Faust und lauschten auf die herausdringende Unruhe. «Auf dieses Zeichen müssen sich alle, die drinnen sind, an den Wänden aufstellen» erläuterte Friedenthal «oder auf die Bänke setzen, die an den Wänden entlanglaufen. » Und wirklich, als sich die Tür langsam, Grad für Grad, drehte, zeigte sich, daß alle, die vorher teils stumm, teils lärmend durcheinandergekreist waren, wie wohlgedrillte Sträflinge gehorcht hatten. Und trotzdem wandten die Wärter beim Eintritt noch solche Vorsicht an, daß Ciarisse plötzlich Dr. Friedenthal am Ärmel faßte und erregt fragte, ob Moosbrugger dabei sei. Friedenthal schüttelte stumm den Kopf. Er hatte keine Zeit. Er schärfte den Besuchern eilig ein, daß sie mindestens zwei Schritte Abstand von jedem Kranken zu halten hätten. Die Verantwortung für das Unternehmen schien ihn doch etwas zu bedrücken. Sie waren sieben gegen dreißig; in einem weltfernen, ummauerten, nur von Irren bewohnten Hof, von denen fast alle schon einen Mord begangen hatten. Menschen, die gewohnt sind, eine Wehr zu tragen, fühlen sich ohne das unsicherer als andere: es trifft darum auch den General, der seinen Säbel im Wartezimmer zurückgelassen hatte, kein Vorwurf, daß er den Arzt fragte: «Tragen Sie eigentlich eine Waffe bei sich?» «Aufmerksamkeit und Erfahrung!» erwiderte Friedenthal, dem diese schmeichelhafte Frage willkommen war. «Es kommt alles darauf an, jede Auflehnung schon im Keim zu ersticken. »
Und wirklich, sobald einer auch nur die kleinste Bewegung aus der Reihe zu machen versuchte, stürzten sich schon die Wärter auf ihn und drückten ihn so schnell auf seinen Platz nieder, daß diese Überfälle als die einzigen Gewalttaten erschienen, die sich ereigneten. Ciarisse war nicht einverstanden mit ihnen. «Was die Ärzte vielleicht nicht verstehn, » sagte sie sich «ist, daß diese Menschen doch, obwohl sie hier den ganzen Tag ohne Aufsicht zusammengesperrt sind, einander nichts tun; und nur uns, die wir aus der ihnen fremden Welt kommen, sind sie gefährlich!» Und sie wollte einen ansprechen; sie stellte sich mit einemmal vor, ihr müßte es gelingen, sich mit ihm in der rechten Weise zu verständigen. Gleich bei der Tür stand einer in der 543
Ecke, es war ein kräftiger mittelgroßer Mann mit einem braunen Vollbart und stechenden Augen; er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand, schwieg und sah dem Treiben der Besucher böse zu. Ciarisse trat ihn an; aber im gleichen Augenblick legte Dr. Friedenthal seine Hand auf ihren Arm und hielt sie zurück.
«Nicht diesen» sagte er halblaut. Er suchte Ciarisse einen anderen Mörder aus und sprach ihn an. Das war ein kleiner Untersetzter mit einem kahl geschorenen spitzen Sträflingsschädel, den der Arzt wohl als umgänglich kannte, denn der Angesprochene stand sofort stramm vor ihm und zeigte, dienstwillig antwortend, zwei Zahnreihen, die in einer bedenklichen Weise an zwei Reihen Grabsteine erinnerten.
«Fragen Sie ihn doch einmal, warum er hier ist» flüsterte Dr. Friedenthal Clarissens Bruder zu, und Siegmund fragte den breitschulterigen Spitzkopf: «Warum bist du hier?»
«Das weißt du sehr gut!» war die knappe Antwort.
«Ich weiß es nicht» versetzte Siegmund, der nicht gleich locker lassen wollte, ziemlich albern. «Also sag schon, warum bist du hier?!»
«Das weißt du sehr gut!!» wiederholte sich die Antwort mit verstärktem Nachdruck.
«Warum bist du unhöflich gegen mich?» fragte Siegmund. «Ich weiß es wirklich nicht!»
«Dieses Lügen!» dachte Ciarisse, und sie freute sich darüber, daß der Kranke einfach erwiderte: «Weil ich will!! Ich kann tun was ich will!!!» wiederholte er und fletschte die Zähne.
«Aber man soll doch nicht ohne Grund unhöflich sein!» wiederholte der unselige Siegmund, dem eigentlich auch nicht mehr einfiel als dem Irren.
Ciarisse war wütend auf ihn, der die dumme Rolle eines Menschen spielte, der in einem Tierpark ein gefangenes Tier reizt.
«Das geht dich nichts an! Ich tue, was ich will, verstehst du?! Was ich will!!» ranzte der Geisteskranke wie ein Unteroffizier und lachte mit irgend etwas in seinem Gesicht, aber weder mit Mund noch Augen, die beide vielmehr voll unheimlichen Zorns waren.
Selbst Ulrich dachte: «Ich möchte mit dem Kerl jetzt nicht allein sein. » Siegmund hatte es schwer, auf seinem Platz auszuharren, da der Irre nahe an ihn herangetreten war, und Ciarisse wünschte, daß dieser ihren Bruder an der Kehle packen und ins Gesicht beißen möge. Friedenthal ließ mit Befriedigung den Auftritt sich entwickeln, denn einem ärztlichen Kollegen durfte er doch wohl etwas zumuten, und er hatte seinen Genuß an dessen Verlegenheit. Er ließ es meisterlich bis auf den höchsten Punkt kommen und setzte erst, als der Kollege kein Wort mehr hervorbrachte, dazu an, das Zeichen zum Abbruch zu geben. Aber da war wieder dieser Wunsch in Ciarisse, sich einzumengen! Irgendwie war er mit dem Trommeln der Antworten immer heftiger geworden, sie konnte plötzlich nicht mehr an sich halten, trat dem Kranken entgegen und sagte: «Ich komme von Wien!» Das war nun sinnlos wie ein beliebiger Laut, den man einer Trompete entlockt. Sie wußte weder, was sie damit wolle, noch wie es ihr eingefallen sei, noch hatte sie sich gefragt, ob der Mann wisse, in welcher Stadt er sich befinde, und wenn er es wußte, so war ihre Bemerkung wohl erst recht sinnlos. Aber sie fühlte eine große Zuversicht dabei. Und wirklich geschehen zuweilen noch Wunder, wenn auch mit Vorliebe in Irrenhäusern: als sie das sagte und in Erregung flammend vor dem Mörder stand, ging plötzlich ein Glanz über ihn; seine Steinbrecherzähne zogen sich unter die Lippen zurück, und über den stechenden Blick breitete sich Wohlwollen. «Oh, das goldene Wien!
Eine schöne Stadt!» sagte er mit dem Ehrgeiz des früheren Mittelständlers, der seine Phrasen kennt, wie sie sich gehören.
«Ich gratuliere Ihnen!» sagte Dr. Friedenthal lachend.
Aber für Ciarisse war dieser Auftritt sehr wichtig geworden.
«Und nun wollen wir zu Moosbrugger gehn!» sagte Friedenthal.
Es kam jedoch nicht mehr dazu. Sie zogen vorsichtig aus den beiden Höfen wieder hinaus und strebten auf der Höhe des Parks einem anscheinend entlegenen Pavillon zu, als von irgendwo ein Wärter auf sie zugelaufen kam, der den Eindruck machte, schon lange nach ihnen gesucht zu haben. Er trat an Friedenthal heran und überbrachte ihm flüsternden Tons eine längere Meldung, die nach der Miene des Arztes, der sie zuweilen mit Fragen unterbrach, wichtig und unangenehm sein mußte. Und Friedenthal trat mit einer ernsten und bedauernden Gebärde zu den Wartenden zurück, ihnen mitzuteilen, daß ihn ein Zwischenfall in einer der Abteilungen rufe, dessen Ende nicht abzusehen sei, so daß er leider die Führung abbrechen müsse.
Er wandte sich damit in erster Linie an die Respektsperson in der unter dem ärztlichen Kittel steckenden Generalsuniform; aber Stumm von Bordwehr erklärte dankbar, daß er von der hervorragenden Disziplin 544
und Ordnung der Anstalt ohnehin schon genug gesehen habe und daß es nach dem Erlebten auf einen Mörder mehr schließlich nicht ankäme. Ciarisse dagegen zeigte ein so enttäuschtes und bestürztes Gesicht, daß Friedenthal den Vorschlag hinzufügte, den Besuch bei Moosbrugger und einiges andere nachzuholen und Siegmund telephonisch zu verständigen, sobald sich ein Tag dafür bestimmen ließe. «Sehr scharmant von Ihnen, » dankte der General für alle «nur weiß ich für meine Person wirklich nicht, ob mir meine anderen Aufgaben gestatten werden, dabei zu sein. »
Mit diesem Vorbehalt blieb es bei der Verabredung, und Friedenthal schlug einen Weg ein, der ihn alsbald jenseits der Höhe entschwinden ließ, während die anderen, von dem Wärter begleitet, den der Arzt bei ihnen zurückgelassen hatte, dem Ausgang zustrebten. Sie verließen den Weg und gingen auf der kürzesten Linie über den schönen von Buchen und Platanen bestandenen Hang hinunter. Der General hatte sich seines Kittels entledigt und trug ihn fröhlich über dem Arm wie einen Staubmantel bei einem Ausflug, aber ein Gespräch wollte nicht mehr Zustandekommen. Ulrich zeigte keine Neigung, sich nochmals auf den bevorstehenden Abend vorbereiten zu lassen, und Stumm selbst war schon zu sehr mit dem Nachhausekommen beschäftigt; bloß an Ciarisse, zu deren Linken er galant dahinging, fühlte er sich verpflichtet einige unterhaltende Worte zu richten. Aber Ciarisse war geistesabwesend und schweigsam. «Ob sie sich am Ende noch wegen dem Schweinigel geniert?» fragte er sich und hatte das Bedürfnis, irgendwie aufzuklären, daß es ihm unter jenen besonderen Umständen nicht möglich gewesen sei, ritterlich für sie einzutreten; aber anderseits war das doch auch wieder so, daß man am besten nicht davon sprach. So verlief der Rückweg schweigend und beschattet.
Erst als Stumm von Bordwehr seinen Wagen bestieg und es Ulrich überantwortet hatte, für Ciarisse und deren Bruder zu sorgen, kehrte seine gute Laune wieder, und mit ihr stellte sich auch eine Idee ein, von der die beklemmenden Erlebnisse eine gewisse Ordnung empfingen. Er hatte aus dem großen Lederetui, das er bei sich führte, eine Zigarette geholt und blies, schon in den Polstern ruhend, die ersten blauen Wölkchen in die sonnige Luft. Behaglich sagte er: «Schrecklich muß so eine Geisteskrankheit sein! In dem Moment fällt mir erst auf, daß ich während der ganzen Zeit, die wir da drin waren, nicht einen einzigen rauchen gesehn hab! Man weiß wirklich nicht, was man alles voraushat, solange man gesund ist!»
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Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Graf Leinsdorf und der Inn
An diesen bewegten Tag schloß sich ein «Großer Abend» bei Tuzzis an.
Die Parallelaktion paradierte in Licht und Glanz; Augen strahlten, Schmuck strahlte, Namen strahlten, Geist strahlte. Ein Geisteskranker könnte unter Umständen daraus folgern, daß die Augen, der Schmuck, die Namen und der Geist an einem solchen Gesellschaftsabend auf das gleiche hinauskommen: er befände sich damit nicht ganz im Unrecht. Alles, was nicht an der Riviera oder den Oberitalienischen Seen weilte, war erschienen, bis auf wenige, die um diese Zeit, gegen Ende der Saison, grundsätzlich keine «Ereignisse»
mehr anerkannten.
An ihrer Stelle waren eine Menge Leute da, die man noch nie gesehen hatte. Eine lange Pause hatte Lücken in die Präsenzliste gerissen, und zu ihrer Ausfüllung waren neue Menschen hastiger herangezogen worden, als es Diotimas umsichtigen Gepflogenheiten entsprach: Graf Leinsdorf selbst hatte seiner Freundin eine Liste von Personen übergeben, die er sie aus politischen Rücksichten aufzufordern bat, und nachdem der Grundsatz der Exklusivität ihres Salons diesen höheren Rücksichten einmal geopfert war, hatte sie auf das Weitere nicht mehr das gleiche Gewicht gelegt wie sonst. Überhaupt war Se. Erlaucht ganz allein die Ursache dieser festlichen Zusammenkunft; Diotima war der Ansicht, daß der Menschheit nur paarweise zu helfen sei. Aber Graf Leinsdorf bestand auf der Behauptung: «Besitz und Bildung haben in der historischen Entwicklung nicht ihre Schuldigkeit getan; wir müssen einen letzten Versuch mit ihnen machen!»
Und Graf Leinsdorf kam jedesmal darauf zurück. «Meine Liebe, Sie haben sich noch immer nicht entschlossen?» pflegte er zu fragen. «Es ist höchste Zeit. Alle möglichen Leute kommen schon mit destruktiven Tendenzen hervor: wir müssen der Bildung eine letzte Gelegenheit geben, ihnen das Gleichgewicht zu halten. » Aber Diotima, abgelenkt durch den Formenreichtum der menschlichen Paarung, war für alles andere vergeßlich.
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Schließlich ermähnte sie Graf Leinsdorf: «Schaun Sie, meine Liebe, das bin ich doch gar nicht von Ihnen gewohnt? Jetzt haben wir bei allen Leuten die Parole der Tat ausgegeben; ich für meine Person habe den Minister des Innern - also Ihnen kann ich das ja anvertraun, daß ich ihn zu seinem Rücktritt veranlaßt hab; so oben herum ist das gekommen, sehr hoch oben herum: aber es ist ja auch wirklich schon ein Skandal gewesen, und niemand hat den Mut gehabt, dem ein Ende zu machen! Ich vertraue Ihnen das also an, » fuhr er fort «und nun hat mich der Ministerpräsident gebeten, daß wir uns doch selbst intensiver an der Enquete zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung in bezug auf die Reform der inneren Verwaltung beteiligen mögen, weil sich der neue Minister ja noch nicht so auskennen kann: und da wollen nun gerade Sie mich im Stich lassen, die Sie immer die Ausdauerndste gewesen sind? Wir müssen Besitz und Bildung eine letzte Gelegenheit geben! Wissen Sie so: entweder - oder anders!»
Diesen etwas unvollständigen Schlußsatz brachte er so drohend vor, daß nicht mißzuverstehen war, er wisse, was er wolle, und Diotima versprach auch dienstwillig, daß sie sich beeilen werde; aber dann vergaß sie es doch wieder und tat es nicht.
Da wurde eines Tags Graf Leinsdorf von seiner bekannten Tatkraft gepackt und fuhr bei ihr vor, von vierzig Pferdestärken getrieben.
«Ist jetzt etwas geschehn?!» fragte er, und Diotima mußte es verneinen.
«Kennen Sie den Inn, meine Liebe?» fragte er. Natürlich kannte Diotima diesen Fluß, der außer der Donau der bekannteste von allen, und mannigfach in die Geographie und Geschichte des Vaterlands verwoben war.
Etwas zweifelnd beobachtete sie ihren Besucher, obwohl sie sich zu lächeln bemühte.
Aber Graf Leinsdorf blieb todernst. «Wenn man von Innsbruck absieht, » eröffnete er ihr «was sind das für lächerliehe kleine Nester im Inntal, und was für ein stattlicher Fluß ist dagegen der Inn bei uns! Und ich selbst bin nie und nie darauf gekommen!» Er schüttelte den Kopf. «Ich habe nämlich heute zufällig eine Autokarte angesehn, » erklärte er sich endlich vollends «und da habe ich bemerkt, daß der Inn aus der Schweiz kommt. Das habe ich freilich wahrscheinlich schon gewußt; das wissen wir alle, aber wir denken nie daran. Bei Maloja entspringt er, ein lächerlicher Bach ist er, ich hab ihn ja selbst dort gesehn; so wie bei uns die Kamp oder die Morava. Aber was haben die Schweizer aus ihm gemacht? Das Engadin! Das weltberühmte Engadin! Das Engad-Inn, meine Liebe!! Haben Sie schon je daran gedacht, daß dieses ganze Engadin vom Worte Inn kommt?! Dadrauf bin ich heute gekommen: Und wir mit unserer unerträglichen österreichischen Bescheidenheit machen natürlich nie was aus dem, was uns gehört!»
Nach diesem Gespräch berief Diotima in Eile die gewünschte Gesellschaft ein, teils, weil sie einsah, daß sie Sr. Erlaucht beipflichten müsse, teils weil sie fürchtete, ihren hohen Freund zum Äußersten zu treiben, wenn sie sich jetzt noch weigere.
Aber als sie es ihm versprach, sagte Leinsdorf: «Und ich bitte Sie, meine Verehrte, vergessen Sie diesmal nicht, auch die… na, die X, die Sie <Drangsal> nennen — einzuladen; ihre Freundin, die Wayden, läßt mir wegen der Person schon wochenlang keine Ruh!»
Selbst das versprach Diotima, obwohl sie zu ändern Zeiten in der Duldung ihrer Konkurrentin eine Pflichtverletzung gegen das Vaterland gesehen hätte.
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Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Regierungsrat Meseritscher
Als die Zimmer von den Strahlen der Festbeleuchtung und der Gesellschaft erfüllt waren, bemerkte «man»
nicht nur Se. Erlaucht neben anderen Spitzen der Aristokratie, für deren Erscheinen er gesorgt hatte, sondern auch Se. Exzellenz den Herrn Kriegsminister und in seinem Gefolge den durchgeistigten, etwas überarbeiteten Kopf des Generals Stumm von Bordwehr. Man bemerkte Paul Arnheim. (Einfach und am wirksamsten ohne Titel. Das Man hatte es sich ausdrücklich überlegt. Litotes nennt man das, kunstvolle Schlichtheit des Ausdrucks, wenn man sich sozusagen ein Nichts vom eigenen Leibe zieht, wie der König den Reif vom Finger, und es einem anderen ansteckt. ) Dann bemerkte man alles Nennenswerte aus den Ministerien (der Minister für Unterricht und Kultur hatte sich bei Sr. Erlaucht im Herrenhaus persönlich vom Erscheinen entbunden, weil er am gleichen Tag zur Einweihung eines großen Altargitters nach Linz mußte. ) Dann bemerkte man, daß die ausländischen Botschaften und Vertretungen eine «Elite» entsandt 546
hätten. Dann «aus Industrie, Kunst und Wissenschaft» bekannte Namen, und eine alte Allegorie des Fleißes lag in dieser unabänderlichen Zusammenstellung dreier bürgerlichen Tätigkeiten, die sich von selbst der schreibenden Feder bemächtigte. Dann nahm und brachte diese gewandte Feder die Damen zu Kenntnis: Beige, Rosa, Kirsch, Creme…, gestickt und geschlungen, dreimal gerafft oder unter der Taille fallend; und zwischen der Gräfin Adlitz und der Kommerzienrat Weghuber wurde die bekannte Frau Melanie Drangsal genannt, Witwe des weltberühmten Chirurgen, «selbst gewohnt, dem Geist auf liebenswürdige Weise in ihrem Haus eine Stätte zu bereiten». Endlich kam abgesondert am Ende dieser Abteilung auch noch Ulrich von Soundso mit Schwester, denn Man hatte geschwankt, ob es schreiben solle: «von dessen aufopfernder Tätigkeit im Dienste des hochgeistigen und vaterländisch so erfreulichen Unternehmens man weiß» oder gar: «ein coming man»; man hatte längst gehört, daß von diesem Günstling des Grafen Leinsdorf viele voraussetzten, er könnte seinen Gönner noch einmal zu einer großen Unüberlegtheit verleiten, und die Versuchung, sich beizeiten eingeweiht zu erweisen, war groß. Aber die tiefste Genugtuung des Wissenden ist immer das Schweigen gewesen, zumal wenn er vorsichtig ist; und dem verdankten Ulrich und Agathe eine blanke Stellung ihrer Namen als Nachzügler unmittelbar vor jenen Spitzen der Gesellschaft und des Geistes, die nicht mehr persönlich angeführt wurden, sondern bloß fürs Massengrab des «Alles, was Rang und Namen hat» bestimmt waren. Dort hinein kamen viele Menschen, darunter der bekannte Strafrechtslehrer Hofrat Professor Schwung, der als Teilnehmer einer ministeriellen Enquete vorübergehend in der Hauptstadt weilte, und diesmal noch der junge Dichter Friedel Feuermaul, denn obwohl es bekannt war, daß sein Geist diesen Abend ins Leben zu rufen geholfen habe, blieb streng zu unterscheiden, daß damit noch lange nicht jene Geltung festerer Art gewonnen sei, die Toiletten und Titeln zukommt. Leute wie Titular-Bankdirektor Leo Fischel mit Familie — die den Zutritt zu Diotima nach großen Anstrengungen und auf Gerdas Betreiben, ohne Ulrich zu bemühen, also nur dank der augenblicklich herrschenden Nachlässigkeit erreicht hatten - wurden überhaupt bloß in einem Augenwinkel verscharrt. Und nur die Gattin eines bekannten, in solcher Gesellschaft aber noch unter der Wahrnehmungsschwelle liegenden, Juristen, mit ihrem heimlichen, selbst dem Man unbekannten Namen Bonadea, wurde nachträglich wieder ausgegraben und unter die Toiletten versetzt, weil ihre Erscheinung allgemein auffiel und bewundernden Anklang fand.
Dieses Man, die überwachende Neugierde der Öffentlichkeit, war natürlich ein Mensch; gewöhnlich sind es ja deren viele, in der Metropole Kakaniens überragte aber damals einer alle übrigen, und zwar war das Regierungsrat Meseritscher. Geboren in Wallachisch-Meseritsch, wovon sein Name Spuren behalten hatte, war dieser Herausgeber, Chefredakteur und Chefberichterstatter der von ihm gegründeten «Parlaments-und Gesellschaftskorrespondenz» in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als junger Mann in die Hauptstadt gekommen, der die Aussicht, den elterlichen Schnapsausschank in Wallachisch-Meseritsch zu übernehmen, für den Beruf des Journalisten hingab, angezogen von dem Glanz des damals in Hochglut strahlenden Liberalismus. Und alsbald hatte auch er das Seine zu dieser Ära beigetragen durch Gründung einer Korrespondenz, die mit der Versendung kleiner lokaler Nachrichten polizeilicher Art an die Zeitungen begann. Diese Urform seiner Korrespondenz erregte dank des Fleißes, der Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit ihres Besitzers nicht nur die Zufriedenheit der Zeitungen und der Polizei, sondern wurde in Bälde auch von anderen Hohen Behörden bemerkt, zur Unterbringung wünschenswerter Nachrichten, für die sie nicht selbst einstehen wollten, benutzt, schließlich bevorzugt und mit Material versehen, bis sie auf dem Gebiete der nichtamtlichen, aber aus amtlichen Quellen schöpfenden Berichterstattung eine Ausnahmestellung einnahm. Ein Mann voll Tatkraft und unermüdlichem Arbeitseifer, hatte Meseritscher, als er diesen Erfolg sich entwickeln sah, seine Tätigkeit aber auch schon um die Hof-und Gesellschaftsberichterstattung erweitert, ja wahrscheinlich wäre er niemals aus Meseritsch in die Hauptstadt gekommen, wenn ihm das nicht immer vorgeschwebt hätte. Lückenlose Präsenzlisten galten als seine Spezialität. Sein Gedächtnis für Personen und das, was man von ihnen erzählte, war außergewöhnlich und verschaffte ihm zum Salon leicht das gleiche ausgezeichnete Verhältnis wie zum Kriminal. Er kannte die Große Welt, wie sie sich selbst nicht kannte, und mit unerschöpflicher Liebe vermochte er die Leute, die sich in Gesellschaft trafen, am nächsten Tag miteinander bekannt zu machen, wie ein alter Kavalier, dem man seit Jahrzehnten alle Heiratspläne und Schneiderangelegenheiten anvertraut hat. So war schließlich bei Festen und Feiern der emsige, bewegliche, stets dienstbereite und gefällige kleine Herr eine stadtbekannte Figur, und in den späteren Jahren seines Lebens empfingen solche Veranstaltungen überhaupt erst durch 547
ihn und sein Erscheinen ihre unanfechtbare Geltung. Ihre Höhe hatte diese Laufbahn mit der Ernennung Meseritschers zum Regierungsrat gefunden, denn an diesem Titel hing eine Besonderheit, die dazugehörte: Kakanien war ja das friedlichste Land der Welt, aber irgendwann hatte es in der tiefen Unschuld seiner Überzeugung, Kriege gebe es doch nicht mehr, den Einfall gehabt, seine Beamten in Rangsklassen einzuteilen, die denen der Offiziere entsprachen, und hatte ihnen sogar ebensolche Uniformen und Abzeichen verliehn. Der Rang eines Regierungsrats entsprach seither dem eines kaiserlich und königlichen Oberstleutnants; aber wenn das auch an und für sich kein sehr hoher Rang war, so bestand seine Besonderheit, als er Meseritscher verliehen wurde, doch darin, daß dieser nach einer unverbrüchlichen Überlieferung, die, wie alles Unverbrüchliche, in Kakanien nur ausnahmsweise durchbrochen wurde, eigentlich Kaiserlicher Rat hätte werden müssen. Denn Kaiserlicher Rat war nicht etwa, wie man nach dem Gehalt des Worts urteilen sollte, mehr als Regierungsrat, sondern weniger; Kaiserlicher Rat entsprach nur dem Range eines Hauptmanns. Und Meseritscher hätte Kaiserlicher Rat werden müssen, weil dieser Titel außer an Kanzleibeamte nur an die Angehörigen freier Berufe verliehen wurde, also etwa an Hoffrisöre und Wagenfabrikanten, aus dem gleichen Grund aber auch an Schriftsteller und Künstler; wogegen Regierungsrat damals ein wirklicher Beamtentitel war. Darin, daß ihn Meseritscher trotzdem als erster und einziger erhielt, drückte sich also mehr aus als bloß die Höhe des Titels, ja sogar mehr als die tägliche Aufforderung, das, was hierzulande geschehe, nicht allzu ernst zu nehmen: durch den ungerechtfertigten Titel wurde dem unermüdlichen Chronisten seine nahe Zugehörigkeit zu Hof, Staat und Gesellschaft auf eine feine und bedächtige Weise bestätigt.
Meseritscher hatte auf viele Journalisten seiner Zeit vorbildlich gewirkt, und er war Vorstandsmitglied maßgeblicher Schriftstellervereine. Es ging auch die Sage, daß er sich eine Uniform mit einem Goldkragen hätte machen lassen, sie aber nur manchmal zu Hause anzöge. Aber es dürfte nicht wahr gewesen sein, denn im Grunde seines Wesens hatte Meseritscher immer gewisse Erinnerungen an das Schankgewerbe in Meseritsch bewahrt, und ein guter Schankwirt trinkt nicht selbst. Ein guter Schankwirt weiß auch die Geheimnisse aller seiner Gäste, aber er macht nicht von allem Gebrauch, was er weiß; er mengt sich niemals mit seiner eigenen Ansicht in die Debatte, erzählt aber und merkt sich mit Behagen alles, was Tatsache, Anekdote oder Witz ist. Und so war Meseritscher, dem man auf allen Festen als dem anerkannten Berichterstatter der schönen Frauen und vornehmen Männer begegnete, für seine Person nie auch nur auf den Versuch gekommen, sich einen guten Schneider zu nehmen, er kannte alle Kulissengeheimnisse der Politik und betätigte sich nicht mit einer Zeile politisch, er wußte von allen Erfindungen und Entdeckungen seiner Zeit und verstand keine einzige. Es genügte ihm vollauf, all das vorhanden und gegenwärtig zu wissen. Er liebte ehrlich seine Zeit, und auch sie vergalt es ihm mit einer gewissen Liebe, weil er täglich von ihr berichtete, daß sie da sei.
Als er eintrat und Diotima ihn gewahrte, winkte sie ihn sofort zu sich heran. «Lieber Meseritscher, » sagte sie, so lieblich sie konnte «Sie werden die Rede, die Seine Erlaucht im Herrenhaus gehalten hat, doch nicht etwa für den Ausdruck unserer Gesinnung gehalten oder gar wörtlich genommen haben!?»
Seine Erlaucht hatte nämlich, zusammenhängend mit dem Ministersturz und gereizt durch seine Sorgen, im Herrenhaus nicht nur eine viel bemerkte Rede gehalten, in der er seinem Opfer vorwarf, daß es den aufbauenden wahren Geist der Hilfsbereitschaft und Strenge habe vermissen lassen, sondern hatte sich dabei von seinem Eifer auch zu allgemeinen Betrachtungen hinreißen lassen, die auf unaufgeklärte Weise in einer Würdigung der Wichtigkeit der Presse gipfelten, worin er dieser «zur Großmachtstellung aufgerückten Institution» ungefähr alles vorwarf, was ein ritterlich denkender, unabhängiger und unparteiischer christlicher Mann einem Institut vorwerfen kann, das nach seiner Meinung in keiner Weise so ist wie er. Das war es, was Diotima diplomatisch gutzumachen suchte, und während sie immer schönere und schwerer verständliche Worte für die wahre Gesinnung des Grafen Leinsdorf fand, hörte ihr Meseritscher nachdenklich zu. Aber plötzlich legte er ihr die Hand auf den Arm und schnitt ihr großmütig das Wort ab: «Gnädige Frau, wo werden Sie sich darüber aufregen» sagte er zusammenfassend. «Seine Erlaucht ist doch unser guter Freund. Er hat groß übertrieben: warum soll er nicht als Kavalier?!» Und um ihr gleich sein ungetrubtes Verhältnis zu ihm zu beweisen, fügte er hinzu: «Ich geh jetzt zu ihm!»
So war Meseritscher! Aber ehe er sich auf den Weg machte, wandte er sich noch einmal vertraulich an Diotima: «Und was ist eigentlich mit Feuermaul, gnädige Frau?»
Diotima hob lächelnd die schönen Schultern. «Wirklich nichts Erschütterndes, lieber Regierungsrat. Wir 548
wollen uns nicht nachsagen lassen, daß wir irgendjemand zurückweisen, der sich uns mit gutem Willen naht!»
«<Guter Wille> ist gut!» dachte Meseritscher auf dem Weg zu Graf Leinsdorf; aber ehe er diesen erreichte, ja ehe er auch nur seinen Gedanken zu Ende gedacht hatte, dessen Ende er selbst gern gewußt hätte, stellte sich ihm freundlich der Hausherr in den Weg. «Lieber Meseritscher, die amtlichen Quellen haben wieder einmal versagt, » begann Sektionschef Tuzzi lächelnd «ich wende mich an die halbamtliche Berichterstattung: Können Sie mir etwas über den Feuermaul erzählen, der heute bei uns ist?»
«Was soll ich erzählen können, Herr Sektionschef?!» beklagte sich Meseritscher.
«Man sagt, daß er ein Genie sein soll!»
«Hör ich gern!» antwortete Meseritscher. - Will man rasch und sicher berichten können, was es Neues gibt, so darf das Neue nicht allzu verschieden vom Alten sein, das man schon kennt. Auch das Genie macht davon keine Ausnahme, das heißt, das wirkliche und anerkannte, über dessen Bedeutung sich seine Zeit rasch einig ist. Anders das Genie, das nicht gleich jeder für ein solches hält! Das hat sozusagen etwas ganz und gar Ungeniales, aber nicht einmal das hat es für sich allein, so daß man sich in ihm in jeder Hinsicht irren kann. Für Regierungsrat Meseritscher gab es also einen festen Bestand an Genies, den er mit Liebe und Aufmerksamkeit versorgte, aber Neuaufnahmen vollzog er nicht gern. Je älter und erfahrener er wurde, desto mehr hatte sich sogar in ihm die Gewohnheit herausgebildet, daß er das aufstrebende künstlerische Genie, und vornehmlich das ihm beruflich nahestehende der Literatur, bloß für einen leichtfertigen Störungsversuch seiner Berichterstatteraufgabe ansah, und er haßte es mit seinem guten Herzen so lange, bis es für die Rubrik der Personalnachrichten reif war. So weit war Feuermaul aber damals noch lange nicht und sollte erst dahin gebracht werden. Regierungsrat Meseritscher war nicht ohneweiters damit einverstanden.
«Man sagt, daß er ein großer Dichter sein soll» wiederholte Sektionschef Tuzzi unsicher, und Meseritscher erwiderte fest: «Wer sagt das?! Die Kritiker im Feuilleton sagen das! Was zählt das schon, Herr Sektionschef?!» fuhr er fort. «Die Sachverständigen sagen das. Was sind die Sachverständigen? Manche sagen das Gegenteil. Und man hat Beispiele, daß Sachverständige heute so und morgen anders sagen.
Kommt es überhaupt auf sie an? Was wirklich ein Ruhm ist, muß schon bei den Unverständigen angelangt sein, dann ist er erst verläßlich! Wenn ich Ihnen sagen soll, was ich denke: Von einem bedeutenden Mann darf man nicht wissen, was er macht, außer daß er ankommt und abreist!»
Er hatte sich schwermütig in Feuer geredet, und seine Augen hingen an Sektionschef Tuzzi. Dieser schwieg verzichtend. «Was ist eigentlich heute los, Herr Sektionschef?» fragte Meseritscher.
Tuzzi zuckte lächelnd und zerstreut die Schultern. «Nichts. Eigentlich nichts. Ein bißl Ehrgeiz. Haben Sie schon einmal ein Buch von dem Feuermaul gelesen?»
«Ich weiß, was darin steht: Friede, Freundschaft, Güte und so. »
«Sie halten also nicht viel von ihm?» meinte Tuzzi.
«Gott!» begann Meseritscher und wand sich. «Bin ich ein Sachverständiger? -»In diesem Augenblick steuerte aber Frau Drangsal auf die beiden los, und Tuzzi mußte ihr höflich einige Schritte entgegentun; diesen Augenblick benutzte Meseritscher, der in dem Graf Leinsdorf umgebenden Kreis eine Lücke erspähte, mit raschem Entschluß, und ohne sich noch einmal aufhalten zu lassen, warf er neben Sr. Erlaucht Anker. Graf Leinsdorf stand im Gespräch mit dem Minister und einigen anderen Herren, wandte sich aber, sobald Regierungsrat Meseritscher allen seine große Verehrung ausgesprochen hatte, sofort ein wenig ab und zog ihn zur Seite. «Meseritscher, » sagte Se. Erlaucht eindringlich «versprechen Sie mir, daß keine Mißverständnisse entstehn, die Herren bei den Zeitungen wissen ja nie, was sie schreiben sollen. Also: Am Stand der Dinge hat sich seit dem letztenmal nicht das geringste geändert. Vielleicht wird sich etwas ändern.
Das wissen wir nicht. Vorderhand dürfen wir nicht gestört werden. Ich bitt Sie also, auch wenn Sie jemand von Ihren Kollegen fragt, ist der ganze heutige Abend nur eine häusliche Angelegenheit der Frau Sektionschef Tuzzi!»
Meseritschers Augendeckel bestätigten langsam und besorgt, daß er die ausgegebene feldherrliche Disposition verstanden habe. Und da ein Vertrauen das andere wert ist, feuchteten sich seine Lippen mit dem Glanz, der eigentlich in die Augen gehört hätte, und er fragte: «Und was ist mit Feuermaul, Erlaucht, wenn es erlaubt ist, das zu wissen?»
«Warum soll das nicht zu wissen erlaubt sein?» erwiderte Graf Leinsdorf erstaunt. «Gar nichts ist mit dem 549
Feuermaul! Er ist halt eingeladen worden, weil die Baronin Wayden nicht früher Ruh gegeben hat. Was soll denn sonst sein? Wissen Sie vielleicht was?»
Regierungsrat Meseritscher hatte der Angelegenheit Feuermaul bisher keine Bedeutung beimessen wollen, sie vielmehr bloß für eine der vielen gesellschaftlichen Rivalitäten gehalten, von denen er alle Tage erfuhr.
Daß nun aber auch noch Graf Leinsdorf so energisch bestritt, sie besäße Wichtigkeit, erlaubte ihm nicht mehr, bei dieser Auffassung zu bleiben, und er war nun doch überzeugt, daß sich hier etwas Wichtiges vorbereite. «Was können sie vorhaben ?» grübelte er, während er weiterwanderte, und ließ die kühnsten Möglichkeiten der inneren und äußeren Politik an sich vorüberziehn. Nach einer Weile dachte er aber kurz entschlossen: «Es wird schon nichts sein!» und ließ sich von seiner Berichterstattertätigkeit nicht länger ablenken. Denn so sehr es in Widerspruch mit dem Inhalt seines Lebens zu stehen schien: Meseritscher glaubte nicht an große Ereignisse, ja er liebte sie nicht. Wenn man überzeugt ist, daß man in einer sehr wichtigen, sehr schönen und sehr großen Zeit lebe, verträgt man nicht die Vorstellung, daß in ihr noch etwas besonders Wichtiges, Schönes und Großes geschehen könnte. Meseritscher war kein Alpinist, aber wäre er einer gewesen, so würde er gesagt haben, das sei so richtig wie die Tatsache, daß man Aussichtstürme ins Mittelgebirge setzt, und niemals auf Hochgebirgsgipfel. Da ihm solche Vergleiche fehlten, begnügte er sich mit einem Unbehagen und dem Vorsatz, Feuermaul dafür auf keinen Fall in seinem Bericht schon mit Namen zu erwähnen.
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Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Wobei man Bekannte trifft
Ulrich, der neben seiner Kusine gestanden hatte, während sie mit Meseritscher sprach, fragte sie, als sie einen Augenblick allein blieben: «Ich bin leider zu spät eingetroffen: wie war die erste Begegnung mit der Drangsal?»
Diotima hob die schweren Augenwimpern für einen einzigen weltmüden Blick und ließ sie wieder sinken.
«Natürlich reizend» sagte sie. «Sie hat mich aufgesucht. Wir werden heute irgend etwas vereinbaren. Es ist ja so gleichgültig!»
«Sehen Sie!» sagte Ulrich. Es klang wie in alten Gesprächen; es schien deren Schlußstrich ziehen zu wollen.
Diotima wandte den Kopf zur Seite und sah ihren Vetter fragend an.
«Ich habe es Ihnen vorher gesagt. Schon ist alles beinahe vorbei und nicht gewesen» behauptete Ulrich. Er hatte ein Bedürfnis zu reden; als er nachmittags nach Hause gekommen war, war Agathe dagewesen und bald wieder fortgegangen; sie hatten nur wenige kurze Worte gewechselt, ehe sie hieherfuhren; Agathe hatte sich die Gärtnersfrau geholt und sich mit ihrer Hilfe angekleidet. «Ich habe Sie gewarnt!» sagte Ulrich.
«Wovor gewarnt?» fragte Diotima langsam.
«Ach, ich weiß nicht. Vor allem!»
Es war die Wahrheit, er wußte selbst nicht mehr, wovor nicht. Vor ihren Ideen, vor ihrem Ehrgeiz, vor der Parallelaktion, vor der Liebe, vor dem Geist, vor dem Weltjahr, vor den Geschäften, vor ihrem Salon, vor ihren Leidenschaften; vor der Empfindsamkeit und vor dem nachlässigen Gewährenlassen, vor der Maßlosigkeit und vor der Korrektheit, vor dem Ehebruch wie vor der Heirat; es gab nichts, wovor er sie nicht gewarnt hatte: «So ist sie eben!» dachte er. Er empfand alles lächerlich, was sie tat, und doch war sie so schön, daß es traurig war. «Ich habe Sie gewarnt» wiederholte Ulrich. «Sie sollen jetzt ja nur noch Interesse für sexualwissenschaftliche Fragen haben!?»
Diotima überging es. «Halten Sie diesen Liebling der Drangsal für begabt?» fragte sie.
«Gewiß» erwiderte Ulrich. «Begabt, jung, unfertig. Sein Erfolg und diese Frau werden ihn verderben. Bei uns werden ja schon die Säuglinge verdorben, weil man ihnen sagt, daß sie fabelhafte Instinktmenschen seien, die durch eine intellektuelle Entwicklung nur verlieren könnten. Er hat manchmal schöne Einfälle, aber er kann nicht zehn Minuten warten, ohne einen Unsinn zu sagen. » Er näherte sich Diotimas Ohr.
«Kennen Sie die Frau genauer?»
Diotima schüttelte in einer kaum merklichen Weise den Kopf.
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«Sie ist gefährlich ehrgeizig» sagte Ulrich. «Aber sie sollte Sie bei Ihren neuen Studien interessieren: Dort, wo schöne Frauen früher ein Feigenblatt hatten, hat sie ein Lorbeerblatt! Ich hasse solche Frauen!»
Diotima lachte nicht, sie lächelte nicht einmal; sie überließ bloß dem «Vetter» ihr Ohr. «Wie finden Sie ihn denn als Mann?» fragte er.
«Traurig» flüsterte Diotima. «Wie ein Lämmchen, das vorzeitig die Fettsucht bekommen hat. »
«Warum nicht! Die Schönheit des Mannes ist nur ein sekundäres Geschlechtsmerkmal» meinte Ulrich.
«Primär erregend ist an ihm die Hoffnung auf seinen Erfolg. Feuermaul ist in zehn Jahren eine internationale Größe; dafür werden die Verbindungen der Drangsal sorgen, und dann wird sie ihn heiraten.
Wenn der Ruhm bei ihm bleibt, wird es eine glückliche Ehe werden. »
Diotima besann sich und verbesserte ernst: «Das Glück der Ehe hängt von Bedingungen ab, über die man nicht ohne disziplinierte Arbeit an sich selbst urteilen lernt!» Dann ließ sie ihn zurück, wie ein stolzes Schiff den Kai zurückläßt, an dem es gelegen hat. Ihre Aufgaben als Hausfrau führten sie fort, und sie nickte unmerklich, ohne ihn anzusehen, als sie die Taue löste. Aber sie meinte es nicht bös; im Gegenteil, Ulrichs Stimme war ihr wie eine alte Jugendmusik vorgekommen. Sie fragte sich sogar im stillen, zu welchen Ergebnissen eine liebeswissenschaftliche Beleuchtung seiner Person wohl führen könnte.
Merkwürdigerweise hatte sie ihre eingehende Durchforschung dieser Fragen bisher noch nie mit ihm in Verbindung gesetzt.
Ulrich blickte auf, und durch eine Lücke in dem geselligen Treiben, eine Art optischen Kanals, dem vielleicht auch schon Diotimas Auge gefolgt war, ehe sie etwas unvermittelt ihren Platz verließ, gewahrte er im übernächsten Zimmer Paul Arnheim mit Feuermaul im Gespräch, und Frau Drangsal stand wohlwollend daneben. Sie hatte die beiden Männer zusammengebracht. Arnheim hielt die Hand mit der Zigarre erhoben, es sah wie eine unbewußte Abwehrbewegung aus, aber er lächelte sehr liebenswürdig; Feuermaul sprach lebhaft, hielt seine Zigarre mit zwei Fingern und sog zwischen den Sätzen mit der Gier eines Kalbes an ihr, das seine Schnauze gegen den mütterlichen Euter stößt. Ulrich konnte sich denken, was sie sprachen, aber er gab sich nicht die Mühe, es zu tun. Er blieb in glücklicher Verlassenheit stehn, und sein Auge suchte seine Schwester. Er entdeckte sie in einer Gruppe ihm ziemlich fremder Männer, und etwas kühl Gefrierendes rann durch seine Zerstreutheit. Da stieß ihm Stumm von Bordwehr eine Fingerspitze sanft zwischen die Rippen, und im gleichen Augenblick näherte sich auf der anderen Seite Hofrat Professor Schwung, wurde aber wenige Schritte vor ihm durch einen dazwischentretenden hauptstädtischen Kollegen aufgehalten.
«Daß ich dich endlich finde!» flüsterte der General erleichtert. «Der Minister möchte wissen, was
<Richtbilder> sind. »
«Wieso Richtbilder?»
«Wieso weiß ich nicht. Also was sind Richtbilder?» Ulrich definierte: «Ewige Wahrheiten, die weder wahr noch ewig sind, sondern für eine Zeit gelten, damit sie sich nach etwas richten kann. Das ist ein philosophischer und soziologischer Ausdruck und wird selten gebraucht. »
«Aha, das stimmt schon» meinte der General. «Der Arnheim hat nämlich behauptet: die Lehre, der Mensch ist gut, sei nur ein Richtbild. Der Feuermaul dagegen hat geantwortet: was Richtbilder seien, wisse er nicht, aber der Mensch sei gut, und das sei eine ewige Wahrheit! Darauf hat der Leinsdorf gesagt: <Das ist schon ganz richtig. Böse Menschen gibt es eigentlich überhaupt nicht, denn das Böse kann niemand wollen; das sind nur Irregeleitete. Die Leute sind heute eben nervös, weil in Zeiten wie den heutigen so viele Zweifler entstehn, die an nichts Festes glauben. > Ich habe mir gedacht, der hätte heute nachmittags mit uns sein sollen! Aber im übrigen meint er ja selbst auch, daß man die Leute, wenn sie nicht einsehen wollen, zwingen muß. Und da möchte der Minister jetzt eben wissen, was Richtbilder sind: Ich geh bloß schnell zu ihm zurück und bin gleich wieder da; du bleibst derweilen hier stehn, damit ich dich wiederfinde ?! Ich muß nämlich dringend mit dir noch etwas anderes sprechen und dich dann zum Minister führen!»
Ehe Ulrich Aufklärung verlangen konnte, schob im Vorbeistreifen mit den Worten «Man hat Sie lange nicht bei uns gesehn!» Tuzzi die Hand in seinen Arm und fuhr fort: «Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen vorausgesagt habe, wir werden es mit einer Invasion des Pazifismus zu tun bekommen?!» Er blickte dabei auch dem General freundlich in die Augen, aber Stumm hatte es eilig und erwiderte bloß, daß er zwar als Offizier ein anderes Richtbild habe, jedoch gegen keine ehrenwerte Überzeugung…: der Rest dieses Satzes entschwand mit ihm, denn er ärgerte sich jedesmal über Tuzzi, und das ist der Ausbildung der Gedanken 551
nicht günstig.
Der Sektionschef blinzelte fröhlich hinter dem General drein und wandte sich dann wieder dem «Vetter» zu.
«Die öllagersache ist natürlich nur Spiegelfechterei» sagte er.
Ulrich sah ihn erstaunt an.
«Sie wissen am Ende noch nichts von dieser ölgeschichte?» fragte Tuzzi.
«Doch» erwiderte Ulrich. «Ich habe mich bloß darüber gewundert, daß Sie es wissen. » Und um keine Unhöflichkeit zu verraten, fügte er hinzu: «Sie haben es vortrefflich zu verheimlichen verstanden!»
«Ich weiß es schon lange» erklärte Tuzzi geschmeichelt. «Daß dieser Feuermaul heute bei uns ist, hat natürlich der Arnheim durch den Leinsdorf veranlaßt. Haben Sie übrigens seine Bücher gelesen?»
Ulrich bejahte es.
«Ein Erzpazifist!» sagte Tuzzi. «Und die Drangsal, wie sie meine Frau nennt, bemuttert ihn mit solchem Ehrgeiz, daß sie für den Pazifismus über Leichen geht, wenn es sein muß, obwohl sie sich von Haus aus gar nicht dafür interessiert, sondern nur für Künstler. » Tuzzi überlegte eine kleine Weile, dann eröffnete er Ulrich: «Der Pazifismus ist natürlich die Hauptsache, die öllager sind nur ein Ablenkungsmanöver; darum schiebt man den Feuermaul mit seinem Pazifismus vor, denn dann denkt jeder: <Aha, das ist das Ablenkungsmanöver !> und glaubt, daß es hintenherum um die ölfelder geht! Ausgezeichnet gemacht, aber viel zu klug, als daß man es nicht merkte. Denn wenn der Arnheim die galizischen ölfelder und einen Liefervertrag mit dem Militärärar hat, müssen wir die Grenze natürlich schützen. Wir müssen auch an der Adria ölstützpunkte für die Marine errichten und Italien beunruhigen. Wenn wir aber in dieser Weise unsere Nachbarn reizen, steigt natürlich das Friedensbedürfnis und die Friedenspropaganda, und wenn dann der Zar mit irgendeiner Idee zum Ewigen Frieden hervortritt, so wird er den Boden psychologisch vorbereitet finden. Das ist es, was der Arnheim will!»
«Und dagegen haben Sie etwas?»
«Dagegen haben wir natürlich nichts» sagte Tuzzi. «Aber wie Sie sich vielleicht erinnern, habe ich Ihnen schon einmal auseinandergesetzt, daß es nichts so Gefährliches gibt wie den Frieden um jeden Preis. Wir müssen uns gegen den Dilettantismus schützen!»
«Aber Arnheim ist doch Rüstungsindustrieller» entgegnete Ulrich lächelnd.
«Natürlich ist er das!» flüsterte Tuzzi etwas gereizt. «Denken Sie doch um Himmelswillen nicht so einfach von diesen Dingen! Seinen Vertrag hat er dann ja. Und höchstens rüsten auch noch die Nachbarn auf. Sie werden sehen: im entscheidenden Augenblick entpuppt er sich als Pazifist! Pazifismus ist ein dauerndes und sicheres Rüstungsgeschäft, Krieg ein Risiko!»
«Ich glaube ja, die Militärpartei meint es gar nicht so schlimm» lenkte Ulrich ein. «Sie möchte bloß durch das Geschäft mit Arnheim ihre Umbewaffnung der Artillerie erleichtern, weiter nichts. Und schließlich rüstet man heute in der ganzen Welt doch nur für den Frieden; also denkt sie wahrscheinlich, daß es bloß korrekt ist, wenn man das einmal auch mit Hilfe der Friedensfreunde tut!»
«Wie stellen sich die Herren denn die Durchführung vor?» forschte Tuzzi, ohne auf den Scherz einzugehn.
«Ich glaube, so weit sind sie noch gar nicht; vorderhand nehmen sie erst gefühlsmäßig Stellung. »
«Natürlich!» bekräftigte Tuzzi ärgerlich, als hätte er nichts anderes erwartet. «Die Militärs sollen an nichts als den Krieg denken und sich mit allem anderen an das zuständige Ressort wenden. Aber ehe sie das tun, bringen die Herren lieber mit ihrem Dilettantismus die ganze Welt in Gefahr. Ich wiederhole Ihnen: Nichts ist in der Diplomatie so gefährlich wie das unsachliche Reden vom Frieden! Jedesmal, wenn das Bedürfnis danach eine gewisse Höhe erreicht hat und nicht mehr zu halten war, ist noch ein Krieg daraus entstanden!
Das kann ich Ihnen aktenmäßig beweisen!»
In diesem Augenblick war Hofrat Professor Schwung seines Fachkollegen ledig geworden und benutzte Ulrich aufs herzlichste, um dem Hausherrn vorgestellt zu werden. Ulrich willfahrte dem mit der Bemerkung, man könne sagen, daß der berühmte Gelehrte auf dem Gebiet des Strafrechts den Pazifismus ähnlich verurteile, wie der maßgebliche Sektionschef auf dem Gebiet der Politik.
«Aber um Gotteswillen, » verwahrte sich Tuzzi lachend «da haben Sie mich ganz falsch verstanden!» Und auch Schwung, nachdem er einen Augenblick gewartet hatte, schloß sich, sicher gemacht, dem Einspruch mit der Bemerkung an, daß er seine Auffassung der Verminderten Zurechnungsfähigkeit keinesfalls als blutdürstig und inhuman bezeichnet sehen möchte. «Im Gegenteil!» rief er als alter Katheder-Schauspieler mit einer sich an Stelle der Arme beteuernd ausbreitenden Stimme aus. «Gerade die Pa-zifizierung des 552
Menschen veranlaßt uns zu einer gewissen Strenge! Darf ich voraussetzen, daß Herr Sektionschef von meinen augenblicklich aktuellen Bemühungen in dieser Sache etwas gehört haben?» Er wandte sich jetzt unmittelbar an Tuzzi, der zwar nichts von dem Streit um die Frage gehört hatte, ob die verminderte Zurechnungsfähigkeit eines kranken Verbrechers ihre Begründung nur in dessen Vorstellungen oder nur in dessen Willen haben könne, aber umso höflicher allem zustimmte. Schwung, der mit der Wirkung, die er hervorbrachte, sehr zufrieden war, fing darauf den Eindruck zu loben an, den ihm die ernste Lebensauffassung mache, deren Zeugnis der heutige Abend sei, und erzählte, daß er, da und dort den Gesprächen zuhörend, sehr oft die Worte «männliche Strenge» und «moralische Gesundheit» vernommen habe. «Unsere Kultur wird viel zu sehr von Minderwertigen, moralisch Schwachsinnigen verseucht»
fügte er für seine Person hinzu und frug: «Aber was ist eigentlich der Zweck des heutigen Abends? Ich habe, an verschiedenen Gruppen vorbeikommend, auffallend oft geradezu Rousseauische Ansichten über die angeborene Güte des Menschen äußern gehört?»
Tuzzi, an den diese Frage vornehmlich gerichtet war, schwieg lächelnd, aber da kehrte gerade der General zu Ulrich zurück, und Ulrich, der ihm zu entschlüpfen wünschte, machte ihn mit Schwung bekannt und bezeichnete ihn als den geeignetsten Mann unter allen Anwesenden, diese Frage zu beantworten. Stumm von Bordwehr wehrte sich lebhaft dagegen, aber Schwung und auch Tuzzi ließen ihn nicht los; und Ulrich frohlockte bereits, mit den ersten Schritten den Rückzug antretend, als ihn ein alter Bekannter mit den Worten festhielt: «Meine Frau und Tochter sind auch hier. » Es war Bankdirektor Leo Fischel.
«Hans Sepp hat die Staatsprüfung gemacht» erzählte er. «Was sagt man dazu? Jetzt fehlt ihm nur noch ein Examen zum Doktor! Wir sitzen alle dort drüben in einer Ecke» -er wies auf das entfernteste Zimmer. «Wir kennen zu wenig Leute hier. Übrigens hat man Sie lange nicht bei uns gesehen! Ihr Herr Vater, nicht wahr?
Hans Sepp hat uns die Einladung für heute abend besorgt, meine Frau wollte durchaus: soweit ist der Bursche ja nicht ganz untüchtig. Sie sind jetzt so halboffiziell verlobt, Gerda und er. Das wissen Sie wohl gar nicht? Aber Gerda, sehen Sie, das Mädel, ich weiß nicht einmal, ob sie ihn liebt oder ob sie sich das bloß in den Kopf gesetzt hat. Kommen Sie doch ein bissei zu uns herüber -!»
«Ich komme dann später» versprach Ulrich.
«Ja, kommen Sie!» wiederholte Fischel und schwieg. Dann flüsterte er: «Das ist wohl der Hausherr?
Wollen Sie mich nicht mit ihm bekannt machen? Wir haben noch keine Gelegenheit gehabt. Weder ihn noch sie kennen wir. »
Als sich Ulrich dazu anschickte, hielt ihn Fischel aber zurück. «Und der große Philosoph? Was macht er?»
fragte er. «Meine Frau und Gerda sind natürlich ganz verliebt in ihn. Aber was ist mit den öllagern? Man hört jetzt, das soll ein falsches Gerücht gewesen sein: ich glaub das nicht! Dementiert wird immer! Wissen Sie, das ist so: Wenn sich meine Frau über ein Dienstmädel ärgert, dann heißt es, sie lügt, sie ist unmoralisch, sie ist frech -: sozusagen lauter seelische Defekte. Wenn ich dem Mädel aber heimlich eine Lohnerhöhung zusichere, um Ruhe zu haben, ist die Seele plötzlich weg! Keine Rede mehr von Seele, alles geht auf einmal in Ordnung, und meine Frau weiß nicht warum: Nicht? So ist es doch? Die öllager haben zu viel kaufmännische Wahrscheinlichkeit für sich, als daß man dem Dementi glauben könnte. »
Und weil sich Ulrich schweigsam verhielt, Fischel aber im Ornat des Wissenden zu seiner Frau zurückkehren wollte, fing er noch einmal an: «Man muß zugeben, daß es hier hübsch ist. Aber meine Frau möchte wissen: es wird so sonderbar geredet? Und was ist eigentlich dieser Feuermaul?» fügte er gleich noch hinzu. «Gerda sagt, er ist ein großer Dichter; Hans Sepp sagt, er ist gar nichts als ein Streber, auf den die Leute hereingefallen sind!?»
Ulrich meinte, die Wahrheit werde ungefähr in der Mitte liegen.
«Das ist einmal ein gutes Wort!» bedankte ihn Fischel.
«Die Wahrheit liegt nämlich immer in der Mitte, und das vergessen heute alle, wo man nur extrem ist! Ich sage Hans Sepp jedesmal: Ansichten kann jeder haben, aber bleibend sind auf die Dauer nur die, mit denen man etwas verdient, weil das beweist, daß sie ändern Leuten auch einleuchten!» -Es hatte sich irgend etwas Wichtiges unmerklich an Leo Fischel verändert, aber Ulrich verabsäumte es leider, dem nachzugehn, und beeilte sich bloß, Gerdas Vater an die Gruppe des Sektionschefs Tuzzi weiterzugeben.
Dort war inzwischen Stumm von Bordwehr beredt geworden, da er Ulrichs nicht habhaft werden konnte und mit einem so lebhaften Verlangen sich auszusprechen geladen war, daß es auf dem nächsten Wege ausbrach. «Wie man den heutigen Abend erklären soll?» rief er aus, die Frage des Hofrats Schwung 553
wiederholend: «Ich möchte sozusagen in seinem eigenen wohlerwogenen Sinn behaupten: am besten gar nicht! Das ist kein Witz, meine Herrn» erläuterte er sich, nicht ohne bescheidenen Stolz: «Ich habe heute nachmittag eine junge Dame, der ich die Psychiatrische Klinik unserer Universität zeigen mußte, zufällig im Gespräch gefragt, was sie dort eigentlich will, damit man ihr alles recht erklären kann, und da hat sie mir eine geistvolle Antwort gegeben, die ausnehmend zum Nachdenken anregt. Sie hat nämlich gesagt: <Wenn man alles erklären soll, so wird der Mensch niemals etwas an der Welt ändern!>»
Schwung mißbilligte diese Behauptung durch ein Kopfschütteln.
«Wie sie das gemeint hat, weiß ich ja nicht» verwahrte sich Stumm «und ich will mich nicht damit identifizieren, aber etwas Wahres fühlt man unmittelbar daran! Sehen Sie, ich verdanke zum Beispiel meinem Freund, der schon oft Seine Erlaucht und damit die Aktion beraten hat, » - er wies höflich auf Ulrich hin - «sehr viel Belehrung, aber was sich hier heute bildet, das ist eine gewisse Abneigung gegen Belehrung. Damit komme ich auf das zurück, was ich eingangs behauptet habe!»
«Aber Sie wollen doch» sagte Tuzzi «— ich meine, man erzählt, daß die Herren vom Kriegsministerium heute einen vaterländischen Beschluß provozieren wollen; eine Sammlung öffentlicher Gelder, oder so etwas Ähnliches, für eine Neubewaffnung der Artillerie. Natürlich soll das nur einen demonstrativen Wert haben, um das Parlament durch den öffentlichen Willen unter einen gewissen Druck zu setzen. »
«So möchte ich allerdings auch manches verstehn, was ich heute gehört habe!» pflichtete Hofrat Schwung bei.
«Das ist viel komplizierter, Herr Sektionschef!» sagte der General.
«Und Doktor Arnheim?» fragte Tuzzi unverblümt. «Ich darf doch offen reden: Sind Sie sicher, daß auch Arnheim nichts will als die galizischen ölfelder, die mit der Kanonenfrage sozusagen ein Junktim bilden?»
«Ich kann nur von mir und dem, was ich damit zu tun habe, sprechen, Herr Sektionschef, » verwahrte sich Stumm noch einmal «und da ist alles viel komplizierter!»
«Natürlich ist es komplizierter!» gab Tuzzi lächelnd zurück.
«Natürlich brauchen wir die Kanonen, » ereiferte sich der General «und möglicherweise kann es vorteilhaft sein, dabei in der von Ihnen angedeuteten Weise mit Arnheim zusammenzuarbeiten. Aber ich wiederhole, daß ich nur von meinem Standpunkt als Bildungsreferent sprechen kann, und da frage ich Sie: was nützen Kanonen ohne Geist!»
«Und warum wurde dann solcher Wert auf die Beiziehung des Herrn Feuermaul gelegt?» fragte Tuzzi spöttisch. «Das ist doch der lebendige Defaitismus!»
«Verzeihen Sie, daß ich widerspreche, » sagte der General entschieden «aber das ist Zeitgeist! Der Zeitgeist hat heute zwei Strömungen. Seine Erlaucht - er steht drüben mit dem Minister, und ich bin soeben erst von dort gekommen - Seine Erlaucht zum Beispiel sagt, man muß eine Parole der Tat ausgeben, das verlange die Zeitentwicklung. Und wirklich haben ja auch heute alle viel weniger Freude an den großen Gedanken der Menschheit, als, sagen wir, vor hundert Jahren. Aber anderseits hat natürlich auch die Gesinnung der Menschenliebe etwas für sich, nur sagt da Seine Erlaucht: wenn jemand sein Glück nicht will, so muß man ihn unter Umständen auch dazu zwingen! Seine Erlaucht ist also für die eine Strömung, aber er entzieht sich auch nicht der ändern! —»
«Das habe ich nicht ganz verstanden» wandte Professor Schwung ein.
«Das ist auch nicht leicht zu verstehn» räumte Stumm bereitwillig ein. «Gehen wir also vielleicht noch einmal von der Tatsache aus, daß ich zwei Strömungen des Zeitgeistes bemerke. Die eine Strömung sagt, daß der Mensch von Natur gut ist, wenn man ihn sozusagen nur in Ruh läßt - »
«Wieso gut?» unterbrach ihn Schwung. «Wer soll heute so naiv denken? Wir leben doch nicht mehr in der Ideenwelt des achtzehnten Jahrhunderts?!»
«Da muß ich mich schon verwahren, » verteidigte sich der General gekränkt «denken Sie bloß an die Pazifisten, an die Rohköstler, an die Gegner der Gewalt, an die natürlichen Lebensreformer, an die Antiintellektuellen, an die Kriegsdienstverweigerer…: mir fällt in der Eile gar nicht alles ein, und alle, die sozusagen dieses Vertrauen in den Menschen setzen, bilden zusammen eine große Strömung. Aber bitte, »
fügte er mit jener Bereitwilligkeit hinzu, die an ihm so liebenswürdig war «wenn Sie wollen, können wir ja auch vom Gegenteil ausgehn. Gehn wir also vielleicht von der Tatsache aus, daß der Mensch geknechtet werden muß, weil er alleinig und von selbst niemals das Rechte tut: darin sind wir möglicherweise leichter einer Meinung. Die Masse braucht eine starke Hand, sie braucht Führer, die mit ihr energisch umgehn und 554
nicht bloß reden, also mit einem Wort, sie braucht über sich den Geist der Tat; die menschliche Gesellschaft besteht eben sozusagen nur aus einer kleinen Anzahl von Freiwilligen, die dann auch die nötige Vorbildung haben, und aus Millionen ohne höheren Ehrgeiz, die nur zwangsweise dienen: so ist es doch ungefähr?!
Und weil sich diese Erkenntnis allmählich auf Grund der gemachten Erfahrungen auch in unserer Aktion Bahn gebrochen hat, ist nun die erste Strömung (denn das, was ich jetzt beschrieben habe, war schon die zweite Strömung im Zeitgeist) - also die erste Strömung ist sozusagen erschrocken vor der Befürchtung, daß die große Idee der Liebe und des Glaubens an den Menschen ganz verloren gehen könnte, und da waren dann Kräfte am Werk, die eben den Feuermaul in unsere Aktion entsendet haben, um im letzten Augenblick zu retten, was noch zu retten ist. So ist alles viel einfacher zu verstehn, als es anfangs ausschaut, nicht wahr?» meinte Stumm.
«Und was wird geschehn?» fragte Tuzzi.
«Ich glaube, nichts» erwiderte Stumm. «Wir haben schon viele Strömungen in der Aktion gehabt. »
«Aber zwischen diesen beiden besteht doch ein unerträglicher Widerspruch!» wandte Professor Schwung ein, der als Jurist eine solche Unklarheit nicht ertragen konnte.
«Genau genommen nicht» - widerlegte ihn Stumm. -«Auch die andere Strömung will natürlich den Menschen lieben; nur meint sie, daß man ihn dazu vorher mit Gewalt umbilden muß: es ist das sozusagen bloß ein technischer Unterschied. »
Hier nahm Direktor Fischel das Wort: «Da ich erst später hinzugekommen bin, überblicke ich leider nicht den ganzen Zusammenhang; aber wenn es trotzdem gestattet ist, möchte ich bemerken, daß mir die Achtung vor dem Menschen doch grundsätzlich höher zu stehen scheint als ihr Gegenteil! Ich habe heute abend von einigen Seiten, wenn es auch gewiß Ausnahmen sein werden, unglaubliche Ansichten über andersdenkende und vornehmlich andersnationale Menschen gehört!» Er sah mit seinem durch ein glattes Kinn geteilten Backenbart und dem schräg sitzenden Kneifer wie ein englischer Lord aus, der an den großen Ideen der Menschen-und Handelsfreiheit festhält, und verschwieg, daß er die gerügten Ansichten von Hans Sepp gehört hatte, seinem zukünftigen Schwiegersohn, der in der «zweiten Strömung des Zeitgeistes» recht in seinem Fahrwasser war.
«Rohe Ansichten?» fragte ihn der General auskunftsbereit.
«Außerordentlich rohe» bestätigte Fischel.
«Da war vielleicht von <Ertüchtigung> die Rede, das kann man nämlich leicht miteinander verwechseln»
meinte Stumm.
«Nein, nein!» rief Fischel aus. «Völlig respektlose, geradezu revolutionäre Ansichten! Sie kennen vielleicht nicht unsere verhetzte Jugend, Herr Generalmajor: Ich habe mich gewundert, daß man solche Leute hier überhaupt zuläßt. »
«Revolutionäre Ansichten?» fragte Stumm, dem das nicht gefiel, und lächelte so kühl, wie es sein rundes Antlitz nur gestattete. «Da muß ich leider sagen, Herr Direktor, daß ich durchaus nicht ganz und gar gegen das Revolutionäre bin! Natürlich heißt das, soweit man es nicht wirklich Revolution machen läßt! Oft steckt ja ungemein viel Idealismus darin. Und was das Zulassen betrifft, so hat doch die Aktion, die das gesamte Vaterland zusammenfassen soll, gar kein Recht, aufbauwillige Kräfte zurückzuweisen, in welcher Art immer sie sich ausdrücken!»
Leo Fischel schwieg. Professor Schwung lag nicht viel an der Meinung eines Würdenträgers, der nicht zur Zivilverwaltung gehörte. Tuzzi hatte geträumt: «Erste Strömung - zweite Strömung. » Es erinnerte ihn an zwei ähnliche Wortgebilde: «Erste Stauung, zweite Stauung», aber ohne daß ihm diese einfielen oder das Gespräch mit Ulrich, darin sie vorgekommen waren; bloß eine unbegreifliche Eifersucht auf seine Frau erwachte in ihm und hing mit diesem ungefährlichen General durch unsichtbare Zwischenglieder zusammen, die er in keiner Weise entwirren konnte. Als ihn das Schweigen aufweckte, wollte er dem Vertreter des Militärs zeigen, daß er sich nicht durch ausschweifende Reden in die Irre führen lasse. «Wenn ich das zusammenfasse, Herr General, » begann er «so will die Militärpartei - » «Aber Herr Sektionschef, es gibt doch keine Militärpartei!» unterbrach ihn Stumm sofort, «Wir hören immer sagen: Militärpartei, und dabei ist das Militär doch seinem ganzen Wesen nach überparteilich!»
«Also dann das Militär-Ressort» erwiderte Tuzzi ziemlich unwirsch auf diese Unterbrechung. «Sie haben gesagt, der Armee ist nicht nur mit Kanonen gedient, sondern sie braucht auch den dazugehörigen Geist: von welchem Geist werden Sie nun belieben ihre Geschütze laden zu lassen?»
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«Viel zu weit gegriffen, Herr Sektionschef!» beteuerte Stumm. «Wir sind davon ausgegangen, daß ich den Herrn den heutigen Abend habe erklären sollen, und ich habe gesagt, daß man da eigentlich nichts erklären kann: das ist das einzige, was ich aufrecht erhalte! Denn wenn der Zeitgeist wirklich die zwei Strömungen hat, von denen ich gesprochen habe, so sind sie ja alle beide auch nicht fürs <Erklären>. Man ist heute für Triebkräfte, Blutkräfte und dergleichen: ich geh ja gewiß nicht mit, aber daran ist etwas!»
Bei diesen Worten kochte noch einmal Direktor Fischel auf und fand es unmoralisch, daß sich das Militär unter Umständen auch mit dem Antisemitismus vergleichen wolle, um zu seinen Geschützen zu kommen.
«Aber Herr Direktor!» beruhigte ihn Stumm. «Erstens kommt es doch wirklich nicht auf ein bisserl Antisemitismus an, wenn die Leute schon einmal überhaupt Ami sind, die Deutschen gegen die Tschechen und Madjaren, die Tschechen gegen die Madjaren und die Deutschen, und so halt weiter ein jeder gegen alle. Und zweitens ist gerade das österreichische Offizierskorps immer international gewesen, da braucht man nur die vielen italienischen, französischen, schottischen, ja was weiß ich für Namen anzusehn; auch einen General der Infanterie von Kohn haben wir, der ist Korpskommandant in Olmütz!»
«Ich fürchte trotzdem, Sie muten sich zu viel zu» unterbrach Tuzzi die Unterbrechung. «Sie sind international und kriegerisch, möchten aber mit den nationalen Strömungen und den pazifistischen ein Geschäft machen: das ist beinahe mehr, als ein Diplomat von Fach leisten könnte. Mit dem Pazifismus Militärpolitik zu treiben, beschäftigt heute in Europa die gewiegtesten Fachleute!»
«Aber das sind doch überhaupt nicht wir, die Politik treiben!» verteidigte sich Stumm noch einmal, im Ton der müden Klage über so viel Mißverständnis. «Seine Erlaucht wollte Besitz und Bildung eine letzte Gelegenheit geben, ihren Geist zu einigen: daraus ist dieser Abend entsprungen. Natürlich, wenn sich der Zivilgeist ganz und gar nicht einigen könnte, würden wir in die Lage kommen — »
«Nun, in welche Lage? Das wäre ja gerade wissenswert!» rief Tuzzi aus, vorschnell das Wort schürend, das kommen sollte.
«Natürlich in eine schwierige» meinte Stumm vorsichtig und bescheiden.
Während sich die vier Herren so unterhielten, hatte sich aber Ulrich längst unauffällig davongemacht und suchte Gerda, in einem Bogen der Gruppe Sr. Erlaucht und des Kriegsministers ausweichend, damit er nicht herangewinkt werde.
Er sah sie schon von ferne an der Wand sitzen neben ihrer steif in den Salon blickenden Mutter, und Hans Sepp stand unruhig und trotzig an ihrer anderen Seite. Seit jenem unseligen letzten Beisammensein mit Ulrich war sie noch magerer geworden, und je mehr er sich ihr näherte, desto kahler der Reize entblößt, aber irgendwie gerade dadurch verhängnisvoller anziehend, hob sich ihr Kopf mit den kraftlosen Schultern vom Zimmer ab. Als sie Ulrichs ansichtig wurde, übergoß eine jähe Röte ihre Wangen, die von noch tieferer Blässe gefolgt wurde, und sie machte eine unwillkürliche Bewegung mit dem Oberkörper wie ein Mensch, den das Herz schmerzt und irgendwelche Umstände verhindern hinzugreifen. Der Auftritt flog ihm durch den Kopf, wo er, wild hingegeben an den tierischen Vorteil, daß er ihren Körper errege, ihren Willen mißbraucht hatte: Da saß nun dieser Körper, für ihn unter dem Kleid sichtbar, auf einem Stuhl, empfing Befehle des gekränkten Willens, sich jetzt stolz zu verhalten, und zitterte dabei. Gerda war nicht böse auf ihn, das sah er, aber sie wollte um jeden Preis mit ihm «fertig» sein. Er verlangsamte unauffällig seinen Schritt, um so lange wie möglich von alledem zu kosten, und diese wollüstige Verzögerung schien dem Verhältnis dieser beiden Menschen zu einander zu entsprechen, die nie ganz zusammenkommen konnten.
Und als Ulrich ihr schon nahe war und nichts mehr sah als das Beben in dem Gesicht, das ihn erwartete, fiel etwas Gewichtloses auf ihn, das wie ein Schatten war oder ein Streifen Wärme, und er gewahrte Bonadea, die stumm, aber wohl kaum ohne Absicht an ihm vorbeigegangen war und ihn wahrscheinlich verfolgt hatte, und er grüßte sie. Die Welt ist schön, wenn man sie nimmt, wie sie ist: Für eine Sekunde kam ihm der naive Gegensatz des Üppigen und des Kargen, wie er sich an diesen beiden Frauen ausdrückte, so groß vor wie der zwischen Wiese und Stein an der Felsgrenze, und er hatte das Gefühl, der Parallelaktion zu entsteigen, wenn auch mit einem schuldbewußten Lächeln. Als Gerda dieses Lächeln langsam hernieder-und ihrer hingestreckten Hand entgegensinken sah, zitterten ihre Augenlider.
In diesem Augenblick gewahrte Diotima, daß Arnheim den jungen Feuermaul zu der Gruppe Sr. Erlaucht und des Kriegsministers führte, und unterbrach als erfahrene Taktikerin alle Anknüpfungen, indem sie die gesamte Bedienung mit Erfrischungen in die Zimmer einbrechen hieß.
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Ein Vergleich
Solche Gespräche wie die geschilderten gab es zu Dutzenden, und alle hatten etwas gemeinsam, das sich nicht ohne weiteres beschreiben läßt, aber auch nicht verschwiegen werden kann, wenn man es nicht wie Regierungsrat Meseritscher versteht, eine blendende Gesellschaftsschilderung bloß dadurch zu geben, daß man aufzählt: der und die waren da, hatten dies und das an und äußerten das und jenes; worauf allerdings gerade das hinausläuft, was von vielen für die echteste erzählerische Kunst gehalten wird. Friedel Feuermaul war also kein elender Schmeichler, und das war er nie, sondern hatte nur zeitgemäße Einfalle am rechten Platz, wenn er von Meseritscher vor Meseritscher sagte: «Er ist eigentlich der Homer unserer Zeit!
Nein, ganz im Ernst, » fügte er hinzu, denn Meseritscher deutete eine unwillige Bewegung an «das episch unerschütterliche <Und>, mit dem Sie alle Menschen und Ereignisse aneinanderreihen, hat in meinen Augen etwas ganz Großes!» Er war des Chefs der Parlaments-und Gesellschaftskorrespondenz habhaft geworden, da dieser das Haus nicht hatte verlassen wollen, ohne Arnheim seine Aufwartung gemacht zu haben; aber Meseritscher versetzte ihn trotzdem nicht unter die mit Namen angeführten Gäste.
Ohne auf die feinere Unterscheidung zwischen Idioten und Kretins einzugehen, darf nun daran erinnert werden, daß es einem Idioten gewissen Grades nicht mehr gelingt, den Begriff «Eltern» zu bilden, während ihm die Vorstellung «Vater und Mutter» noch ganz geläufig ist. Dieses schlichte, aneinanderreihende
«Und» war es aber auch, durch das Meseritscher die Erscheinungen der Gesellschaft verband. Ferner ist daran zu erinnern, daß Idioten in der schlichten Dinglichkeit ihres Denkens etwas besitzen, das nach der Erfahrung aller Beobachter in geheimnisvoller Weise das Gemüt anspricht; und daß Dichter auch vornehmlich das Gemüt ansprechen, ja sogar auf eine soweit gleiche Weise, als sie sich durch eine möglichst handgreifliche Geistesart auszeichnen sollen. Wenn Friedel Feuermaul also Meseritscher als Dichter ansprach, hätte er ihn ebensogut - das heißt, aus den gleichen Empfindungen, die ihm dunkel, und das hieß bei ihm wieder in einer plötzlichen Erleuchtung, vorschwebten - auch als einen Idioten ansprechen können, und zwar auf eine auch für die Menschheit bedeutsame Weise. Denn das Gemeinsame, um das es sich da handelt, ist ein Geisteszustand, der durch keine weitspannenden Begriffe zusammengehalten, durch keine
Scheidungen und Abstraktionen geläutert wird, ein Geisteszustand der niedersten
Zusammenfügung, wie er sich am anschaulichsten eben in der Beschränkung auf das einfachste Binde-Wort, das hilflos aneinanderreihende «Und» ausdrückt, das dem Geistesschwachen verwickeitere Beziehungen ersetzt; und es darf behauptet werden, daß sich auch die Welt, unerachtet alles in ihr enthaltenen Geistes, in einem solchen der Imbezillität verwandten Zustand befindet, ja es läßt sich das gar nicht vermeiden, wenn man die Geschehnisse, die sich in ihr abspielen, aus dem Ganzen verstehen will.
Nicht, als ob nun etwa Urheber oder Teilnehmer einer solchen Betrachtung die einzig Klugen sein sollten!
Es kommt da gar nicht auf den einzelnen an, so wenig wie auf die Geschäfte, die er betreibt und die auch von jedem, der an diesem Abend zu Diotima gekommen war, mit mehr oder weniger Schlauheit betrieben wurden. Denn wenn zum Beispiel General von Stumm in der Pause alsbald mit Sr. Erlaucht in ein Gespräch geriet, in dessen Verlauf er freundlich-eigensinnig und ehrerbietig-freimütig mit den Worten widersprach:
«Halten zu Gnaden, Erlaucht, daß ich das aufs heftigste bestreite; aber in dem Stolz der Leute auf ihre Rasse liegt nicht nur eine Anmaßung, sondern auch etwas sympathisches Adeliges!» so wußte er genau, was er mit diesen Worten meinte, nicht genau wußte er bloß, was er mit ihnen sagte, denn um solche zivile Worte ist ein Plus wie dicke Handschuhe, in denen man aus einer Schachtel Zündhölzer ein einzelnes zu fassen sucht. Und Leo Fischel, der sich nicht von Stumm getrennt hatte, als er bemerkte, daß der General ungeduldig zu Sr. Erlaucht strebe, fügte hinzu: «Man muß die Menschen nicht nach der Rasse unterscheiden, sondern nach Verdienst!» Und auch was Se. Erlaucht entgegnete, war folgerichtig; Se.
Erlaucht überging nämlich den ihm frisch vorgestellten Direktor Fischel und antwortete von Stumm:
«Wozu brauchen die Bürgerlichen eine Rasse?! Daß ein Kammerherr sechzehn adelige Ahnen haben muß, darüber haben sie sich immer aufgehalten als eine Anmaßung, und was tun sie jetzt selber? Nachmachen möchten sie’s und übertreiben tun sie’s. Mehr als sechzehn Ahnen ist ja einfach schon ein Snobismus!»
Denn Se. Erlaucht war gereizt, und da war es ganz logisch, daß er so sprach. Es ist ja überhaupt nicht strittig, 557
daß der Mensch Vernunft besitzt, sondern nur, wie er sie in Gemeinschaft anwendet.
Se. Erlaucht war ärgerlich über das Eindringen «völkischer» Elemente in die Parallelaktion, das er selbst veranlaßt hatte. Verschiedene politische und gesellschaftliche Rücksichten hatten ihn dazu gezwungen; er selbst anerkannte nur das «Staatsvolk». Seine politischen Freunde hatten ihm geraten: «Es schad’t doch nichts, wenn du dir anhörst, was sie von Rasse und Reinheit und Blut sagen; wer nimmt denn überhaupt ernst, was einer redet!» «Aber da sprechen sie ja vom Menschen geradeso, als ob er ein Vieh wäre!» hatte Graf Leinsdorf abgewehrt, der eine katholische Auffassung von der Würde des Menschen besaß, die ihn einzusehen hinderte, daß man die Ideale der Hühner-und Pferdezucht auch auf Gottes Kinder anwenden könne, obwohl er ein Großgrundbesitzer war. Darauf hatten seine Freunde gesagt: «Du mußt es ja nicht gleich so tief betrachten! Und vielleicht ist es sogar besser, als daß sie von Humanität und solchen ausländischen Revolutionsbegriffen reden, wie das bisher immer geschehen ist!» Und das hatte Sr. Erlaucht schließlich eingeleuchtet. Se. Erlaucht war aber auch ärgerlich darüber, daß dieser Feuermaul, dessen Einladung er Diotima aufgenötigt hatte, bloß neue Verwirrung in die Parallelaktion brachte und ihn enttäuschte. Die Baronin Wayden hatte von ihm Wunder erzählt, und er hatte ihrem Drängen schließlich nachgegeben. «Darin haben Sie ja ganz recht, » hatte Leinsdorf eingeräumt «daß wir bei dem jetzigen Kurs leicht in den Ruf kommen zu germanisieren. Und darin haben Sie auch recht, daß es da vielleicht nicht schadet, wenn wir auch einen Dichter einladen, der davon redet, daß man alle Menschen lieben muß. Aber sehen Sie, ich kann das halt der Tuzzi nicht antun!» Aber die Wayden hatte nicht nachgelassen und mußte neue einleuchtende Gründe gefunden haben, denn am Ende der Unterredung hatte Leinsdorf ihr versprochen, die Einladung von Diotima zu fordern. «Gern tu ich’s nicht» hatte er gesagt. «Aber eine starke Hand braucht auch ein schönes Wort, um sich den Leuten verständlich zu machen: darin pflichte ich Ihnen bei. Und darin haben Sie auch recht, daß alles in letzter Zeit zu langsam geht, es ist nicht mehr der rechte Eifer dahinter!»
Aber nun war er nicht zufrieden. Se. Erlaucht hielt keineswegs die ändern Menschen für dumm, wenn er sich auch für klüger hielt als sie, und er begriff nicht, warum diese klugen Menschen versammelt auf ihn einen so schlechten Eindruck machten. Ja, das ganze Leben machte auf ihn diesen Eindruck, als bestünde neben einem Zustand der Klugheit im einzelnen sowie in den amtlichen Vorkehrungen, zu denen er wie bekannt auch Glauben und Wissenschaft rechnete, ein völliger Zustand der Unzurechnungsfähigkeit im ganzen. Da tauchten immer wieder Ideen auf, die man noch nicht kannte, erhitzten die Leidenschaften und verschwanden nach Jahr und Tag wieder; da liefen die Leute bald dem, bald jenem nach und fielen von einem Aberglauben in den andren; da jubelten sie das eine Mal Seiner Majestät zu, und das andere Mal hielten sie verabscheuungswürdige Brandreden im Parlament: aber herausgekommen war noch nie etwas dabei! Wenn man das millionenfach verkleinern könnte und sozusagen auf die Ausmaße eines Einzelkopfes bringen, so gäbe es darum genau das Bild der Unberechenbarkeit, Vergeßlichkeit, Unwissenheit und eines närrischen Herumhopsens, das sich Graf Leinsdorf immer von einem Verrückten gemacht hatte, obwohl er bisher nur wenig Gelegenheit gehabt hatte, darüber nachzudenken. Unmutig stand er in der Mitte der ihn umgebenden Herrn, überlegte, daß doch gerade die Parallelaktion das Wahre hätte an den Tag bringen sollen, und konnte irgendeinen Gedanken über Glauben nicht hervorbringen, von dem er bloß etwas fühlte, das angenehm beruhigend war wie der Schatten einer hohen Mauer, und wahrscheinlich war das eine Kirchenmauer. «Komisch!» sagte er, diesen Gedanken nach einer Weile aufgebend, zu Ulrich: «Wenn man das alles mit einer gewissen Distanz anschaut, erinnert es einen irgendwie an Stare, wenn sie im Herbst zu Scharen in den Obstbäumen sitzen. »
Ulrich war von Gerda zurückgekommen. Das Gespräch hatte nicht das gehalten, Was der Anfang versprach; Gerda hatte nicht viel mehr als kurze, von einem Etwas mühsam abgehackte Antworten herausgebracht, das wie ein Keil in ihrer Brust saß; desto mehr hatte Hans Sepp gesprochen, er hatte sich als ihr Wächter aufgespielt und gleich gezeigt, daß er sich von dieser morschen Umgebung nicht einschüchtern lasse.
«Sie kennen den großen Rasseforscher Bremshuber nicht?» hatte er Ulrich gefragt.
«Wo lebt er?» hatte Ulrich gefragt.
«In Schärding an der Laa» hatte Hans gesagt.
«Was ist er?» hatte Ulrich gefragt.
«Das will doch nichts bedeuten!» hatte Hans gesagt. «Jetzt kommen eben neue Leute! Apotheker ist er!»
Ulrich hatte zu Gerda gesagt: «Sie sind ja jetzt richtig verlobt, wie ich gehört habe!»
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Und Gerda hatte geantwortet: «Bremshuber fordert die schonungslose Unterdrückung aller Andersrassischen; das ist bestimmt weniger grausam als Schonen und Verachten!» Ihre Lippe hatte wieder gezittert, während sie sich diesen aus geborstenen Stücken schief zusammengepreßten Satz abzwang.
Ulrich hatte sie bloß angesehn und den Kopf geschüttelt.
«Das verstehe ich nicht!» hatte er gesagt, während er ihr die Hand zum Abschied gab, und nun stand er neben Leinsdorf und kam sich unschuldig wie ein Stern im unendlichen Raum vor.
«Wenn man es aber nicht mit Distanz anschaut, » setzte Graf Leinsdorf nach einer Weile langsam seinen neuen Gedanken fort «dann dreht es sich einem im Kopf wie ein Hund, der sein Schwanzspitzel fangen möcht! Schauen Sie, » fügte er hinzu «da hab ich jetzt meinen Freunden nachgegeben und hab der Baronin Wayden nachgegeben, aber wenn man so zuhört, was wir reden, so macht es ja im einzelnen einen sehr gescheiten Eindruck, aber gerade in den veredelten geistigen Beziehungen, die wir suchen wollen, macht es den Eindruck einer weitgehenden Willkür und großer Zusammenhangslosigkeit!»
Um den Kriegsminister und Feuermaul, den Arnheim zu ihm hingebracht hatte, war eine Gruppe entstanden, und in ihr führte Feuermaul lebhaft das Wort und liebte alle Menschen, während sich um Arnheim selbst, nachdem er sich wieder zurückgezogen hatte, an einer entfernteren Stelle eine zweite Gruppe bildete, in der Ulrich später auch Hans Sepp und Gerda gewahrte. Man hörte herüber, wie Feuermaul ausrief: «Man versteht das Leben nicht durch Lernen, sondern durch Güte; man muß dem Leben glauben!» Frau Professor Drangsal stand aufrecht hinter ihm und bestätigte: «Auch Goethe ist nicht Doktor geworden!» Überhaupt hatte Feuermaul in ihren Augen viel Ähnlichkeit mit ihm. Der Kriegsminister stand gleichfalls sehr aufrecht und lächelte ausdauernd, so wie er es gewohnt war, bei einer Parade die Hand lange dankend an den Kappenschirm zu halten.
Graf Leinsdorf fragte: «Sagen Sie, wer ist eigentlich dieser Feuermaul?»
«Sein Vater hat in Ungarn mehrere Betriebe» erwiderte Ulrich. «Ich glaube, irgendwas mit Phosphor, wobei kein Arbeiter älter als vierzig Jahre wird: Berufskrankheit Kno-chennekrose. »
«Na ja, aber der Junge?» Das Arbeiterschicksal berührte Leinsdorf nicht.
«Der hat studieren sollen; Jus, glaube ich. Der Vater ist ein selbstgemachter Mann, und es soll ihn gekränkt haben, daß der Junge keine Lust zu lernen hatte. »
«Warum hat er keine Lust zu lernen gehabt?» fragte Graf Leinsdorf, der an diesem Tag sehr gründlich war.
«Du lieber Himmel, » meinte Ulrich achselzuckend «wahrscheinlich: «Väter und Söhne>. Wenn der Vater arm ist, lieben die Söhne das Geld; wenn der Papa Geld hat, lieben die Söhne wieder alle Menschen. Haben Erlaucht noch nichts von dem Problem des Sohnes in unserer Zeit gehört?»
«Ja, ich hab was davon gehört. Aber warum protegiert der Arnheim den Feuermaul? Hängt das mit den ölfeidern zusammen?» fragte Graf Leinsdorf.
«Erlaucht wissen das?!» rief Ulrich aus.
«Natürlich weiß ich alles» gab Leinsdorf geduldig zur Antwort. «Aber was ich nicht verstehe, bleibt das Folgende: Daß die Menschen einander lieben sollen und daß die Regierung dazu eine starke Hand braucht, das hat man ja immer gewußt; also warum soll das auf einmal ein «Entweder-Oder > sein?»
Ulrich erwiderte: «Erlaucht haben sich immer eine aus dem Ganzen aufsteigende Kundgebung gewünscht: so muß sie aussehn!»
«Ah, das ist nicht wahr -!» widersprach ihm Leinsdorf angeregt, aber ehe er fortfahren konnte, wurden sie durch Stumm von Bordwehr unterbrochen, der von der Gruppe Arnheim kam und in aufgeregter Eile von Ulrich etwas zu wissen wünschte. «Entschuldigen, Erlaucht, wenn ich störe» bat er. «Aber sag mir, »
wandte er sich an Ulrich «kann man wirklich behaupten, daß der Mensch nur seinen Affekten folgt, und nie der Vernunft?»
Ulrich sah ihn ungeistesgegenwärtig an.
«Drüben ist so ein Marxist, » erläuterte Stumm «der behauptet sozusagen, daß der ökonomische Unterbau eines Menschen ganz und gar seinen ideologischen Überbau bestimmt. Und ihm widerspricht ein Psychoanalytiker; der behauptet, daß der ideologische Überbau ganz und gar ein Produkt seines triebhaften Unterbaus ist. »
«Das ist nicht so einfach» meinte Ulrich, der zu entkommen wünschte.
«Das sag ich auch immer! Aber es hat nur nichts genutzt!» erwiderte der General sofort und ließ ihn nicht aus den Augen. Aber auch Leinsdorf ergriff wieder das Wort. «Ja, sehen Sie, » sagte er zu Ulrich «so etwas 559
Ähnliches habe ich ja gerade auch zur Diskussion stellen wollen. Denn ob der Unterbau jetzt meinethalben ökonomisch oder geschlechtlich ist - also was ich vordem hab sagen wollen, ist: warum sind die Leut im Überbau so unzuverlässig?! Nämlich, man sagt doch sprichwörtlich: die Welt ist verrückt; und am End könnte man manchmal glauben, daß es wahr ist!»
«Das ist die Psychologie der Masse, Erlaucht!» mischte sich der gelehrte General wieder ein. «Soweit es die Masse angeht, versteh ich das sehr gut. Die Masse wird nur von Trieben bewegt, und dann natürlich von denen, die den meisten Individuen gemeinsam sind: das ist logisch! Das heißt, das ist natürlich unlogisch: Die Masse ist unlogisch, sie benützt logische Gedanken gerade nur zum Aufputzen: Wovon sie sich wirklich leiten läßt, das ist einzig und allein die Suggestion! Wenn Sie mir die Zeitungen, den Rundfunk, die Lichtspielindustrie und vielleicht noch ein paar andere Kulturmittel überantworten, so verpflichte ich mich, in ein paar Jahren - wie mein Freund Ulrich einmal gesagt hat -aus den Menschen Menschenfresser zu machen! Gerade darum braucht die Menschheit ja auch eine starke Führung! Erlaucht wissen das übrigens besser als ich! Aber daß auch der unter Umständen so hochstehende einzelne Mensch nicht logisch sein soll, das kann ich nicht glauben, obwohl es auch der Arnheim behauptet. »
Was hätte Ulrich seinem Freund für diese sehr zufällige Kontroverse an die Hand geben sollen? Wie sich an einer Angel ein Grasbüschel statt eines Fisches verfängt, hing an des Generals Frage ein wirres Büschel von Theorien. Ob der Mensch nur seinen Affekten folgt, nur das tut, fühlt, ja sogar denkt, wozu ihn unbewußte Ströme des Verlangens oder die sanftere Brise der Lust treiben, wie man heute annimmt? Ob er nicht doch eher der Vernunft und dem Willen folgt, - wie man gleichfalls heute annimmt? Ob er bestimmten Affekten besonders folgt, so dem geschlechtlichen, wie man heute annimmt? Oder doch nicht vor allem dem geschlechtlichen, sondern der psychologischen Wirkung wirtschaftlicher Bedingungen, wie man gleichfalls heute annimmt? Man kann ein so verwickeltes Gebilde, wie er es ist, von vielen Seiten ansehn und im theoretischen Bild das oder jenes als Achse wählen: es entstehen Teilwahrheiten, aus deren gegenseitiger Durchdringung langsam die Wahrheit höher wächst: Wächst sie aber wirklich höher? Es hat sich noch jedesmal gerächt, wenn man eine Teilwahrheit für das allein Gültige angesehen hat. Anderseits wäre man aber kaum zu dieser Teilwahrheit gelangt, hätte man sie nicht überschätzt. So hängt die Geschichte der Wahrheit und die des Gefühls mannigfach zusammen, aber die des Gefühls blieb dabei im Dunkel. Ja, nach Ulrichs Überzeugung war sie gar keine Geschichte, sondern ein Wust. Spaßig zum Beispiel, daß die religiösen, und also doch wohl leidenschaftlichen, Gedanken, die sich das Mittelalter über den Menschen gemacht hat, sehr von seiner Vernunft und seinem Willen überzeugt waren, während heute viele Gelehrte, deren Leidenschaft höchstens darin besteht, daß sie zuviel rauchen, das Gefühl für die Grundlage alles Menschlichen ansehn. Solche Gedanken gingen Ulrich durch den Kopf, und er hatte natürlich keine Lust, auf Stumms Reden zu antworten, der übrigens auch gar nicht darauf wartete, sondern sich nur noch etwas auskühlte, ehe er sich entschloß, seinen Weg zurück zu nehmen.
«Graf Leinsdorf!» sagte Ulrich sanft. «Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen einmal den Rat gegeben habe, ein Generalsekretariat für alle Fragen zu gründen, zu denen man ebensoviel Seele wie Genauigkeit braucht?»
«Freilich erinnere ich mich» gab Leinsdorf zur Antwort. «Ich hab das ja Seiner Eminenz erzählt, er hat herzlich gelacht. Er hat aber gesagt, daß Sie zu spät kommen!»
«Und doch ist es gerade das, was Sie vorhin vermißt haben, Erlaucht!» fuhr Ulrich fort. «Sie bemerken, daß die Welt sich heute nicht mehr an das erinnert, was sie gestern gewollt hat, daß sie sich in Stimmungen befindet, die ohne zureichenden Grund wechseln, daß sie ewig aufgeregt ist, daß sie nie zu einem Ergebnis kommt, und wenn man sich das in einem einzigen Kopf vereinigt dächte, was so in den Köpfen der Menschheit vorgeht, würde er wirklich unverkennbar eine ganze Reihe von bekannten
Ausfallserscheinungen zeigen, die man zur geistigen Minderwertigkeit rechnet - »
«Hervorragend richtig!» rief Stumm von Bordwehr, der sich durch den Stolz auf seine nachmittags erworbenen Kenntnisse von neuem festgehalten sah. «Das ist genau das Bild der - na, ich hab wieder vergessen, wie diese Geisteskrankheit heißt, aber es ist genau ihr Bild!»
«Nein, » sagte Ulrich lächelnd «das ist sicher nicht das Bild einer bestimmten Geisteskrankheit; denn was einen Gesunden von einem Geisteskranken unterscheidet, ist doch gerade, daß der Gesunde alle Geisteskrankheiten hat, und der Geisteskranke nur eine!»
«Sehr geistvoll!» riefen Stumm und Leinsdorf wie aus einem Munde, wenn auch in etwas verschiedenen Worten, aus, und dann fügten sie ebenso hinzu: - «Aber was soll es eigentlich heißen?»
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«Das heißt» behauptete Ulrich: «Wenn ich unter Moral die Regelung aller jener Beziehungen verstehen darf, die Gefühl, Phantasie und dergleichen einschließen, so richtet sich darin der einzelne nach den anderen und hat auf diese Weise scheinbar einige Festigkeit, aber alle zusammen sind in der Moral über den Zustand des Wahns nicht hinaus!»
«Na, das geht zu weit!» meinte Graf Leinsdorf gutmütig, und auch der General sagte: «Aber hör, jeder Mensch muß doch selbst seine Moral haben; man kann doch keinem vorschreiben, ob er eine Katz lieber hat oder einen Hund!»
«Kann man es ihm vorschreiben, Erlaucht?!» fragte Ulrich eindringlich.
«Ja, früher» sagte Graf Leinsdorf diplomatisch, obwohl bei seiner gläubigen Überzeugung gepackt, daß es auf allen Gebieten «das Wahre» gebe «früher war das besser. Aber heutzutage?»
«Dann bleibt eben der Glaubenskrieg in Permanenz» meinte Ulrich.
«Sie nennen das einen Glaubenskrieg?» fragte Leinsdorf neugierig.
«Wie denn sonst?»
«Na ja, gar nicht schlecht. Eine ganz gute Bezeichnung für das heutige Leben. Übrigens hab ich immer gewußt, daß in Ihnen heimlich gar kein schlechter Katholik steckt!»
«Ich bin ein sehr schlechter» antwortete Ulrich. «Ich glaube nicht, daß Gott da war, sondern daß er erst kommt. Aber nur, wenn man ihm den Weg kürzer macht als bisher!»
Se. Erlaucht wies das mit den würdigen Worten zurück: «Das ist mir zu hoch!»
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Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Aber man hat es nicht gemerkt
Dagegen rief der General aus: «Ich muß jetzt leider unverzüglich zu Seiner Exzellenz zurück, aber das alles mußt du mir unbedingt noch erklären, ich laß dich nicht aus! Ich komme dann noch einmal her, wenn die Herrn gestatten!»
Leinsdorf machte den Eindruck, daß er etwas sagen wolle, die Gedanken arbeiteten gewaltig in ihm, aber Ulrich und er waren kaum einen Augenblick allein geblieben, so sahen sie sich von Menschen umgeben, die das allgemeine Kreisen heranführte und die anziehende Person Sr. Erlaucht festhielt. Von dem, was Ulrich soeben gesagt hatte, war natürlich nicht mehr die Rede, und niemand außer ihm dachte noch daran, da schob sich von hinten ein Arm in den seinen, und Agathe stand bei ihm. «Hast du schon einen Grund gefunden, mich zu verteidigen?» fragte sie mit liebkosender Bosheit.
Ulrich ließ ihren Arm nicht los und wandte sich mit ihr von den Menschen ab, bei denen er gestanden hatte.
«Können wir nicht nach Hause gehn?» fragte Agathe.
«Nein, » sagte Ulrich «ich kann ja noch nicht fort. »
« Dich läßt wohl die kommende Zeit nicht fort, um deretwillen du dich hier rein halten mußt?» neckte ihn Agathe.
Ulrich drückte ihren Arm.
«Ich finde, es spricht sehr für mich, daß ich nicht hieher gehöre, sondern ins Zuchthaus!» flüsterte sie ihm ins Ohr.
Sie suchten einen Platz, wo sie allein sein könnten. Die Versammlung war jetzt richtig aufgekocht und trieb ihre Teilnehmer langsam durcheinander. Immer noch war im ganzen die zweifache Gruppierung zu unterscheiden: um den Kriegsminister war von Frieden und Liebe die Rede, um Arnheim augenblicklich davon, daß die deutsche Milde am besten im Schatten der deutschen Kraft gedeihe.
Er hörte es wohlwollend an, weil er niemals eine ehrliche Meinung zurückwies und eine besondere Liebe für neue Meinungen hatte. Seine Sorge war, ob das Geschäft mit den ölfeldern im Parlament Schwierigkeiten finden werde. Er rechnete damit, daß die Opposition der slawischen Politiker keinesfalls zu vermeiden sein werde, und hoffte, sich der Stimmung unter den Deutschen zu vergewissern. In den Regierungskreisen stand die Angelegenheit gut bis auf eine gewisse Gegnerschaft im Ministerium des Äußern, der er keine große Bedeutung beimaß. Nächsten Tags sollte er nach Budapest reisen.
Feindliche «Beobachter» gab es rings um ihn und die anderen Hauptpersonen genug. Sie waren am raschesten daran zu erkennen, daß sie zu allem Ja sagten und die nettesten Leute waren, während doch die 561
übrigen meist verschiedener Meinung waren.
Tuzzi suchte einen von ihnen mit den Worten zu überzeugen: «Was geredet wird, bedeutet gar nichts. Das bedeutet nie etwas!» Der andere glaubte es ihm. Es war ein Parlamentarier. Aber er änderte nicht die Meinung, die er schon mitgebracht hatte, daß trotzdem hier Böses vor sich gehe.
Se. Erlaucht verteidigte dagegen im Gespräch mit einem anderen Frager die Bedeutung des Abends mit den Worten: «Mein Verehrter, sogar Revolutionen werden seit Acht-zehnhundertachtundvierzig nur noch durch vieles Reden gemacht!»
Es wäre falsch, in solchen Unterschieden nichts als die erlaubte Abweichung von der Eintönigkeit zu sehen, die das Leben sonst hätte; und doch wird dieser folgenschwere Irrtum beinahe ebensooft begangen, wie von dem Satz: «Das ist Gefühlssache!» Gebrauch gemacht wird, ohne den die Einrichtung unseres Geistes gar nicht zu denken ist. Dieser unentbehrliche Satz trennt das, was im Leben sein muß, von dem, was sein kann.
«Er trennt» sagte Ulrich zu Agathe «die gesetzte Ordnung von einem eingeräumten persönlichen Spielraum.
Er trennt das, was rationalisiert ist, von dem, was für irrational gilt. Er bedeutet, in der üblichen Art gebraucht, das Eingeständnis, daß die Menschlichkeit in den Hauptsachen ein Zwang sei, in den Nebensachen aber eine verdächtige Willkür. Man meint, das Leben wäre ein Zuchthaus, stünde es nicht in unserem Belieben, ob wir Wein oder Wasser vorziehn, Atheisten oder Frömmler sein wollen, und man meint nicht im geringsten damit, daß nun das, was Gefühlssache sei, wirklich dem Belieben überlassen bleibe; vielmehr gibt es ja, ohne daß die Grenze eindeutig wäre, erlaubte und unerlaubte Gefühlssachen. »
Die zwischen Ulrich und Agathe war eine unerlaubte, obwohl die beiden, die sich Arm in Arm vergeblich nach einem Versteck umsahen, bloß über die Versammlung sprachen und dabei in einer wilden und verschwiegenen Weise die Freude empfanden, nach ihrer Entzweiung wieder vereint zu sein. Dagegen war die Wahl, ob man seine Mitmenschen alle lieben oder vorher einen Teil von ihnen vernichten solle, offenbar Gefühlssache von zweifacher Erlaubtheit, denn sonst wäre sie nicht in Diotimas Haus und in Gegenwart Sr. Erlaucht so eifrig abgehandelt worden, obwohl sie noch dazu die Gesellschaft in zwei gehässige Parteien trennte. Ulrich behauptete, die Erfindung der «Gefühlssache» habe der Sache des Gefühls den schlechtesten Dienst erwiesen, der ihr je geleistet worden sei, und als er es unternahm, seiner Schwester den abenteuerlichen Eindruck zu erklären, den dieser Abend in ihm weckte, kam er darauf in einer Weise zu sprechen, die ohne seinen Willen das am Morgen abgebrochene Gespräch fortsetzte und es wahrscheinlich rechtfertigen sollte. «Ich weiß freilich nicht, » sagteer «womit ich anfangen soll, ohne dich zu langweilen. Darf ich dir sagen, was ich unter Moral verstehe?»
«Bitte» erwiderte Agathe.
«Moral ist Regelung des Verhaltens innerhalb einer Gesellschaft, vornehmlich aber schon die seiner inneren Antriebe, also der Gefühle und Gedanken. »
«Das ist ein großer Fortschritt in wenigen Stunden!» entgegnete Agathe lachend. «Heute morgen hast du noch gesagt, du wissest nicht, was Moral sei!»
«Natürlich weiß ich es nicht. Trotzdem kann ich dir ja ein Dutzend Erklärungen geben. Die älteste ist, daß Gott uns die Ordnung des Lebens in allen ihren Einzelheiten geoffenbart hat — »
«Das wäre die schönste!» sagte Agathe.
«Die wahrscheinlichste ist aber, » betonte Ulrich «daß Moral wie alle andere Ordnung durch Zwang und Gewalt entsteht! Eine zur Herrschaft gelangte Gruppe von Menschen auferlegt den anderen einfach die Vorschriften und Grundsätze, durch die sie ihre Herrschaft sichert. Gleichzeitig hängt sie aber an denen, die sie selbst groß gemacht haben. Gleichzeitig wirkt sie damit als Beispiel. Gleichzeitig wird sie durch Rückwirkungen verändert: das ist natürlich verwickelter als man es in Kürze beschreiben könnte, und weil es keineswegs ohne Geist vor sich geht, aber auch keineswegs durch den Geist, sondern durch die Praxis, ergibt es schließlich ein unübersehbares Geflecht, das sich scheinbar so unabhängig wie Gottes Himmel über allem spannt. Nun bezieht sich alles auf diesen Kreis, aber dieser Kreis bezieht sich auf nichts. Mit ändern Worten: alles ist moralisch, aber die Moral selbst ist nicht moralisch! — »
«Das ist reizend von ihr» sagte Agathe. «Aber weißt du, daß ich heute einen guten Menschen gefunden habe?»
Ulrich war etwas erstaunt über diese Unterbrechung, aber als ihm Agathe die Begegnung mit Lindner zu erzählen begann, suchte er sie zunächst in seinem Gedankengang unterzubringen: «Gute Menschen kannst du heute auch hier zu Dutzenden finden, » meinte er «aber du sollst erfahren, warum gleich auch die bösen 562
dabei sind, wenn du mich noch eine Weile fortfahren läßt. »
Sie waren unter diesen Worten, dem Trubel auszuweichen, bis ans Vorzimmer gekommen, und Ulrich mußte überlegen, wohin sie sich wenden könnten; Diotimas Zimmer fiel ihm ein, ebenso Racheis Kammer, aber er wollte beide nicht wieder betreten, und so blieben Agathe und er einstweilen zwischen den menschenleeren Kleidungsstücken stehn, die in der Diele hingen. Ulrich fand keine Fortsetzung. «Ich müßte eigentlich noch einmal von vorn anfangen» erklärte er mit einer ungeduldigen und ratlosen Bewegung. Und plötzlich sagte er: «Du willst nicht wissen, ob du Gutes oder Böses getan hast, sondern dich beunruhigt es, daß du beides ohne einen festen Grund tust!»
Agathe nickte.
Er hatte ihre beiden Hände gefaßt.
Die mattschimmernde Haut seiner Schwester, mit dem Geruch ihm unbekannter Pflanzen, die vor seinem Auge dem leicht ausgeschnittenen Kleid entstieg, verlor für einen Augenblick den irdischen Begriff. Der Stoß des Blutes klopfte aus einer Hand an die andere. Ein tiefer Graben unweltlicher Herkunft schien sie und ihn in ein Nirgendland einzuschließen.
Es mangelten ihm plötzlich die Vorstellungen, es zu bezeichnen; er verfügte nicht einmal über die, deren er sich dazu schon oft bedient hatte. «Wir wollen nicht aus der Eingebung der Augenblicke handeln, sondern aus dem bis ans Letzte währenden Zustand. » «So, daß es uns an den Mittelpunkt führt, von wo man nicht mehr zurückkommt, um zurückzunehmen. » «Nicht vom Rande und seinen wechselnden Zuständen her, sondern aus dem einzigen unveränderlichen Glück»: Solche Sätze kamen ihm wohl zu Munde, und es wäre ihm auch möglich erschienen, sie zu gebrauchen, hätte es nur als Gespräch geschehen sollen; aber in der unmittelbaren Anwendung, die sie zwischen ihm und seiner Schwester in diesem Augenblick erfahren sollten, war es plötzlich unmöglich. Das erregte ihn hilflos. Aber Agathe verstand ihn deutlich. Und es hätte sie glücklich machen müssen, daß zum erstenmal die Schale um ihn ganz zerbrach und ihr «harter Bruder»
wie ein zu Boden gefallenes Ei das Innere preisgab. Zu ihrer Überraschung war aber diesmal ihr Gefühl nicht ganz bereit, mit dem seinen zu gehn: Zwischen Morgen und Abend lag die wunderliche Begegnung mit Lindner, und obwohl dieser Mann bloß ihr Erstaunen und ihre Neugierde erregt hatte, genügte auch ein solches Körnchen schon, die unendliche Spiegelung der eremitischen Liebe nicht entstehen zu lassen.
Ulrich fühlte es an ihren Händen, noch ehe sie etwas erwiderte, und Agathe - erwiderte nichts.
Er erriet, daß dieses unerwartete Sichversagen mit dem Erlebnis zusammenhänge, dessen Bericht er vorhin hatte anhören müssen. Beschämt und von dem Rückstoß seines unerwiderten Gefühls verwirrt, sagte er kopfschüttelnd: «Es ist doch ärgerlich, was alles du von der Güte eines solchen Menschen erwartest!»
«Wahrscheinlich ist es das» gab Agathe zu.
Er sah sie an. Er verstand, daß seiner Schwester dieses Erlebnis mehr bedeute als die Bewerbungen, die sie bisher unter seinem Schutz erfahren hatte. Er kannte sogar diesen Menschen ein wenig; Lindner stand im öffendichen Leben; er war der Mann, der seinerzeit in der allerersten Sitzung der vaterländischen Aktion jene kurze, mit peinlichem Schweigen aufgenommene Rede gehalten hatte, die dem «historischen Augenblick» galt, oder ähnlichem, ungeschickt, aufrichtig und unbedeutend…: Unwillkürlich blickte sich Ulrich um; aber er erinnerte sich nicht, diesen Mann unter den Anwesenden bemerkt zu haben, und wußte auch, daß er nicht mehr eingeladen worden war. Er mußte ihm anderswo ab und zu begegnet sein, wahrscheinlich in gelehrten Gesellschaften, und das oder jenes von ihm gelesen haben, denn während er sein Gedächtnis sammelte, bildete sich aus ultramikroskopischen Erinnerungsspuren wie ein zäher, widerlicher Tropfen das Urteil: «Ein fader Esel! Will man auf einer gewissen Höhe des Lebenszustands sein, so kann man einen solchen Menschen ebensowenig ernst nehmen wie Professor Hagauer!»
Er sagte es Agathe.
Agathe schwieg dazu. Sie drückte ihm sogar die Hand.
Er hatte das Gefühl: Da ist etwas ganz widersinnig, aber es läßt sich nicht aufhalten!
In diesem Augenblick kamen Leute in das Vorzimmer, und die Geschwister traten voneinander zurück.
«Soll ich dich wieder hineinbegleiten?» fragte Ulrich.
Agathe sagte nein und sah sich nach einem Ausweg um.
Ulrich fiel mit einemmal ein, daß sie sich, um den ändern zu entgehen, nur in die Küche zurückziehen könnten.
Dort wurden Batterien von Gläsern gefüllt und Bretter mit Kuchen beladen. Die Köchin wirtschaftete in 563
großem Eifer, Rachel und Soliman harrten auf ihre Ladung, flüsterten aber nicht miteinander, wie es früher bei solchen Gelegenheiten geschah, sondern standen reglos auf getrennten Plätzen. Die kleine Rachel machte ihren Knicks, als die Geschwister eintraten, Soliman ließ bloß seine dunklen Augen stramm-stehn, und Ulrich sagte: «Es ist drinnen zu heiß, können wir hier bei euch eine Erfrischung bekommen?» Er setzte sich mit Agathe an die Fensterbank und stellte zum Schein Teller und Glas hin, damit es, falls sie jemand entdecke, aussehe, wie wenn sich zwei Vertraute des Hauses einen kleinen Scherz gestatten. Als sie saßen, sagte er mit einem kleinen Seufzer: «Das ist also bloß Gefühlssache, ob man einen solchen Professor Lindner gut oder unerträglich findet!»
Agathe beschäftigte ihre Finger mit einer eingewickelten Süßigkeit.
«Das heißt: » fuhr Ulrich fort «das Gefühl ist nicht wahr oder falsch! Das Gefühl ist Privatsache geblieben!
Es ist der Suggestion überlassen geblieben, der Einbildung, der Überredung! Du und ich sind nicht anders wie die da drinnen! Weißt du, was die drinnen wollen?»
«Nein. Aber ist es nicht gleichgültig?»
«Es ist vielleicht nicht gleichgültig. Denn sie bilden zwei Parteien, von denen die eine so recht oder unrecht hat wie die andere. »
Agathe sagte, es käme ihr doch etwas besser vor, an die Menschengüte zu glauben als nur an Kanonen und Politik: möge die Art, in der es geschehe, auch lächerlich sein.
«Wie ist denn dieser Mensch, den du kennengelernt hast?» fragte Ulrich.
«Ach, das läßt sich gar nicht sagen; gut ist er!» antwortete seine Schwester und lachte.
«Du kannst so wenig auf das, was dir gut vorkommt, etwas geben wie auf das, was Leinsdorf so vorkommt!» erwiderte Ulrich ärgerlich.
Beider Gesichter waren lachend steif erregt: das leichte Strömen des höflich heiteren Ausdrucks von tieferen Gegenströmen gehemmt. Rachel spürte es unter ihrem Häubchen an den Haarwurzeln; aber sie fühlte sich selbst so elend, daß es viel gedämpfter geschah als früher, gleich einer Erinnerung aus besseren Zeiten. Das schöne Rund ihrer Wangen war unmerklich gehöhlt, der schwarze Brand ihres Auges von Mutlosigkeit getrübt: wäre Ulrich in der Laune gewesen, ihre Schönheit mit der seiner Schwester zu vergleichen, so hätte es ihm auffallen müssen, das Racheis schwarzer einstiger Glanz wie ein Stückchen Kohle zerfallen war, über das ein schwerer Wagen hinweggefahren ist. Aber er achtete ihrer nicht. Sie war schwanger, und niemand wußte es außer Soliman, der ohne Verständnis für die Wirklichkeit des Unheils mit romantischen und läppischen Plänen darauf antwortete.
«Seit Jahrhunderten» fuhr Ulrich fort «kennt die Welt Gedankenwahrheit und darum verstandesmäßig bis zu einem gewissen Grad Gedankenfreiheit. In der gleichen Zeit hatte das Gefühl weder die strenge Schule der Wahrheit, noch die der Bewegungsfreiheit. Denn jede Moral hat für ihren Zeitlauf das Gefühl nur soweit, und in diesem Umkreis noch dazu starr, geregelt, als gewisse Grundsätze und Grundgefühle für das ihr beliebende Handeln nötig waren; das übrige hat sie aber dem Gutdünken, dem persönlichen Gefühlsspiel, den Ungewissen Bemühungen der Kunst und der akademischen Erörterung überlassen. Die Moral hat also die Gefühle den Bedürfnissen der Moral angepaßt und dabei vernachlässigt, sie zu entwickeln, obwohl sie selbst von ihnen abhängt. Sie ist ja die Ordnung und Einheit des Gefühls. » Hier hielt er aber ein. Er fühlte Racheis mitgerissenen Blick auf seinem eifernden Gesicht, wenn sie auch für die Angelegenheiten großer Leute nicht mehr ganz die Begeisterung aufbringen konnte wie früher. «Es ist ja vielleicht komisch, daß ich sogar hier in der Küche von Moral spreche» sagte er verlegen.
Agathe sah ihn gespannt und nachdenklich an. Er beugte sich näher zu seiner Schwester und fügte leise mit einem zuckend scherzenden Lächeln hinzu: «Aber es ist nur ein anderer Ausdruck für einen Zustand der Leidenschaft, der sich gegen die ganze Welt bewaffnet!»
Ohne seine Absicht hatte sich nun der Gegensatz des Morgens wiederholt, worin er in der nicht angenehmen Figur des scheinbar Lehrhaften auftrat. Er konnte nicht anders. Moral war für ihn weder Botmäßigkeit, noch Gedankenweisheit, sondern das unendliche Ganze der Möglichkeiten zu leben. Er glaubte an eine Steigerungsfähigkeit der Moral, an Stufen ihres Erlebnisses, und nicht etwa nur, wie das üblich ist, an Stufen ihrer Erkenntnis, als ob sie etwas Fertiges wäre, wofür der Mensch bloß nicht rein genug sei. Er glaubte an Moral, ohne einer bestimmten Moral zu glauben. Gewöhnlich versteht man unter ihr eine Art von Polizeiforderungen, durch die das Leben in Ordnung gehalten wird; und weil das Leben nicht einmal ihnen gehorcht, gewinnen sie den Anschein, nicht ganz erfüllbar, und auf diese dürftige Weise 564
also auch den, ein Ideal zu sein. Aber man darf die Moral nicht auf diese Stufe bringen. Moral ist Phantasie.
Das war es, was er Agathe sehen lassen wollte. Und das zweite war: Phantasie ist nicht Willkür. Überantwortet man die Phantasie der Willkür, so rächt sich das. In Ulrichs Mund zuckten die Worte. Er war im Begriff gewesen, von dem zu wenig beachteten Unterschied zu sprechen, daß die verschiedenen Zeitläufte den Verstand in ihrer Weise entwickelt, die moralische Phantasie aber in ihrer Weise fixiert und verschlossen haben. Er war im Begriff gewesen, davon zu sprechen, weil die Folge ist: eine trotz aller Zweifel mehr oder weniger geradlinig durch alle Wandlungen der Geschichte aufsteigende Linie des Verstandes und seiner Gebilde, dagegen ein Scherbenberg der Gefühle, der Ideen, der
Lebensmöglichkeiten, wo sie in Schichten so liegen, wie sie als ewige Nebensachen entstanden und wieder verlassen worden sind. Weil eine weitere Folge ist: daß es schließlich eine Unzahl von Möglichkeiten gibt, so oder so eine Meinung zu haben, sobald das ins Gebiet des grundsätzlichen Lebens reicht, aber keine einzige Möglichkeit, sie zu einigen. Weil eine Folge ist: daß diese Meinungen aufeinander losschlagen, da sie gar keine Möglichkeit haben, sich zu verständigen. Weil alles in allem die Folge ist, daß die Affektivität in der Menschheit hin und her schwankt wie Wasser in einem Bottich, der keinen festen Stand hat. Und Ulrich hatte eine Idee, die ihn schon den ganzen Abend verfolgte; übrigens eine alte Idee von ihm, und sie wurde an diesem Abend bloß immerzu bestätigt, und er hatte Agathe zeigen wollen, wo der Fehler läge und wie er zu beheben wäre, wenn alle wollten, und eigentlich hatte er damit ja nur die schmerzliche Absicht, zu beweisen, daß man eher auch den Entdeckungen seiner eigenen Phantasie nicht trauen dürfe.
Und Agathe sagte, mit einem kleinen Seufzer, so wie sich eine bedrängte Frau schnell noch einmal wehrt, ehe sie sich ergibt: «Man muß also doch alles <aus Prinzip> tun?!» Und sie blickte ihn an, sein Lächeln erwidernd.
Er aber antwortete: «Ja; aber nur aus einem Prinzip!» Und das war nun etwas ganz anderes, als er zu sagen vorgehabt hatte. Es kam wieder aus dem Bereich der Siamesischen Zwillinge und des Tausendjährigen Reichs, wo das Leben in zauberhafter Stille wächst wie eine Blume, und mochte es gleich nicht aus der Luft gegriffen sein, so deutete es doch gerade auf Grenzen des Gedankens hin, die einsam und trügerisch sind.
Agathes Auge war wie ein auseinandergebrochener Achat. Wenn er in dieser Sekunde nur noch ein wenig mehr gesagt oder die Hand auf sie gelegt hätte, so wäre etwas geschehen, wovon sie bald danach nichts mehr angeben konnte, da es wieder unterging. Denn Ulrich wollte nicht mehr sagen. Er nahm eine Frucht und ein Messer und begann zu schälen. Er war glücklich darüber, daß die Entfernung, die ihn noch vor kurzem von seiner Schwester getrennt hatte, zu einer unermeßlichen Nähe zusammenschmolz, aber er war auch froh, als sie in diesem Augenblick unterbrochen wurden.
Es war der General, der mit dem listigen Auge eines Patrouillekommandanten, der den Feind im Biwak überrascht, in die Küche spähte: «Entschuldigung, daß ich störe!» rief er eintretend aus. «Aber bei einem tête à tête mit dem Bruder, Gnädigste, kann es ja unmöglich ein großes Verbrechen sein!» Und mit den Worten: «Man sucht dich wie eine Spennadel!» wandte er sich an Ulrich.
Und Ulrich sagte dann dem General, was er hatte Agathe sagen wollen. Aber zunächst fragte er: «Wer ist
<man>?»
«Ich sollte dich doch zum Minister bringen!» klagte ihn Stumm an.
Ulrich winkte ab.
«Na, ist auch schon überholt» meinte der Gutmütige. «Der alte Herr ist gerade fortgegangen. Aber ich, wegen meiner eigenen Kompetenzen, muß dich dann, sobald die gnädige Frau eine bessere Gesellschaft gewählt hat als deine, noch verhören, wie du das mit dem <Glaubenskrieg> gemeint hast, falls du die Güte hast, dich noch an deine Worte zu erinnern. »
«Wir sprechen gerade davon» erwiderte Ulrich.
«Aber wie interessant!» rief der General aus. «Gnädige beschäftigen sich also auch mit Moral?»
«Mein Bruder spricht überhaupt nur von Moral» verbesserte es Agathe lächelnd.
«Das hat heute ja geradezu die Tagesordnung gebildet!» seufzte Stumm. «Der Leinsdorf hat zum Beispiel erst vor ein paar Minuten gesagt, Moral ist ebenso wichtig wie Essen. Das kann ich nicht finden!» Sprachs und beugte sich mit Gefallen über die Süßigkeiten, die ihm Agathe reichte. Es hatte ein Witz sein sollen.
Agathe tröstete ihn: «Ich kann es auch nicht finden» sagte sie.
«Ein Offizier und eine Frau müssen Moral haben, aber sie sprechen nicht gerne davon!» improvisierte der General weiter. «Habe ich nicht recht, Gnädigste?»
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Rachel hatte ihm einen Küchenstuhl gebracht, den sie eifrig mit ihrer Schürze abwischte, und sie wurde von seinen Worten ins Herz getroffen; beinahe kamen ihr die Tränen.
Stumm aber munterte Ulrich von neuem auf: «Also wie ist das mit dem Glaubenskrieg?» Ehe jedoch Ulrich etwas sagen konnte, unterbrach er ihn schon wieder mit den Worten: «Ich habe nämlich das Gefühl, daß auch deine Kusine durch die Zimmer irrt, dich zu suchen, und bin ihr nur dank meiner militärischen Ausbildung zuvorgekommen. Ich muß also die Zeit ausnutzen. Es ist nämlich nicht mehr schön, was drinnen vor sich geht! Man blamiert uns geradezu. Und sie, also wie soll ich das sagen? sie läßt halt die Zügel schleifen! Weißt du, was beschlossen worden ist?»
«Wer hat beschlossen?»
«Viele sind schon weggegangen. Manche sind dageblieben und hören sich die Vorgänge sehr genau an»
umschrieb es der General. «Man kann nämlich nicht sagen, wer beschließt. »
«Vielleicht ist es dann besser, du sagst zuerst, was sie beschlossen haben» meinte Ulrich.
Stumm von Bordwehr zuckte die Achseln. «Nun ja. Aber ein Beschluß im geschäftsordnungsmäßigen Sinn ist es ja zum Glück auch nicht» führte er aus. «Denn alle verantwortlichen Leute hatten sich, Gott sei Dank, schon rechtzeitig zurückgezogen. Man kann also sagen, es ist nur ein Partikularbeschluß, ein Vorschlag oder ein Minoritätsvotum. Ich werde die Meinung vertreten, daß wir offiziell gar nicht davon Kenntnis haben. Das mußt du aber deinem Sekretär sagen, wegen dem Protokoll, damit gleich nichts davon hineinkommt. Entschuldigen Gnädige, » und er wandte sich an Agathe «daß ich so dienstlich rede!»
«Aber was ist eigentlich geschehen?» fragte auch sie.
Stumm machte eine vieles umfassende Gebärde. «Der Feuermaul, wenn gnädiger Frau dieser junge Mann erinnerlich ist, den wir eigentlich nur eingeladen haben, damit - also wie soll ich das sagen? Weil er ein Exponent des Zeitgeistes ist, und weil wir ja ohnehin auch die entgegengesetzten Exponenten haben einladen müssen: Man hat also hoffen dürfen, unbeschadet dessen, und sogar im Genuß gewisser geistiger Anregungen von den Dingen reden zu können, auf die es ja leider nun einmal ankommt. Ihr Bruder weiß das ja, gnädige Frau; es hatte der Minister mit dem Leinsdorf und dem Arnheim zusammengebracht werden sollen, um zu sehen, ob der Leinsdorf nichts gegen gewisse -: patriotische Auffassungen hat. Und absolut genommen, bin ich auch gar nicht unzufrieden, » — wandte er sich nun wieder vertraulich an Ulrich —
«die Sache ist soweit in Ordnung gekommen. Aber während das stattfand, ist der Feuermaul mit den anderen — » hier sah sich Stumm genötigt, für Agathes Verständnis etwas einzufügen: «also der Exponent einer Auffassung, daß der Mensch gewissermaßen ein friedliches und liebevolles Geschöpf sei, mit dem man gut umgehen muß, mit den Exponenten, die ungefähr das Gegenteil behaupten, so daß man zur Ordnung nach ihnen eine starke Faust braucht und was sonst noch dazugehört -dieser Feuermaul ist mit diesen anderen in einen Streit geraten, und ehe man es hindern konnte, haben sie einen gemeinsamen Beschluß gefaßt!»
«Einen gemeinsamen?» vergewisserte sich Ulrich.
«Ja. Ich hab das nur so erzählt, wie wenn es ein Witz wäre» versicherte Stumm, dem die unfreiwillige Komik seiner Darstellung nachträglich selbst schmeichelhaft auffiel. «Das hat kein Mensch erwarten können. Und wenn ich dir erzähle, was für einen Beschluß, du wirst es nicht glauben! Da ich heute nachmittag den Moosbrugger quasi dienstlich habe besuchen sollen, wird sich außerdem das ganze Ministerium nicht ausreden lassen, daß ich selbst dahinterstecke!»
Hier brach Ulrich in ein Gelächter aus und unterbrach in gleicher Weise auch die weiteren Ausführungen Stumms von Zeit zu Zeit, was nur Agathe ganz verstand, während ihm sein Freund wiederholt etwas gekränkt bemerkte, daß er nervös zu sein scheine. Aber was sich ereignet hatte, entsprach zu sehr dem Muster, das Ulrich seiner Schwester soeben erst entworfen hatte, als daß er sich nicht hätte freuen sollen.
Die Feuermaul-Gruppe war im letzten Augenblick auf den Plan getreten, um zu retten, was noch zu retten wäre. Das Ziel pflegt in solchen Fällen undeutlicher zu sein als die Absicht. Der junge Dichter Friedel Feuermaul - in vertrautem Kreis aber Pepi genannt, denn er schwärmte für Alt-Wien und bemühte sich dem jungen Schubert ähnlich zu sehen, obwohl er in einer ungarischen Kleinstadt auf die Welt gekommen war
— glaubte eben an Österreichs Sendung, und er glaubte außerdem an die Menschheit. Es lag auf der Hand, daß ihn ein Unternehmen wie die Parallelaktion, wenn er nicht beigezogen wurde, von Anfang an beunruhigen mußte. Wie konnte ein Menschheitsunternehmen mit österreichischer Note oder ein österreichisches Unternehmen mit der Note Menschlichkeit ohne ihn gedeihen! Das hätte er allerdings, mit 566
einem Achselzucken, nur zu seiner Freundin Drangsal geäußert, diese aber, als ihrer Heimat zur Ehre gereichende Witwe und dazu Inhaberin eines geistigen Schönheitssalons, der erst im letzten Jahr von dem Diotimas überflügelt worden war, hatte es jedem einflußreichen Menschen gesagt, mit dem sie in Berührung kam. So war ein Gerücht entstanden, daß die Parallelaktion in Gefahr sei, wenn nicht -: dieses Wenn nicht und jene Gefahr blieben, wie es begreiflich ist, dabei ein wenig unbestimmt, denn erst mußte man Diotima zwingen, Feuermaul einzuladen, und dann konnte man vielleicht sehen. Aber die Ankündigung einer Gefahr, die von der vaterländischen Aktion ausgehen sollte, wurde von jenen wachsamen Politikern vermerkt, die kein Vaterland anerkannten, sondern nur ein Mütterchen Volk, das mit dem Staat in aufgezwungener Ehe lebte und von ihm mißhandelt wurde; sie hatten schon lange geargwöhnt, daß aus der Parallelaktion bloß eine neue Unterdrückung hervorgehen werde. Und wenn sie es auch höflich verbargen, so legten sie weniger Wert auf die Absicht, das abzuwenden - denn verzweifelnde Humanisten hätte es unter den Deutschen immer gegeben, aber in ihrer Gesamtheit blieben sie Unterdrücker und Staatsschmarotzer! —, als auf den nützlichen Hinweis, daß Deutsche selbst die Gefährlichkeit ihres Volkstums zugaben. Dadurch fühlten sich Frau Professor Drangsal und der Dichter Feuermaul von einer Teilnahme an ihren Bestrebungen getragen, die sie wohltätig empfanden, ohne sie zu ergründen, und Feuermaul, der ein anerkannter Gefühlsmensch war, wurde von dem Einfall besessen, man müsse etwas zu Liebe und Frieden Ratendes dem Kriegsminister selbst sagen. Warum gerade dem Kriegsminister und welche Rolle diesem zugedacht war, blieben dabei wieder im Dunkel, aber der Einfall selbst war so blendend erfunden und dramatisch, daß er einer anderen Unterstützung wirklich nicht bedurfte. Dies fand auch Stumm von Bordwehr, der ungetreue General, den sein Bildungseifer zuweilen in Frau Drangsais Salon führte, ohne daß es Diotima wußte; er bewirkte überdies, daß die ursprüngliche Auffassung, der Rüstungsindustrielle Arnheim sei ein Bestandteil der Gefahr, der Auffassung Platz machte, daß der Denker Arnheim ein wichtiger Bestandteil alles Guten sei.
Soweit war also alles so vorsichgegangen, wie es den Beteiligten entsprach, und auch daß die Zwiesprache des Ministers mit Feuermaul, als sie heute stattfand, trotz Frau Drangsais Mithilfe nichts ergab als einige Wunder Feuermaulschen Geistes und ihre geduldige Anhörung durch Se. Exzellenz, lag im Verlauf der menschlichen Dinge, wie er gewöhnlich ist. Dann aber hatte Feuermaul noch Reserven in sich; und weil sein Heerbann sich aus jungen und älteren Literaten zusammensetzte, aus Hof raten, Bibliothekaren und einigen Friedensfreunden, kurz aus Leuten jeden Alters und aller Stellungen, die ein Gefühl für das alte Vaterland und seine menschliche Sendung vereinte, das sich ebensogern für die Wiederbelebung der abgeschafften Pferdeomnibusse mit ihrem historischen Dreigespann oder für das Wiener Porzellan eingesetzt hätte, und weil diese Getreuen im Lauf des Abends durch mannigfache Beziehungen mit den Gegnern verbunden worden waren, die ja auch nicht das Messer gleich offen in der Hand trugen, hatten sich viele Gespräche ergeben, worin die Meinungen blind durcheinandergingen. Diese Verlockung fand Feuermaul vor, als ihn der Kriegsminister verabschiedet hatte und Frau Drangsais Aufsicht durch unbekannte Umstände für eine Weile abgelenkt wurde. Stumm von Bordwehr wußte nur zu berichten, daß er in ein überaus lebhaftes Gespräch mit einem jungen Manne geraten wäre, dessen Beschreibung nicht ausgeschlossen erscheinen ließ, daß es Hans Sepp gewesen sei. Jedenfalls war es einer von denen, die einen Sündenbock benutzen, dem sie die Schuld an allem Übel geben, mit dem sie nicht fertig werden; die nationale Überheblichkeit ist ja nur jener besondere Fall davon, wo man sich aus reiner Überzeugung einen solchen Sündenbock wählt, der nicht mit einem blutsverwandt ist und überhaupt möglichst wenig Ähnlichkeit mit einem selbst hat. Nun ist es bekanntlich eine große Erleichterung, wenn man sich ärgert, seinen Zorn an jemand auszulassen, auch wenn er nichts dafür kann; aber weniger bekannt ist das von der Liebe. Trotzdem ist es auch da geradeso, und die Liebe muß oft an jemand ausgelassen werden, der nichts dafür kann, da sie sonst keine Gelegenheit findet. So war Feuermaul ein betriebsamer junger Mann, der im Kampf um den Nutzen recht ungut sein konnte, aber sein Liebesbock war «der Mensch», und sobald er an den Menschen im allgemeinen dachte, konnte er sich an unbefriedigter Güte kaum genugtun. Hans Sepp war dagegen im Grunde ein guter Kerl, der es nicht einmal übers Herz brachte, Direktor Fischel zu hintergehn, und sein Sündenbock dafür war «der undeutsche Mensch», auf den er den Groll gegen alles lud, was er nicht ändern konnte. Weiß der Himmel, was sie anfangs miteinander gesprochen hatten; sie werden wohl gleich ihre Böcke gegeneinander geritten haben, denn Stumm erzählte: «Ich begreife wirklich nicht, wie das gekommen ist: auf einmal sind andere dabei gewesen, dann hat es im Hand-umdrehn einen 567
richtigen Auflauf gegeben, und schließlich sind alle, die in den Zimmern waren, um sie herumgestanden!»
«Und weißt du, worüber sie gestritten haben?» fragte Ulrich.
Stumm zuckte die Achseln. «Der Feuermaul hat dem anderen zugerufen: <Sie möchten hassen, aber das können Sie gar nicht! Denn die Liebe ist jedem Menschen eingeboren!> Oder so ähnlich war’s. Und der andere hat ihm zugeschrien: <Und Sie möchten lieben? Aber das können Sie noch viel weniger, Sie, Sie -> Genau kann ich’s wirklich nicht sagen, denn ich habe mich wegen der Uniform in einer gewissen Entfernung halten müssen. »
«Oh, » sagte Ulrich «das ist schon die Hauptsache!» und er wandte sich mit einem Blick, der den ihren suchte, an Agathe.
«Aber die Hauptsache war doch erst der Beschluß!» erinnerte Stumm. «Daß sie einander fast gefressen haben, und mir nichts, dir nichts ist daraus ein gemeinsamer und ganz gemeiner Beschluß geworden!»
Stumm machte in seiner vollen Rundheit den Eindruck geschlossenen Ernstes. «Der Minister ist auf der Stelle fortgegangen» berichtete er.
«Ja, was haben sie denn beschlossen?» fragten die Geschwister.
«Das kann ich nicht genau sagen, » erwiderte Stumm, «denn ich bin natürlich auch sofort verschwunden, und da waren sie noch nicht fertig. Man kann sich sowas auch gar nicht merken. Es ist irgend etwas zugunsten des Moosbrugger und gegen das Militär gewesen!»
«Moosbrugger? Ja, wie denn?» Ulrich lachte.
«<Wie denn?>!» wiederholte der General giftig. «Du hast leicht lachen, aber mir bringt das eine so lange Nase ein! Oder zumindest eine tagelange Schreiberei. Weiß man denn bei solchen Leuten: <wie denn>?!
Vielleicht war dieser alte Professor schuld, der heute überall für das Aufhängen und gegen die Milde gesprochen hat. Oder es ist geschehn, weil in den letzten Tagen wieder die Zeitungen die Frage dieses Scheusals aufgegriffen haben. Jedenfalls ist auf einmal von ihm die Rede gewesen. Das muß rückgängig gemacht werden!» erklärte er mit einer an ihm ungewohnten Festigkeit.
In diesem Augenblick traten kurz nacheinander Arnheim, Diotima, ja sogar Tuzzi und Graf Leinsdorf in die Küche. Arnheim hatte im Vorzimmer die Stimmen gehört. Er war im Begriff gewesen, sich heimlich zu entfernen, denn die eingetretene Unruhe verführte ihn zu der Hoffnung, daß er sich diesmal noch einer Aussprache mit Diotima entziehen könne, und anderntags wäre er wieder für eine Weile verreist gewesen.
Aber die Neugierde verleitete ihn, in die Küche zu blicken, und da er von Agathe gesehen wurde, hinderte ihn die Höflichkeit, sich zurückzuziehn. Stumm bestürmte ihn sofort um Auskunft über den Stand der Dinge. «Ich kann es Ihnen sogar im originalen Wortlaut mitteilen» erwiderte Arnheim lächelnd. «Es war manches so drollig, daß ich mich nicht enthalten habe können, es heimlich niederzuschreiben. »
Er zog ein Kärtchen aus seiner Brieftasche, und seine stenographische Aufzeichnung entziffernd, las er langsam den Inhalt der geplanten Kundgebung vor: «<Die vaterländische Aktion hat auf Antrag der Herren Feuermaul und> - den ändern Namen habe ich nicht verstanden - beschlossen: Für seine eigenen Ideen soll sich jeder töten lassen, wer aber Menschen dazu bringt, für fremde Ideen zu sterben, ist ein Mörder!> So war es vorgeschlagen, » fügte er hinzu «und ich hatte nicht den Eindruck, daß sich noch etwas ändern werde.
»
Der General rief aus: «Das ist der Wortlaut! So habe auch ich ihn schon gehört! Sind ja ekelerregend, diese geistigen Debatten!»
Arnheim sagte milde: «Es ist der Wunsch der heutigen Jugend nach Festigkeit und Führung. »
«Aber es ist doch nicht nur Jugend dabei, » entgegnete Stumm angewidert «sondern selbst Kahlköpfe sind zustimmend herumgestanden!»
«Dann ist es eben das Bedürfnis nach Führung überhaupt» meinte Arnheim und nickte freundlich. «Es ist heute allgemein. Die Resolution stammt übrigens aus einem zeitgenössischen Buch, wenn ich mich recht entsinne. »
«So?» sagte Stumm.
«Ja» sagte Arnheim. «Und man muß sie natürlich als ungeschehen behandeln. Aber wenn man es verstünde, das seelische Bedürfnis, das sich in ihr ausdrückt, nutzbar zu machen, so würde sich das wohl lohnen. »
Der General zeigte sich etwas beruhigt; er wandte sich an Ulrich: «Hast du eine Idee, was man da tun könnte?»
«Natürlich!» erwiderte Ulrich.
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Arnheims Aufmerksamkeit wurde durch Diotima abgelenkt.
«Also bitte!» sagte der General leise. «Schieß los! Ich würde es ja vorziehen, wenn die Führung unter uns bliebe!»
«Du mußt dir vergegenwärtigen, was eigentlich geschehen ist» sagte Ulrich, ohne sich zu beeilen. «Die Leute haben ja gar nicht unrecht, wenn der eine dem ändern vorwirft, daß er lieben möchte, wenn er bloß könnte, und der andere dem einen zurückgibt, daß ganz das gleiche doch auch vom Hassen gilt. Es gilt überhaupt von allen Gefühlen. Der Haß hat heute etwas Verträgliches in sich, und anderseits müßte man, um das, was wirklich Liebe wäre, für einen Menschen zu empfinden -: ich behaupte, » sagte Ulrich kurz
«daß diese zwei Menschen noch nicht da waren!»
«Das ist sicher sehr interessant, » unterbrach ihn der General schnell, «denn ich kann absolut nicht verstehn, wie du das behaupten kannst. Aber ich muß morgen einen Rechenschaftsbericht über die heutigen Vorfälle schreiben, und darum beschwöre ich dich, daß du darauf Rücksicht nimmst! Beim Militär ist das Wichtigste, daß man immer einen Fortschritt melden kann; ein gewisser Optimismus ist da selbst in der Niederlage unentbehrlich, das liegt am Metier: Wie kann ich also das, was geschehen ist, als einen Fortschritt darstellen?!»
«Schreib» riet Ulrich augenzwinkernd: «Es war die Rache der moralischen Phantasie!»
«Aber so was kann man beim Militär doch nicht schreiben!» erwiderte Stumm ärgerlich.
«Dann laß das Wort weg» fuhr Ulrich ernst fort «und schreib: Alle schöpferischen Zeiten sind ernst gewesen. Es gibt kein tiefes Glück ohne tiefe Moral. Es gibt keine Moral, wenn sie sich nicht von etwas Festem ableiten läßt. Es gibt kein Glück, das nicht auf einer Überzeugung ruht. Ohne Moral lebt nicht einmal das Tier. Aber der Mensch weiß heute nicht mehr, mit welcher - »
Stumm unterbrach auch dieses scheinbar gleichmütig fließende Diktat: «Lieber Freund, ich kann von der Moral einer Truppe sprechen, von Gefechtsmoral oder von der Moral eines Frauenzimmers; aber immer im einzelnen; und von Moral ohne eine solche Vorsicht kann man in einem militärischen Dienststück genau so wenig sprechen wie von Phantasie und vom lieben Gott: das weißt du doch selbst!»
Diotima sah Arnheim am Fenster ihrer Küche stehn, ein sonderbar heimlicher Anblick, nachdem sie während des ganzen Abends nur vorsichtige Worte miteinander gewechselt hatten. Sie empfand dabei plötzlich das widerspruchsvolle Verlangen, das abgebrochene Gespräch mit Ulrich fortzusetzen. In ihrem Kopf herrschte jene angenehme Verzweiflung, die sich, in mehreren Richtungen gleichzeitig einbrechend, fast zu einer freundlich-ruhigen Erwartung geschwächt und aufgehoben hat. Der längst vorhergesehene Zusammenbruch des Konzils war ihr gleichgültig. Arnheims Untreue war ihr, wie sie glaubte, auch beinahe gleichgültig. Er sah ihr entgegen, als sie eintrat, und für einen Augenblick war das alte Gefühl da: lebender Raum, der sie verband. Aber sie erinnerte sich wieder, daß ihr Arnheim seit Wochen ausweiche, und der Gedanke: «Erotischer Feigling!» gab ihren Knien die Kraft zurück, daß sie hoheitsvoll auf ihn zuschritt.
Arnheim sah das: das Sehen, das Zaudern, das Schmelzen der Entfernung; über eingefrorenen Wegen, die sie in unendlicher Zahl verbanden, lag die Ahnung, daß sie wieder auftauen könnten. Er hatte sich von den übrigen abgewandt, aber im letzten Augenblick machten er und Diotima eine Wendung, die sie zu Ulrich, General Stumm und den übrigen führte, die sich auf der anderen Seite befanden. Von den Eingebungen der ungewöhnlichen Menschen bis zum völkerverbindenden Kitsch bildet das, was Ulrich die moralische Phantasie nannte, oder einfacher das Gefühl, eine einzige, jahrhundertealte Gärung ohne Ausgärung. Ein Wesen ist der Mensch, das nicht ohne Begeisterung auskommen kann. Und Begeisterung ist der Zustand, worin alle seine Gefühle und Gedanken den gleichen Geist haben. Du meinst, beinahe im Gegenteil, sie sei der Zustand, wenn ein Gefühl übermächtig stark sei, ein einziges, das - Hingerissensein! - die anderen zu sich hinreißt? Nein, du hast darüber gar nichts sagen wollen? Immerhin, es ist so. Es ist auch so. Aber die Stärke einer solchen Begeisterung ist ohne Halt. Dauer gewinnen die Gefühle und Gedanken nur an einander, in ihrem Ganzen, sie müssen irgendwie gleichgerichtet sein und sich gegenseitig mitreißen. Und mit allen Mitteln, mit Rauschmitteln, Einbildungen, Suggestion, Glauben, Überzeugung, oft auch nur mit Hilfe der vereinfachenden Wirkung der Dummheit, trachtet ja der Mensch, einen Zustand zu schaffen, der dem ähnlich ist. Er glaubt an Ideen, nicht weil sie manchmal wahr sind, sondern weil er glauben muß.
Weil er seine Affekte in Ordnung halten muß. Weil er durch eine Täuschung das Loch zwischen seinen Lebenswänden verstopfen muß, durch das seine Gefühle sonst in alle vier Winde gingen. Das richtige wäre wohl, statt sich vergänglichen Scheinzuständen hinzugeben, die Bedingungen der echten Begeisterung 569
wenigstens zu suchen. Aber obwohl alles in allem die Zahl der Entscheidungen, die vom Gefühl abhängen, unendlich viel größer ist als die jener, die sich mit der blanken Vernunft treffen lassen, und alle die Menschheit bewegenden Ereignisse aus der Phantasie entstehen, erweisen sich nur die Verstandesfragen überpersönlich geordnet, und für das andere ist nichts geschehn, was den Namen einer gemeinsamen Anstrengung verdiente oder auch nur die Einsicht in ihre verzweifelte Notwendigkeit andeutete: Ungefähr so sprach Ulrich, unter begreiflichen Protesten des Generals.
Er sah in den Vorgängen des Abends, wenn sie auch nicht ohne Ungestüm waren und durch mißgünstige Auslegung sogar noch folgenschwer werden sollten, nur das Beispiel einer unendlichen Unordnung. Herr Feuermaul erschien ihm in diesem Augenblick so gleichgültig wie die Menschenliebe, der Nationalismus so gleichgültig wie Herr Feuermaul, und vergeblich fragte ihn Stumm, wie man denn aus dieser überaus persönlichen Stellungnahme den Gedanken eines greifbaren Fortschritts destillieren solle. «Melde eben, »
erwiderte Ulrich «das sei der Tausendjährige Glaubenskrieg. Und noch nie seien die Menschen so schlecht gegen ihn gerüstet gewesen wie in dieser Zeit, da der Schutt <des vergeblich Gefühlten>, den ein Zeitalter über dem anderen hinterläßt, Bergeshöhe erreicht hat, ohne daß etwas dagegen geschähe. Das Kriegsministerium darf also beruhigt dem nächsten Massenunglück entgegensehen. »
Ulrich sagte das Schicksal vorher und hatte davon keine Ahnung. Es lag ihm auch gar nichts am wirklichen Geschehen, sondern er kämpfte um seine Seligkeit. Er versuchte alles dazwischenzuschieben, was sie hindern könnte. Darum lachte er auch und suchte die anderen durch den Anschein irrezuführen, daß er spotte und übertreibe. Er übertrieb für Agathe; er setzte sein Gespräch mit ihr fort, und nicht nur dieses letzte. Er errichtete in Wahrheit ein Gedankenbollwerk gegen sie und wußte, daß daran an einer gewissen Stelle ein kleiner Riegel wäre: zöge man an diesem, so würde alles von Gefühl überflutet und begraben werden! Und eigentlich dachte er unausgesetzt an diesen Riegel.
Diotima stand in seiner Nähe und lächelte. Sie fühlte etwas von Ulrichs Bemühung um seine Schwester, war wehmütig gerührt, vergaß die Sexualwissenschaft, und etwas stand offen: es war wohl die Zukunft, jedenfalls waren es aber ein wenig auch ihre Lippen.
Arnheim fragte Ulrich: «Und Sie meinen, - daß man etwas dagegen tun könnte?» Die Art, wie er diese Frage stellte, gab zu verstehen, daß er durch die Übertreibung den Ernst erkenne, aber immerhin auch ihn übertrieben finde.
Tuzzi sagte zu Diotima: «Man muß jedenfalls verhindern, daß etwas von diesen Vorgängen in die Öffentlichkeit dringt. »
Ulrich erwiderte Arnheim: «Liegt es nicht ganz nahe? Wir sehen uns heute vor zuviel Gefühls-und Lebensmöglichkeiten gestellt. Gleicht diese Schwierigkeit aber nicht der, die der Verstand bewältigt, wenn er vor einer Unmenge von Tatsachen und einer Geschichte der Theorien steht? Und für ihn haben wir ein unabgeschlossenes und doch strenges Verhalten gefunden, das ich Ihnen nicht zu beschreiben brauche. Ich frage Sie nun, ob etwas Ähnliches nicht auch für das Gefühl möglich wäre? Wir möchten doch ohne Zweifel daraufkommen, wozu wir da sind, das ist eine Hauptquelle aller Gewalttaten der Welt. Nun haben das andere Zeiten mit ihren unzureichenden Mitteln versucht, das große Zeitalter der Erfahrung aus seinem Geist heraus aber überhaupt noch nicht — »
Arnheim, der rasch begriff und gerne unterbrach, legte ihm beschwörend die Hand auf die Schulter: «Das wäre ja ein steigendes Verhältnis zu Gott!» rief er gedämpft und warnend aus.
«Das wäre doch nicht das Schrecklichste?» meinte Ulrich, nicht ganz ohne spöttische Schärfe für diese vorschnelle Angst. «Aber so weit bin ich ja gar nicht gegangen!»
Arnheim nahm sich sofort zusammen und lächelte. «Man freut sich, wenn man nach langer Abwesenheit jemand unverändert antrifft; das ist heutzutage selten!» sagte er. Er freute sich übrigens, kaum daß er sich durch diese wohlwollende Abwehr in Sicherheit fühlte, wirklich. Ulrich hätte ja auch auf das peinliche Stellungsangebot zurückkommen können, und Arnheim war ihm dankbar dafür, daß er in seiner unverantwortlichen Unbedingtheit jede Berührung mit der Erde verschmähe. «Wir müssen einmal darüber sprechen» fügte er herzlich seinen Worten hinzu. «Mir ist unklar, wie Sie sich diese Übertragung unseres theoretischen Verhaltens auf das praktische denken. »
Ulrich wußte, daß es wirklich noch unklar sei. Er meinte ja weder ein «Forscherleben» noch ein Leben «im Lichte der Wissenschaft», sondern ein «Suchen des Gefühls», ähnlich dem Suchen der Wahrheit, nur daß es da nicht auf Wahrheit ankam. Er sah Arnheim nach, der zu Agathe hinübertrat. Dort stand auch Diotima; 570
Tuzzi und Graf Leinsdorf gingen und kamen. Agathe plauderte mit allen und dachte: «Warum spricht er mit allen?! Er hätte mit mir fortgehen sollen! Er entwertet das, was er mir gesagt hat!» Manche Worte, die sie herüberhörte, gefielen ihr, aber sie taten ihr trotzdem weh. Alles, was von Ulrich kam, tat ihr jetzt wieder weh, und noch einmal an diesem Tag hatte sie plötzlich das Bedürfnis, ihn zu fliehn. Sie verzagte daran, daß sie in ihrer Einseitigkeit ihm genug sein könne, und die Vorstellung, daß sie nach einer Weile bloß wie zwei Leute nach Hause gehen sollten, die den vergangenen Abend beschwätzen, war ihr unerträglich !
Ulrich aber dachte weiter: «Arnheim wird das nie verstehn!» Und er ergänzte es: «Der wissenschaftliche Mensch ist ja gerade im Gefühl beschränkt, der praktische erst recht. Das ist so notwendig wie ein fester Stand der Beine, wenn man mit den Armen etwas packen soll. » Er selbst war unter gewöhnlichen Umständen so. Sobald er dachte, und geschähe es über das Gefühl in Person, ließ er das Gefühl nur vorsichtig zu. Agathe nannte das kalt; er aber wußte: will man das andere ganz sein, so muß man wie bei einem tödlichen Abenteuer vorher auf das Leben verzichten, denn man kann sich nicht vorstellen, wie es weitergehen wird! Er hatte Lust dazu und fürchtete es in diesem Augenblick nicht mehr. Er sah lange seine Schwester an. Das lebhafte Spiel des Sprechens auf dem davon unberührten tieferen Gesicht. Er wollte sie auffordern, mit ihm fortzugehn. Ehe er aber noch seinen Platz verlassen konnte, sprach ihn Stumm an, der wieder zu ihm herübergekommen war.
Der gute General hatte Ulrich gern; er hatte ihm die Scherze über das Kriegsministerium schon verziehen, ja irgendwie gefiel ihm die Rede vom «Glaubenskrieg» ganz gut, denn sie hatte so etwas festtäglich Militärisches wie Eichenlaub am Tschako oder Hurraschreien an Kaisers Geburtstag. Er lehnte seinen Arm an den des Freundes und bugsierte Ulrich außer Hörweite. «Siehst du, ich finde es schön, daß du sagst, alle Ereignisse entstehen aus der Phantasie» begann er; «natürlich ist das mehr meine private als meine dienstliche Stellung dazu. » Er bot Ulrich eine Zigarette an.
«Ich muß nach Hause gehn» sagte Ulrich.
«Deine Schwester unterhält sich großartig, stör sie doch nicht» sagte Stumm. «Der Arnheim legt sich tüchtig ins Zeug, ihr den Hof zu machen. Und was ich dir sagen wollte: Alle haben jetzt keine rechte Freud mehr an den großen Gedanken der Menschheit; du solltest wieder Schwung hineinbringen. Ich meine: die Zeit bekommt einen neuen Geist, und den solltest du eben in die Hand nehmen!»
«Wie kommst du denn darauf?!» fragte Ulrich mißtrauisch.
«Ich denke es mir halt so. » Stumm überging es und fuhr dringend fort: «Für Ordnung bist du doch auch, das sieht man ja an allem, was du sagst. Und sodann fühle ich mich gefragt: Ist der Mensch mehr gut oder braucht er mehr eine starke Hand? Darin liegt ein gewisses heutiges Bedürfnis nach Entschiedenheit. Alles in allem habe ich dir ja schon gesagt, daß es mir eine Beruhigung wäre, wenn du wieder die Führung in der Aktion übernehmen tätest. Man weiß schließlich doch nicht, was sonst bei dem vielen Reden geschieht!»
Ulrich lachte. «Weißt du, was ich jetzt tue? Ich komm nicht mehr her!» antwortete er glücklich.
«Warum denn?!» eiferte Stumm. «Die werden recht behalten, die sagen, daß du nie eine wirkliche Kraft gewesen bist!»
«Wenn ich den Leuten verriete, wie ich denke, würden sie es erst recht sagen!» gab Ulrich lachend zur Antwort und machte sich von seinem Freunde los.
Stumm war ärgerlich, aber dann siegte seine Gutmütigkeit, und er sagte abschiednehmend: «Diese Geschichten sind verdammt kompliziert. Ich habe mir geradezu manchmal gedacht, das Beste wäre schon, wenn über alle diese Unlösbarkeiten einmal ein rechter Trottel käme, ich meine so eine Art Jeanne d’Arc, der könnte uns vielleicht helfen!»
Ulrichs Blick suchte seine Schwester und fand sie nicht. Als er Diotima nach ihr fragte, kamen Leinsdorf und Tuzzi soeben wieder aus der Wohnung und teilten mit, daß ein allgemeiner Aufbruch stattfinde. «Ich habe gleich gesagt, » berichtete Se. Erlaucht aufgeräumt der Hausfrau «was sie geredet haben, ist nicht ihre wahre Meinung gewesen. Und die Drangsal hat dann einen wirklich rettenden Einfall gehabt, es ist nämlich beschlossen worden, die heutige Versammlung ein andermal fortzusetzen. Aber der Feuermaul, oder wie er heißt, wird dabei irgendein langes Gedicht von sich vorlesen, da wird es ruhiger zugehn. Ich habe mir natürlich erlaubt, wegen der Dringlichkeit gleich in Ihrem Namen zuzustimmen!»
Dann erst erfuhr Ulrich, daß sich Agathe plötzlich verabschiedet und ohne ihn das Haus verlassen habe; man richtete ihm aus, daß sie ihn durch ihren Entschluß nicht hätte stören wollen.
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Книгу прислал Алексей Левкин
SCHLUSS DES DRITTEN TEILS UND VIERTER TEIL
39 Nach der Begegnung
Der Mann, der am Grab des Dichters in Agathes Leben getreten war, Professor August Lindner, sah, talwärts steigend, Bilder der Rettung vor sich.
Hätte sie ihm beim Abschied nachgeblickt, so wäre ihr der stocksteif den steinigen Weg hinabtänzelnde Gang des Mannes aufgefallen, denn es war ein eigenartig heiterer, stolzer, und doch ängstlicher Gang.
Lindner trug seinen Hut in der Hand und strich sich zuweilen übers Haar; so wohlig frei war ihm zumute geworden.
«Wie wenig Menschen» sprach er zu sich selbst «haben eine wahrhaft mitfühlende Seele!» Er malte sich eine Seele aus, die sich ganz in den Mitmenschen hineinzuversetzen vermöchte, seine verborgensten Schmerzen mitleiden und sich in seine tiefe Schwäche hinablassen könnte: «Welche Aussicht ist das!» rief er sich zu. «Welch eine wunderbare Nähe göttlichen Erbarmens, welcher Trost und welcher Feiertag!»
Sodann fiel ihm aber ein, wie wenig Menschen es gebe, die ihrem Nebenmenschen auch nur aufmerksam zuzuhören vermöchten; denn er gehörte zu den Gutgesinnten, die vom Hundertsten ins Hundertstel kommen, ohne einen Unterschied daran zu finden. «Wie wenig ernst gemeint sind zum Beispiel die gewöhnlichen Fragen nach unserem Wohlergehen» dachte er. «Man braucht bloß einmal ausführlich zu antworten, wie einem wirklich ums Herz ist, und sieht sich bald genug einem gelangweilten und geistesabwesenden Blick gegenüber!»
Nun, er hatte sich dieses Fehlers nicht schuldig gemacht! Nach seinen Grundsätzen war, den Schwachen zu schützen, die notwendige und besondere Gesundheitslehre des Starken, der ohne solche wohltuende Selbstbeschränkung allzu leicht der Roheit verfällt; und auch die Bildung bedurfte des Liebeswerks gegen die ihr einwohnenden Gefahren. «Wer uns bedeuten will, was <universelle Bildung> sei» — bestätigte er sich nun durch innerlichen Zuruf, von einem plötzlich gegen seinen pädagogischen Fachgenossen Hagauer geschleuderten Blitz köstlich erfrischt - «dem sollte wahrhaftig zuerst geraten werden: erfahre, wie dem anderen zumute ist! Durch Mitleid wissend, es bedeutet tausendmal mehr, als durch Bücher wissend sein!»
Anscheinend war es eine alte Meinungsverschiedenheit, was er da einerseits an dem liberalen Begriff der Bildung, anderseits an der Gattin seines Amtsbruders ausließ, denn Lindners Brillen blickten wie zwei Schilde eines doppelgewaltigen Kämpfers in die Runde. In Agathes Gegenwart war er befangen gewesen; wenn sie ihn dagegen jetzt gesehen hätte, wäre er ihr wie ein Offizier vorgekommen, aber wie ein Offizier einer keineswegs leichtsinnigen Truppe. Denn eine wahrhaft männliche Seele ist hilfsbereit, und sie ist hilfsbereit, weil sie männlich ist. Er warf die Frage auf, ob er angesichts der schönen Frau richtig gehandelt habe, und erwiderte sich: «Es wäre falsch, wenn die stolze Forderung der Unterordnung unter das Gesetz denen überlassen bliebe, die zu schwach dafür sind; und es wäre ein entmutigender Anblick, wenn bloß geistlose Pedanten die Hüter und Bildner der Sitte sein dürften; darum ist den Lebendigen und Starken die Pflicht auferlegt, aus ihrem Kraft-und Gesundheitsinstinkt nach Zucht und Grenze zu verlangen: sie müssen die Schwachen stützen, die Gedankenlosen rütteln und die Zügellosen anhalten!» Er hatte den Eindruck, es getan zu haben.
So wie die fromme Seele der Heilsarmee sich der Uniform und militärischer Gebräuche bedient, hatte Lindner gewisse soldatische Gedankenformen in seinen Dienst genommen, ja er scheute nicht einmal vor Zugeständnissen an den «Machtmenschen»Nietzsches zurück, der dem bürgerlichen Geist jener Zeit noch ein Stein des Anstoßes, Lindner aber auch ein Wetzstein war. Er pflegte von Nietzsche zu sagen, man könne nicht behaupten, daß er ein schlechter Mensch gewesen wäre, wohl aber seien seine Lehren übertrieben und lebensfremd, und der Grund liege darin, daß er das Mitleid verwerfe; denn so habe er nicht die wunderbare Gegengabe des Schwachen erkannt, daß dieser den Starken zart mache! Und seine eigenen Erfahrungen dem nun entgegensetzend, dachte er voll froher Absicht: «Die wahrhaft großen Menschen huldigen keineswegs einem öden Ichkultus, sondern sie erzeugen in den anderen das Gefühl ihrer Erhabenheit dadurch, daß sie sich zu ihnen hinabbeugen, ja, wenn es sein muß, für sie opfern!» Er blickte einem jungen Liebespaar, das, sehr verschlungen, herauf-und ihm entgegenkam, siegesgewiß und mit 572
freundlichem Tadel, der zur Tugend ermuntern sollte, in die Augen. Es war aber ein recht ordinäres Liebespaar, und der junge Strolch, der seinen männlichen Teil bildete, kniff die Augenlider zusammen, als er diesen Blick erwiderte, streckte unvermittelt die Zunge heraus und sagte: «Bäh!» Lindner, der auf diese Verhöhnung und gemeine Drohung nicht vorbereitet war, erschrak: aber er tat, als bemerke er sie nicht. Er liebte die Tatkraft, und sein Blick suchte nach einem Schutzmann, der in der Nähe sein sollte, die öffentliche Sicherheit der Ehre zu gewährleisten; aber sein Fuß stieß dabei an einen Stein, die hastige Bewegung des Stolperns scheuchte einien Schwarm Sperlinge auf, der sich an Gottes, Tisch über einem Haufen Pferdemis gütlich getan hatte, das Aufschwirren der Spatzen warnte Lindner und ließ ihn im letzten Augenblick, ehe er schmählich stürzte, mit einer tänzerisch bemäntelten Bewegung über das Doppelhindernis hinweghüpfen. Er blickte nicht zurück, und nach einer Weile war er sehr zufrieden mit sich. «Fest wie ein Diamant und zart wie eine Mutter muß man sein!» dachte er mit einer alten Definition aus dem siebzehnten Jahrhundert.
Er hätte, da er auch die Tugend der Bescheidenheit schätzt, zu keiner andern Zeit etwas Ähnliches in Ansehung seiner selbst behauptet, aber solche Erregung des Blutes ging von Agathe aus! Hinwieder bildete es den negativen Pol seiner Gefühle, daß dieses himmlisch zarte Weib, das er in Tränen gefunden hatte, wie der Engel die Magd im Tau -oh, er wollte sich nicht überheben, aber wie doch Nachgiebigkeit gegen Poesie gleich überheblich macht! - er fuhr darum strenger fort: daß diese unselige Frau im Begriffe stand, ein in die Hand Gottes abgelegtes Gelübde zu brechen; denn als das sah er ihr Begehren nach Ehescheidung an. Er hatte es ihr leider nicht mit der erforderlichen Entschiedenheit von Angesicht zu Angesicht — Gott, welche Nähe nun wieder in diesen Worten! - er hatte es ihr also leider nicht entschieden genug vorgestellt; er entsann sich bloß, im allgemeinen von zu lockeren Sitten und den Schutzmitteln gegen sie gesprochen zu haben. Der Name Gottes war übrigens dabei gewiß nicht über seine Lippen gekommen, es wäre denn als inhaltslose Redensart; und die Ungezwungenheit, der unbefangene, man mochte geradezu sagen, der respektlose Ernst, womit ihn Agathe gefragt hatte, ob er an Gott glaube, verletzte ihn selbst noch in der Erinnerung. Denn der wahrhaft Fromme gestattet sich nicht, einfach einem Einfall zu folgen und in roher Unverhülltheit an Gott zu denken. Ja, in dem Augenblick, wo sich Lindner dieser Zumutung entsann, verabscheute er Agathe, als wäre er auf eine Schlange getreten. Er faßte den Beschluß, sollte er je in die Lage kommen, seine Ermahnungen bei ihr zu wiederholen, durchaus nur die kräftige Vernunft walten zu lassen, die den irdischen Angelegenheiten angemessen und deshalb auf der Welt sei, weil nicht jeder ungezogene Mensch mit seinen längst entschiedenen Verwirrungen Gott bemühen dürfe; und darum begann er sich ihrer auch gleich jetzt zu bedienen, und es fiel ihm manches Wort ein, das einer Strauchelnden zu sagen wäre. Zum Beispiel, daß die Ehe keine Privatangelegenheit, sondern eine öffentliche Einrichtung sei; daß sie die erhabene Aufgabe habe, das Verantwortlichkeits- und Mitgefühl zu entfalten, und die ein Volk stählende Aufgabe, den Menschen auch im Ertragen von harten Schwierigkeiten zu üben; ja vielleicht, wenngleich es nur mit größtem Taktgefühl anzubringen wäre daß sie gerade bei längerer Dauer auch den besten Schutz gegen das Übermaß der Begierde darstelle. Er hatte vom Menschen vielleicht nicht mit Unrecht die Vorstellung eines Sackes voll Teufel, der fest zugebunden werden müsse, und den Bund sah er in unerschütterlichen Grundsätzen.
Wie dieser teilnahmsvolle Mann, dessen körperliches Teil, außer in der Länge, in keiner Richtung überschüssig geraten war, die Überzeugung erlangt hatte, daß man sich auf Schritt und Tritt bezähmen müsse, das war freilich ein Rätsel, das sich erst dann leicht löste, wenn man den Vorteil kannte. Als er schon am Fuß der Hügel angelangt war, kreuzte ein Zug Soldaten seine Bahn, und er sah mit zärtlicher Rührung auf die verschwitzten jungen Männer, die ihre Kappen in die Nacken geschoben hatten und mit ihren von Ermüdung abgestumpften Gesichtern wie ein Zug verstaubter Raupen aussahen. Sein Abscheu vor dem Leichtsinn, womit Agathe die Frage der Ehescheidung behandelt hatte, wurde bei diesem Anblick träumerisch durch eine Freude daran gemildert, daß solches seinem freigeistigen Fachgenossen Hagauer widerfahren solle, und diese Regung war immerhin geeignet, ihn wieder an das unentbehrliche Mißtrauen gegen die menschliche Natur zu erinnern. Er nahm sich also vor, Agathe - sollte sich die Gelegenheit dazu wirklich und ohne sein Verschulden noch einmal darbieten - unnachsichtig vor Augen zu führen, daß die ichsüchtigen Kräfte letzten Endes doch nur zerstörend wirken, und daß sie ihre persönliche Verzagtheit, mochte sie noch so groß sein, der sittlichen Erkenntnis unterzuordnen habe, daß der wahre Prüfstein des Lebens erst das Zusammenleben ist.
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Aber ob sich die Gelegenheit dazu noch einmal darbieten werde, war offenbar erst der Punkt, wohin die geistigen Kräfte Lindners so angeregt drängten. «Es gibt viele Menschen mit edlen Eigenschaften, die bloß noch nicht in einer unerschütterlichen Überzeugung gesammelt sind» gedachte er Agathe zu sagen; aber wie sollte er es tun, wenn er sie nicht wiedersähe; und doch widerstritt der Gedanke, daß sie ihn aufsuchen könnte, allen seinen Vorstellungen von zarter und unberührter Weiblichkeit. «Man müßte es ihr denn mit aller Entschiedenheit sogleich vor Augen halten!» nahm er sich vor, und weil er nun einmal diesen Vorsatz gefaßt hatte, zweifelte er auch nicht mehr daran, daß sie wirklich kommen werde. Er ermahnte sich lebhaft, die Gründe, die sie zu ihrer Entschuldigung anführen sollte, selbstlos mit ihr zu durchleben, ehe er sie von ihren Irrtümern überzeuge. Mit unbeirrbarer Geduld wollte er sie ins Herz treffen, und nachdem er sich auch das vorgestellt hatte, senkte sich ein edles Gefühl brüderlicher Achtsamkeit und Fürsorge in sein eigenes Herz, eine geschwisterliche Weihe, von der er bemerkte, daß sie überhaupt auf den Beziehungen ruhen sollte, die die Geschlechter zueinander unterhalten. «Die wenigsten Männer» rief er erbaut aus
«haben eine Ahnung davon, welches tiefe Bedürfnis edle weibliche Wesen nach dem Edel-Mann haben, der schlicht mit dem Menschen in der Frau verkehrt, ohne durch geschlechtliche Gefallsucht gleich gestört zu werden!» Es mußten ihm diese Gedanken Flügel geliehen haben denn er wußte nicht, wie er zu der Endstelle der elektrischen Straßenbahn gelangt sei, stand aber plötzlich vor ihr und nahm, ehe er einstieg, die Brille ab, um sie von dem Dunst zu reinigen, mit dem sie die erhitzenden inneren Vorgänge beschlagen hatten. Dann schwang er sich in eine Ecke, blickte in dem leeren Wagen um sich, machte das Fahrgeld bereit, sah dem Schaffner ins Gesicht und fühlte sich ganz auf dem Posten, in der bewundernswerten Gemeinschaftseinrichtung, die man Städtische Straßenbahn nennt, die Rückreise anzutreten. Durch ein wohliges Gähnen strömte er die Müdigkeit des Spaziergangs aus, um sich für neue Pflichten zu straffen, und faßte die erstaunlichen Abschweifungen, denen er sich ergeben hatte, in dem Satz zusammen: Sich selbst zu vergessen, ist doch dem Menschen das Gesündeste, was es gibt!»
40 Der Tugut
Es gibt gegen die unberechenbaren Regungen eines leidenschaftlichen Herzens nur ein verläßliches Mittel: streng bis ins letzte eingehaltene Planmäßigkeit; und ihr, die er beizeiten erworben hatte, verdankte Lindner sowohl die Erfolge seines Lebens als auch den Glauben, von Natur ein leidenschaftsstarker und schwer zu disziplinierender Mann gewesen zu sein. Er stand des Morgens früh auf, Sommer und Winter um die gleiche Stunde, und wusch sich an einem kleinen eisernen Waschtisch Gesicht, Hals, Hände und ein Siebentel seines Körpers, jeden Tag natürlich ein anderes, worauf er den übrigen Körper mit einem nassen Handtuch abrieb, so daß das Bad, dieser zeitraubende und wollüstige Vorgang, auf einen Abend aller zwei Wochen beschränkt werden konnte. Es lag darin ein kluger Sieg über die Materie; und wer je Gelegenheit gehabt hat, die unzureichenden Waschgelegenheiten und unbequemen Betten zu betrachten, mit denen sich historisch gewordene Persönlichkeiten begnügt haben, der wird sich kaum der Mutmaßung entschlagen können, daß zwischen eisernen Betten und eisernen Männern ein Zusammenhang bestehen müsse, wenn wir ihn auch nicht übertreiben wollen, da wir sonst gleich auf Nägelbetten schlafen dürften. Hier war dem Nachdenken also überdies eine vermittelnde Aufgabe gestellt, und nachdem sich Lindner im Widerschein anregender Beispiele gewaschen hatte, nützte er denn auch das Abtrocknen nur mit Maß dazu aus, dem Körper durch geschickte Benutzung des Handtuches einige Bewegung zu geben. Ist es doch eine verhängnisvolle Verwechslung, die Gesundheit auf den tierischen Teil des Menschen zu gründen, geistiger und sittlicher Adel sind es vielmehr, woraus die körperliche Widerstandsfähigkeit hervorgeht; und wenn das auch nicht immer auf den einzelnen zutrifft, so trifft es dafür umso sicherer im großen zu, denn die Kraft eines Volkes ist die Folge des rechten Geistes, und nicht gilt es umgekehrt. Lindner hatte darum seinen Abreibungen auch eine besondere und sorgfältige Ausbildung angedeihen lassen, die es vermied, mit rücksichtslosem Zugreifen den üblichen männlichen Götzendienst zu treiben, dafür aber die ganze Persönlichkeit beteiligte, indem er die Bewegungen seines Körpers mit schönen inneren Aufgaben verband.
Er verabscheute besonders die halsbrecherische Anbetung der Schneidigkeit, die, von außen kommend, nun auch schon in seinem Väterland manchem als Ideal vorschwebte; und sich von ihr abzuwenden, gehörte ganz und gar zu seinen Morgenübungen. Er ersetzte sie bei diesen mit großer Umsicht durch ein staatsmännischeres Verhalten im turnerischen Gebrauch seiner Gliedmaßen und verband Anspannung der 574
Willenskraft mit rechtzeitiger Nachgiebigkeit, Schmerzüberwindung mit verständiger Menschlichkeit, und wenn er als abschließende Mutübung etwa über einen umgelegten Stuhl sprang, so geschah es mit ebenso viel Zurückhaltung wie Selbstvertrauen. Eine solche Entfaltung des ganzen Reichtums an menschlichen Anlagen machte ihm seine Leibesübungen, seit er sie vor einigen Jahren aufgenommen hatte, zu wahren Tugendübungen.
Soviel wäre im Fluge aber auch gegen den Ungeist vergänglicher Selbstbehauptung zu sagen, der sich, unter dem Schlagwort der Körperpflege, des an sich gesunden Gedankens des Sports bemächtigt hat, Zusätzliches indes noch gegen die besondere weibliche Form dieses Ungeistes als Schönheitspflege.
Lindner schmeichelte sich, zu den wenigen zu gehören, die Licht und Schatten auch da richtig zu verteilen wüßten, und so, wie er bereit war, dem Zeitgeist allenthalben einen unverderbten Kern zu entnehmen, anerkannte er auch die sittliche Verpflichtung, so gesund und wohlgefällig zu erscheinen wie nur möglich. Er selbst pflegte sorgfältig jeden Morgen Bart und Haar, hielt seine Nägel kurz und peinlich sauber, nahm etwas Brillantine aufs Haupt und etwas schützende Salbe auf die tagsüber viel erduldenden Füße; wer dagegen möchte leugnen, daß es ein Zuviel an dem Körper gewidmeter Aufmerksamkeit ist, womit eine weltliche Frau ihren Tag verbringt? Sollte es aber wirklich nicht anders sein können - er kam Frauen gerne zart entgegen, zumal wenn sich unter ihnen auch die von hoch mögenden Männern befinden konnten - als daß Badewässer und Gesichtsbäder, Salben und Packungen, Hand-und Fuß-künsteleien, Knetmeister und Haarkünstler einander in kaum unterbrochener Folge ablösen, so empfahl er as Gegengewicht solcher einseitigen Körperpflege den von ihm in öffentlicher Rede geprägten Begriff der inneren Schönheitspflege, oder kurz Innenpflege. Möge uns beispielsweise die Reinigung an die innere Reinheit mahnen, die Salbung an die Pflichten gegen die Seele, die Massage an die Hand des Schicksals, worin wir uns befinden, und die Feilung der Fußspitzen daran, daß wir auch im noch tiefer Verborgenen ein schöner Anblick sein sollen. So übertrug er sein Bild auf die Frauen, überließ es ihnen aber selbst, die Einzelheiten den Bedürfnissen ihres Geschlechts anzupassen.
Freilich hätte es geschehen können, daß ein Unvorbereiteter durch den Anblick, den Lindner beim Schön-heits- und Gesundheitsdienst, vollends aber während des Waschens und Abtrocknens darbot, zum Lachen gereizt würde: denn seine Bewegungen riefen, bloß körperlich betrachtet, die Vorstellung eines sich vielfach wendenden Schwanenhalses hervor, der außerdem nicht aus Rundung, sondern aus dem spitzen Element von Knie und Ellbogen bestand; die von der Brille befreiten, kurzsichtigen Augen blickten märtyrerhaft in die Weite, als ob man ihren Blick nahe beim Auge abgeschnitten hätte, und unter dem Bart warfen sich die weichen Lippen im Schmerz der Anstrengung auf. Wer aber geistig zu sehen verstand, der konnte wohl das Schauspiel erleben, äußere und innere Kräfte in reiflich überlegter gegenseitiger Hervorbringung zu sehn; und wenn Lindner dabei an die armen Frauen dachte, die Stunden im Bade-und Ankleidezimmer verbringen und die Phantasie einseitig durch Leibeskultus erhitzen, so konnte er sich selten des Gedankens erwehren, wie gut es ihnen täte, wenn sie einmal ihm zusehen könnten. Harmlos und rein begrüßen sie die moderne Körperpflege und machen sie mit, weil sie in ihrer Unkenntnis nicht ahnen, daß solche große dem tierischen Teil gewidmete Aufmerksamkeit allzu leicht Ansprüche in diesem weckt, die das Leben zerstören können, wenn man sie nicht in strenge Dienstbarkeit nimmt!
Überhaupt verwandelte Lindner schlechthin alles, womit er in Berührung kam, in eine sittliche Forderung; und ob er sich in Kleidern befand oder nicht, war jede Stunde des Tages bis zum Eintritt traumlosen Schlafs von einem wichtigen Inhalt ausgefüllt, dem sie ein für allemal vorbehalten blieb. Er schlief sieben Stunden: seine Lehrverpflichtung, die das Ministerium mit Rücksicht auf seine wohlgelittene schriftstellerische Tätigkeit eingeschränkt hatte, forderte drei bis fünf Stunden des Tages von ihm, in denen schon die Vorlesung über Pädagogik inbegriffen war, die er wöchentlich zweimal an der Universität abhielt; fünf zusammenhängende Stunden - das sind fast zwanzigtausend Stunden in einem Jahrzehnt! - waren dem Lesen vorbehalten; zweieinhalb Stunden dienten der ohne Stockung aus dem inneren Gestein seiner Persönlichkeit wie eine klare Quelle fließenden Niederschrift seiner eigenen Arbeiten; die Mahlzeiten beanspruchten täglich eine Stunde für sich; eine Stunde war dem Spaziergang gewidmet und zugleich der Erbauung an großen Fach-und Lebensfragen, während eine andere dem beruflich bedingten Ortswechsel und zugleich dem gewidmet blieb, was Lindner das kleine Nachdenken nannte, der Sammlung des Geistes auf den Gehalt der eben vergangenen und der kommenden Beschäftigung; andere Zeitstücke hinwieder waren, teils ein für allemal, teils im Rahmen der Woche wechselnd, für An-und Auskleiden, Turnen, Briefe, 575
Wirtschaftsangelegenheiten, Behörden und nützliche Geselligkeit vorgesehen. Auch ist es natürlich, daß die Ausführung dieses Lebensplans nicht nur nach seinen großen und strengen Linien erfolgte, sondern noch allerhand Besonderheiten mit sich brachte, wie den Sonntag mit seinen nicht alltäglichen Pflichten, den größeren Überlandspazier-gang, der alle vierzehn Tage stattfand, oder das Vollbad, und daß sie auch tägliche Doppeltätigkeiten enthielt, die noch nicht erwähnt werden konnten und zu denen beispielsweise der Umgang Lindners mit seinem Sohn während der Mahlzeiten gehörte, oder beim raschen Ankleiden die Übung des Charakters in der geduldigen Überwindung von unvorhergesehenen Schwierigkeiten.
Charakterübungen solcher Art sind nicht nur möglich, sondern auch überaus nützlich, und Lindner hatte eine ursprüngliche Vorliebe für sie. «In dem Kleinen, was ich recht tue, sehe ich ein Bild von allem Großen, was in der Welt recht getan wird» stand schon bei Goethe zu lesen, und in diesem Sinn kann eine Mahlzeit so gut wie ein Schicksalsauftrag als Pflegestatt der Selbstbeherrschung und Siegesstatt über die Begehrlichkeit dienen; ja an dem allen Überlegungen unzugänglichen Widerstand eines Kragenknopfes vermag der tiefer blickende Sinn geradezu den Umgang mit Kindern zu erlernen. Lindner betrachtete natürlich Goethe keineswegs in allem als Vorbild; aber welch köstliche Demut hatte er nicht schon daraus gewonnen, daß er mit Hammerschlägen einen Nagel in die Wand zu treiben versucht hatte, einen zerrissenen Handschuh selbst zu stopfen unternahm oder eine verdorbene Klingel wieder herstellte: schlug er sich dabei auf die Finger oder stach er sich hinein, so wurde der hervorgerufene Schmerz, wenn auch nicht gleich, so doch nach einigen entsetzlichen Sekunden, von der Freude am industriösen Geist der Menschheit überwunden, der sogar in solchen geringfügigen Fertigkeiten und ihrem Erwerbe steckt, wessen sich der Gebildete heute zu seinem allgemeinen Nachteil hochmütig überhoben dünkt! Mit Behagen hatte er dann Goetheschen Geist in sich wiederauferstehen fühlen und es umso mehr genossen, als er sich über des Klassikers praktische Liebhaberei und gelegentliche Freude an besonnener Handfertigkeit dank der Verfahren eines neueren Zeitalters doch auch hinausgehoben fühlte. Lindner war überhaupt frei von Vergötzung des alten Autors, der in einer erst halb aufgeklärten, und darum die Aufklärung überschätzenden Welt gelebt hat, und nahm sich ihn mehr im liebenswürdig Kleinen zum Vorbild als im Ernsten und Großen, ganz abgesehen von der berüchtigten Sinnlichkeit des verführerischen Ministers.
Seine Verehrung war also sorgfältig abgewogen. Trotzdem machte sich seit einiger Zeit in ihr eine merkwürdige Verdrießlichkeit gelten, die Lindner oftmals zum Nachdenken reizte. Immer schon hatte er geglaubt, eine richtigere Auffassung vom Heldischen zu besitzen als Goethe. Von Scävolas, die ihre Hände ins Feuer stecken, Lukrezien, die sich durchbohren, oder Judithen, die den Bedrängern ihrer Ehre das Haupt abschlagen — «Motiven», die Goethe jederzeit bedeutsam gefunden hätte, obzwar er sie nicht selbst behandelt hat - hielt Lindner nicht viel; ja, er war sogar trotz der Autorität der Klassiker überzeugt, daß diese Männer und Frauen, die für ihre persönlichen Überzeugungen Verbrechen begangen haben, heutigentags nicht sowohl auf den Kothurn als vielmehr in, den Gerichtssaal gehörten. Er setzte ihrem Hang zu schweren Körperverletzungen eine «verinnerlichte und soziale» Auffassung des Mutes entgegen.
In Gespräch und Gedanke ging er sogar so weit, eine reiflich überlegte Eintragung ins Klassenbuch darüber zu stellen, oder die verantwortliche Erwägung, wie seine Wirtschafterin wegen voreiligen Eifers zu tadeln sei, weil man dabei nicht nur seinen eigenen Leidenschaften folgen dürfe, sondern auch die Gründe des anderen berücksichtigen müsse. Und wenn er so etwas aussprach, hatte er der Eindruck, in wohlanstehendem Zivilkleid eines späteren Jahrhunderts auf das bombastische moralische Kostüm eines älteren zurückzublicken.
Der Hauch von Lächerlichkeit, der mit solchen Beispielen verbunden war, entging ihm durchaus nicht, aber er nannte ihn das Lachen des Geistespöbels; und er hatte zwei feste Gründe dafür. Erstens behauptete er nicht nur, daß sich jeder Anlaß gleich gut zur Stärkung wie zur Schwächung der menschlichen Natur benutzen lasse; sondern es erschienen ihm Anlässe kleinerer Art sogar zur Kräftigung geeigneter als die großen Gelegenheiten, denn durch die glanzvolle Ausübung der Tugend wird unwillkürlich auch die menschliche Neigung zu Überhebung und Eitelkeit gefördert, wogegen die unscheinbare alltägliche Ausübung schlechthin aus ungewürzter und reiner Tugend besteht. Zweitens aber durfte eine planvolle Bewirtschaftung des moralischen Volksguts (diesen Ausdruck liebte Lindner, neben dem soldatischen Wort «Zucht», wegen des Bäurischen und zugleich Fabriksneuen, das an ihm ist) auch deshalb die
«kleinen Gelegenheiten» nicht verschmähen, weil der gottlose, von «Liberalen und Freimaurern»
aufgebrachte Glaube, daß die großen menschlichen Leistungen gleichsam aus einem Nichts hervorgehn, 576
mochte man es auch Genie nennen, schon damals im Veralten war. Das geschärftere Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit ließ den «Helden», den frühere Zeit zu einer überheblichen Erscheinung gemacht hatte, bereits als einen unermüdlichen Kleinarbeiter erkennen, der sich zum Entdecker durch dauernden Lernfleiß vorbereiten, als Athlet seinen Körper so ängstlich behandeln muß wie ein Opernsänger seine Stimme, und als politischer Volkserneuerer vor unzähligen Versammlungen immer das gleiche zu wiederholen hat. Und davon hatte Goethe - der zeit seines Lebens doch ein bequemer Bürger-Aristokrat geblieben war - noch keine Ahnung gehabt, Lindner aber sah es kommen! Darum war es auch verständlich, daß er Goethens besseres Teil gegen dessen vergängliches in Schutz zu nehmen meinte, wenn er das
Bedachtsam-Umgängliche, das jener in so erfreulichem Maße besaß, dem Tragischen vorzog; auch ließe sich wohl vertreten, daß es nicht unüberlegt geschah, wenn er sich aus keinem anderen Grunde, als weil er ein Pedant war, für einen von gefährlichen Leidenschaften bedrohten Menschen hielt.
Wahrhaftig ist es denn auch bald danach eine der beliebtesten menschlichen Möglichkeiten geworden, sich einem «Regime» zu unterwerfen, was mit demselben günstigen Erfolg gegen die Fettleibigkeit angewendet wird wie in der Politik und im geistigen Leben. Dabei werden Geduld, Gehorsam, Regelmäßigkeit, Gleichmut und andere sehr ordentliche Eigenschaften zu Hauptbestandteilen des Menschen im Privatzustand, während alles Ungezügelte, Gewaltsame, Süchtige und Gefährliche, dessen er, als ein Wildromantiker, doch auch nicht entbehren mag, seinen vortrefflichen Sitz im Regime hat. Wahrscheinlich ist diese merkwürdige Neigung, sich einem Regime zu unterwerfen, oder ein anstrengendes, unangenehmes und dürftiges Leben nach den Vorschriften eines Arztes, Sportlehrers oder anderen Tyrannen zu führen, obgleich man es mit ebenso gutem Mißerfolg auch unterlassen könnte, schon ein Ergebnis der Bewegung zum Arbeiter-, Krieger und Ameisenstaat, dem sich die Welt annähert: aber da lag auch die Grenze, die zu überschreiten Lindner nicht mehr fähig war und an die sein Blick nicht mehr sehend hindrang, weil es ihm sein Goethi-sches Erbteil verbot.
Wohl war seine Frömmigkeit von keiner Art, die sich damit nicht vertragen hätte, überließ er doch das Göttliche Gott, und auch die unverdünnte Heiligkeit den Heiligen; aber er konnte den Gedanken nicht fassen, auf seine Persönlichkeit zu verzichten, und es schwebte ihm als Ideal der Welt eine Gemeinschaft vollverantwortlicher sittlicher Persönlichkeiten vor, die als zivile Gottesstreitmacht zwar wider die Unbeständigkeit der niederen Natur kämpfe und den Alltag zum Heiligtum mache, dieses aber auch mit den großen Werken der Kunst und Wissenschaft schmücke. Hätte jemand seine Tageseinteilung nachgezählt, so wäre ihm darum auch aufgefallen, daß sie in jeder Abwandlung bloß dreiundzwanzig Stunden ergab, es fehlten also noch sechzig Minuten auf einen vollen Tag, und von diesen sechzig Minuten waren vierzig ein für allemal dem Gespräch und liebevollen Eingehn auf die Bestrebungen und die Wesensart anderer Menschen zugedacht, wozu er auch den Besuch von Kunstausstellungen, Konzerten und Vergnügungen rechnete. Er haßte diese Veranstaltungen. Sie verletzten fast jedesmal durch ihren Inhalt sein Gemüt, und nach seinen Begriffen tobte sich in diesen planlosen und überschätzten Erbauungen die berüchtigte Nervenstörung der Gegenwart aus, mit ihren überflüssigen Reizen und ihren echten Leiden, mit ihrer Unersättlichkeit und ihrer Unbeständigkeit, ihrer Neugierde und ihrem unvermeidlichen Sittenverfall. Er lächelte sogar erschüttert in seinen dünnen Bart, wenn er bei solchen Anlässen «Männlein und Weiblein»
mit erhitzten Wangen der Kultur götzendienern sah. Sie wußten nicht, daß die Lebenskraft durch Einengung gesteigert wird, und nicht durch Zersplitterung. Sie litten alle unter der Angst, keine Zeit für alles zu haben, und wußten nicht, daß Zeit haben nichts anderes heißt, als keine Zeit für alles zu haben.
Lindner hatte erkannt, daß die schlechte Nervenverfassung nicht von der Arbeit und ihrer Eile komme, die man in diesem Zeitalter anschuldige, sondern im Gegenteil von der Kultur und Humanität ausgehe, von den Ruhepausen, der Unterbrechung der Arbeit, den freigelassenen Minuten, wo der Mensch sich selbst leben möchte und etwas sucht, das er für schön halten könnte oder für ein Vergnügen oder für wichtig: diese Minuten sind es, aus denen die Miasmen der Ungeduld, des Unglücks und der Sinnlosigkeit aufsteigen. So empfand er, und wäre es nach ihm gegangen, das heißt, nach den Gesichten, die er in solchen Augenblicken hatte, so hätte er alle diese Kunststätten mit eisernem Besen ausgekehrt, und es hätten Feste der Arbeit und Erbauung, kurz angebunden an das tägliche Tun, die Stelle jener angeblichen Geistesereignisse eingenommen; es wäre eigentlich nichts zu tun gewesen, als von einem ganzen Zeitalter wenige Minuten täglich fortzunehmen, die ihr krankes Dasein einer falsch verstandenen Liberalität verdanken. Aber es ernsthaft und öffentlich und anders als in einigen Anspielungen zu vertreten, dazu hatte er nie die 577
Entschiedenheit aufgebracht.
Und Lindner blickte plötzlich auf, denn er fuhr während dieser Gedankenträume ja noch immer mit der Straßenbahn, und fühlte sich gereizt und beklommen, wie es von Unentschlossenheit und Verhindertsein kommt, und hatte für einen Augenblick den verworrenen Eindruck, die ganze Zeit über an Agathe gedacht zu haben. Es geschah ihr auch die Ehre, daß ein Unwille, der arglos als Freude an Goethe begonnen hatte, nun mit ihr verschmolz, obwohl kein Grund dafür zu erkennen war. Gewohnheitsmäßig ermahnte sich darum Lindner selbst: «Widme einen Teil deiner Einsamkeit dem ruhigen Nachdenken über deinen Nächsten, zumal wenn du nicht mit ihm übereinstimmen solltest: vielleicht wirst du dann, was dich abstößt, besser verstehen und benutzen lernen und wirst seine Schwäche zu schonen und seine Tugend zu ermutigen wissen, die möglicherweise bloß eingeschüchtert ist!» flüsterte er mit stummen Lippen. Es war einer der Kernsätze, die er gegen das fragwürdige Treiben der sogenannten Kultur geprägt hatte und in denen er gewöhnlich die Gelassenheit fand, dieses zu ertragen; aber der Erfolg blieb aus, und Gerechtigkeit war offenbar nicht das, was ihm diesmal fehlte. Er zog die Uhr. Es bestätigte sich, daß er Agathe mehr Zeit geschenkt hatte, als ihm gegeben war. Aber er hätte es nicht tun können, wenn in seinem Tagesplan nicht restliche zwanzig Minuten für unvermeidliche Zeitverluste vorgesehen gewesen wären; und es zeigte sich, daß ihm von diesem Verlustkonto, diesem Notvorrat an Zeit, dessen kostbare Tropfen das vermittelnde öl in seinem Tagwerk waren, selbst an diesem ungewöhnlichen Tag noch zehn Minuten übrig sein würden, wenn er sein Haus betreten werde. Wuchs dadurch sein Mut? Es fiel ihm ein anderer seiner Lebenssprüche ein, schon zum
zweitenmal heute: «Je unerschütterlicher die Geduld in dir wird, » sagte Lindner zu Lindner «desto sicherer wirst du den ändern ins Herz treffen!» Und ins Herz zu treffen, das bereitete ihm ein Vergnügen, das auch dem Heldischen seiner Natur entsprach; daß so Getroffene niemals zurückschlagen, spielte dabei keine Rolle.
41 Die Geschwister am nächsten Morgen
Auf diesen Mann kamen nun Ulrich und seine Schwester abermals zu sprechen, als sie sich am Morgen nach dem plötzlichen Verschwinden Agathes aus der Gesellschaft bei ihrer Kusine von neuem sahen. Tags zuvor hatte auch Ulrich bald nach ihr die streitbar angeregte Versammlung verlassen, war aber nicht mehr dazu gekommen, sie zu fragen, warum sie ihm auf und davon gegangen wäre; denn sie hatte sich eingeschlossen und entweder schon geschlafen oder mit Absicht die leise Frage des Lauschenden, ob sie noch wache, ohne Antwort gelassen. So schloß der Tag, wo sie dem wunderlichen Fremden begegnet war, ebenso launenhaft ab, wie er begonnen hatte. Auch am nächsten Tag war keine Auskunft von ihr zu erlangen. Ihre wirklichen Empfindungen kannte sie selbst nicht. Wenn sie an den bei ihr eingedrungenen Brief ihres Ehemanns dachte, den sie sich ein zweites Mal zu lesen nicht überwinden konnte, obwohl sie ihn von Zeit zu Zeit neben sich liegen sah, so erschien es ihr unglaubwürdig, daß seit seinem Empfang kaum ein Tag vergangen sein sollte; so oft hatte sie inzwischen ihren Zustand gewechselt. Manchmal dünkte sie, daß auf diesen Brief wahrhaftig das Schauerwort: Gespenster der Vergangenheit angewandt werden müßte; trotzdem fürchtete sie sich auch wirklich vor ihm. Und zuweilen erregte er in ihr bloß ein kleines Unbehagen, das auch der unverhoffte Anblick einer stehengebliebenen Uhr erregen könnte; zuweilen aber versetzte es sie in starres Nachdenken, daß die Welt, aus der er kam, den Anspruch hatte, die wirkliche für sie zu sein. Was sie innen nicht einmal leise berührte, umgab sie außen unabsehbar und hielt dort noch immer zusammen. Unwillkürlich verglich sie damit, was sich zwischen ihr und ihrem Bruder seit dem Eintreffen dieses Schreibens ereignet hatte. Das waren vor allem Gespräche, und obwohl eines von diesen sie sogar dazu gebracht hatte, an Selbstmord zu denken, war sein Inhalt vergessen, wenn auch wahrscheinlich noch auferstehensbereit und nicht verschmerzt. Es hatte also eigentlich auch wenig zu bedeuten, worüber ein Gespräch geführt wurde, und, ihr herzergreifendes jetziges Leben gegen den Brief abwägend, empfing sie den Eindruck einer tiefen, beständigen, unvergleichlichen, aber machtlosen Bewegung. Sie fühlte sich von alledem an diesem Morgen teils matt und ernüchtert, teils zärtlich und unruhig, wie es ein Fiebernder nach dem Sinken der Temperatur ist.
Es geschah darum bloß scheinbar unvermittelt, als sie mit einemmal sagte: «So teilzunehmen, daß man selbst erlebt, wie einem andren zumute ist, muß unbeschreiblich schwer sein!» Ulrich entgegnete: «Es gibt 578
Menschen, die sich einbilden, es zu können. » Er war ungelaunt und anzüglich und hatte sie nur halb verstanden. Bei ihren Worten wich etwas zur Seite und gab einem Ärger Raum, der tags zuvor zurückgeblieben war, mochte er ihn auch verachten. Damit war diese Aussprache fürs erste zu Ende.
Der Morgen hatte einen Regentag gebracht und die Geschwister in ihrem Haus eingeschlossen. Die Blätter der Bäume glänzten öde vor den Fenstern wie nasses Linoleum; der Fahrdamm hinter den Lücken des Laubs spiegelte wie ein Gummischuh. Die Augen mochten den nassen Anblick kaum anfassen. Agathe seufzte auf und erklärte: «Die Welt erinnert heute an unsere Kinderzimmer. » Sie spielte damit auf die kahlen Oberstuben in ihres Vaters Haus an, mit denen sie beide ein verwundertes Wiedersehen gefeiert hatten. Das schien weit hergeholt zu sein; aber sie fügte hinzu: «Es ist die erste Traurigkeit des Menschen inmitten seines Spielzeugs, die immer wiederkehrt!» Unwillkürlich war die Erwartung nach dem dauernd guten Wetter der letzten Zeit wieder auf einen schönen Tag gerichtet gewesen und erfüllte nun den Sinn mit versagter Lust und ungeduldiger Schwermut. Ulrich blickte jetzt auch zum Fenster hinaus. Hinter der grauen, rinnenden Wasserwand gaukelten unausgeführte Entwürfe von Ausflügen, freies Grün und endlose Welt; und vielleicht geisterte dahinter auch der Wunsch, einmal allein zu sein und sich selbst frei nach allen Seiten zu regen, dessen süßer Schmerz die Passionsgeschichte und auch schon die Wiederauferstehung der Liebe ist. Er wandte sich, irgend etwas davon noch im Ausdruck des Gesichts und Körpers, zu seiner Schwester um, und beinahe heftig fragte er sie: «Ich gehöre wohl nicht zu den Menschen, die auf andere teilnehmend eingehen können?»
«Nein, wirklich nicht!» erwiderte sie und lächelte ihn an.
«Aber gerade, was solche Menschen sich einbilden, » fuhr er fort, denn erst jetzt hatte er verstanden, wie ernst ihre Worte gemeint waren «daß man miteinander leiden könnte, vermögen sie so wenig wie irgendwer.
Sie haben höchstens die Geschicklichkeit von Krankenschwestern, daß sie erraten, was ein Bedürftiger gerne hört -»
«Also müssen sie doch wissen, was ihm wohltut» wandte Agathe ein.
«Durchaus nicht!» wiederholte Ulrich hartnäckiger. «Wahrscheinlich trösten sie überhaupt nur dadurch, daß sie reden: wer viel redet, entlädt das Leid des ändern tropfenweise wie ein Regen die Elektrizität einer Wolke. Das ist die bekannte Milderung eines jeden Kummers durch das Mittel der Aussprache!»
Agathe schwieg.
«Solche Menschen wie dein neuer Freund» meinte Ulrich nun herausfordernd «wirken vielleicht auch, wie es manche Hustenmittel tun: sie beseitigen nicht den Katarrh, aber sie lindern seinen Reiz, und dann heilt er oft von selbst aus!»
Er hätte unter allen anderen Umständen die Zustimmung seiner Schwester erwarten dürfen, aber die seit gestern wunderlich gesonnene Agathe mit ihrer plötzlichen Schwäche für einen Mann, dessen Wert Ulrich bezweifelte, lächelte unnachgiebig und spielte mit ihren Fingern. Ulrich sprang auf und sagte eindringlich:
« Aber ich kenne ihn doch, wenn auch nur flüchtig; ich habe ihn einigemal reden hören!»
«Du hast ihn sogar einen <faden Esel> genannt» schaltete Agathe ein.
«Und warum nicht!?» verteidigte es Ulrich. «Menschen wie der wissen noch weniger als irgendwer mit einem ändern zu fühlen! Sie wissen nicht einmal, was es bedeutet. Sie fühlen einfach die Schwierigkeit, die ungeheuerliche Zweifelhaftigkeit dieses Anspruches nicht!»
Da fragte Agathe: «Weshalb erscheint dir denn der Anspruch zweifelhaft?»
Nun schwieg Ulrich. Er zündete sich sogar eine Zigarette an, um zu bekräftigen, daß er darauf nicht antworten werde, hatten sie doch tags zuvor genug darüber gesprochen! Auch Agathe wußte das. Sie wollte keine neue Erklärung herausfordern. Diese Erklärungen waren so bezaubernd und so vernichtend, wie in den Himmel zu schaun, wenn darin graue, rosa und gelbe Städte aus Wolkenmarmor zu sehen sind. Sie dachte: «Wie schön wäre es, wenn er nichts sagte als: <Ich will dich lieben wie mich selbst, und dich kann ich eher so lieben als alle anderen Frauen, weil du meine Schwester bist!> » Und weil er es nicht sagen wollte, nahm sie eine kleine Schere und schnitt sorgfältig einen Faden ab, der irgendwo hervorragte, so, als wäre es augenblicklich auf der ganzen Welt das einzige, was ihre volle Aufmerksamkeit verdiene. Ulrich sah dem mit der gleichen Aufmerksamkeit zu. Sie war in diesem Augenblick allen seinen Sinnen verführerischer denn je gegenwärtig, und etwas von dem, was sie verbarg, erriet er, wenn auch nicht alles.
Denn sie hatte indessen Zeit zu dem Beschluß: wenn Ulrich vergessen könne, daß sie den fremden Mann selbst auslache, der sich anmaßte, hier helfen zu können, solle er es jetzt auch nicht von ihr erfahren. Und 579
außerdem hatte sie doch auch ein erwartungsvolles Vorgefühl von Lindner. Sie kannte ihn nicht. Aber daß er ihr selbstlos und überzeugt seine Hilfe anbot, mußte ihr wohl Vertrauen eingeflößt haben, denn eine frohe Tonart des Herzens, harter Posaunenklang von Wille, Zuversicht und Stolz, ihrem eigenen Zustand wohltätig entgegengesetzt, schienen sie hinter aller Komik des Falls erfrischend anzublasen. «Mögen Schwierigkeiten noch so groß sein, sie bedeuten nichts, wenn man ernstlich will!» dachte sie und wurde dabei unversehens von Reue erfaßt, so daß sie nun das Schweigen ungefähr so brach, wie eine Blume gebrochen wird, damit sich zwei Köpfe darüber beugen können, und ihrer ersten Frage die zweite hinzufügte: «Erinnerst du dich denn noch, daß du immer gesagt hast, liebe den Nächsten, ist von einer Pflicht so verschieden wie ein aus der Seligkeit kommender Wolkenbruch von einem Tropfen Zufriedenheit?»
Sie staunte über die Heftigkeit, mit der Ulrich ihr antwortete: «Die Ironie meines Zustands ist mir nicht unbekannt. Seit gestern, und wahrscheinlich immer, habe ich nichts getan, als ein Heer aufzustellen von Gründen dafür, daß diese Liebe zu diesem Nächsten nicht ein Glück sei, sondern eine ungeheuer großartige, halb unlösbare Aufgabe! Nichts könnte also begreiflicher sein, als daß du Schutz davor bei einem Menschen suchtest, der von alledem keine Ahnung hat, und ich an deiner Stelle täte es auch!»
«Aber es ist doch gar nicht wahr, daß ich es tue!» versetzte Agathe kurz.
Ulrich konnte nicht umhin, ihr einen so dankbaren wie mißtrauischen Blick zuzuwerfen: «Es stünde kaum dafür, daß man davon redete» versicherte er. «Ich habe es eigentlich auch nicht tun wollen. » Er zauderte einen Augenblick und fuhr fort: «Aber sieh, wenn man schon einen anderen lieben muß wie sich selbst, und liebt ihn noch so sehr, bleibt es doch eigentlich Betrug und Selbstbetrug, weil man einfach nicht mitfühlen kann, wie ihn der Kopf schmerzt oder der Finger. Es ist etwas völlig Unerträgliches, daß man an einem Menschen, den man liebt, nicht wirklich teilnehmen kann, und es ist etwas völlig Einfaches. So ist die Welt eingerichtet. Wir tragen unser Tierfell mit den Haaren nach innen und können es nicht ausstreifen. Und diesen Schreck in der Zärtlichkeit, diesen Alptraum der steckenbleibenden Annäherung, den erleben die regelrecht guten, die <kurz und guten» Menschen nie. Was sie ihr Mitgefühl nennen, ist sogar ein Ersatz dafür, der zu verhindern hat, daß sie etwas vermissen!»
Agathe vergaß, daß sie soeben etwas gesagt hatte, das einer Lüge so ähnlich war wie keiner Lüge. Sie sah, daß in Ulrichs Worten die Enttäuschung von der Vision eines Aneinander-Teilhabens durchleuchtet war, vor der die gewöhnlichen Beweise der Liebe, Güte und Teilnahme ihre Bedeutung verloren; und sie verstand, daß er darum von der Welt öfter als von sich sprach, denn man mußte sich wohl mitsamt der Wirklichkeit ausheben wie eine Tür aus der Angel, wenn das mehr als eitel Träumerei sein sollte. In diesem Augenblick war sie weit weg von dem Mann mit dem schütteren Bart und der schüchternen Strenge, der ihr wohltun wollte. Sie vermochte es aber nicht zu sagen. Sie sah Ulrich bloß an, dann sah sie weg, ohne zu sprechen. Dann tat sie irgend etwas, dann sahen sie einander wieder an. Das Schweigen machte nach kürzester Zeit den Eindruck, daß es schon Stunden währe.
Der Traum, zwei Menschen zu sein und einer -: in Wahrheit war die Wirkung dieser Erdichtung in manchen Augenblicken der eines über die Grenzen der Nacht getretenen Traumes nicht unähnlich, und auch jetzt schwebte sie zwischen Glaube und Leugnung in einem solchen Ge-fühlszustand, daran die Vernunft nichts mehr zu bestellen hatte. Es war erst die unbeeinflußbare Beschaffenheit der Körper, wovon das Gefühl in die Wirklichkeit zurückgewiesen wurde. Diese Körper breiteten vor dem suchenden Blick ihr Sein, da sie einander doch liebten, zu Überraschungen und Entzückungen aus, die sich erneuten wie ein in den Strömen des Begehrens schwebendes Pfauenrad; aber sobald der Blick nicht bloß an den hundert Augen des Schauspiels hing, das die Liebe der Liebe gibt, sondern zu dem Wesen einzudringen versuchte, das dahinter dachte und fühlte, verwandelten sich diese Körper in grausame Kerker. Es fand sich wieder einer vor dem ändern, wie schon so oft zuvor, und wußte nichts zu sagen, weil zu allem, was die Sehnsucht noch zu sagen oder zu wiederholen gehabt hätte, eine allzuweit hinübergebeugte Bewegung gehörte, für die es keinen Stand und Boden gab.
Und nicht lange, so wurden darüber unwillkürlich auch die körperlichen Bewegungen langsamer und erstarrten. Vor den Fenstern erfüllte noch immer der Regen die Luft mit seinem zuckenden Vorhang aus Tropfen und den einschläfernden Geräuschen, durch deren Eintönigkeit die himmelhohe Öde herabfloß. Es schien Agathe Jahrhunderte her zu sein, daß ihr Körper einsam sei; und die Zeit rann, als rinne sie mit dem Wasser vom Himmel. Im Zimmer war jetzt ein Licht wie ein ausgehöhlter Silberwürfel. Blaue, süßliche 580
Schärpen von Rauch achtlos verbrennender Zigaretten umschlangen sie und Ulrich. Sie wußte nicht mehr, ob sie bis ins Innerste empfindlich und zärtlich sei oder ungeduldig und schlecht auf ihren Bruder zu sprechen, dessen Ausdauer sie bewunderte. Sie suchte sein Auge und fand es erstarrt wie zwei Monde in dieser unsicheren Atmosphäre schweben. Und in demselben Augenblick geschah ihr nun, was nicht aus ihrem Willen zu kommen schien, sondern von außen, daß das quellende Wasser vor den Fenstern plötzlich fleischig wurde wie eine aufgeschnittene Frucht und seine schwellende Weichheit zwischen sie und Ulrich drängte. Vielleicht schämte sie sich oder haßte sich deswegen sogar ein wenig, aber eine völlig sinnliche Ausgelassenheit - und gar nicht nur, was man Entfesseln der Sinne nennt, sondern auch, ja weit eher, ein freiwilliges und freies Ablassen der Sinne von der Welt! - begann sich ihrer zu bemächtigen; und sie konnte dem gerade noch zuvorkommen und es vor Ulrich sogar verbergen, indem sie mit der schnellsten aller Ausreden, daß sie etwas zu besorgen vergessen hätte, aufsprang und das Zimmer verließ.
42 Auf der Himmelsleiter in eine fremde Wohnung
Kaum war das vollbracht, faßte sie aber den Beschluß, daß sie den sonderbaren Mann aufsuchen werde, der ihr seine Hilfe angeboten hatte, und schritt sogleich an die Ausführung. Sie wollte ihm gestehen, daß sie nicht mehr wisse, was sie mit sich beginnen solle. Sie hatte keine deutliche Vorstellung von ihm; ein Mensch, den man unter Tränen gesehen hat, die in seiner Gesellschaft auftrockneten, wird nicht leicht jemand so erscheinen, wie er wirklich ist. Darum dachte sie unterwegs über ihn nach. Sie glaubte nüchtern nachzudenken; aber in Wahrheit geschah es noch ganz phantastisch. Sie eilte durch die Straßen und trug vor ihren Augen das Licht aus ihres Bruders Zimmer. Rechtes Licht sei es aber gar nicht gewesen, überlegte sie; eher mochte sie sagen, daß alle Dinge in dem Zimmer plötzlich die Fassung verloren hätten, oder eine Art von Verstand, der sonst wohl an ihnen sein mußte. Sollte es aber so sein, daß bloß sie selbst die Fassung verloren hätte, oder ihren Verstand, so wäre das auch nicht nur auf sie beschränkt gewesen, denn es hatte doch auch in den Dingen eine Befreiung erweckt, worin es sich von Wundern regte. «Im nächsten Augenblick hätte es uns aus den Kleidern geschält wie ein silbernes Messer, ohne daß wir auch nur einen Finger wirklich gerührt hätten!» dachte sie.
Allmählich beruhigte sie sich aber jetzt an dem Regen, der ihr harmloses, graues Wasser prasselnd auf Hut und Mantel schüttete, und ihre Gedanken nahmen eine gemäßigtere Art an. Vielleicht half auch die einfache, in Eile übergeworfene Kleidung dabei mit, denn sie lenkte ihre Erinnerung auf schirmlose Schulmädelwege und unschuldige Zustände zurück. Die Wandernde entsann sich sogar unerwartet einer arglosen Sommerszeit, die sie mit einer Freundin und deren Eltern auf einer kleinen Insel im Norden verbracht hatte: dort hatten sie zwischen der harten Herrlichkeit von Himmel und Meer einen Nistplatz der Seevögel entdeckt, eine Mulde voll von weißen, weichen Vogelfedern. Und nun wußte sie es: der Mann, zu dem es sie hinzog, erinnerte sie an diesen Nistplatz. Die Vorstellung freute sie. Allerdings hätte sie es sich zu jener Zeit, angesichts der strengen Aufrichtigkeit, die zum Bedürfnis der Jugend nach Erfahrung gehört, wohl kaum durchgehen lassen, daß sie sich dermaßen unlogisch, ja eben jugendlich-unreif, wie sie es jetzt mit Fleiß geschehen ließ, bei der Vorstellung des Weichen und Weißen einem überirdischen Grausen überlasse. Dieses Grausen galt Professor Lindner; aber auch das Überirdische galt ihm.
Die Ahnung voll Gewißheit, es stehe alles, was ihr begegne, in märchenhafter Verbindung mit etwas Verborgenem, war ihr aus allen erregten Zeiten ihres Leben bekannt; sie spürte es als eine Nähe, fühlte es hinter sich und hatte die Neigung, auf die Stunde des Wunders zu warten, wo sie nichts zu tun hätte, als die Augen zu schließen und sich zurückzulehnen. Ulrich aber sah in überirdischen Träumereien keine Hilfe, und seine Aufmerksamkeit schien meistens davon in Anspruch genommen zu seih, den überirdischen Inhalt unendlich langsam in einen irdischen zu verwandeln. Agathe erkannte darin den Grund, warum sie ihn binnen vierundzwanzig Stunden jetzt schon zum drittenmal verlassen hatte, fliehend in der wirren Erwartung von etwas, das sie in Obhut nehmen und von den Mühsalen, oder auch nur von der Ungeduld ihrer Leidenschaften ausruhen lassen sollte. Sobald sie sich dann beruhigte, war sie wieder selbst an seiner Seite und sah alle Heilsmöglichkeit in dem, was er sie lehrte; und auch jetzt hielt dies eine Weile an. Als sich ihr aber die Erinnerung an das, was zu Hause «beinahe» geschehen wäre - und eben doch nicht geschah!
- wieder lebhafter aufdrängte, war sie auch wieder bis ins Innerste ratlos. Bald wollte sie sich nun einreden, daß ihnen der unendliche Bereich des Unvorstellbaren zu Hilfe gekommen wäre, wenn sie noch einen 581
Augenblick ausgeharrt hätten, bald warf sie sich vor, daß sie nicht abgewartet habe, was Ulrich tun werde; schließlich aber träumte sie davon, daß es das richtigste gewesen wäre, einfach der Liebe nachzugeben und auf der schwindlichten Himmelsleiter, die sie hinanstiegen, der überforderten Natur eine Ruhestufe einzuräumen. Doch da kam sie sich, kaum war dieses Zugeständnis gemacht, wie eines der unfähigen Märchengeschöpfe vor, die nicht an sich halten können und in ihrer weibischen Schwäche vor der Zeit das Schweigen oder ein anderes Gelübde brechen, worauf alles unter Donner zusammenfällt.
Richtete sich jetzt ihre Erwartung wieder auf den Mann, der sie Rat finden lassen sollte, so hatte er nicht nur die großen Vorteile für sich, die der Ordnung, der Gewißheit, der gütigen Strenge und einem zusammengenommenen Betragen von einer unartig verzweifelten Aufführung verliehen sind; sondern es war diesem Unbekannten auch die besondere Auszeichnung zu eigen, daß er gefühllos und gewiß von Gott sprach, als verkehre er täglich in dessen Hause und könne zu verstehen geben, daß man dort alles verachte, was bloß Leiderschaft und Einbildung sei. Was mochte ihr also bei ihm bevorstehen? Als sie sich diese Frage stellte, drückte sie den Fuß heftiger im Lauf an den Boden und atmete die Kälte des Regens ein, damit sie ganz nüchtern werde; und da wurde ihr denn recht wahrscheinlich, daß Ulrich, wenn er auch einseitig über Lindner urteile, es doch richtiger tue als sie, denn vor den Gesprächen mit ihm, als ihr Eindruck von jenem noch ursprünglich war, hatte sie selbst auch recht spöttisch von dem Guten gedacht. Sie wunderte sich über ihre Füße, die sie dennoch zu ihm trugen, und nahm sogar einen in der gleichen Richtung fahrenden Stellwagen, damit es schneller vonstatten gehe.
Zwischen Menschen geschüttelt, die wie grobe nasse Wäschestücke waren, hatte sie es schwer, ihr inneres Gespinst ganz zu erhalten, aber sie stand mit erbittertem Gesicht und schützte es vor dem Zerreißen. Sie wollte es heil zu Lindner bringen. Sie verkleinerte es sogar. Ihr ganzes Verhältnis zu Gott, wenn dieser Name denn schon auf eine solche Abenteuerlichkeit angewandt werden sollte, beschränkte sich darauf, daß ein Zwielicht jedesmal vor ihr aufging, wenn das Leben zu bedrückend und widerwärtig oder, was das neue war, zu schön wurde. Da hinein rannte sie dann suchend. Das war alles, was sie ehrlich davon zu sagen wußte. Und ein Ergebnis hätte es nie gehabt. So sagte sie sich unter Stößen. Und dabei bemerkte sie, daß sie jetzt eigentlich auch recht neugierig darauf war, wie sich ihr Unbekannter aus diesem Geschäft ziehen werde, das ihm gleichsam in Stellvertretung Gottes anvertraut wurde; mußte er doch zu solchem Behuf von dem großen Unzugänglichen auch etwas Allwissenheit abbekommen haben, weil sie sich unterdes, eingeklemmt zwischen allerhand Menschen, fest vorgenommen hatte, ihm um keinen Preis gleich ein volles Geständnis abzulegen. Als sie ausstieg, entdeckte sie aber merkwürdigerweise die tief versteckte Überzeugung in sich, daß es diesmal anders kommen werde als sonst und daß sie entschlossen sei, auch auf eigene Faust das ganz Unfaßbare aus dem Zwielicht ans Licht zu holen. Vielleicht hätte sie dieses übertreibende Wort rasch wieder ausgelöscht, wenn es ihr überhaupt zu Bewußtsein gekommen wäre; aber dort war an der Stelle kein Wort, sondern bloß ein überraschtes Gefühl, das ihr Blut emporwirbelte, als wäre es Feuer.
Der Mann, auf den so leidenschaftliche Gefühle und Einbildungen unterwegs waren, saß indessen in Gesellschaft seines Sohnes Peter bei der Mittagsmahlzeit, die von ihm, einer guten Regel älterer Zeiten folgend, noch zur wirklichen Mittagsstunde eingenommen wurde. In seiner Umgebung gab es keinen Luxus, oder wie man in deutscher Sprache besser sagt, keinen Überfluß; denn das deutsche Wort eröffnet uns den Sinn, den das fremdländische verschließt. So hat auch Luxus die Bedeutung des Überflüssigen und Entbehrlichen, das müßiger Reichtum ansammeln mag; Überfluß dagegen ist nicht sowohl überflüssig, und insofern gleichbedeutend mit Luxus, als vielmehr auch überfließend und bedeutet dann eine leicht über den Rahmen schwellende Polsterung des Daseins oder jene überschüssige Bequemlichkeit und Weitherzigkeit des europäischen Lebens, die nur den ganz Armen fehlt. Lindner unterschied diese zwei Begriffe des Luxus, und ebensosehr Luxus im ersten seiner Wohnung fehlte, war er im zweiten Begriff darin vorhanden. Schon wenn sich die Eingangstür öffnete und den mäßig großen Vorraum darbot, empfing man diesen eigentümlichen Eindruck, von dem nicht zu sagen war, wovon er kam. Sah man sich dann um, so fehlte keine der Einrichtungen, die dazu geschaffen sind, dem Menschen durch eine nützliche Erfindung zu dienen: Ein Schirmständer, aus Blech gelötet und mit Email bemalt, sorgte für den Regenschirm. Ein Laufteppich mit derben Fasern nahm den Schuhen den Schmutz ab, den die Abstreifbürste noch daran gelassen haben mochte. In einer Tasche an der Wand staken zwei Kleiderbürsten, und auch der Rechen zum Aufhängen der Überkleidung fehlte nicht. Eine Glühbirne erhellte den Raum, sogar ein Spiegel war 582
vorhanden, und alle diese Geräte waren aufs beste gewartet und wurden rechtzeitig erneuert, wenn sie Schaden nahmen. Aber die Glühbirne hatte die geringste Lichtstärke, bei der man gerade noch etwas ausnehmen kann; der Kleiderrechen hatte bloß drei Haken; der Spiegel faßte bloß vier Fünftel eines Erwachsenengesichts; und die Dicke wie die Güte des Teppichs waren gerade so groß, daß man noch den Fußboden hindurchspürte und nicht in Weichheit versank: Mag es übrigens vergeblich seih, durch solche Einzelheiten den Geist der örtlichkeit zu “beschreiben, so brauchte man doch bloß einzutreten und empfand ihn im ganzen als etwas eigentümlich Anwehendes, das nicht streng und nicht lässig, nicht wohlhabend und nicht arm, nicht würzig und nicht geschmacklos, sondern eben etwas so bejahend aus zwei Verneinungen Hervorgehendes war, wie es sich am besten durch das Wort: Mangel an Verschwendung ausdrücken läßt.
Das schloß aber, wenn man die inneren Räume betrat, ein Gefühl für Schönheit, ja sogar das des Behagens keineswegs aus, die sich allenthalben bemerken ließen. An den Wänden hingen gerahmte Prachtstiche, das Fenster neben Lindners Schreibtisch war durch ein buntes Schaustück aus Glas geziert, das einen Ritter darstellte, der mit spröder Bewegung eine Jungfrau von einem Drachen befreite, und in der Wahl einiger bemalter Vasen, die schöne Papierblumen enthielten, in der Anschaffung eines Aschenbechers durch den Nichtraucher, sowie in den vielen Kleinigkeiten, durch die gleichsam ein Sonnenstrahl in den ernsten Pflichtkreis fällt, den die Erhaltung und Betreuung eines Hauswesens darstellt, hatte Lindner gerne einen freien Geschmack walten lassen. Immerhin drang überall die zwölfkantige Strenge der Zimmerform gerade noch durch alles hindurch wie eine Erinnerung an die Härte des Lebens, deren man auch in der Annehmlichkeit nicht vergessen soll; und selbst dort, wo, aus vergangenen Zeiten herrührend, noch etwas weiblich Undiszipliniertes, ein Kreuzstichdeckchen, ein Polster mit Rosen oder ein Unterröckchen von Lampenschirm, diese Einheitlichkeit durchbrach, war sie stark genug, das schwelgerische Element daran zu hindern, daß es ganz aus ihrem Rahmen falle.
Trotzdem war Lindner an diesem Tag, und nicht zum erstenmal seit dem gestrigen Tage, beinahe um eine Viertelstunde zu spät zur Mahlzeit erschienen. Der Tisch war gedeckt; die Teller, je drei vor jedem der beiden Plätze aufeinandergestellt, sahen ihn mit dem runden Blick des Vorwurfs an; die Messerbänkchen aus Glas, auf denen Messer, Löffel und Gabel wie Kanonenrohre von der Lafette starrten, und die eingerollten Servietten in ihren Ringen waren aufmarschiert wie eine Armee, die ihr General im Stich gelassen hat. Lindner hatte flüchtig die Post zu sich gesteckt, die er sonst vor dem Essen zu öffnen pflegte, war schlechten Gewissens ins Speisezimmer geeilt und wußte nun in seiner Befangenheit nicht, was ihm dort eigentlich zustieß - es mochte wohl etwas Ähnliches wie Mißtrauen sein, da im gleichen Augenblick von der anderen Seite, und ebenso eilig wie er, sein Sohn Peter eintrat, als hätte er dazu bloß auf den Vater gewartet.
43 Der Tugut und der Tunichtgut Aber auch Agathe
Peter war ein recht beträchtlicher, ungefähr siebzehnjähriger Bursche, in dem sich die abschüssige Größe Lindners mit einer breiteren Körperlichkeit durchdrungen und verkürzt hatte; er reichte seinem Vater nur an die Schultern, aber sein Kopf, der einer eckig-runden großen Kegelkugel glich, saß auf einem Nacken von strammem Fleisch, dessen Umfang für einen Oberschenkel von Papa ausgereicht hätte. Peter hatte statt in der Schule auf einem Fußballplatz geweilt und unseligerweise am Heimweg ein Mädchen angesprochen, dem seine männliche Schönheit das halbe Versprechen eines Wiedersehens abrang: dadurch in Verspätung, hatte er sich heimlich in die Wohnung und an die Tür des Speisezimmers geschlichen, unschlüssig bis zum letzten Augenblick, wie er sich ausreden werde, hatte aber zu seiner Überraschung niemand im Zimmer gehört, war hineingestürzt, und gerade im Begriff, die gelangweilte Miene langen Wartens aufzusetzen, wurde er jetzt sehr verlegen, als er mit seinem Vater zusammenprallte. Sein rotes Gesicht überzog sich mit noch röteren Flecken, er ließ augenblicklich einen großen Wortschwall los und schielte seinen Vater ängstlich an, wenn er glaubte, daß dieser es nicht bemerke, wogegen er sein Auge furchdos in das väterliche springen ließ, wenn er es auf sich gerichtet fühlte. Das war ein wohlberechnetes und oft erprobtes Verhalten, das die Aufgabe erfüllte, den Eindruck eines bis zur Unklugheit offenen und unbeherrschten jungen Mannes zu erwecken, der alles imstande sein könnte, bloß das eine nicht, etwas zu verbergen. Aber wenn das nicht genügte, so schreckte Peter auch nicht davor zurück, sich scheinbar versehentlich unehrerbietige oder andre seinem Vater mißliebige Worte entschlüpfen zu lassen, die dann wie Spitzen wirkten, die den 583
Blitz anzogen und von gefährlicheren Bahnen ablenkten. Denn Peter fürchtete seinen Vater wie die Hölle den Himmel, mit dem Ehrgefühl des schmorenden Fleisches, auf das der Geist hinabblickt. Er liebte das Fußballspiel, und selbst dabei liebte er es mehr, mit sachkundiger Miene zuzusehn und gewichtige Urteile zu fällen, als sich selbst anzustrengen. Er hatte vor, Flieger zu werden und eines Tags Heldentaten zu vollbringen; er stellte es sich aber nicht als ein Ziel vor, für das man arbeiten müsse, sondern als eine persönliche Anlage, wie eben Wesen, zu denen das gehört, eines Tags fliegen können. Auch daß seine Abneigung zu arbeiten im Widerspruch zu den Lehren der Schule stehe, beeinflußte ihn nicht: Dieser Sohn eines anerkannten Pädagogen legte überhaupt keinen Wert darauf, von seinen Lehrern geachtet zu werden; es genügte ihm, körperlich der Stärkste in seiner Klasse zu sein, und wenn ihm ein Mitschüler zu gescheit vorkam, so war er bereit, durch einen Fausthieb gegen Nase oder Magen das Verhältnis wieder erträglich zu gestalten. Bekanntlich kann man auch auf diese Weise ein geachtetes Dasein führen, und sein Verfahren hatte bloß den einen Nachteil, daß er es zu Hause gegen seinen Vater nicht anwenden konnte, ja daß dieser davon möglichst wenig erfahren durfte. Denn vor dieser geistigen Autorität, die ihn erzogen hatte und sanft umklammert hielt, brach Peters Ungestüm zu jammernden Versuchen der Auflehnung zusammen, die Lindner senior das klägliche Geschrei der Begierden nannte. Von klein auf mit den besten Grundsätzen vertraut gemacht, hatte es Peter schwer, sich ihrer Wahrheit zu verschließen, und vermochte seiner Ehre und Wehr-haftigkeit nur durch einen indianischen Gebrauch von Kriegslisten genugzutun, die den offenen Wortkampf mieden. Zwar bediente er sich, um sich seinem Gegner anzupassen, auch vieler Worte, doch ließ er sich dabei niemals zu dem Bedürfnis herab, die Wahrheit zu reden, was nach seiner Auffassung unmännlich und geschwätzig war.
So sprudelten auch dieses Mal sogleich seine Beteuerungen und Grimassen, fanden aber keine Gegenwirkung auf seiten des Meisters. Professor Lindner hatte eiligst das Kreuz über der Suppe geschlagen und aß ernst, schweigend und hastig. Nur zuweilen ruhte sein Auge kurz und ohne Sammlung auf dem Scheitel seines Sohnes. Dieser Scheitel war an diesem Tag mit Kamm, Wasser und viel Pomade durch das dicke, braunrote Haar gezogen wie eine Schmalspurbahn durch unwillig ausweichendes Walddickicht.
Fühlte Peter den Blick seines Vaters darauf ruhn, so senkte er den Kopf, um mit dem Kinn die rote, schreiend schöne Krawatte zu verdecken, die sein Erzieher noch nicht kannte. Denn einen Augenblick später konnte sich der Blick sanft an einer solchen Entdeckung erweitern und der Mund ihm folgen, und Worte hervorbringen von der «Unterwerfung unter die Parolen von Hanswursten und Laffen» oder von
«sozialer Gefallsucht und knechtischer Eitelkeit», die Peter kränkten. Diesmal geschah aber nichts, und erst nach einer Weile, während die Teller gewechselt wurden, sagte Lindner gütig und unbestimmt — es war nicht einmal sicher, ob er die Krawatte meine oder nur von einem unbewußt aufgenommenen Anblick zu seinem Mahnwort bestimmt werde: «Menschen, die noch sehr mit ihrer Eitelkeit zu kämpfen haben, sollten in ihrer äußeren Erscheinung alles Auffallende meiden… !»
Peter benutzte diese unerwartete Charakterabwesenheit seines Vaters, um eine Geschichte von einem Ungenügend vorzubringen, das er aus Ritterlichkeit erhalten haben wollte, weil er, nach einem Kameraden geprüft, sich mit Absicht unvorbereitet gezeigt habe, um diesen, angesichts unerhörter Anforderungen, die für Schwächere einfach unerfüllbar seien, nicht in den Schatten zu stellen.