Was in der philosophischen Sprache Empirismus getauft worden ist, ist eine Lehre gewesen, die das immerhin erstaunliche Vorhandensein und unveränderliche Walten von Gesetzen in der Natur und in den Regeln des Geistes kurzerhand für eine täuschende Ansicht erklärt hat, die aus der Gewöhnung an die häufige Wiederholung der gleichen Erfahrungen entstehe. Was sich oft genug wiederhole, scheine so sein zu müssen, ist ungefähr die klassische Formel dafür gewesen; und in dieser übertriebenen Gestalt, die ihr das achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert gegeben hat, war sie eine Rückwirkung der langen vorhergegangenen theologischen Spekulation, das heißt des in Gott gesetzten Glaubens, seine Werke mit Hilfe dessen erklären zu können, was man sich in den Kopf setzt. Begriffe und Ideen zeigen, wenn sie 613

Macht haben, dieselbe Neigung, sich anbeten zu lassen und willkürliche Entscheidungen auszusenden, wie Menschen; und also hat sich wohl in den Empirismus der Neuzeit bei seiner Entstehung ein etwas oberflächliches Widerspiel gegen den grundgläubigen Rationalismus eingemengt, das dann, selbst zur Macht gekommen, mit schuld daran war, daß eine flach materialistische natur-und gesellschaftsphilosophische Gesinnung zeitweilig fast volkstümlich geworden ist.

Ulrich lächelte, als er an ein Beispiel dachte, und sagte nicht weshalb. Denn man warf nicht ungern dem allzu schlichten, auf seine Regel beschränkten Empirismus vor, es geschähe nach ihm, daß die Sonne im Osten auf-und im Westen untergehe, aus keiner anderen Notwendigkeit, als daß die Sonne es bisher immer getan habe. Und wenn er das nun seiner Schwester verraten und sie gefragt hätte, was sie davon halte, so würde sie wohl, ohne sich für die Gründe und Gegengründe zu erhitzen, kurzerhand zur Antwort gegeben haben, daß die Sonne es ja einmal auch anders tun könnte. Darum lächelte er, als er an dieses Beispiel dachte; denn die Verwandtschaft der Jugend mit dem Empirismus erschien ihm tief natürlich, und ihre Neigung, alles selbst erfahren zu wollen und die überraschendsten Erfahrungen zu erwarten, rührte ihn, diesen als die ihr zeitgemäße Philosophie anzusehen. Von der Behauptung, es hätte bloß die Sicherheit einer Gewohnheit, den Sonnenaufgang täglich im Osten zu erwarten, ist es aber nur ein Schritt zu der, daß alle menschliehe Erkenntnis nur persönlich empfunden und zeitbedingt oder gar wohl nur der Dünkel einer Klasse oder Rasse ist, was alles dann in der europäischen Geistesgeschichte nach und nach auch zum Vorschein gekommen ist. Wahrscheinlich sollte man dazu sagen, daß eben eine neue Eigenart des Menschen ungefähr seit der Urgroßväterzeit zum Vorschein gekommen ist; und es wäre die des empirischen Menschen oder Empirikers, des sattsam zur offenen Frage gewordenen Erfahrungsmenschen, der aus hundert gemachten Erfahrungen tausend neue zu machen weiß, die doch immer nur im gleichen Erfahrungskreis verbleiben, und der damit das gewinnreich erscheinende riesenhafte Einerlei des technischen Zeitalters erzeugt hat. Der Empirismus als Philosophie könnte als die philosophische Kinderkrankheit dieser Art des Menschen gelten…

51 Liebe deinen Nächsten wie dich selbst

Es ließe sich von vielem sagen, daß es Ulrichs Worte bestimmt haben möchte oder mit seinen Gedanken deutlich oder flüchtig verbunden gewesen sei. Zum Beispiel war es nicht lange her, daß er zu seiner Schwester und sogar auch zu anderen an dem unglücklichen Abend bei Diotima von der großen Unordnung der Gefühle gesprochen hatte, der man die große Geschichte nicht viel anders wie die kleinen Meinungsverwirrungen und schlimmen Geschichten verdanke, deren eine sich damals gerade ereignete.

Aber sobald er jetzt etwas sagte, das allgemeine Bedeutung haben mochte, hatte er die Empfindung, daß solche Worte um einige Tage zu spät aus seinem Munde kämen. Es fehlte ihm das Verlangen, sich mit Angelegenheiten abzugeben, die ihn nicht unmittelbar angingen, oder es hielt nur aufs kürzeste vor; denn seine Seele war überbereit, sich der Welt mit allen Sinnen hinzugeben, wie immer diese auch wäre. Sein Urteil spielte dabei so gut wie keine Rolle. Es bedeutete sogar fast nichts, ob ihm etwas gefiel oder nicht.

Denn es ergriff ihn einfach alles mehr, als er verstehen konnte. Ulrich war es gewohnt, sich mit anderen Menschen zu beschäftigen; aber es war immer so geschehen, wie es Gefühle und Ansichten mit sich bringen, die im großen gelten sollen, und jetzt geschah es im kleinen, einzelnen, und unbegründet zu jeder Einzelheit haltend; und war fast ein Zustand, den er vor weniger Zeit selbst bei Agathe in den Verdacht gebracht hatte, er sei eher das Mitgefühlsverlangen einer Natur, die an nichts wahrhaft teilnehme, als wirkliches Mitfühlen. Das war damals gewesen, als er bei einer nicht geringen Meinungsverschiedenheit über die Bedeutung der ihm wenig bekannten Person des Professors Lindner die verletzende Behauptung aufgestellt hatte, daß man an nichts und niemand so teilnehme, wie es sein müßte. Und in der Tat, wenn der Zustand, worin er sich jetzt befand, eine Weile angedauert und ein volles Maß erreicht hatte, wurde es ihm unangenehm oder erschien ihm lächerlich, und er war dann auf ebenso unbegründete Weise wie zur Hingabe auch bereit, diese Hingabe wieder zurückzunehmen.

Aber diesmal erging es Agathe auf ihre Art nicht viel anders. Ihr Gewissen war bedrückt, wenn ihm der Aufschwung fehlte; denn sie hatte sich einen zu großen Schwung genommen und fühlte sich wie eine Frau, die auf einer Schaukel steht, dem Urteil ausgesetzt. In solchen Augenblicken fürchtete sie eine Rache der Welt für die Willkür, in der sie sonst mit Männern umsprang, die von der Wirklichkeit mit Ernst sprachen; 614

wie ihr herausgeforderter Gatte und der heftig um ihre Seele bemühte Erhalter seines Andenkens. In der tausendfältigen reizenden Betriebsamkeit, von der das Leben tags und nachts erfüllt ist, wäre für sie nicht eine einzige Beschäftigung zu finden gewesen, an der sie mit ganzem Herzen hätte teilnehmen mögen; und wessen sie sich selbst unterfing, dem sollte von anderen nichts so sicher sein wie Tadel, Geringschätzung, oder gar Verachtung. Und doch lag ein merkwürdiger Friede gerade darin! Vielleicht darf gesagt werden, in Veränderung eines Sprichworts, daß ein schlechtes Gewissen beinahe ein besseres Ruhekissen darbietet als ein gutes, sofern es nur schlecht genug ist! Die unablässige Nebentätigkeit des Geistes in der Absicht, aus allem Unrecht, in das er verwickelt ist, ein gutes persönliches Gewissen als Abschluß zu gewinnen, ist dann eingestellt und läßt dem Gemüt eine ungemessene Unabhängigkeit zurück. Eine zarte Einsamkeit, ein himmelhoher Hochmut gössen zuweilen ihren Glanz auf diese Weltausflüge. Neben den eigenen Empfindungen konnte in solchen Augenblicken die Welt plump aufgeblasen erscheinen wie ein Fesselballon, den Schwalben umkreisen, oder zu einem Hintergrund erniedrigt, der klein war wie ein Wald am Rand des Gesichtskreises. Die verletzten bürgerlichen Verpflichtungen ängstigten bloß wie ein fern und roh andringendes Geräusch; sie waren unwichtig, wenn nicht unwirklich. Eine ungeheure Ordnung, die zuletzt nichts ist als eine ungeheure Absurdität, das war dann die Welt. Und doch hatte gerade darum jede Einzelheit, der Agathe begegnete, die gespannte, die hoch-seiltänzerische Natur des «Einmal, und nicht wieder», die fast überspannte Natur der persönlichen ersten Entdeckung, die zauberisch bestellt ist und keine Wiederholung zuläßt; und wenn sie davon sprechen wollte, so geschah es in dem Bewußtsein, daß sich kein Wort zweimal sagen lasse, ohne seine Bedeutung zu ändern. Alles zusammen verlieh der Verantwortungslosigkeit des Durch-die-Menschen-Streifens eine schwer zu fassende Verantwortung.

Das Weltverhalten der Geschwister war also zu dieser Zeit keine ganz einwandfreie Äußerung der Teilnahme an anderen Menschen und enthielt auf eigene Art Zuneigung und Abneigung nebeneinander in einem wie ein Regenbogen schwebenden Zustand der Rührung, anstatt daß sich diese Gegensätze seßhaft gemischt hätten, wie es dem seiner selbst gewissen Zustand der Alltäglichkeit entspricht. Auf diese Weise geschah es, daß die Unterhaltung eines Tages eine Richtung einschlug, die bezeichnend für ihr Verhalten zueinander und zu ihrer Umwelt war, wenngleich sie noch keineswegs über das ihnen Bekannte hinausführen mochte.

Ulrich fragte: «Was bedeutet eigentlich der Auftrag: <Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!>?»

Agathe sah ihn von der Seite an.

«Offenbar: Liebe auch den Fernsten und Allerunnächsten!» fuhr Ulrich fort. «Aber was will es heißen: wie sich selbst? Wie liebt man sich denn selbst? In meinem Fall wäre die Antwort: Gar nicht! in den meisten anderen: Mehr als alles! Blind! Ohne zu fragen und zuchtlos!»

«Du bist zu kriegerisch; wer es gegen sich selbst ist, ist es auch gegen andere!» antwortete Agathe kopfschüttelnd. «Und wenn du dir selbst nicht genug bist, wie sollte gar ich es dir sein?» Sie sagte das in einem Ton, der zwischen dem heiter ertragenen Schmerzes und höflichen gewendeten Gespräches lag.

Aber Ulrich überhörte es, verblieb beim Allgemeinen und sah steif ins Weite. Er fuhr fort: «Vielleicht sagte ich besser: Gewöhnlich liebt sich jeder am meisten und kennt sich am wenigsten! Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, hätte dann den Inhalt: Liebe ihn, ohne ihn zu kennen und unter allen Umständen. Und seltsam genug, wenn der Scherz erlaubt ist, fände sich auch in der Nächstenliebe wie in jeder anderen das Erbübel, vom Baume der Erkenntnis zu essen!»

Agathe blickte langsam auf. «Es hat mir gefallen, daß du einmal von mir gesagt hast, ich sei deine Liebe zu dir selbst, die du verloren und wiedergefunden hast. Aber nun sagst du, daß du dich nicht liebst, und mich, nach strenger Logik und Beispiel, nur deshalb, weil du mich nicht kennst! Beleidigt es mich nicht gar, daß ich deine Selbstliebe bin?» Der Schmerz der Stimme hatte nun vollends der Heiterkeit Platz gemacht.

Auch Ulrich scherzte. Er hatte gut fragen, ob es denn besser wäre, daß er sie liebe, obwohl er sie kenne.

Denn auch das gehört zur Bestimmung der Nächstenliebe. Es beschreibt die Verlegenheit, in die sie die meisten Menschen versetzt. Sie lieben einander, mögen sich aber nicht. «Sie mißfallen sich gegenseitig oder wissen, daß sie es nach längerer Bekanntschaft tun werden; und geben sich einen viel zu großen Gegenschwung!» behauptete er.

Die Munterkeit dieses Wortwechsels war erkünstelt. Trotzdem diente auch er der Aufgabe, die Grenzen eines Gedankens, und eines Gefühls, auszukundschaften, dessen Verkündigung — mochte seither auch was immer geschehen oder unterblieben sein - schon damals begonnen hatte, als Ulrich am Bett seiner von 615

Reise und Ankunft ermüdeten Schwester zum erstenmal das Wort «Du bist meine verlorene Selbstliebe»

gebrauchte; in einem Gespräch, worin er bekannte, die Liebe zum Ichsein wie auch zur Welt verloren zu haben, und das damit endete, daß sie sich als «Siamesische Zwillinge» erklärten. Dieser Auskundschaftung diente seither auch alles, was Betrachtung der gewöhnlichen und durchschnittlichen Lebensgestaltung war, wenngleich sie sich soeben an der dabei angebrachten oberflächlichen Heiterkeit selbst verletzt hatten.

Unvermittelt in einen mürrischeren Ton verfallend, gab Ulrich zu verstehen: «Wir hätten einfach sagen sollen, daß Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, nichts anderes ist wie die nützliche Ermahnung: Was du nicht willst, daß dir man tu, das füg auch keinem ändern zu!»

Agathe schüttelte, wie zuvor, den Kopf, aber ihr Blick wurde warm. «Es ist ein hochherzig leidenschaftlicher und heiter freigebiger Auftrag!» rief sie vorwurfsvoll aus. «Seine Beispiele sind: Liebe deine Feinde! Vergelte ihre Übeltaten mit Wohltaten! Liebe, ohne auch nur zu fragen!» Plötzlich hielt sie inne und sah ihren Bruder verdutzt an. «Aber was liebt man eigentlich an einem Menschen, wenn man ihn gar nicht kennt?» fragte sie unschuldig. Ulrich ließ sich Zeit. «Fällt dir nicht auf, daß es eigentlich stört, wenn uns ein Mensch heute begegnet, der uns persönlich gefällt und so schön ist, daß man über ihn etwas Passendes sagen möchte?» Agathe nickte. «Also richtet sich unser Gefühl» gab sie zu «nicht nach der wirklichen Welt und den wirklichen Menschen ?» «Also hätten wir die Frage zu beantworten, welchem Teil davon es gilt oder welcher Umgestaltung und Verklärung des wirklichen Menschen und der wirklichen Welt?» ergänzte Ulrich leise.

Nun war es Agathe, die zuerst keine Antwort gab; aber ihr Blick war erregt und phantastisch. Schließlich erwiderte sie schüchtern mit einem Gegenvorschlag. «Vielleicht kommt hinter der gewöhnlichen dann die große Wahrheit zum Vorschein?»

Ulrich schüttelte in zögernder Abwehr den Kopf; aber der Inhalt von Agathens fragender Behauptung hatte eine tief durchschimmernde Augenfälligkeit für sich. Es war die Luft und Lust dieser Tage so heiter und zärtlich, daß unwillkürlich der Eindruck entstand, Mensch und Welt müßten sich darin so zeigen, wie sie wirklicher als wirklich wären. Ein kleiner, übersinnlich-abenteuerlicher Schauer war in dieser Durchsichtigkeit, wie er in der fließenden Durchsichtigkeit eines Baches ist, die den Blick an den Grund gelangen, dem schwankend ankommenden aber dort die farbig geheimnisvollen Steine wie eine Fischhaut erscheinen läßt, unter deren Glätte sich, was er zu erfahren geglaubt hat, nun erst recht unzugänglich verbirgt. Agathe brauchte bloß ihren Blick ein wenig zu lösen, so konnte sie, von Sonnenschein umgeben, das Gefühl empfangen, in einen übernatürlichen Bereich geraten zu sein; es fiel ihr dann für eine kleinste Weile ganz leicht, zu glauben, sie habe sich mit einer höheren Wahrheit und Wirklichkeit berührt oder sei zumindest an eine Seite des Daseins geraten, wo ein hinterirdisches Pfört-chen heimlich aus dem Erdgarten ins Überirdische weist. Wenn sie aber ihrem Blick wieder die gewöhnliche Spannung gab und das Leben prall hineinströmen ließ, so sah sie, was gerade da sein mochte: etwa ein Fähnchen, das lustig, aber ohne alle Hintergründigkeit von der Hand eines Kindes geschwenkt wurde; einen Polizeiwagen mit Gefangenen, dessen schwarzgrüner Lackanstrich im Licht blitzte; einen Mann mit einer farbigen Mütze, der zwischen den Fuhrwerken den Pferdemist wegkehrte, und schließlich eine Abteilung Soldaten, deren geschulterte Gewehre die Läufe gegen den Himmel richteten. Und alles das war von etwas übergössen, das mit Liebe Verwandtschaft hatte; auch schienen alle Menschen bereit zu sein, sich mehr als sonst diesem Gefühl zu öffnen: Aber zu glauben, nun sei wirklich das Reich der Liebe da, sagte schließlich Ulrich, das wäre wohl doch ebenso schwer wie sich einzubilden, daß in solchem Augenblick kein Hund beißen und kein Mensch Böses tun könne!

Es mag merkwürdig sein, daß es viele Versuche der Erklärung gibt; und daß manche von ihnen dem hochzeitlich menschlichen Eindruck dadurch Rechnung tragen, daß in solchen Augenblicken von Lebensandacht und Liebe hinter dem alltäglichen erdrunden, bös-guten, aber immerhin sicher vorhandenen Menschen irgendein entlegen-wahrer zum Vorschein kommen soll. Die Geschwister musterten diese wohlgemeinten Versuche der Reihe nach durch und glaubten keinem. Nicht der Sonntagsweisheit, daß die Natur an ihren Festtagen alles hervorkehre, was in den Geschöpfen an Güte und Schönheit verborgen sei. Nicht der schon eher psychologischen Erklärung, daß sich der Mensch selbst in dieser zärtlichen Durchsichtigkeit zwar nicht als ein anderer erweise, aber doch so liebenswert zur Schau trage, wie er sich gerne gesehen wüßte: seine Eigenliebe und einwärts schauende Nachsicht gleichsam wie Honig ausschwitzend. Auch nicht der Abwandlung, daß die Menschen ihren guten Willen zeigten, der sie 616

zwar niemals hindert, Schlechtes zu tun, aber an solchen Tagen wunderbarerweise aus dem bösen Willen, der sie zumeist beherrscht, unversehrt hervorkommt wie Jonas aus dem Fischbauch. Und gewiß glaubten sie beide auch nicht der allerkürzesten und berauschendsten, von Agathe noch einmal schüchtern gestreiften Erklärung, daß es das unsterbliche Erbteil sei, was zuweilen durch das Sterbliche schimmere.

Übrigens war es allen diesen feierlichen Eingebungen gemeinsam, daß sie das Heil des Menschen in einem Zustand suchten, der zwischen den unwesenhaften gewöhnlichen Zuständen nicht zur Geltung kommt; und wie seine Ahnung ein deutlich nach oben gerichteter Vorgang ist, so gibt es auch eine zweite zu erwähnende, nicht weniger reichhaltige Gruppe von Selbsttäuschungen, bei denen sich dieser Vorgang ebenso deutlich nach unten richtet: Es sind alle die bekannten, manch liebes Mal sogar in die Geschichte eingegangenen Bekenntnisse und Verkündigungen, wonach der Mensch die Unschuld eines Naturdaseins, seine natürliche Unschuld, durch geistigen Hochmut und anderes Unglück der Zivilisation verloren haben soll.

Es ließen sich also zwei «wahre Menschen» finden, die aufs pünktlichste dem Gemüt bei derselben Gelegenheit angetragen werden; doch befanden sie sich - insofern als der eine himmlischer Übermensch, der andere unangefochtene Kreatur sein sollte - zu den entgegengesetzten Seiten des wirklichen Menschen, und Ulrich sagte trocken: « Gemein - sam ist ihnen bloß, daß sich der wirkliche Mensch auch in gehobenen Augenblicken nicht als der wahre erscheint, es wäre denn plus oder minus etwas, durch das er sich bezaubernd unwirklich vorkommt!»

Nun waren die Geschwister damit von einem Grenzfall der Auslegung zum ändern gelangt, und es blieb als letzte nur noch eine Möglichkeit über, diese so sanfte, ohne Unterschied alles verbindende Liebe zu erklären, die wie ein tauiger Morgen war. Agathe sprach denn auch diese Möglichkeit aus, mit anmutigem Ärger seufzend: «So scheint denn die Sonne, und man gerät in einen unbewußten Drang wie ein Schulmädel und ein Schulbub!» Ulrich ergänzte es: «Im Sonnenschein dehnen sich die sozialen Bedürfnisse aus wie das Quecksilber in der Röhre, und auf Kosten der egoistischen, die ihnen sonst die Waage halten!» Bruder und Schwester waren nun des Fühlens müde; und es geschah manchmal, daß sie über einem Gespräch, das nur von ihren Empfindungen handelte, das Empfinden verabsäumten. Auch weil die Überfülle des Gefühls, wenn sie nirgends einen Ausweg fand, eigentlich schmerzte, vergalten sie es ihr gelegentlich mit ein wenig Undankbarkeit. Als sie aber beide so gesprochen hatten, sah Agathe ihren Bruder wieder von der Seite an und beeilte sich zu widerrufen: «Bloß wie bei Schulfratzen, die die ganze Welt umarmen möchten und nicht wissen warum, ist es immerhin auch nicht!»

Und kaum hatte sie das ausgerufen, fühlten beide wieder, daß sie nicht bloß einer Einbildung, sondern einem nicht abzusehenden Geschehen ausgesetzt waren. In der überflutenden Stimmung schwebte Wahrheit, unter dem Schein war Wirklichkeit, Weltveränderung blickte schattenhaft aus der Welt! Es war allerdings eine merkwürdig kernlose, nur halbgreifliche Wirklichkeit, deren sie sich gewärtig fühlten, und eine ebenso vertraute, wie vertraut-unvollendbare Halbwahrheit, was um Glaubwürdigkeit buhlte: keine Allerweltswirklichkeit und Wahrheit für alle Welt, sondern eben bloß eine geheime für Liebende. Aber offenbar war sie auch nicht bloß Willkür oder Täuschung; und ihre geheimste Einflüsterung sprach: Du hast dich mir bloß ohne Mißtrauen zu überlassen, so wirst du die ganze Wahrheit erfahren!

Schwer war es aber, das in deutlichen Worten zu hören; denn die Sprache der Liebe ist eine Geheimsprache, und in ihrer höchsten Vollendung so schweigsam wie eine Umarmung.

Agathe zog lächelnd die Augenbrauen zusammen und blickte in die Menge; Ulrich tat es ihr nach, und gemeinsam sahen sie in den Menschenstrom, der sie begleitete und ihnen entgegenkam. Fühlten sie die Selbstvergessenheit und Macht, das Glück, die Güte, die tiefe und hohe Befangenheit, die im Innern einer Menschenbrüderschaft, und sei es auch nur die zufällige einer belebten Straße, vorherrschen, so daß man nicht glauben kann, daß es auch Schlechtes und Trennendes darin gibt? Ihr eigenes Sein, das scharf begrenzte und schwer hineingestellte, und ebenso das eines jeden anderen hob sich wunderlich davon ab, der dunkel durch diesen Wolkenbruch und Dammbruch der Zärtlichkeit schritt, dessen Glanz auf seinen Augen lag. In diesem Augenblick, der alle Fragen nach dem «Reich der Liebe» und nach dem Sinn und den Zweifeln der Nächstenliebe in einem bildhaften Eindruck wiederholte und ungeteilt beantwortete, beugte sich Ulrich zu Agathe vor, um ihr Gesicht zu sehen, und fragte sie: «Bringst du es denn anders als schattenhaft fertig, jemand zu lieben, wenn weder eine moralische Überzeugung noch ein sinnliches Begehren dabei ist?»

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Es geschah, seit sie diese Ausgänge unternahmen, zum erstenmal, daß er so unverschleiert fragte.

Agathe gab zuerst keine Antwort darauf.

Ulrich fragte: «Und was geschähe, wenn wir jetzt einen hier anhielten und zu ihm sagten: <Bleib bei uns, Bruder!> oder: <Halte still, vorbeieilende Seele! Wir wollen dich lieben wie uns selbst!>?»

«Er sollte uns verblüfft anschauen» erwiderte Agathe. «Und dann seine Schritte verdoppeln!»

«Oder grob werden und einen Schutzmann herbeirufen» ergänzte Ulrich. «Denn entweder wird er meinen, gutmütige Irre vor sich zu haben, oder Leute, die sich mit ihm einen Witz erlauben. »

«Und wenn wir ihn nun gleich mit den Worten <Sie, verbrecherisches und gemeines Subjekt!> anschrien?»

schlug Agathe versuchsweise vor.

«So könnte es sein, daß er uns weder für Irre noch für witzig hielte, sondern bloß für das, was man Andersdenkende nennt; Parteigänger, die sich in ihm geirrt haben. Denn offenbar haben die Blindenverbände des Nächstenhasses zusammen nicht viel weniger Mitglieder als der der Nächstenliebe!»

Agathe nickte einverständlich; dann schüttelte sie den Kopf und blickte in die Luft. Die Luft war noch genau so wie vorher. Sie blickte zu Boden, und irgendeine demütige Einzelheit, ein Kellerfenster, ein verlorengegangenes Blatt Gemüse, schien vom Licht des Himmels sanft zu flammen. Schließlich sah sie sich nach etwas um, das ihr einfach von selbst gefiele, ein Gesicht oder ein Schaustück in einer Auslage, und fand es. Solches wirkliches Gefallen war aber doch ein blinder Fleck in dem Glanz des Tages; was Ulrich schon ähnlich ausgesprochen hatte, nur fiel ihr jetzt der Widerspruch noch stärker auf. Es störte die allgemeine Welt-und Menschenliebe, statt sie durch seinen kleinen Beitrag zu vermehren. So antwortete Agathe: «Es ist alles sehr unwirklich! Auch ich weiß heute nicht, ob ich die wirklichen Menschen und Dinge, noch ob ich wirklich etwas liebe!»

«Soll das die Antwort auf meine Frage sein, » verlangte Ulrich, diese Frage etwas verändernd, zu wissen

«ob irgendeine Liebe, mag sie auch groß sein, ohne sinnliche Erfüllung mehr als der Schatten einer Liebe sein kann? Schon in jedem Begehren, das nicht auch den Sinnen etwas zu tun gibt, ist eine schweigende Trauer!»

«Ich bin liebevoll und liebeleer, und beides zugleich» klagte Agathe lächelnd und mit einer kleinen verzagten Gebärde auf alle Welt weisend. - Es war die Klage des Herzens, worin Gott so tief eingedrungen ist wie ein Dorn, den keine Fingerspitzen fassen können. In den Bekenntnissen der Mystiker, die mit ihrer ganzen menschlichen Seele und Körperlichkeit nach ihm verlangen, unterbricht diese eigenartige Verzweiflung immer wieder die Augenblicke der aufs nächste herangekommenen Verklärung; und die Geschwister erinnerten sich nun beide der Stunde im Garten, da Agathe aus einem Buch solche Beispiele ihrem Bruder vorgelesen hatte. Nachdem sie sich darüber verständigt hatten, sagte Ulrich: «Etwas von dieser Mystik ist auch in der Nächstenliebe; alle fühlen es und gehorchen ihr, ohne sie zu verstehen. Und vielleicht enthält jede große Liebe etwas Mystisches, vielleicht sogar schon jede große Leidenschaft.

Vielleicht ist sogar im gemäßigten Leben in allen uns tief öffnenden Augenblicken die Anteilnahme an Menschen und Dingen eine mystische und etwas anderes als eine wirkliche!»

«Und was ist eine <mystische Anteilnahme>, wenn nicht bloß keine wirkliche?» fragte Agathe.

Ulrich überlegte eigentlich nicht, wohl zögerte er aber. Schließlich sagte er mit viel Bestimmtheit: «Sieh doch, man ist zugleich liebevoll und liebeleer. Man liebt alles und nichts Einzelnes. Man kann sich von der geringfügigsten Kleinigkeit nicht loslösen, und zugleich fühlt man, daß alles zusammen nicht von Wichtigkeit ist: Das sind Widersprüche; beides zugleich kann scheinbar nicht wirklich sein. Und doch ist es wirklich; es hätte ja gar keinen Sinn, das zu leugnen! Wenn ich dich also nicht bitten kann, unter mystischer Anteilnahme eine religiöse Zauberei zu verstehen, so bleibt nur die Annahme übrig, daß es zwei Arten, die Wirklichkeit zu erleben, gibt, die sich uns mehr oder weniger aufnötigen!»

Manchmal entstehen in einer begünstigten Minute, und eng vereinigt, die Antworten auf viele Fragen, die, vereinzelt und stockend, wechselnde Unruhe bereitet haben. Manchmal täuscht diese Verkürzung auch; doch bleibt sie immer ein Vorblick. Eine solche Minute war die des Einfalls, daß es in der Welt zwei Arten von Wirklichkeit, besser gesagt, daß es zwei Arten der weltlichen Wirklichkeit gebe. Als das ausgesprochen war, und schon ehe sich die Geschwister von seiner Glaubwürdigkeit überzeugt hatten, gab es keine Frage aus ihrem Leben, die nicht von dieser Antwort berührt worden wäre. Die vielen ungewöhnlichen und grenzenlos untereinander verknüpften Erlebnisse und Mutmaßungen der letzten Zeit, und ihre Vorandeutungen in früherer, fanden wohl keine Erklärung, aber durch alle ging eine erfrischte 618

Zuversicht hindurch. So zieht sich eine Flamme dunkel zusammen und hält den Atem an, ehe sie höher aufleuchtet.

52 Gespräche über Liebe

Der Mensch, recht eigentlich das sprechende Tier, ist das einzige, das auch zur Fortpflanzung der Gespräche bedarf. Und nicht nur, weil er ohnehin spricht, tut er es auch dabei; sondern anscheinend ist seine Liebseligkeit mit der Redseligkeit im Wesen verbunden, und das so tief geheimnisvoll, daß es fast an die Alten gemahnt, nach deren Philosophie Gott, Menschen und Dinge aus dem «Logos» entstanden sind, worunter sie abwechselnd den Heiligen , Geist, die Vernunft und das Reden verstanden haben. Nun, nicht einmal die Psychoanalyse und die Soziologie haben Wesentliches darüber gelehrt, obwohl diese beiden jüngsten Wissenschaften schon mit dem Katholizismus wetteifern dürfen, sich in alles Menschliche eingemischt zu haben. Man muß sich also selbst den Reim darauf bilden, daß Gespräche in der Liebe fast eine größere Rolle spielen als alles andere. Sie ist das gesprächigste aller Gefühle und besteht zum großen Teil ganz aus Gesprächigkeit. Ist der Mensch jung, so gehören diese sich auf alles erstreckenden Gespräche zu den Erscheinungen des Wachstums; ist er in der Reife, so bilden sie sein Pfauenrad, das sich, auch wenn es nur noch aus Federkielen besteht, umso lebhafter entfaltet, je später es das tut. Der Grund könnte in der Erweckung des kontemplativen Denkens durch die Gefühle der Liebe und in seiner dauernden Verbindung mit ihnen liegen; aber damit wäre freilich die Frage vorderhand nur verschoben, denn wenn auch das Wort Kontemplation fast ebenso oft gebraucht wird wie das Wort Liebe, ist es doch nicht deutlicher.

Ob übrigens, was Agathe und Ulrich verband, als Liebe zu verklagen sei oder nicht, soll damit nicht entschieden sein, obgleich sie unersättlich mit einander sprachen. Auch was sie sprachen, drehte sich um Liebe, immer und irgendwie, das ist richtig. Aber es gilt von der Liebe wie von allen Gefühlen, daß sich ihre Glut umso größer in Worten ausbreitet, je weiter ihnen noch das Handeln ist; und was nach den zuerst vorangegangenen heftigen und unklaren Gemütserlebnissen die Geschwister bewog, sich Gesprächen zu überlassen, und ihnen zuweilen wie eine Verzauberung erschien, war in erster Linie die Unwissenheit, wie sie handeln könnten. Die damit zusammenhängende Scheu vor dem eigenen Gefühl, und das neugierige Eindringen in dieses von den Umrissen aus, ließen die Gespräche zuweilen aber auch oberflächlicher zu Wort kommen, als sie in der Tiefe beschaffen waren.

53 Schwierigkeiten, wo sie nicht gesucht werden

Wie steht es um das so berühmte wie gern erlebte Beispiel der Liebe zwischen sogenannten zwei Personen verschiedenen Geschlechts? Es ist ein besonderer Fall des Gebotes, Liebe deinen Nächsten, ohne zu wissen, wie er ist; und eine Probe auf das Verhältnis, das zwischen Liebe und Wirklichkeit besteht.

Man macht sich aus einander die Puppen, mit denen man schon in Liebesträumen gespielt hat.

Und was der andere meint, denkt und wirklich ist, hat keinen Einfluß darauf?

Solange man ihn liebt und weil man ihn liebt, ist alles bezaubernd; aber umgekehrt gilt das nicht. Noch nie hat eine Frau einen Mann wegen seiner Meinungen und Gedanken geliebt, oder ein Mann eine Frau wegen der ihren. Diese spielen bloß eine wichtige Nebenrolle. Überdies gilt davon das gleiche wie vom Zorn: versteht man unvoreingenommen, was der andere meint, ist nicht bloß der Zorn entwaffnet, sondern wider ihre Erwartung meist auch die Liebe.

Aber namentlich anfangs spielt es doch oft die Hauptrolle, daß man von der Übereinstimmung der Meinungen entzückt ist?

Der Mann hört sich, wenn er die Stimme der Frau hört, von einem wunderbaren versenkten Orchester wiederholt, und die Frauen sind die unbewußtesten Bauchredner; ohne daß es aus ihrem Mund käme, hören sie sich die klügsten Antworten geben. Es ist jedesmal eine kleine Verkündigung; da tritt ein Mensch aus den Wolken einem ändern an die Seite, und alles, was er äußert, dünkt diesen eine himmlische, nach seinem eigenen Kopfmaß gemachte Krone zu sein! Später fühlt man sich natürlich wie ein Betrunkener, der seinen Rausch ausgeschlafen hat.

Dann doch die Werke! Sind die Werke der Liebe, ihre Treue, ihre Opfer und Aufmerksamkeiten, nicht ihr schönster Beweis? Aber Werke sind zweideutig wie alles Stumme! Erinnert man sich seines Lebens als 619

einer bewegten Kette von Geschehnissen und Taten, so kommt es einem Theaterstück gleich, von dessen Dialog man sich nicht ein einziges Wort gemerkt hat und dessen Auftritte recht einförmig die gleichen Höhepunkte haben!

Also liebt man nicht nach Verdienst und Lohn, und im Wechselgesang der sterblich verliebten unsterblichen Geister?

Daß man nicht so geliebt wird, wie man es verdient, ist der Kummer aller alten Jungfern beider Geschlechter!

Es war Agathe, die diese Antwort gab. Die unheimlich schöne Ursachelosigkeit der Liebe und der leichte Rausch der Ungerechtigkeit stiegen aus vergangenen Liebschaften auf und versöhnten sie sogar mit dem Mangel an Würde und Ernst, dessen sie sich wegen ihres Spiels mit Professor Lindner zuweilen anklagte und immer schämte, wenn sie wieder in Ulrichs Nähe war. Ulrich aber hatte das Gespräch herbeigeführt und, während es dauerte, Lust darauf bekommen, sie nach ihren Lebenserinnerungen etwas auszuholen; denn sie urteilte ähnlich über diese Köstlichkeiten wie er von den seinen.

Nun sah sie ihn lachend an. «Hast du niemals einen Menschen über alles geliebt und dich deswegen verachtet?»

«Ich darf es verneinen; aber ich will es auch nicht empört von mir weisen» meinte Ulrich. «Es hätte sein können. »

«Hast du nie einen Menschen trotz der unheimlichen Überzeugung geliebt, » fuhr Agathe angeregt fort

«daß dieser Mensch, mag er einen Bart oder einen Busen haben, und den man genau zu kennen meint, und schätzt, und der unaufhörlich von sich und dir redet, eigentlich nur zu Besuch bei der Liebe ist? Man könnte seine Gesinnung und seine Verdienste fortlassen, man könnte sein Schicksal ändern, man könnte ihn mit einem anderen Bart und anderen Beinen ausstatten: man könnte beinahe ihn selber weglassen, und liebte ihn dennoch! — Das heißt, insoweit man ihn eben überhaupt liebt!» fügte sie abschwächend hinzu.

Ihre Stimme hatte einen tiefen Klang, mit einer unruhigen Helligkeit in ihrer Tiefe wie von einem Feuer.

Nun setzte sie sich schuldbewußt nieder, weil sie in ungewolltem Eifer von ihrem Stuhl aufgesprungen war.

Auch Ulrich fühlte sich etwas schuldbewußt wegen dieses Gesprächs und lächelte. Er hatte mit keinem Wort etwa die Absicht gehabt, von der Liebe als einem der zeitgemäßen zwiespältigen Gefühle zu sprechen, die man nach neuestem Geschmack «ambivalent» nennt, was ungefähr besagt, daß die Seele, wie es unter Gaunern geschieht, immer mit dem linken Aug zwinkert, wenn sie mit der rechten Hand schwört. Sondern er hatte sich bloß daran ergötzt, daß es der Liebe, um zu entstehen und zu dauern, auf nichts wesentlich ankomme. Das heißt, man liebt jemand trotz allem und ebenso gut wegen nichts; und das heißt, daß entweder das Ganze eine Einbildung ist oder diese Einbildung ein Ganzes, wie die Welt eines ist, in der kein Sperling vom Dach fällt, ohne daß es der Allfühlende gewahr wird.

«Es kommt also überhaupt auf nichts an!» rief Agathe abschließend aus. «Nicht auf das, was einer ist, nicht auf das, was er meint, nicht auf das, was er will, und nicht auf das, was er tut!»

Es war ihnen deutlich, daß sie von der Sicherheit der Seele sprachen, oder, da man ein so großes Wort wohl besser meidet von der Unsicherheit, die sie — das Wort nun bescheiden ungenau und im ganzen gebraucht

- in der Seele fühlten. Und daß von Liebe die Rede war, wobei sie einander an deren Wandelbarkeit und Verwandlungskunst erinnerten, geschah nur deshalb, weil diese eines der heftigsten und bestimmtesten Gefühle ist, und trotzdem ein so verdächtiges Gefühl vor dem strengen Gefühl des richtenden Erkennens, daß es selbst dieses ins Wanken bringt. Daran hatten sie aber schon einen Beginn gefunden, als sie kaum in der Sonne der Nächstenliebe gewandelt waren; und sich der Behauptung entsinnend, daß man sogar in dieser holden Benommenheit nicht wisse, ob man wirklich die Menschen, und ob man die wirklichen Menschen liebe, oder ob man, und durch welche Eigenschaften, von einer Einbildung und Umbildung geprellt werde, zeigte sich Ulrich redlich beflissen, das zwischen Gefühl und Erkennen bestehende fragliche Verhältnis wenigstens jetzt und so, wie es sich aus dem gerade verstummten Geplauder ergebe, durch einen Knoten festzuhalten.

«Diese beiden Widersprüche sind darin immer vorhanden und bilden ein Viergespann» meinte er. «Man liebt einen Menschen, weil man ihn kennt; und weil man ihn nicht kennt. Und man erkennt ihn, weil man ihn liebt; und kennt nicht ihn, weil man ihn liebt. Und manchmal steigert sich das so, daß es plötzlich sehr fühlbar wird. Das sind dann die berüchtigten Augenblicke, wo Venus durch Apoll, und Apoll durch Venus auf einen leeren Haubenstock blicken und sich höchlich darüber verwundern, vorher dort etwas anderes 620

gesehen zu haben. Ist dann die Liebe stärker als das Erstaunen, so kommt es zu einem Kampf zwischen diesen beiden, und manchmal geht daraus die Liebe - wenngleich erschöpft, verzweifelt, und unheilbar verwundet - noch einmal als Siegerin hervor. Ist sie aber nicht so stark, so kommt es zu einem Kampf zwischen den sich betrogen wähnenden Personen; zu Beleidigungen, zu rohen Einbrüchen der Wirklichkeit, zu Entehrungen bis ins letzte, die es wieder gutmachen sollen, daß man der Einfältige gewesen sei - » Er hatte diese Unwetter der Liebe oft genug mitgemacht, um sie heute gemächlich beschreiben zu können.

Agathe aber machte dem nun doch ein Ende. «Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich bemerken, daß diese ehelichen und unehelichen Ehrenaffären im ganzen doch sehr überschätzt werden!» wandte sie ein und suchte sich wieder eine bequeme Stellung aus.

«Die ganze Liebe wird überschätzt! Der Wahnsinnige, der in seiner Sinnestäuschung ein Messer zückt und damit einen Unschuldigen durchbohrt, der gerade an der Stelle seiner Halluzination steht -: in der Liebe ist er der Normale!» bestimmte Ulrich und lachte.

54 Es ist nicht einfach zu lieben

Eine bequeme Stellung und gemächlicher Sonnenschein, der zärtlich ist, ohne zudringlich zu sein, förderten diese Gespräche; und diese entstanden zumeist zwischen zwei Liegestühlen, die nicht sowohl in den Schutz und Schatten des Hauses gerückt wurden als vielmehr in das beschattete Licht, das, vom Garten her kommend, an den noch morgendlichen Mauern eine Mäßigung seiner Freiheit erfuhr. Freilich dürfte man nicht glauben, daß die Stühle dort standen, weil die Geschwister - angeregt durch die im gewöhnlichen Sinn bestehende und im höheren vielleicht drohende Unfruchtbarkeit ihrer Beziehung - die Absicht gehabt hätten, ihre Meinung Schopenhauerisch-indisch über das täuschende Wesen der Liebe auszutauschen und sich gegen deren zur Fortsetzung des Lebens verlockende Wahnwirkung durch Zergliederung zu wehren; sondern was das Halbschattige, Schonende und zurückgezogen Neugierige wählen hieß, wäre einfacher zu erklären. Der Gesprächsgegenstand selbst war so beschaffen, daß sich in der unendlichen Erfahrung, durch die der Begriff der Liebe erst deutlich wird, die verschiedensten Verbindungswege bemerken ließen, die von einer Frage zur ändern führen. So führten denn auch die zwei Fragen, wie man seinen Nächsten liebe, den man nicht kenne, und wie sich selbst, den man noch weniger kennt, die Neugierde zu der beide umfassenden Frage, wie man überhaupt liebe; oder anders gesagt, was Liebe wohl «eigentlich» sei. Das mag auf den ersten Blick etwas altklug anmuten und wahrlich auch eine allzu verständige Frage für ein Liebespaar sein. Aber sie gewinnt an Geistesverwirrung, sobald man sie auf Millionen Liebespaare und ihre Verschiedenheit ausdehnt.

Diese Millionen sind nicht nur persönlich (was ihr Stolz ist), sondern auch nach Arten des Tuns, Gegenstands und der Beziehung verschieden. Manchmal kann man von Liebespaaren überhaupt nicht sprechen, und doch von Liebe; manchmal von Liebespaaren, aber nicht von Liebe, wobei es etwas gewöhnlicher zugeht. Und das Wort im ganzen umfaßt so viel Widersprüche wie der Sonntag in einer kleinen Landstadt, wo die Bauernburschen um zehn Uhr des Morgens zur Messe gehn, um elf Uhr in einer kleinen Nebengasse das Freudenhaus besuchen und um zwölf Uhr am Hauptplatz ins Wirtshaus zum Essen und Trinken eintreten. Hat es Sinn, ein solches Wort rund herum zu untersuchen? Aber indem man es benutzt, handelt man unbewußt, als ob man bei allen Unterschieden etwas Gemeinsamem inne wäre! - Es ist tausend und eins, einen Spazierstock oder die Ehre zu lieben, und niemand fiele es ein, das in einem Atem zu nennen, wenn man nicht gewöhnt wäre, es alle Tage zu tun. Andere Spielarten dessen, was tausend und eins, und doch ein und dasselbe ist, lassen sich mit den Worten anreden: die Flasche, den Tabak und noch schlimmere Gifte zu lieben. Den Spinat und die Bewegung in freier Luft. Den Sport oder den Geist. Die Wahrheit. Die Frau, das Kind, den Hund. Sie ergänzten es, die darüber sprachen: Gott. Die Schönheit, das Vaterland und das Geld. Die Natur, den Freund, den Beruf und das Leben. Die Freiheit. Den Erfolg, die Macht, die Gerechtigkeit oder schlechthin die Tugend. Alles das liebt man; und kurz, es wird fast ebenso vieles mit Liebe verbunden, als es Strebens-und Redensarten gibt. Was ist aber die Unterscheidung und was die Gemeinsamkeit der Lieben?

Vielleicht ist es dienlich, an das Wort Gabeln zu erinnern. Es gibt Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-, Weg-und andere Gabeln; und allen diesen ist ein bildendes Merkmal «Gabeligsein» gemeinsam. Es ist das entscheidende Erlebnis, das Gegabelte, die Gestalt der Gabel an den höchst verschiedenen Dingen, die so heißen. Kommt man von diesen, so erweist sich, daß sie alle unter denselben Begriff gehören; geht man 621

vom anfänglichen Eindruck des Gabeligseins aus, so zeigt sich, daß er durch die Eindrücke der verschiedenen bestimmten Gabeln ausgefüllt und ergänzt wird. Das Gemeinsame ist also eine Form oder Gestalt, und das Unterschiedliche liegt zunächst an den mannigfaltigen Formen, die sie annehmen kann; sodann aber auch an den Gegenständen, die eine solche Form haben, an ihrem Stoff, Zweck und dergleichen. Aber derweil sich jede Gabel mit jeder unmittelbar vergleichen läßt, und sinnlich gegeben ist, wäre es auch nur in einem Kreidestrich oder in der Vorstellung, verhält es sich nicht so mit den verschiedenen Gestalten der Liebe; und der ganze Nutzen des Beispiels schränkt sich auf die Frage ein, ob es nicht doch auch da, entsprechend dem Gabeligsein der Gabeln, ein Haupterlebnis, etwas Liebeliges, Liebseiendes und Liebeartiges, in allen Fällen gebe. Aber die Liebe ist kein Gegenstand sinnlicher Erkenntnis, daß sie mit einem Blick, oder denn auch mit einem Gefühl, zu erfassen wäre, sondern ist ein moralisches Ereignis, wie es vorsätzlicher Mord, Gerechtigkeit oder Verachtung sind; und das hat unter anderem zu bedeuten, daß eine vielfach abbiegende und mannigfach gestützte Kette von Vergleichen zwischen ihren Beispielen möglich ist, deren entferntere einander ganz unähnlich sein können, ja bis zum Gegensatz von einander verschieden, und doch durch einen vom einen ans andere anklingenden Zusammenhang verbunden werden. Von der Liebe handelnd, läßt sich also gar bis zum Haß gelangen; und doch ist nicht etwa die vielberufene «Ambivalenz» davon die Ursache, die Gespaltenheit des Fühlens, sondern gerade die volle Ganzheit des Lebens.

Trotzdem hätte auch ein solches Wort der sich anbahnenden Fortsetzung vorangehen können. Denn Gabeln und ähnlich unschuldige Hilfen beiseite, die gebildete Unterhaltung weiß heutigentags ohne Stocken mit dem Kern und Wesen der Liebe umzugehen, und sich trotzdem so packend auszudrücken, als ob dieser Wesenskern in allen Erscheinungen der Liebe stäke wie das Gabelige in der Mistoder Salatgabel. Man sagt dann - und auch Ulrich und Agathe hätten durch allgemeine Gewohnheit dazu verleitet werden können —

die Hauptsache an allem Liebesartigen sei Libido, oder sagt, daß sie Eros sei. Diese beiden Worte haben nicht die gleiche Geschichte, aber eben doch, und zumal in Ansehung der Gegenwart, eine vergleichbare.

Als nämlich die Psychoanalyse (weil eine Zeit, die sich nirgends auf geistige Tiefe einläßt, mit Neugierde hört, daß sie eine Tiefenpsychologie habe) anfing zur Tagesphilosophie zu werden und die bürgerliche Abenteuerlosigkeit unterbrach, ist auch alles und jedes zur Libido erklärt worden, so daß sich am Ende von diesem Schlüssel-und Nachschlüsselbegriff so wenig sagen läßt, was er nicht wäre, wie das, was er ist. Und ganz das gleiche gilt vom Eros; nur ist es denen, die alle körperlichen und seelischen Bindungen der Welt höchst überzeugt auf ihn zurückführen, mit ihrem Eros schon von Anfang an so ergangen. Vergeblich wäre es, Libido mit Trieb und Verlangen, und zwar sexuellem oder präsexuellem, Eros hingegen mit geistiger, ja übersinnlicher Zärtlichkeit zu übersetzen; man müßte denn eine geschichtliche Sonderabhandlung hinzufügen. Der Überdruß daran macht die Unwissenheit zum Vergnügen. Dadurch kam es aber zum voraus dazu, daß das zwischen zwei Liegestühlen geführte Gespräch nicht die angedeutete Richtung einschlug, sondern schon an dem urwüchsig unzulänglichen Verfahren Anziehung und Erholung fand, einfach so viel Beispiele wie möglich von dem zu verbuchen, was Liebe heißt, und sie wie bei einem Spiel aneinander zu reihen, ja sich dabei aufs unbefangenste anzustellen, und auch die unweisesten nicht zu verschmähen.

Und es teilten die bequem Plaudernden, was ihnen an Beispielen einfiel, und wie es ihnen einfiel, ein nach dem Gefühl, nach dem Gegenstand, dem es gilt, und nach der Handlung, in der es sich ausdrückt. Es war aber auch von Vorteil, das Verhalten zuerst vorzunehmen und zu beachten, ob es seinen Namen mehr oder weniger in wirklicher oder in übertragener Bedeutung verdiene. Auf diese Art kam mancherlei Stoff aus verschiedenen Richtungen zusammen.

Vom Gefühl war aber unwillkürlich schon als erstem die Rede gewesen; denn scheinbar ist die ganze Natur der Liebe ein Fühlen. Umso überraschender ist die Antwort, daß das Gefühl das wenigste an der Liebe sei.

Für die reine Unerfahrenheit wäre es wie Zucker und Zahnschmerz; nicht ganz so süß und nicht ganz so schmerzhaft, und so unruhig dabei wie von Bremsen geplagtes Vieh. Vielleicht mag dieser Vergleich nicht jedem, der selbst von Liebe geplagt wird, als Meisterstück erscheinen; trotzdem ist auch die übliche Beschreibung eigentlich nicht viel anders: ein Hangen und Bangen, Sehnen und Sehren, und unbestimmtes Begehren! Seit alters scheint es, daß sie nichts Genaueres von diesem Zustand zu erzählen weiß. Aber dieser Mangel an Gefühlseigentümlichkeit ist nicht etwa bloß für die Liebe bezeichnend. Auch ob einer glücklich oder traurig ist, erfährt er nicht so unwiderruflich und geradläufig, wie er das Glatte vom Rauhen 622

unterscheidet, und andere Gefühle lassen sich ebensowenig rein am Fühlen, man möchte sagen, schon am Anfühlen erkennen. Darum war denn schon bei dieser Wendung eine Bemerkung anzubringen, die sie nach Gebühr hatte ergänzen können, und zwar über die ungleiche Anlage und Ausgestaltung von Gefühlen. Das war der Name, den ihr Ulrich vorausschickte; und er hätte auch Anlage, Ausgestaltung, und Verfestigung sagen können.

Denn er leitete sie mit der natürlichen Erfahrung ein, daß jedes Gefühl eine überzeugende Gewißheit seiner selbst mit sich bringe, was offenbar schon zu seinem Kern gehöre, und fügte hinzu, daß aus ebenso allgemeinen Gründen auch angenommen werden müsse, schon bei diesem Kern beginne nicht minder die Verschiedenheit der Gefühle. Man höre es an seinen Beispielen. Die Liebe zu einem Freund hat anderen Ursprung und andere Grundzüge als die zu einem Mädchen, die Liebe zu einer voll ausgeblühten andere als die zu einer heilig verschlossenen Frau; und erst recht sind weiter auseinandergehende Gefühle, wie es, bei der Liebe zu bleiben, Liebe, Verehrung, Lüsternheit, Hörigkeit, oder die Arten der Liebe und die des Widerwillens wären, schon in der Wurzel von einander verschieden. Gibt man beiden diesen Annahmen statt, müßten also alle Gefühle von Anfang bis Ende fest und durchsichtig wie Kristalle sein. Und doch ist kein Gefühl unverwechselbar das, was es zu sein scheint; und weder die Selbstbeobachtung noch die Handlungen, die es bewirkt, geben Sicherheit darüber. Dieser Unterschied zwischen der Selbstgewißheit und der Unsicherheit der Gefühle ist nun gewiß nicht gering. Betrachtet man aber die Entstehung des Gefühls im Zusammenhang mit ihren sowohl physiologischen als auch sozialen Ursachen, wird er ganz natürlich. Diese Ursachen erwecken nämlich in großen Zügen, wie man sagen könnte, bloß die Art eines Gefühls, ohne es im einzelnen zu bestimmen; denn jedem Trieb und jeder Lebenslage, die ihn in Bewegung setzt, entspricht ein ganzes Bündel von Gefühlen, die ihnen Genüge leisten können. Und was davon zu Beginn vorhanden ist, kann man freilich den Kern des Gefühls heißen, das sich noch zwischen Sein und Nichtsein befindet; wollte man ihn aber beschreiben, so ließe sich von ihm, wie immer er auch beschaffen sei, nichts Zutreffenderes angeben, als daß er ein Etwas ist, das sich im Verlauf seiner Entwicklung, und abhängig von vielem, was hinzukommt oder nicht, zu dem Gefühl ausgestalten wird, das aus ihm hat werden sollen. Also hat jedes Gefühl außer seiner ursprünglichen Anlage auch ein Schicksal; und darum, weil seine spätere Entwicklung erst recht von hinzutretenden Bedingungen abhängt, gibt es keines, das von Anfang an untrüglich es selbst wäre, ja vielleicht gibt es nicht einmal eins, das unbezweifelbar und rein Gefühl wäre. Anders gesagt, folgt aus diesem Zusammenwirken von Anlage und Ausgestaltung aber, daß auf dem Gebiet des Gefühls nicht das reine Vorkommen und die eindeutige Erfüllung vorherrschen, sondern die fortschreitende Annäherung und die annähernde Erfüllung. Und etwas Ähnliches gilt auch von allem, das zu erfassen Gefühl verlangt.

Damit endete die von Ulrich herbeigeführte Bemerkung und hatte ungefähr diese Erklärungen in dieser Reihenfolge enthalten. Kaum weniger kurz und übertrieben wie die Behauptung, daß Gefühl das wenigste an der Liebe sei, ließ sich also auch sagen, weil sie ein Gefühl sei, sei sie nicht am Gefühl zu erkennen.

Etwas Licht fiel davon übrigens auf die Frage, weshalb er die Liebe ein moralisches Erlebnis genannt hatte.

Die drei Hauptworte Anlage, Ausgestaltung und Verfestigung aber waren die Hauptknoten gewesen, die das geordnete Verständnis der Gefühlserscheinung zusammenknüpfen; zumindest nach einer bestimmten grundsätzlichen Auffassung, an die sich Ulrich nicht am unliebsten wandte, wenn er einer solchen Erklärung bedurfte. Aber weil nun die richtige Ausführung von dem allen größere und tiefer ins Lehrmäßige führende Ansprüche gestellt hätte, als er auf sich zu nehmen gewillt war, brach er das Begonnene bei diesem Stande ab. Die Fortsetzung spannte nach zwei Richtungen. Nach der Ansage des Gesprächs hätten jetzt Gegenstand und Handlung der Liebe an die Reihe kommen sollen, um an ihnen zu bestimmen, was deren höchst ungleiche Erscheinung bewirkt; und schließlich zu erfahren, was Liebe «denn eigentlich» sei. Darum war auch von dem Hineinspielen von Handlungen in die Bestimmung des Gefühls schon bei dessen Ursprung die Rede gewesen, was sich von seinem späteren Schicksal erst recht sollte wiederholen lassen. Aber Agathe stellte noch eine Frage; es wäre nämlich möglich gewesen -und sie hatte Gründe, wenn nicht zum Verdacht, so doch zur Angst vor ihm — daß die von ihrem Bruder gewählte Erklärung eigentlich nur für ein schwaches Gefühl gelte oder für eine Erfahrung, die von starken nichts wissen wolle.

Ulrich erwiderte: «Nicht im mindesten! Gerade in seiner größten Stärke ist das Gefühl nicht am sichersten.

In der höchsten Angst ist man gelähmt oder schreit auf, statt zu fliehen oder sich zu wehren. Im höchsten 623

Glück ist oft ein eigenartiger Schmerz. Selbst zu großer Eifer <schadet nun, wie man sagt. Und im allgemeinen läßt sich behaupten, daß im höchsten Fühlen die Gefühle wie in einer Blendung die Farbe verlieren und vergehen. Vielleicht ist die ganze uns bekannte Gefühlswelt nur für ein mittleres Leben beschaffen und hört bei den höchsten Graden auf, wie sie nicht schon bei den geringsten anfängt. »

Mittelbar gehörte auch hinzu, was man erfährt, wenn man seine Gefühle beobachtet, besonders wenn man sie «unter die Lupe» nimmt. Sie werden dann undeutlich und sind schwer zu unterscheiden. Was sie dabei an der Deutlichkeit der Stärke verlieren, müßten sie aber durch die der Aufmerksamkeit wenigstens einigermaßen gewinnen, und nicht einmal das tun sie. - So erwiderte Ulrich, und diese Nebeneinanderstellung von Verlöschen des Gefühls in der Selbstbetrachtung und in den höchsten Graden seiner Erregung war nicht zufällig. Denn beides sind Zustände, in denen das Handeln aufgehoben oder gestört ist; und weil der Zusammenhang zwischen Fühlen und Handeln so eng ist, daß ihn manche für eine Einheit halten, ergänzten die beiden Beispiele einander nicht ohne Sinn.

Was er aber zu sagen vermied, war gerade das, was sie beide persönlich davon wußten, daß wirklich mit der höchsten Stufe des Liebesgefühls ein Zustand des geistigen Erlöschens und der körperlichen Ratlosigkeit verbunden sein kann. Darum wandte er das Gespräch von der Bedeutung, die das Handeln fürs Fühlen hat, mit einer gewissen Gewaltsamkeit ab; und scheinbar in der Absicht, wieder der Einteilung der Liebe nach Gegenständen zu erwähnen. Auf den ersten Blick schien sich diese etwas grillenhafte Möglichkeit auch besser zu dem Behuf zu eignen, die Vieldeutige in Ordnung zu bringen. Denn wenn es, mit einem Beispiel zu beginnen, Lästerung ist, die Liebe zu Gott mit dem gleichen Wort zu bezeichnen wie die zum Fischen, so liegt das doch zweifellos an dem Unterschied dessen, dem die Liebe gilt; und so läßt sich die Bedeutung des Gegenstands auch an anderen Beispielen ermessen. Was die ungeheuren Unterschiede in die Beziehung, etwas zu lieben, hineinträgt, ist also nicht sowohl die Liebe als vielmehr das Etwas. So gibt es Gegenstände, welche die Liebe reich und gesund machen; und andere, die sie arm und kränklich machen, als ob das allein an ihnen läge. Es gibt Gegenstände, die die Liebe erwidern müssen, wenn diese ihre ganze Kraft und Eigenart entfalten soll; und andere gibt es, bei denen jede ähnliche Forderung zum voraus sinnlos wäre.

Platterdings unterscheidet das die Beziehung zu lebenden Wesen von der zu unbeseelten; aber auch unbeseelt ist der Gegenstand der rechte Gegenspieler der Liebe, und seine Eigenschaften beeinflussen die ihren.

Je ungleichwertiger dieser Gegenspieler nun ist, desto schiefer, um nicht zu sagen leidenschaftsverzerrter, wird sie selbst. «Vergleiche» mahnte Ulrich «die gesunde Liebe junger Menschen für einander und die lächerlich übertriebene des Einsamen zu Hund, Katze oder Piepmatz. Sieh die Leidenschaft zwischen Mann und Frau erlöschen oder wie einen abgewiesenen Bettler lästig werden, wenn sie nicht oder nicht voll erwidert wird. Vergiß auch nicht, daß in ungleichen Verbindungen, wie sie zwischen Eltern und Kindern oder Herr und Diener bestehn, zwischen einem Mann und dem Gegenstand seines Ehrgeizes oder seines Lasters, das Verhältnis zur Gegenliebe der unsicherste, und schlechthin der verderbliche Teil ist. Überall, wo der regelnde natürliche Austausch zwischen dem Zustand und dem Gegenspieler der Liebe mangelhaft ist, entartet sie wie ein ungesundes Gewebe !» - Dieser Gedanke schien ihn durch etwas Besonderes anzuziehen. Er hätte sich vielfach und mit vielen Beispielen ausbreiten lassen; aber während sich Ulrich diese noch überlegte, lenkte etwas, worauf es dabei nicht abgesehen war, das aber wohl den abgesehenen Weg mit Erwartung belebte wie ein querfeldein kommender Wohlgeruch, scheinbar fast versehentlich das Nachdenken auf das, was in der Malerei Stilleben genannt wird, oder nach dem entgegengesetzten, aber ebenso guten Vorgang einer fremden Sprache die Nature morte. «Gewissermaßen ist es lächerlich, daß ein Mensch einen gut gemalten Hummer schätzt, » fuhr Ulrich unvermittelt fort «spiegelblanke Trauben und einen an den Läufen aufgehängten Hasen, in dessen Nähe immer auch ein Fasan ist; denn der menschliche Appetit ist etwas Lächerliches, und gemalter Appetit noch lächerlicher als natürlicher. » Und beide hatten sie das Gefühl, daß diese Anknüpfung tiefer zurückgreife, als es den Anschein hätte, und zu der Fortsetzung dessen gehöre, was sie von sich selbst zu sagen unterlassen hatten.

Denn in den wirklichen Stilleben - Dingen, Tieren, Pflanzen, Landschaften und Menschenkörpern, die in den Kreis der Kunst gebannt worden sind - zeigt sich etwas anderes, als sie darstellen, nämlich die geheimnisvolle Dämonie des gemalten Lebens. Es gibt berühmte solche Bilder, die beiden wußten also, woran sie waren; man tut aber besser, nicht von bestimmten, sondern von einer Art von Bildern zu sprechen, die überdies auch nicht Schule macht, sondern regellos auf den Wink der Schöpfung entsteht. Agathe fragte, 624

woran sie zu erkennen sei. Ulrich lehnte zwar sichtlich ab, ein entscheidendes Merkmal anzugeben, sagte aber doch langsam, lächelnd und ohne Zaudern: «Das erregende, undeutliche, unendliche Echo!»

Und Agathe verstand ihn. Irgendwie fühlt man sich am Strand. Kleine Insekten summen. Die Luft bringt hunderte Wiesengerüche mit sich. Gedanke und Gefühl wandern geschäftig selbander. Aber vor den Augen ist die nicht verantwortende Einöde des Meers, und was am Ufer Bedeutung hat, verliert sich an die eintönige Regung des unendlichen Anblicks. Sie dachte daran, daß alle wahren Stilleben diese glückliche unersättliche Traurigkeit erregen können. Je länger man sie ansieht, desto deutlicher wird es, daß die von ihnen dargestellten Dinge am bunten Ufer des Lebens zu stehen scheinen, das Auge voll Ungeheurem, und die Zunge gelähmt.

Ulrich erwiderte nun mit einer anderen Umschreibung. «Eigentlich malen alle Stilleben die Welt vom sechsten Schöpfungstag; wo Gott und die Welt noch unter sich waren, ohne den Menschen!» Und auf ein fragendes Lächeln seiner Schwester sagte er: «Was sie menschlich erregen, wäre also wohl Eifersucht, geheimnisvolle Neugierde und Kummer!» Das war beinahe ein «Aperçu», und nicht einmal das schlechteste; er vermerkte es mißfällig, denn er liebte diese wie Kugeln gedrechselten und flüchtig vergoldeten Einfalle nicht. Er tat aber auch nichts, sich zu verbessern, und ebensowenig fragte seine Schwester danach. Denn sich auskömmlich über die unheimliche Kunst des Stillebens oder der Nature morte zu äußern, war ihnen beiden deren seltsame Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Leben hinderlich.

Sie spielte darin eine große Rolle. Ohne daß es nötig wäre, in den Einzelheiten zu wiederholen, was bis zu den gemeinsamen Kindheitserinnerungen zurückreichte, beim Wiedersehen wieder erwacht war, und seither allen Erlebnissen und den meisten Gesprächen etwas Seltsames gab, läßt sich nicht verschweigen, daß der markbetäubte Anhauch des Stillebens daran immer zu spüren war. Unwillkürlich, und ohne etwas Bestimmtes anzunehmen, das sie hätte leiten können, wandten sie darum ihre Neugierde allem zu, was mit dem Wesen des Stillebens Verwandtschaft haben könnte; und es ergab sich mehr oder minder der folgende Wortwechsel, der wie ein Wirtel das Gespräch nochmals spannte und von neuem abrollen ließ!

Vor einem unerschütterlichen Antlitz, das keine Antwort erteilt, um etwas flehen zu müssen, treibt den Menschen in einen Rausch der Verzweiflung, des Angriffs oder der Würdelosigkeit. Ebenso erschütternd, aber unsagbar schön, ist es dagegen, vor einem reglosen Antlitz zu knien, auf dem das Leben vor wenigen Stunden erloschen ist und einen Schein zurückgelassen hat wie ein Sonnenuntergang.

Dieses zweite Beispiel ist sogar ein Gemeinplatz des Gefühls, wenn je etwas so benannt werden darf! Die Welt spricht von der Weihe und Würde des Todes; es gibt das poetische Motiv der aufgebahrten Geliebten seit hunderten, wenn nicht tausenden Jahren; es gibt eine ganze damit verwandte, zumal lyrische Todespoesie. Es ist wahrscheinlich etwas Knabenhaftes daran. Wer malt sich aus, daß ihm der Tod die edelste der Geliebten zu eigen schenkt? Dem der Mut oder die Möglichkeit fehlt, eine lebende zu haben!

Von dieser poetischen Knabenhaftigkeit führt eine kurze Linie zu den Schauern der Geister-und Totenbeschwörung; eine zweite zum Greuel der wirklichen Nekrophilie; vielleicht eine dritte zu den krankhaften zwei Gegensätzen des Exhibitionismus und der gewaltsamen Nötigung.

Das mögen befremdliche Vergleichungen sein, und zum Teil sind es höchst unappetitliche. Aber wenn man sich davon nicht abhalten läßt und sie sozusagen medizinischpsychologisch betrachtet, zeigt sich, daß eins allen gemeinsam ist: eine Unmöglichkeit, ein Unvermögen, ein Mangel an natürlichem Mut oder Mut zum natürlichen Leben.

Auch ist aus ihnen die Erfahrung zu gewinnen, wenn man sich zu einem solchen Zweck denn schon auf gewagte Vergleiche eingelassen hat, daß das Schweigen, die Ohnmacht und jedwede Unvollständigkeit des Gegenspielers mit der Wirkung verbunden ist, das Gemüt in Überspanntheit zu versetzen.

So wiederholt sich vornehmlich doch, was auch früher gesagt worden, daß ein ungleichwertiger Gegenspieler die Liebe schief macht; es wäre bloß beizufügen, daß es nicht selten schon eine schiefe Verfassung des Gefühls ist, die ihn überhaupt wählen heißt. Und umgekehrt, wäre es der erwidernde, lebende, handelnde Mitspieler, der die Gefühle in Ordnung hält und bestimmt, und ohne den sie zur Spiegelfechterei entarten.

Das Stilleben aber, ist sein seltsamer Reiz nicht auch Spiegelfechterei? Ja, fast eine ätherische Nekrophilie?

Und doch ist eine ähnliche Spiegelfechterei auch in den Blicken von glücklich Liebenden als Ausdruck ihres Höchsten. Sie sehen einander ins Auge, können sich nicht losreißen und vergehen in einem wie Gummi dehnbaren unendlichen Gefühl!

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Ungefähr so hatte der Wortwechsel also begonnen, aber an dieser Stelle war sein Faden recht eigentlich hängen geblieben; und zwar eine ganze Weile, ehe er wieder weiterlief. Die beiden hatten einander wirklich angesehen und waren dadurch nämlich ins Schweigen verfallen.

Bedarf es aber einer Bemerkung, die das erklärt, und überhaupt solche Gespräche nochmals rechtfertigt und ihren Sinn ausspricht: so ließe sich vielleicht das sagen, was Ulrich begreiflichermaßen in diesem Augenblick bloß einen stummen Einfall bleiben ließ, daß es nämlich beiweitem nicht so einfach sei zu lieben, wie die Natur dadurch glauben machen will, daß sie jedem Stümper unter ihren Geschöpfen die Werkzeuge dazu anvertraut hat.

55 Atemzüge eines Sommertags

[Fragment]

Die Sonne war unterdessen höhergestiegen; die Stühle hatten sie wie gestrandete Boote in dem flachen Schatten beim Haus zurückgelassen, und lagen auf einer Wiese im Garten unter der vollen Tiefe des Sommertags. Sie taten es schon eine ganze Weile, und obgleich die Umstände gewechselt hatten, kam es ihnen kaum als Veränderung zu Bewußtsein. Ja eigentlich tat dies auch nicht der Stillstand des Gesprächs; es war hängen geblieben, ohne einen Riß verspüren zu lassen.

Ein geräuschloser Strom glanzlosen Blütenschnees schwebte, von einer abgeblühten Baumgruppe kommend, durch den Sonnenschein; und der Atem, der ihn trug, war so sanft, daß sich kein Blatt regte.

Kein Schatten fiel davon auf das Grün des Rasens, aber dieses schien sich von innen zu verdunkeln wie ein Auge. Die zärtlich und verschwenderisch vom jungen Sommer belaubten Bäume und Sträucher, die beiseite standen oder den Hintergrund bildeten, machten den Eindruck von fassungslosen Zuschauern, die, in ihrer fröhlichen Tracht überrascht und gebannt, an diesem Begräbniszug und Naturfest teilnahmen.

Frühling und Herbst, Sprache und Schweigen der Natur, auch Lebensund Todeszauber mischten sich in dem Bild; die Herzen schienen stillzustehen, aus der Brust genommen zu sein, sich dem schweigenden Zug durch die Luft anzuschließen. «Da ward mir das Herz aus der Brust genommen», hat ein Mystiker gesagt: Agathe erinnerte sich dessen.

Auch wußte sie, daß sie selbst diesen Ausspruch Ulrich aus einem seiner Bücher vorgelesen hatte.

Hier in dem Garten, nicht weit von dem Platze, wo sie sich jetzt befanden, war das geschehen. Die Erinnerung wurde vollständiger. Auch andere Aussprüche, die sie ihm ins Gedächtnis gerufen hatte, fielen ihr ein: «Bist du es, oder bist du es nicht? Ich weiß nicht, wo ich bin; noch will ich davon wissen!» - «Ich habe alle meine Vermögen überstiegen, bis an die dunkle Kraft! Ich bin verliebt, und weiß nicht in wen! Ich habe das Herz von Liebe voll, und von Liebe leer zugleich!» - Also klang in ihr die Klage der Mystiker wieder, in deren Herz Gott so tief eingedrungen ist wie ein Dorn, den keine Fingerspitzen fassen können.

Viele solche selige Klagen hatte sie Ulrich damals vorgelesen. Vielleicht war die Wiedergabe jetzt nicht genau, das Gedächtnis verfährt etwas befehlshaberisch mit dem, was es zu hören wünscht; aber sie begriff, was gemeint war, und faßte einen Entschluß. Wie in diesem Augenblick des Blütenzugs hatte der Garten also schon einmal geheimnisvoll verlassen und belebt ausgesehen; und zwar gerade in der Stunde, nachdem ihr die mystischen Bekenntnisse in die Hand gefallen waren, die Ulrich unter seinen Büchern besaß. Die Zeit stand still, ein Jahrtausend wog so leicht wie ein öffnen und Schließen des Auges, sie war ans Tausendjährige Reich gelangt, Gott gar gab sich vielleicht zu fühlen. Und während sie, obwohl es doch die Zeit nicht mehr geben sollte, eins nach dem ändern das empfand; und während ihr Bruder, damit sie bei diesem Traum nicht Angst leide, neben ihr war, obwohl es auch keinen Raum mehr zu geben schien: schien die Welt, unerachtet dieser Widersprüche, in allen Stücken erfüllt von Verklärung zu sein.

Was sie seither erlebt hatte, konnte ihr nicht anders als gesprächig gemäßigt im Vergleich mit dem erscheinen, was vorangegangen war; aber welche Erweiterung und Bekräftigung sollte es diesem doch auch geben, wenngleich es die fast körperwarme Unmittelbarkeit der ersten Eingebung darüber verloren hatte!

Unter diesen Umständen beschloß Agathe, diesmal mit Vorbedacht der Entzückung zu begegnen, die sie vormals in diesem Garten beinahe traumhaft befallen hatte. Sie wußte nicht, warum sie damit den Namen des Tausendjährigen Reiches verband. Es war ein gefühlhelles Wort und war beinahe faßbar wie ein Ding, blieb aber dem Verstand unklar. Deshalb konnte sie mit dieser Vorstellung umgehen, wie wenn das Tausendjährige Reich in jedem Augenblick anbrechen könnte. Es wird auch das Reich der Liebe genannt, 626

das wußte Agathe ebenfalls; doch erst als letztes dachte sie daran, daß beide diese Namen schon seit den Zeiten der Bibel überliefert werden und das Reich Gottes auf Erden bedeuten, dessen nahe bevorstehender Anbruch in völlig wirklicher Bedeutung gemeint ist. Übrigens benutzte auch Ulrich, ohne deshalb an die Schrift zu glauben, zuweilen diese Worte ebenso unbefangen wie seine Schwester; und so wunderte es diese schon gar nicht, daß sie scheinbar ohneweiteres auch wußte, wie man sich im Tausendjährigen Reich zu verhalten habe. «Man muß sich darin ganz still betragen» sagte ihr eine Eingebung. «Man darf keinerlei Verlangen Platz lassen; nicht einmal dem, zu fragen. Auch der Verständigkeit muß man sich entäußern, mit der man Geschäfte besorgt. Man muß seinen Geist aller Werkzeuge berauben und daran hindern, wie ein Werkzeug zu dienen. Das Wissen ist von ihm abzutun und das Wollen; der Wirklichkeit und des Begehrens, sich ihr zuzuwenden, muß man sich entschlagen. Ansichhalten muß man, bis Kopf, Herz und Glieder lauter Schweigen sind. Erreicht man so aber die höchste Selbstlosigkeit, dann berühren sich schließlich Außen und Innen, als wäre ein Keil ausgesprungen, der die Welt geteilt hat… !» Vielleicht war das nicht gerade nüchtern vorbedacht. Es kam ihr aber vor, daß es, fest gewollt, auch erreichbar sein müßte; und sie nahm sich zusammen, als wollte sie sich totstellen. Aber bald erwies es sich als eine ebenso unmögliche Aufgabe, Gedanken, Sinnes-und Willensmeldungen ganz stillzustellen, wie es in der Kindheit die gewesen war, zwischen Beichte und Kommunion keine Sünde zu begehen; und nach einiger Bemühung gab sie den Versuch ganz auf. Sie ertappte sich dabei, daß sie nur noch äußerlich an ihrem Vorsatz festhielt und daß ihre Aufmerksamkeit längst von ihm abgeglitten war. Diese befand sich in dem Augenblick bei einer weit abgesprungenen Frage, einem kleinen Ungeheuer von Abspenstigkeit: sie fragte sich nämlich gerade auf das törichteste, und sehr erpicht auf diese Torheit: «Bin ich wirklich jemals heftig, boshaft, haßerfüllt und unglücklich gewesen?» Ein Mann ohne Namen wurde ihr erinnerlich; dem der Name fehlte, weil sie ihn an sich trug und mit sich fortgetragen hatte. Wenn sie an ihn dachte, empfand sie ihren Namen wie eine Narbe; aber sie fühlte keinen Haß mehr gegen Hagauer, und nun wiederholte sie ihre Frage mit dem etwas schwermütigen Starrsinn, mit dem man einer entflossenen Welle nachblickt. Wohin war das Verlangen gekommen, ihn fast tödlich zu verletzen? Sie hatte es beinahe in Zerstreutheit verloren und meinte anscheinend, es müßte sich noch in ihrer Nähe finden lassen. Überdies mochte Lindner geradezu ein Ersatz für dieses Verlangen nach Feindseligkeit sein; denn auch das fragte sie sich und dachte flüchtig an ihn.

Vielleicht kam es ihr da erstaunlich vor, was alles ihr schon widerfahren sei; liegt doch jungen Menschen die Verwunderung, wieviel sie schon haben fühlen müssen, schlechthin näher als älteren, denen die Wandelbarkeit der Leidenschaften und Lebenszustände gewohnt geworden ist wie der Wetterwechsel. Was hätte aber Agathe so nahegehen können, wie daß sich in demselben Augenblick von dem Umschwung des Lebens, der Flucht seiner Leidenschaften und Zustände, von dem wunderlichen Strom des Gefühls - worin sich sonst die Jugend, wenig davon wissend, naturhaft-großartig vorkommt - rätselhaft wieder der steinklare Himmel der reglosen Verträumtheit abhob, aus der sie soeben erwacht war?

Also wären ihre Gedanken zwar noch immer im Bannkreis des Blüten-und Totenzugs; aber sie bewegten sich nicht mehr mit ihm und auf seine stumm-feierliche Art, sondern Agathe «dachte hin und her», wie man es im Gegensatz zu dem Geisteszustand nennen könnte, worin das Leben «tausend Jahre» ohne einen Flügelschlag währt. Dieser Unterschied zweier Geisteszustände war ihr sehr deutlich; und ein wenig verblüfft erkannte sie, wie oft gerade er, oder etwas ihm nahe Verwandtes, in ihren Gesprächen mit Ulrich schon berührt worden war. Unwillkürlich wandte sie sich an diesen, und ohne das umgebende Schauspiel aus den Augen zu lassen, fragte sie, tief Atem holend: «Erscheint nicht auch dir in einem solchen Augenblick, und mit ihm verglichen, alles andere hinfällig?»

Diese wenigen Worte zerteilten das wolkige Gewicht des Schweigens und der Erinnerung. Denn auch Ulrich hatte dem ohne Ziel seines Wegs ziehenden Blütenschaum zugesehn; und weil seine Gedanken und Erinnerungen auf den gleichen Ton gestimmt waren wie die seiner Schwester, bedurfte es keiner anderen Einleitung, um ihn das sagen zu lassen, was auch deren verschwiegenen Gedanken Antwort gab. Er streckte langsam die Glieder und erwiderte: «Ich habe dir schon lange - schon in dem Zustand, wo wir von dem, was Stilleben heißt, sprachen, und eigentlich alle Tage -etwas sagen wollen, selbst wenn es nicht in die Mitte der Scheibe treffen sollte: Es gibt, den Gegensatz stark aufgetragen, zwei Arten leidenschaftlich zu leben, und zwei Sorten des leidenschaftlichen Menschen. Entweder man heult vor Wut oder Unglück oder Begeisterung jedesmal los wie ein Kind und entledigt sich seines Gefühls in einen kurzen, nichtigen Wirbel.

In diesem Fall, und er ist der gewöhnliche, ist das Gefühl am Ende der alltägliche Vermittler des all627

täglichen Lebens; und je heftiger und leichter erregbar es ist, um so mehr erinnert dieses an die Unruhe in einem Raubtierkäfig zur Fütterungsstunde, wenn das Fleisch an den Gittern vorbeigetragen wird, und bald nachher an die satte Ermüdung. Ist es nicht so? Die andere Art leidenschaftlich zu sein und zu handeln ist aber die: Man hält an sich und gibt der Handlung nicht im mindesten statt, zu der jedes Gefühl hinzieht und treibt. Und in diesem Fall wird das Leben wie ein etwas unheimlicher Traum, worin das Gefühl bis an die Wipfel der Bäume, an die Turmspitzen, an den Scheitel des Himmels steigt… ! Allzu wahrscheinlich haben wir daran gedacht, als wir noch von Bildern, und nichts als ihnen, zu sprechen vorgaben. »

Agathe stützte sich neugierig auf. «Hast du nicht einmal schon gesagt, » fragte sie «daß es zwei von Grund auf verschiedene Möglichkeiten zu leben gibt und daß sie geradezu verschiedenen Tonarten des Gefühls gleichen? Die eine sollte die des <weltlichen> Gefühls sein, das nie zur Ruhe und Erfüllung kommt; die andere, ich weiß nicht, ob du ihr einen Namen gegeben hast -: aber es hätte wohl die eines <mystischen> Gefühls sein müssen, das dauernd mitklingt, aber niemals zur <vollen Wirklichkeit> gelangt?» Obgleich sie zögernd sprach, hatte sie sich überhastet und endete verlegen.

Ulrich erkannte dennoch recht gut, was er gesagt zu haben schien; und schluckte daran, als hätte er etwas zu Heißes im Mund gehabt; und versuchte zu lächeln. Er sagte: «Sollte ich das gemeint haben, so muß ich mich jetzt wohl umso anspruchsloser fassen! Ich werde also die beiden Arten des leidenschaftlichen Seins einfach nach einem bekannten Beispiel die appetithafte und ebendann auch, als deren Gegenteil, die nicht-appetithafte nennen, mag es sich unschön anhören oder nicht. Denn in jedem Menschen ist ein Hunger und verhält sich wie ein reißendes Tier; und ist kein Hunger, sondern etwas, das frei von Gier und Sattheit, zärtlich wie eine Traube in der Herbstsonne reift. Ja, sogar in jedem seiner Gefühle ist das eine wie das andere. »

«Also geradezu eine vegetabile, wenn nicht gar vegetarische, neben einer animalischen Anlage?» Ein Anflug von Vergnügen und Neckerei war in dieser Frage Agathes.

«Beinahe!» erwiderte Ulrich. «Vielleicht wäre das Tierische und das Pflanzenhafte, als Grundgegensatz der Gelüste verstanden, sogar der tiefste Fund für einen Philosophen! Aber sollte ich denn einer sein wollen!

Wessen ich mich erdreiste, ist schlechthin nur das, was ich gesagt habe, und namentlich was ich zuletzt gesagt habe, daß die beiden Arten des leidenschaftlichen Seins ein Vorbild, und vielleicht gar ihren Ursprung, schon an jedem Gefühl haben. An jedem Gefühl lassen sich diese zwei Seiten unterscheiden»

fuhr er fort. Aber merkwürdigerweise sprach er dann nur von dem, was er unter der appetitiven verstand.

Sie drängt zum Handeln, zur Bewegung, zum Genuß; durch ihre Wirkung verwandelt sich das Gefühl in ein Werk, oder auch in eine Idee und Überzeugung, oder in eine Enttäuschung. Das alles sind Formen seiner Entspannung, können aber auch solche der Umspannung und Neukräftigung sein. Denn auf diese Art verändert sich das Gefühl, nützt sich ab, verläuft sich in seinem Erfolg und findet darin ein Ende; oder es verkapselt sich darin und verwandelt seine lebendige Kraft nun in eine aufgespeicherte, die ihm die lebendige später und gelegentlich oft mit Zinseszins wieder zurückgibt. «Und wird etwa nicht dadurch schon das eine verständlich, daß die rüstige Tätigkeit unseres weltlichen Fühlens und seine Hinfälligkeit, über die du so angenehm geseufzt hast, keinen großen Unterschied für uns ausmachen, mag er auch ein tiefer sein?» schloß Ulrich einstweilen seine Antwort.

«Nur zu sehr kannst du recht haben!» stimmte Agathe zu. «Mein Gott, dieses ganze Werk des Gefühls, sein weltlicher Reichtum, dieses Wollen und Freuen, Tun und Untreuwerden, wegen nichts, als weil es treibt!

einbezogen alles, was man erfährt und vergißt, denkt und leidenschaftlich will, und doch auch wieder vergißt: Es ist ja schön wie ein Baum voll Äpfel in jeder Farbe, aber es ist auch formlos eintönig wie alles, was jedes Jahr auf die gleiche Art sich rundet und abfällt!»

Ulrich nickte zu dieser einen Hauch von Ungestüm und Verzicht ausatmenden Antwort seiner Schwester.

«Dem appetitartigen Teil der Gefühle verdankt die Welt alle Werke und alle Schönheit, allen Fortschritt, aber auch alle Unruhe, und zuletzt all ihren sinnlosen Kreislauf!» bekräftigte er. «Weißt du übrigens, daß man unter diesem <appetitartig> einfach den Anteil versteht, den die uns eingeborenen Triebe an jedem Gefühl haben? Also» fügte er hinzu «haben wir damit gesagt, daß es die Triebe sind, wem die Welt Schönheit und Fortschritt verdankt. »

«Und ihre wirre Unruhe» wiederholte Agathe.

«Gewöhnlich sagt man gerade das; darum erscheint es mir nützlich, daß wir das andere nicht außer acht lassen! Denn es ist ja zumindest unerwartet, daß der Mensch gerade seinen Fortschritt dem verdanken soll, 628

was eigentlich der Tierstufe angehört!» - Er lächelte dazu. Auch er hatte sich jetzt aufgestützt und kehrte sich ganz seiner Schwester zu, als wollte er sie aufklären; sprach aber zurückhaltend weiter wie einer, der sich zuerst durch die Worte, die er sucht, selbst belehrt fühlen will. «Zweifellos haben die tätig zugreifenden Gefühle des Menschen, » sagte er «und mit Recht hast du da von einer animalischen Anlage gesprochen, zum Kern die gleichen paar Instinkte, die schon das Tier hat. Bei den Hauptgefühlen ist es ganz deutlich: An Hunger, Zorn, Freude, Eigenwille oder Liebe verdeckt der seelische Schleier doch kaum das nackteste Wollen -!»

Es hatte den Anschein, daß er auf die gleiche Art fortfahren wolle. Aber obwohl das Gespräch -

hervorgegangen aus einem Naturtraum, dem Anblick des Blütenzugs, der noch immer eigentümlich ereignislos mitten durch das Gemüt zu schweben schien - bei keinem Wort die Schicksalsfrage der Geschwister verkennen ließ; vielmehr vom ersten bis zum letzten unter dem Einfluß jenes Sinnbilds stand, beherrscht war von der geheimsinnigen Vorstellung eines «Geschehens, ohne daß etwas geschieht», und in einer Stimmung sanfter Bedrängnis stattfand: obwohl alles so war, hatte das Gespräch doch zuletzt zu dem Gegenteil solcher Leitvorstellung und ihrer Gefühlsstimmung geführt; als nämlich Ulrich nicht umhin konnte, die aufbauende Tätigkeit starker Triebe neben deren störender hervorzuheben. Eine so deutliche Ehrenrettung der Triebe, und mitverstanden des triebhaften, und des tätigen Menschen überhaupt - denn auch das bedeutete es — hätte nun freilich einem «westlichen, abendländischen, faustischen Lebensgefühl»

angehören können, in der Sprache der Bücher so genannt zum Unterschied von einem jeden, das nach derselben sich selbst befruchtenden Sprache «orientalisch» oder «asiatisch» sein soll. Er erinnerte sich dieser vornehmtuerischen Modeworte. Doch es lag nicht in der Absicht der Geschwister, noch hätte es ihren Gewohnheiten entsprochen, einem Erlebnis, von dem sie tief bewegt waren, durch solche angeflogenen, schlecht verwurzelten Begriffe eine trügliche Bedeutung zu geben; vielmehr war alles, was sie miteinander sprachen, als wahr und wirklich gemeint, mochte es auch wolkenwandlerischen Ursprungs sein.

Darum hatte Ulrich seine Lust daran gehabt, dem zarten Nebel des Gefühls eine Erklärung nach Art der Naturwissenschaften zu unterschieben; und das - mochte der Anschein auch dem «Faustischen» Vorschub leisten - in Wahrheit bloß deshalb, weil der naturgetreue Geist alles auszuschließen versprach, was unmäßige Einbildung ist. Zumindest hatte er den Ansatz zu einer solchen Erklärung angedeutet. Es war freilich desto seltsamer, daß er ihn nur für das angedeutet hatte, was er das Appetithafte des Gefühls nannte; dagegen ganz außeracht gelassen, wie er einen Gedanken ähnlicher Art auch auf das Nichtappetitartige anwenden könnte, obwohl er anfangs auf dieses gewiß nicht weniger Gewicht gelegt hatte. Es geschah nicht ohne Grund so. Sei es, daß ihm die psychologische und biologische Zergliederung an dieser Seite des Fühlens schwieriger vorkam, sei es, daß er sie vollends nur für ein verdrießliches Hilfsmittel hielt; beides mochte so sein; was ihn aber vornehmlich beeinflußte, war etwas anderes, und er hatte es überdies seit dem Augenblick, wo Agathes Stoßseufzer den schmerzlichen und beglückenden Gegensatz zwischen den vergangenen unruhigen Lebensleidenschaften und der scheinbar unvergänglichen verraten hatte, die in der zeitlosen Stille unter dem Blütenstrom zu Hause war, schon einigemal vorhersehen lassen. Denn es sind -

zu wiederholen, was er schon verschiedentlich wiederholt hatte - nicht nur in jedem einzelnen Gefühl zwei Anlagen unterscheidbar, durch die und nach deren Art es sich bis zur Leidenschaft ausgestalten kann; sondern es gibt auch zwei Arten Menschen, oder in jedem Menschen Zeiten seines Schicksals, die darin verschieden sind, daß die eine oder andere Anlage überwiegt.

Er sah einen großen Unterschied darin. Menschen des einen Schlags, es ist schon erwähnt worden, greifen lebhaft nach allem und nehmen alles in Angriff; sie gehen wie ein Sturzbach über Hindernisse hinweg oder schäumen darum in eine neue Bahn; ihre Leidenschaften sind stark und wechselnd, und das Ergebnis ist ein heftig gegliederter Lebenslauf, der nichts als ein Vorbeigerauschtsein hinterläßt. Dieser Art Mensch hatte der Begriff des Appetitartigen gegolten, als Ulrich daraus den einen Hauptbegriff des leidenschaftlichen Lebens hatte machen wollen; denn die andere Art ist im Gegensatz zu dieser nichts weniger, als ihm entspräche: Sie ist schüchtern, versonnen, undeutlich; schwer entschlossen, voll von Träumen und Sehnsucht und verinnerlicht in ihrer Leidenschaft. Zuweilen - in Gedanken, von denen jetzt nicht die Rede war — gebrauchte Ulrich für sie auch die Bezeichnung «kontemplativ», ein Wort, das gewöhnlich anders gemeint wird, und etwa bloß in der lauwarmen Bedeutung von «besinnlich»; für ihn aber mehr als diesen gewöhnlichen Sinn hatte, ja geradezu dem vorhin erwähnten Orientalisch-Unfaustischen gleichkam.

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Vielleicht prägte sich in diesem Kontemplativen, und zumal in Gemeinschaft mit dem Appetithaften als seinem Gegenteil, ein Hauptunterschied des Lebens aus: Das zog Ulrich lebhafter an als ein Lehrbegriff.

Aber daß man solche hochzusammengesetzten und anspruchsvollen Lebensbegriffe alle auf eine zweifache Schichtung, die schon jedes Gefühl hat, zurückführen könnte, diese elementare Möglichkeit der Erklärung war ihm doch auch eine Genugtuung.

Natürlich war ihm klar, daß die beiden Arten des Menschseins, die dabei auf dem Spiel standen, nichts anderes bedeuten konnten als einen Mann «ohne Eigenschaften», im Gegensatz zu dem mit allen Eigenschaften, die ein Mensch nur zu zeigen vermag. Man mochte den einen auch einen Nihilisten nennen, der von Gottes Träumen träumt; im Gegensatz zum Aktivisten, der in seiner ungeduldigen Handlungsweise aber auch eine Art Gottesträumer ist, und nichts weniger als ein Realist, der weltklar und welttätig sich umtut. «Weshalb sind wir denn keine Realisten?» fragte sich Ulrich. Sie waren es beide nicht, weder er noch sie, daran ließen ihre Gedanken und Handlungen längst nicht mehr zweifeln; aber Nihilisten und Aktivisten waren sie, und bald das eine bald das andere, je nachdem wie es kam.

56 Das Sternbild der Geschwister oder Die Ungetrennten und Nichtvereinten

Auch in den Jahren, wo Ulrich seinen Lebensweg allein und nicht ohne Übermut gesucht hatte, war ihm das Wort Schwester oft schwer von unbestimmter Sehnsucht gewesen, obwohl er damals so gut wie niemals daran dachte, daß er eine lebende und wirkliche Schwester besitze. Darin lag ein Widerspruch und weist auf eine unebene Herkunft hin, für die sich denn auch manches anführen läßt, das die Geschwister gewöhnlich gering achteten. Es mußte ihnen nicht falsch erscheinen, wog aber im Verhältnis zu der Wahrheit, der sie sich nahe wußten, nicht mehr, als ein einspringender Winkel für die Rundung eines groß geschwungenen Mauerzugs bedeutet.

Ohne Frage kommt Ähnliches oft vor. In manchem Leben ist die unwirkliche, erdichtete Schwester nichts anderes als die hochfliegende Jugendform eines Liebesbedürfnisses, das sich später, im Zustand kälterer Träume, mit einem Vogel oder anderen Tier begnügt oder sich der Menschheit oder dem Nächsten zuwendet. Im Leben manches anderen Menschen ist sie jugendliche Lebensscheu und Einsamkeit, ein erdichteter Doppelgänger voll spiegelfechterischer Anmut, der die Angst der Einsamkeit zur Zärtlichkeit eines einsamen Beisammenseins mildert. Und von manchen Naturen wäre bloß zu sagen, daß dieses schwärmerisch von ihnen gehegte Bild nichts sei, als die eingekochteste Eigenliebe und Selbstsucht; ein über die Maßen Geliebtseinmögen, das eine verschlagene Verbindung mit süßer Selbstlosigkeit eingegangen ist. Daß aber viele Männer und Frauen ein solches Gegenbild im Herzen tragen, daran kann kein Zweifel bestehn. Es stellt schlechthin die Liebe dar und ist immer das Zeichen eines unbefriedigenden und gespannten Verhältnisses zur Welt. Und nicht nur die verkürzt wurden oder von Natur ohne Ebenmaß sind, auch die Wohlgeratenen kennen solche Wünsche.

So fing Ulrich denn an, zu seiner Schwester von einem Erlebnis zu sprechen, das er ihr schon einmal erzählt hatte, und wiederholte die Geschichte der unvergeßlichsten Frau, die, Agathe selbst ausgenommen, je seinen Weg gekreuzt hatte. Diese Frau war ein Frau-Kind, ein Mädchen von etwa zwölf Jahren gewesen, das, merkwürdig vollendet in seinem Gebaren, mit ihm und einem Begleiter eine kurze Strecke weit in dem gleichen Straßenbahnwagen gefahren war und ihn entzückt hatte wie ein geheimnisvoll vergangenes Liebesgedicht, dessen Andeutungen voll nie erlebter Seligkeit sind. Dieses Aufflammen seiner Verliebtheit hatte später manchmal Bedenken in ihm erregt, denn es war seltsam und ließ zweifelhafte Rückschlüsse auf ihn selbst zu. Er gab darum die Erinnerung auch nicht gefühlvoll wieder, sondern sprach von den Bedenken, wenngleich er diese wohl nicht ohne Gefühl verallgemeinerte. «Ein Mädchen hat in diesem Alter sehr oft schönere Beine als später» sagte er. «Die spätere Gedrungenheit entsteht wahrscheinlich erst aus dem, was sie unmittelbar über sich zu tragen haben; in der Halbwüchsigkeit sind sie lang und frei und können laufen, und wenn die Röcke bei einer lebhaften Bewegung die Schenkel freigeben, deren Rundung schon etwas sanft Zunehmendes hat - oh, mir fällt die Mondsichel ein, gegen das Ende ihrer zarten ersten Mondmädchenzeit —, so sehen sie herrlich aus! Ich habe mich später manchmal ernsthaft nach den Gründen gefragt. Das Haar hat in diesem Alter den mildesten Glanz. Das Gesicht zeigt seine schöne Anlage.

Die Augen sind wie ein glatter, noch nie zerknitterter Seidenstoff. Der Geist, in Zukunft dazu bestimmt, kleinlich und begehrlich zu werden, ist noch zwischen dunklen Wünschen eine reine Flamme ohne viel 630

Helligkeit. Und was in diesem Alter gewiß noch nicht schön ist, zum Beispiel der Kinderbauch oder der blinde Ausdruck der Brust, gewinnt durch die Kleidung, sofern sie die Erwachsenheit geschickt vortäuscht, und durch die träumerische Ungenauigkeit der Liebe alles, was eine liebenswürdige Bühnenmaske vermag.

So ein Geschöpf zu bewundern, ist also ganz rechtschaffen in Ordnung, und wie sollte man es anders tun als mit einem Anflug von Liebe!»

«Und wider die Natur ist es gar nicht, solche Empfindungen an ein Kind zu wenden?» fragte Agathe.

«Widernatürlich wäre erst ein plump unmittelbares Begehren» erwiderte Ulrich. «Aber ein solcher Mensch verstrickt auch das unschuldige, oder auf jeden Fall unfertige und schutzlose, Geschöpf in Geschehnisse, für die es nicht bestimmt ist. Er muß von der Unreife des werdenden Geistes und Körpers absehen und seine Leidenschaft mit einem stummen und verhüllten Gegenspieler spielen; nein, er sieht nicht nur von allem, was ihn hindern sollte, ab, sondern er setzt sich mit Roheit darüber hinweg! Das ist ganz ein anderes Verhalten mit anderen Folgen!»

«Aber vielleicht liegt ein Anhauch der Verderblichkeit des <Hinwegsetzens> doch auch schon darin, daß man <absieht>?» wandte Agathe ein. Sie war vielleicht eifersüchtig auf das Gedankengespinst ihres Bruders; jedenfalls widersetzte sie sich. «Ich finde keinen großen Unterschied darin, ob man nicht achtet, was einen hindern könnte, oder ob man es nicht fühlt!»

Ulrich entgegnete: «Du hast recht und hast es nicht. Ich habe die Geschichte eigentlich bloß erzählt, weil sie eine Vorstufe der Geschwisterliebe ist!»

«Der Geschwisterliebe?» fragte Agathe und stellte sich erstaunt, als hörte sie das Wort zum erstenmal; aber da sie ihre Nägel wieder in Ulrichs Arm eingrub, tat sie es vielleicht zu stark, und es zitterten ihre Finger.

Ulrich, der es empfand, als ob sich nebeneinander fünf kleine warme Quellen in seinem Arm geöffnet hätten, sagte plötzlich: «Wessen stärkste Erregungen mit Erlebnissen verbunden sind, von denen jedes auf irgendeine Art unmöglich ist, der will nicht die möglichen Erlebnisse! Mag sein, daß die Phantasie eine Flucht vor dem Leben, eine Zuflucht der Feigheit und eine Lasterhöhle ist, wie es viele behaupten; ich glaube, daß die Geschichte des kleinen Mädchens, und auch alle anderen Beispiele, von denen wir gesprochen haben, nicht auf eine Unnatur oder Lebensschwäche hinweist, sondern auf eine Widerweltlichkeit und starke Widersetzlichkeit, auf ein übergroßes und überleidenschaftliches Verlangen nach Liebe!» Er vergaß, daß Agathe nichts von den anderen Beispielen und zweifelhaften Vergleichen wissen konnte, mit denen seine Gedanken zuvor die Geschwisterliebe in Verbindung gebracht hatten; denn er fühlte sich jetzt wieder im klaren und hatte den betäubenden Geschmack, die Verwandlung in das Willenlose und Leblose, das zu seiner Erfahrung gehörte, für dieses Mal überwunden, so daß die selbsttätige Erwähnung ungewollt durch eine Gedankenlücke schlüpfte.

Diese Gedanken waren noch immer auf das Allgemeinere gerichtet, mit dem sich ein persönlicher Fall sowohl vergleichen ließ als er auch davon abstach; und wenn man zu Gunsten des inneren Zusammenhangs dieser Gedanken beiseite läßt, wie sie einander folgten und formten, so bleibt ein mehr oder minder unpersönlicher Gehalt über, der ungefähr so aussah: Für das Lebensgefüge mag der Haß ebenso wichtig sein wie die Liebe. Es scheint auch ebensoviel Gründe zu geben, die Welt zu lieben wie zu verabscheuen.

Und in der Natur des Menschen liegen beide Instinkte anwendungsbereit, in einem ungleichen Verhältnis ihrer Kräfte, das persönlich verschieden ist. Aber es ist nicht zu sagen, wie sich Lust und Unwillen dabei die Waage halten, um uns das Leben doch immer weiterführen zu lassen: Falsch ist offenbar bloß die gern gehörte Meinung, daß es dazu eines Mehr an Lust bedürfe, denn wir führen auch das Leben in Unlust weiter, mit einem Überschuß an Unglück, an Haß oder Geringschätzung für das Leben, und fahren dabei so sicher wie mit einem Überschuß an Glück. Es fiel Ulrich aber ein, daß beide ein Äußerstes sind, der lebensliebe wie der vom Unwillen beschattete Mensch, und darum dachte er an den mannigfaltigen Ausgleich, der das Gewöhnliche ist. Zu diesem Ausgleich von Liebe und Haß, und somit zu den Vorgängen und Gebilden, mit deren Hilfe sie sich ins Einvernehmen setzen, gehören zum Beispiel die Gerechtigkeit und alle anderen Formen des Maßhaltens; gehört aber nicht minder auch die Bildung der Genossenschaften von zweien oder von Unzähligen, Vereinigungen, die wie gefütterte Nester mit auswendigen Dornengürteln sind; es gehört auch die Gottesgewißheit dazu; und Ulrich wußte, daß in dieser Reihe endlich auch das geistig-sinnliche Gebilde der «Schwester» als ein gewagtestes Mittel seinen Platz habe. Aus welcher Schwäche der Seele dieser Traum seine Feuchtigkeit zog, stand darum hintan, und voran stand As Ursprung ein eigentlich übermenschliches Mißverhältnis. Und wahrscheinlich hatte Ulrich aus diesem Grunde auch von 631

Widerweltlichkeit gesprochen, denn wer die Tiefe der guten und bösen Leidenschaft kennt, dem zerfällt alles Übereinkömmliche, das dazwischen vermittelt, und nicht um die Leidenschaft zum eigenen Blut zu beschönigen, hatte er also gesprochen.

Ohne sich Rechenschaft zu geben, warum er es tue, erzählte er Agathe nun auch ein zweites Geschichtchen, das anfangs gar keinen Zusammenhang mit dem ersten zu haben schien. «Es ist mir einmal vor Augen gekommen und wirklich soll es sich in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs zugetragen haben, als ohnegleichen Menschen und Völker durcheinandergeworfen worden sind» begann er. «Aus einer Gruppe einsam liegender Bauernhöfe waren die meisten Männer von den Kriegsdiensten entführt worden, keiner von ihnen kam wieder, und die Frauen führten allein die Wirtschaft, was ihnen mühevoll und verdrießlich war. Da geschah es, daß einer von den verschollenen Männern in die Heimat zurückkehrte und sich nach vielen Abenteuern bei seinem Weib meldete. Ich will aber lieber gleich sagen, daß es nicht der rechte Mann gewesen ist, sondern ein Landstreicher und Betrüger, der einige Monate lang mit dem Verschollenen und vielleicht Zugrundegegangenen Marsch und Lager geteilt und sich dessen Erzählungen, wenn ihm das Heimweh die Zunge lockerte, so gut eingeprägt hatte, daß er sich für ihn auszugeben vermochte. Er kannte den Kosenamen des Weibs und der Kuh und die Namen und Gewohnheiten der Nachbarn, die überdies nicht nahe wohnten. Er hatte einen Bart, wie und wo ihn der andere gehabt hätte. Er blickte auf eine Art aus zwei Augen, die keine besondere Farbe hatten, daß man wohl meinen konnte, er hatte es auch früher nicht viel anders getan, und ob seine Stimme zwar anfangs befremdete, ließ es sich immerhin dadurch erklären, daß man früher nie so genau auf sie geachtet hätte wie jetzt. Kurz und gut, der Mann wußte seinen Vorgänger Zug um Zug zu vertreten, wie ein grobes und unähnliches Bild anfangs abstößt, aber umso ähnlicher wird, je länger man mit ihm allein bleibt, und schließlich ganz die Erinnerung einschüchtert. Ich meine wohl, daß manchmal etwas wie ein Grauen die Frau gewarnt haben wird, er wäre es nicht; aber sie hat ihren Mann wieder haben wollen, und vielleicht überhaupt nur einen Mann, und so ist der Fremde in seiner Rolle immer fester geworden — »

«Und wie ist das ausgegangen?» fragte Agathe.

«Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich wird dieser Mensch durch irgendeinen Zufall doch entlarvt worden sein. Aber der Mensch im allgemeinen wird es sein Lebtag nicht!»

«Du willst sagen: Man liebt immer bloß die Stellvertreter der Richtigen? Oder du willst sagen: Wenn ein Mensch zum zweiten Mal liebt, so verwechselt er zwar nicht die Personen, aber das Bild der neuen ist an vielen Stellen nur eine Übermalung von dem der alten?» fragte Agathe mit einem anmutigen Gähnen.

«Ich habe noch viel mehr sagen wollen, und es ist viel langweiliger» gab Ulrich zur Antwort. «Versuche dir einen Farbenblinden vorzustellen, dem Helligkeiten und Abschattungen fast völlig die farbige Welt vertreten: er sieht keine einzige Farbe, und kann sich doch wahrscheinlich so verhalten, daß man es nicht bemerkt, denn was er zu sehen vermag, vertritt ihm das, was er nicht sehen kann. So aber, wie es hier in einem besonderen Bezirk geschieht, ergeht es uns allen eigentlich mit der Wirklichkeit. Sie zeigt sich in unseren Erlebnissen und Forschungen nie anders wie durch ein Glas, das teils den Blick durchläßt, teils den Hineinblickenden wiederspiegelt. Wenn ich das zartgerötete Weiß auf deiner Hand betrachte oder die widersetzliche Innigkeit deines Fleisches in meinen Fingern fühle, habe ich Wirkliches vor mir, aber nicht so, wie es wirklich ist; und ebenso wenig, wenn ich es bis auf die letzten Atome und Formeln zurückführe!»

«Warum strengt man sich dann an, es auf etwas zurückzuführen, das abscheulich ist?»

«Erinnerst du dich an das, was ich von der geistigen Abbildung der Natur gesagt habe, vom Bildsein ohne Ähnlichkeit? Man kann irgendetwas in sehr verschiedener Hinsicht als das genaue Abbild von etwas anderem auffassen; aber immer muß dann alles, was in dem Bild vorkommt oder sich aus ihm ergibt, in eben dieser bestimmten Hinsicht ein Abbild von dem sein, was die Durchforschung des Urbilds zeigt.

Bewährt sich das auch dort, wo es ursprünglich nicht vorhergesehen werden konnte, so ist das Bild dann gerechtfertigt, wie es nur sein kann. Das ist ein sehr allgemeiner und sehr unsinnlicher Begriff von Bildlichkeit. Er setzt ein bestimmtes Verhältnis zweier Bereiche voraus und gibt zu verstehen, daß es sich als Abbildung auffassen lasse, wenn es sich ohne Ausnahme über beide erstrecke. In diesem Sinn kann eine mathematische Formel das Bild eines Naturvorganges sein, so gut wie die sinnliche äußere Ähnlichkeit eine Abbildung begründet. Eine Theorie kann sich in ihren Folgen mit der Wirklichkeit decken, und die Wirklichkeit mit der Theorie. Eine Tonwalze ist das Abbild einer Singweise und eine Handlung das eines schwankenden Gefühls. In der Mathematik, wo man vor lauter Entwicklung des Denkens am liebsten nur 632

noch dem trauen möchte, was sich an den Fingern abzählen läßt, wird gewöhnlich bloß von der Genauigkeit der Zuordnung gesprochen, die Punkt für Punkt möglich sein muß. Aber im Grunde läßt sich alles, was Entsprechung, Vertretbarkeit zu einem Zweck, Gleichwertigkeit und Vertauschbarkeit oder Gleichheit in Hinsicht auf etwas, oder Ununterscheidbarkeit, oder Angemessenheit aneinander nach irgendeinem Maß heißt, auch als ein Abbildungsverhältnis auffassen. Eine Abbildung ist also ungefähr ein Verhältnis der völligen Entsprechung in Ansehung irgendeines solchen Verhältnisses - »

Agathe unterbrach diese Darlegung, die Ulrich etwas unlustig und pflichtgemäß vortrug, mit den warnenden Worten: «Durch all das könntest du einmal einen der neuen Maler in Begeisterung versetzen - »

«Oh, warum nicht!» gab er zur Antwort. «Überlege dir, welchen Sinn es hat, dort von Naturtreue und Ähnlichkeit zu reden, wo schon das Räumliche durch eine Fläche ersetzt wird oder die Buntheit des Lebens durch Metall oder Stein. Darum sind die Künstler, die diese Begriffe der sinnlichen Nachbildung und Ähnlichkeit als photographisch von sich weisen und außer einigen mit Werkstoff und Gerät überlieferten Gesetzen nur die Inspiration oder irgendeine ihnen geoffenbarte Theorie anerkennen, gar nicht ganz im Unrecht; aber die abgebildeten Kunden, die sich nach dem Vollzug dieser Gesetze wie die Opfer eines Justizirrtums vorkommen, sind es meistens auch nicht -» Ulrich machte eine Pause. Obwohl es seine Absicht gewesen war, nur darum von dem logisch strengen Begriff der Abbildung zu sprechen, daß er aus ihm die freien, und doch keineswegs beliebigen Folgerungen ziehen könne, von denen die verschiedenen im Leben vorkommenden Bildverhältnisse beherrscht werden, schwieg er jetzt. Es befriedigte ihn nicht, sich bei diesem Versuch zu beobachten. Er hatte in letzter Zeit viel vergessen, was ihm früher geläufig gewesen war, besser gesagt, er hatte es beiseite geschoben; sogar die scharfen Ausdrücke und Begriffe seines früheren Berufes, die er so oft benutzt hatte, waren ihm nicht mehr gefügig, und er spürte auf der Suche nach ihnen nicht nur eine unangenehme Trockenheit, sondern fürchtete sich auch, wie ein Pfuscher zu reden.

«Du hast gesagt, daß einem Farbblinden nichts fehlt, wenn er die Welt sieht!» ermunterte ihn Agathe.

«Ja. Natürlich hätte ich es nicht ganz so sagen sollen» erwiderte Ulrich. «Es ist alles in allem noch eine unklare Frage. Schon wenn man sich auf das geistige Bild beschränkt, das der Verstand von irgendetwas gewinnt, gerät man bei der Frage, ob es wahr sei, in die größten Schwierigkeiten, obschon man durchwegs eine trockene und lichtdurchglänzte Luft atmet. Nun sind gar die Bilder, die wir uns im Leben machen, um richtig handeln und fühlen zu können oder auch kräftig handeln und fühlen zu können, nicht bloß vom Verstand abhängig, ja oft sind sie höchst unverständig und nach seinen Maßen unähnliche Bilder; und doch müssen sie ihren Dienst erfüllen, damit wir in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und uns selbst bleiben.

Sie müssen also nach irgendeinem Bildschlüssel oder irgendeiner Gebrauchsanweisung und gemäß dem Begriff, der die Art der Abbildung bestimmt, auch genau und vollständig sein, selbst wenn dieser Begriff Raum für verschiedene Ausführungen läßt -»

Agathe unterbrach ihn lebhaft. Sie hatte plötzlich den Zusammenhang erfaßt. «Der falsche Bauer ist also ein Abbild des echten gewesen?» fragte sie.

Ulrich nickte. «Ursprünglich hat ja auch ein Bild immer seinen Gegenstand ganz vertreten. Es hat Macht über ihn verliehen. Wer einem Bild die Augen oder das Herz ausstach, tötete den Abgebildeten. Wer sich des Bildes einer unzugänglichen Schönen heimlich bemächtigte, dem fiel sie anheim. Auch der Name gehört zu den Bildern; und so hat man Gott bei seinem Namen beschwören können, was soviel hieß wie gefügig machen. Wie du weißt, entwendet man übrigens auch heute noch heimlich Erinnerungszeichen oder schenkt sich Ringe mit dem eingegrabenen Namen und trägt Bilder und Locken als Talisman am Herzen. Da hat sich also etwas im Lauf der Zeit gespalten; das Ganze ist zum Aberglauben herabgesunken, und ein Teil hat dafür die trockene Würde der Photographie, der Geometrie oder ähnliches erreicht. Aber denke einmal an den Hypnotisierten, der mit allen Anzeichen des Wohlgefallens in eine Kartoffel beißt, die ihm einen saftigen Apfel vertritt, oder denke an die Puppen deiner Kindheit, die du umso leidenschaftlicher geliebt hast, je einfacher und der Menschenähnlichkeit ferner sie gewesen sind, so bemerkst du, daß es nicht auf das Äußere ankommt, und bist wieder bei dem bolzensteifen Fetischpfahl, der einen Gott darstellt - »

«Sollte man nicht beinahe sagen können, je unähnlicher ein Bild sei, desto größer die Leidenschaft dafür, sobald wir uns daran gebunden haben?» fragte Agathe.

«Wahrhaftig ja!» stimmte ihr Ulrich bei. «Unser Verstand, unsere Wahrnehmung haben sich in dieser Frage von unserem Gefühl getrennt. Man kann sagen, daß die ergreifendsten Stellvertretungen immer etwas 633

Unähnliches haben. » Er betrachtete sie lächelnd von der Seite und fügte hinzu: «Wenn ich nicht in deiner Gegenwart bin, sehe ich dich nicht ähnlich vor mir, so wie dich einer malen möchte; sondern mir ist eher, als hättest du in ein Wasser geblickt und ich bemühte mich vergeblich, darin mit dem Finger dein Bild nachzuzeichnen. Ich möchte behaupten, daß man nur Gleichgültiges richtig und ähnlich sieht. »

«Seltsam!» erwiderte seine Schwester. «Ich sehe dich genau vor mir! Vielleicht weil mein Gedächtnis überhaupt zu genau und unselbständig ist!»

«Ähnlichkeit der Abbildung ist eine Annäherung an das, was der Verstand wirklich und gleich findet; es ist ein Zugeständnis an ihn!» sagte Ulrich artig und fuhr vermittelnd fort: «Daneben gibt es aber doch auch die Bilder, die sich an unser Gefühl wenden, und ein Kunstbild ist zum Beispiel eine Mischung aus beiden Ansprüchen. Willst du aber darüber hinaus bis dorthin gehen, wo etwas nur noch für das Gefühl etwas anderes vertritt, so mußt du an solche Beispiele denken wie eine flatternde Fahne, die in besonderen Augenblicken ein Bild unserer Ehre ist — »

«Da läßt sich doch nur noch von einem Symbol, aber von keinem Bild mehr reden!» warf Agathe ein.

«Sinnbild, Gleichnis, Bild, es geht ineinander über» meinte Ulrich. «Sogar solche Beispiele gehören hieher wie das Krankheitsbild und der Heilungsplan, die sich ein Arzt macht. Sie müssen die erfinderische Ungenauigkeit der Einbildung, immerhin aber auch die Genauigkeit der Ausführbarkeit haben. Diese geschmeidige Grenze zwischen der Einbildung des Planens und dem Bild, das vor der Wirklichkeit bestehen bleibt, ist im Leben überall wichtig und schwer zu finden. »

«Wie verschieden wir sind!» wiederholte Agathe nachdenklich.

Ulrich wehrte den Vorwurf lächelnd ab. «Sehr! Ich spreche von der Ungenauigkeit, etwas für etwas zu nehmen, als von einer Fruchtbarkeit und Leben spendenden Gottheit und bemühe mich, ihr so viel Ordnung beizubringen, als sie verträgt; und du bemerkst nicht, daß ich längst auch von der wahrhaften Möglichkeit doppelgängerischer Zwillinge rede, zwei Seelen zu haben und eine zu sein?» Er fuhr lebhaft fort: «Stelle dir Zwillinge vor, die einander <zum Verwechseln> ähnlich sehen, stelle sie dir in der gleichen Haltung vor, bloß durch eine als Strich angedeutete Wand getrennt, die dir bestätigt, daß es zwei selbständige Wesen sind. Und nun mögen sie in einer unheimlichen Steigerung einander auch in dem, was sie tun, wiederholen, so daß du unwillkürlich das gleiche von ihrem Innern annimmst: Was ist das Unheimliche dieser Vorstellung? Daß wir sie an nichts unterscheiden können, und daß sie doch zwei sind! Daß für uns in allem, was wir mit ihnen unternehmen können, der eine so gut wie der andere ist, obwohl sich an ihnen dabei doch etwas wie ein Schicksal vollzöge! Kurz, daß sie für uns gleich sind, und für sich nicht!»

«Warum treibst du solchen gruseligen Spuk mit den Zwillingen?» fragte Agathe.

«Weil das ein Fall ist, der oft vorkommt. Es ist der Fall des Verwechselns, der Gleichgültigkeit, des in Bausch und Bogen Nehmens und Behandeins, der Vertretbarkeit…, also ein Hauptkapitel aus den Bräuchen des Lebens. Ich habe es bloß ausgeschmückt, um es dir etwas auffälliger zu machen. Denn nun kehre ich es um: Unter welchen Umständen werden die Zwillinge für uns zweierlei und für sich ein und dasselbe sein?

Ist das auch Spuk?»

Agathe preßte seinen Arm und seufzte. Dann gab sie zu: «Wenn es möglich ist, daß zwei Menschen für die Welt gleich sind, so könnte es auch sein, daß uns ein Mensch doppelt erscheint. - Aber du zwingst mich, Unsinn zu reden!» fügte sie bei.

«Stell dir zwei Goldfische in einem Glas vor» bat Ulrich.

«Nein!» sagte Agathe entschlossen, wenn auch lachend. «Ich tue nicht mehr mit!»

«Bitte, stell es dir vor! Ein kugelförmiges großes Glas, wie man es manchmal in einem Salon sieht. Du kannst nebenbei denken, daß das Glas auch so groß sein kann wie die Grenzen unseres Grundstücks. Und zwei golden rötliche Fische, die ihre Flossen wie Schleier bewegen und langsam auf und nieder schwingen.

Lassen wir beiseite, ob sie wirklich zwei oder eins sind. Für einander werden sie vorerst jedenfalls zwei sein; dafür sorgen schon der Futterneid und das Geschlecht. Auch weichen sie einander ja aus, wenn sie sich zu nahe kommen. Ich kann mir aber gut vorstellen, daß sie für mich eins werden: Ich brauche bloß auf diese Bewegung zu achten, die sich langsam einzieht und entfaltet, so ist das einzelne schimmernde Geschöpf bloß ein unselbständiger Teil dieser gemeinsam auf und ab steigenden Bewegung. Nun frage ich, wann es ihnen selbst auch so geschehen könnte. »

«Es sind Goldfische!» warnte Agathe. «Und keine Tanzgruppe, die an übernatürlichen Einbildungen leidet!»

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«Es sind du und ich, » entgegnete ihr Bruder nachdenklich «und darum möchte ich auch versuchen, den Vergleich richtig zu Ende zu bringen. Es scheint mir eine lösbare Aufgabe zu sein, sich vorzustellen, wie an ihrer geteilt-einigen Bewegung die Welt vorbeigleitet. Es geschieht nicht anders, als sich an einem Eisenbahnzug, der durch Krümmungen fährt, die Welt vorbeidreht; bloß geschieht es zweifach, so daß zu jedem Augenblick des Doppelwesens zwei Stellungen der Welt gehören, die irgendwie seelisch zusammenfallen müssen, das heißt, es wird niemals der Einfall mit ihnen verbunden sein, durch eine Bewegung von der einen zur ändern zu gelangen; es wird nicht der Eindruck einer zwischen ihnen bestehenden Entfernung entstehen; noch desgleichen mehr. Ich glaube, mir vorstellen zu können, daß man sich ganz leidlich auch in einer solchen Welt zurechtfände, und es ließe sich dazu wohl auf verschiedene An die nötige Beschaffenheit der Sinneswerkzeuge und Auffassungsvorgänge ausklügeln. » Ulrich blieb einen Augenblick stehen und dachte nach. Manche Einwände waren ihm bewußt geworden, und auch die Möglichkeit ihrer Abschaffung deutete sich an. Er lächelte schuldbewußt. Dann sagte er: «Aber wenn wir annehmen, daß diese Beschaffenheit der unseren gleich sei, ist die Aufgabe gar viel leichter! Die beiden schwebenden Geschöpfe werden sich ja auch dann schon als eines fühlen, ohne daß sie durch die Verschiedenheit ihrer Wahrnehmungen darin gestört würden, und ohne daß es dazu einer höheren Geometrie und Physiologie bedürfte, so du bloß glauben willst, daß sie seelisch aneinander stärker gebunden sind als an die Welt, Wenn irgend etwas ihnen gemeinsam Wichtiges unendlich stärker ist als die Verschiedenheit ihrer Erlebnisse; wenn es diese überdeckt und gar nicht erst zu Bewußtsein kommen läßt; wenn ihnen das störend von der Welt Kommende nicht des Bewußtseins wert ist, wird das geschehn. Und es kann eine gemeinsame Suggestion solche Wirkung haben; oder eine süße Nachlässigkeit und Ungenauigkeit der Aufnahmegewohnheiten, die alles verwechselt; oder eine einseitige Spannung und Überspanntheit, die nur das Erwünschte durchläßt; eines, wie mir scheint, so gut wie das andere - »

Nun lachte ihn Agathe aus: «Wozu habe ich dann die ganze Genauigkeit der Abbildungsverhältnisse durchexerzieren müssen?» fragte sie.

Ulrich zuckte die Achseln: «Es hängt alles miteinander zusammen» erwiderte er verstummend.

Er wußte selbst, daß er in seinen Anläufen nirgends durchgedrungen sei, und ihre Verschiedenheit verwirrte seine Erinnerung. Es sah voraus, daß sie sich wiederholen würden. Aber er war müde. Und wie die Welt im versiegenden Licht traulich schwer wird und alle Glieder an sich zieht, so drang Agathes Nachbarschaft wieder körperlich zwischen seine Gedanken, während sein Geist versagte. Sie hatten sich beide daran gewöhnt, solche schwierigen Gespräche zu führen, und diese waren nun schon seit längerer Zeit so gemischt aus dem Treiben der Einbildungskraft und der vergeblichen äußersten Anstrengung des Verstandes, es zu sichern, daß es ihnen beiden nichts Neues war, bald auf eine Entscheidung zu hoffen, bald sich von ihren eigenen Worten im Gehen und Stehen kaum anders einwiegen zu lassen, als man auf das kindlich vergnügte Selbstgespräch eines Brunnens horcht, der lallend vom Ewigen schwätzt. In diesem Zustand fiel Ulrich jetzt nachzüglerisch noch etwas ein, und er griff wieder auf seine sorgfältig untermalte Parabel zurück. «Es ist erstaunlich einfach, aber doch auch seltsam, und ich weiß nicht, wie ich es dir überzeugend sagen soll» meinte er. «Du siehst jene Wolke dort an einer etwas anderen Stelle als ich, und auch sonst vermutlich etwas anders; und davon haben wir gesprochen, daß, was du siehst und tust und was dir einfällt, niemals dem gleich sein wird, was mir widerfährt und was ich tue. Und die Frage haben wir untersucht, ob es nicht trotzdem möglich wäre, bis ins letzte eins zu sein, und zu zweien mit einer Seele zu leben? Wir haben allerhand ausgezirkelte Antworten angedeutet, aber die einfachste habe ich dabei vergessen: daß die beiden Menschen gesonnen und imstande sein könnten, alles, was sie erleben, nur als Gleichnis hinzunehmen! Bedenke bloß, daß jedes Gleichnis für den Verstand zweideutig, aber für das Gefühl eindeutig ist. Wem die Welt bloß ein Gleichnis ist, der könnte also wohl, was nach ihren Maßen zwei ist, nach den seinen als eins erleben. » In diesem Augenblick schwebte es Ulrich sogar vor, daß in einem Lebensverhalten, dem das Hiersein bloß ein Gleichnis des Dortseins wäre, sogar das Nichterlebbare, in zwei getrennt wandelnden Körpern eine Person zu sein, den Stachel seiner Unmöglichkeit verlöre; und er schickte sich an, darüber weiterzusprechen.

Aber Agathe zeigte auf die Wolke und unterbrach ihn zungenfertig: «Hamlet: <Seht Ihr die Wolke dort, beinah’ in Gestalt eines Kamels?> Polonius: <Beim Himmel, sie sieht auch wirklich aus wie ein Kamel. > Hamlet: <Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel. > Polonius: <Sie hat einen Rücken wie ein Wiesel. > Hamlet: <Oder wie ein Walfisch?> Polonius: <Ganz wie ein Walfisch!>» Sie brachte es so hervor, daß es 635

ein Spottbild geflissentlicher Übereinstimmung war.

Ulrich begriff den Einwand, fuhr aber unbehindert fort: «Man sagt doch von einem Gleichnis auch, daß es ein Bild sei. Und ebenso gut ließe sich von jedem Bild sagen, daß es ein Gleichnis wäre. Aber keines ist eine Gleichheit. Und eben daraus, daß es einer nicht nach Gleichheit, sondern nach Gleichnishaftigkeit geordneten Welt angehört, läßt sich die große Stellvertretungskraft, die heftige Wirkung erklären, die gerade ganz dunklen und unähnlichen Nachbildungen zukommt und von der wir gesprochen haben!»

Dieser Gedanke selbst wuchs durch sein Zwielicht, und er vollendete ihn nicht; die unmittelbare Erinnerung an das, was über Abbildungen gesprochen worden, verband sich darin mit dem Bild der Zwillinge und mit der erlebten bild-schönen Erstarrung Agathes, die sich vor den Augen ihres Bruders wiederholt hatte, und dieses Gemenge wurde von ferner belebt durch die Erinnerung daran, wie oft solche Gespräche, wenn sie am schönsten waren und aus ganzer Seele kamen, selbst eine Neigung bekundeten, sich nur noch in Gleichnissen auszudrücken. Heute aber geschah das nicht, und Agathe traf nun wie ein Schütze die empfindliche Stelle, als sie ihren Bruder wieder mit einer Bemerkung störte. «Warum, in aller Welt, gehen denn deine Wünsche und Worte überhaupt nach einer Frau, die abenteuerlich genau deine zweite Ausgabe sein soll!» rief sie unschuldig verletzend aus. Trotzdem war ihr ein wenig bang vor der Erwiderung und sie schützte sich auch durch eine Wendung ins Allgemeine: «Kann man es denn verstehen, warum in aller Welt das Ideal aller Liebenden es ist, ein Wesen zu werden, ungeachtet diese Undankbaren fast allen Reiz der Liebe gerade dem verdanken, daß sie zwei Wesen und als Geschlecht verlockend ungleich sind?» Sie fügte scheinheilig, aber noch arglistiger zielend hinzu: «Sie sagen sogar manchmal zu einander, als wollten sie dir entgegenkommen: <du bist meine Puppe!>»

Ulrich nahm indessen den Spott hin. Er hielt ihn für gerecht, und es war schwierig, ihn durch eine neue Anpassung zu widerlegen. Es war in dem Augenblick auch nicht nötig. Denn obzwar die Geschwister sehr verschieden sprachen, waren sie doch einig. Von einer unbestimmten Grenze an fühlten sie sich als ein Wesen; so wie aus zwei Menschen, die vierhändig spielen oder zweistimmig laut eine Schrift lesen, die für ihr Heil wichtig ist, ein Wesen ersteht, dessen bewegter, hellerer Umriß sich ohne Deutlichkeit von einem Schattengrund abhebt. Wie in einem Traum schwebte es ihnen vor, zu einer Gestalt zu verschmelzen -

ebenso unbegreiflich, überzeugend und leidenschaftsschön, wie es da geschieht, daß zwei Menschen nebeneinander vorkommen, und heimlich derselbe sind; und es war durch die in letzter Zeit hervorgetretene nachdenkliche Behandlung teils gestützt, teils gestört worden. Von diesen Überlegungen ließe sich sagen, daß es nicht unmöglich sein sollte, was der Wirkung des Gefühls im Schlaf gelingt, auch bei wachem Bewußtsein zu wiederholen; vielleicht mit Auslassungen, gewiß auf veränderte Art und durch andere Vorgänge, es könnte aber auch zu erwarten sein, daß es dann mit größerer Widerstandsfähigkeit gegen die auflösenden Einflüsse der wachen Welt geschieht. Sie sahen sich davon freilich weit genug entfernt, und sogar die Wahl der Mittel, die sie bevorzugten, unterschied sie von einander, insofern als Ulrich mehr zur Rechenschaft neigte und Agathe zum unbedacht gläubigen Entschluß.

Darum geschah es oft, daß scheinbar das Ende einer Aussprache weiter vom Ziel war als der Anfang, wie auch diesmal im Garten, wo die Zusammenkunft beinahe wie ein Versuch, nicht mehr zu atmen, begonnen hatte und einstweilen geradezu in Mutmaßungen über die Bauweise von verschiedenen gedachten Kartenhäusern übergegangen war. Im Grunde war es aber natürlich, daß sie sich verhindert fühlten, nach ihren allzu kühnen Gedanken zu handeln. Denn wie sollten sie etwas verwirklichen, das sie selbst als die lautere Unwirklichkeit planten, und wie sollte ihnen das Handeln in einem Geiste leicht fallen, der recht eigentlich ein Zaubergeist der Untätigkeit war. Darum wünschten sie sich inmitten ihrer weltabgeschlossenen Unterhaltung plötzlich recht lebendig, wieder mit Menschen in Berührung zu kommen.

57 Sonderaufgabe eines Gartengitters

[Entwurf]

So geschah es denn bald, daß die beiden, ohne daß es dazu einer Verständigung bedurfte, langsam einen Weg einschlugen, der sie den Menschen, das heißt der Grenze ihres kleinen Gartenreiches, nahebrachte, und es wäre auch zu gewahren gewesen, daß es nicht zum erstenmal geschah. Wo sie der Straße ansichtig wurden, die sich hinter dem hohen, von einem Steinsockel getragenen Eisengitter lebhaft vorbeiwälzte, 636

verließen sie den Pfad, machten von dem Schutz von Bäumen und Büschen Gebrauch und hielten auf einem kleinen Hügel an, dessen trockener Boden den Standplatz einiger alter Bäume bildete. Hier ging das Bild der Ruhenden im Spiel von Licht und Schatten verloren. Es war unwahrscheinlich, daß sie von der Straße entdeckt werden könnten; und doch waren sie ihr so nahe, daß die ahnungslosen Fußgänger den verstärkt und befremdlich äußerlichen Eindruck hervorriefen, der jedesmal entsteht, wenn man die Beweglichkeit des Lebens betrachtet, ohne sie mitzumachen. Arm wie Alltagsdinge, ja ärmer als diese, wie flache Scheiben, Signalscheiben, von denen in der Hast keine Signale kamen, wirkten die Gesichter. Und wenn plötzlich Worte herübergetragen wurden, so waren sie abgerissen, und der Sinn war nicht zu verstehen; aber dafür hatten sie einen verstärkten Klang, wie ihn unbewohnte Räume haben. Die beiden Beobachter brauchten nun auch nicht lange darauf zu warten, daß ein oder der andere Mensch ihrem Halbversteck noch näher komme. Bald hielt einer an und musterte fassungslos das viele Grün, das sich unerwartet an seinem Wege auftat; bald fühlte sich ein anderer von der günstigen Gelegenheit dazu angehalten, etwas für einen Augenblick aus der Hand und auf den Steinsockel der Einfriedung zu legen, oder den Fuß aufzustemmen und das Schuhband zu knüpfen; bald blieben zwei Menschen in dem kurzen, von den Zwischenpfeilern auf den Weg fallenden Schatten im Gespräch stehen, während hinter ihnen die anderen vorbeiströmten. Je zufälliger alles das im einzelnen zu geschehen schien, umso deutlicher hob sich von der Verschiedenheit und dem vermeintlichen Reichtum dieser mannigfachen Handlungen mit der Zeit die sich gleichbleibende und unbewußt und fallenartig festhaltende Wirkung des Gitters ab. Es zeigte fast höhnisch die Eintönigkeit hinter dem bunten Gewirke des Tuns und seiner Gefühle.

Das Gitter war aber auch noch in anderer Weise ein Sinnbild: es trennte und verband. Die Geschwister hatten diese Bedeutung schon in den Tagen entdeckt, wo sie in unsicherem Eifer durch die Straßen gewandelt waren, angezogen davon, daß all jenes Hinbeugen, aber nicht Hingelangen des Menschen zur inneren Seligkeit wie denn auch des einen Menschen zum ändern, und zumal das des Liebenden zu dem, woran er innigst teilnehmen möchte; daß alles Spiel von Gut und Bös, von Innigkeit und Feindseligkeit, von höherem Sinn und Roheit, dessen nutzlosen Kreislauf sie an sich selbst und am Leben der ändern beobachteten, um nichts mehr wäre als die Freiheit, die ein vergittertes Fenster gewährt. Das meiste von dem, was Agathe und Ulrich damals gesprochen hatten, nahm sich freilich heute recht überholt, ja kindlich-zeitverschwenderisch aus; aber der Name, den sie in jenem Zustand dem Gitter dank seiner Sinnbildlichkeit gegeben hatten, und damit dem ganzen Platz, worauf sie sich befanden, wegen der Vorzüge seiner Lage, «die Ungetrennten und Nichtvereinten», dieser Name hatte seither für sie an Inhalt nur noch gewonnen, denn ungetrennt und nichtvereint waren sie selbst und glaubten in ihrer Ahnung zu erkennen, daß auch alles andere in der Welt ungetrennt und nicht vereint wäre. Es ist eine vernünftig verzichtende Wahrheit, und trotzdem eine der seltsamsten, obwohl noch dazu eine der allgemeinsten, daß die Welt, wie sie ist, allenthalben eine Welt durchscheinen läßt, die sein hätte können oder werden hätte sollen; so daß alles aus ihrem Treiben Hervorgehende mit Forderungen vermischt ist, die nur in einer anderen Welt verständlich wären. Vor den Augen der Geschwister war das, was sich in den Seelen des einzelnen wie auch in der Allgemeinheit mischt, aber entzwei gesprungen: der stille Ausgleich zwischen der Höhe der guten und der Tiefe der bösen Leidenschaft; die vermittelnden Ideen; endlich auch in ihnen selbst die natürliche Abwägung von Leidenschaft und Enthaltung. Es war wohl ihr Schicksal, daß sie jenes ekstatische Leben, dessen Spiegel zerbrochen unter dem gewöhnlichen hervorblickt, für ebenso wirklich halten sollten wie dieses, und darum empfanden sie auch nicht Hochmut gegen das gewöhnliche Leben - so sehr sie sich immer von ihm absonderten -, und daß sie das grobe Sinnbild des Gartengitters aufsuchten, geschah mit dem Wunsch, sich selbst angesichts der Menschen halb ernst und halb scherzhaft noch einmal auf die Probe zu stellen.

Agathe legte ihre Hand, deren leichte, trockene Wärme wie aus feinster Wolle war, auf Ulrichs Kopf, wandte den in die Richtung der Straße, ließ die Hand auf der Schulter ruhen und kitzelte das Ohr ihres Bruders mit den Worten: «Nun wollen wir unsere Nächstenliebe prüfen. Wie wäre es, wenn wir einen von diesen zu lieben versuchten wie uns selbst?»

«Ich liebe mich nicht selbst!» widersprach Ulrich.

«Dann ist es wenig schmeichelhaft, was Du mitunter sagst, daß ich deine in eine Frau verwandelte Selbstliebe sei!»

«Oh, nicht doch! du bist meine andere Selbstliebe, die gute!»

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«Erklären!» befahl Agathe und sah nicht auf.

«Ein guter Mensch hat liebenswerte Fehler, und an einem bösen sind sogar die Tugenden schlecht. So wird der eine auch eine gute Selbstliebe haben und der andere eine schlechte. »

«Ich glaube es, aber es bleibt mir dunkel. »

«Und rührt doch von einem der größten Denker her, von dem das Christentum viel gelernt hat, nur leider gerade das nicht! Ein halbes Jahrtausend vor Christus hat er gelehrt, wer nicht die rechte Selbstliebe habe, habe auch keine gute Liebe zu andern!»

«Das macht es nicht viel klarer!»

«Drehe einmal den Satz um» schlug Ulrich vor. «Denke nicht, wer gut sei, müsse unter anderm auch mit der Selbstliebe im Lot sein, und das heißt dann, gewöhnlich bloß maßvoll; sondern sage, wer die rechte Selbstliebe habe, sei gut! Dann steht der Satz auf den Füßen. Aufrecht und gerade, ist er jetzt die Behauptung, wer sich nicht selbst liebe, könne nicht gut sein, eine Botschaft, die ziemlich das Gegenteil von Christentum ist! Denn nicht, wer gegen andere gut ist, gilt da als gut; sondern wer gut an sich selbst, ist es notwendig auch gegen andere. Das ist also eine schöpferische Art Selbstliebe ohne Schwäche und Unmännlichkeit, eine kriegerische Übereinstimmung von Glück und Tugend, eine Tugend in stolzem Sinn!»

«Du bist ein unausstehlicher Turnlehrer, der allmorgens kommt!» wehrte Agathe ab. «Der Hahn kräht, und man soll schon wieder losprasseln! Ich möchte jetzt schlafen!»

«Nein, du sollst mir doch helfen!»

Sie lagen, gegen den Boden gewandt, nebeneinander. Wenn sie die Köpfe hoben, sahen sie die Straße; wenn sie es nicht taten, sahen sie die vertrocknenden Abfälle des hohen Baums zwischen spitzen, jungen Gräsern. Weshalb sprachen sie von «Selbstliebe»? Vielleicht weil sie eng nebeneinander lagen und die Wärme des einen Körpers zu der des anderen kroch wie zwei Wesen, die keinen Kopf haben. Vielleicht auch gerade deshalb, weil keiner von ihnen sich selbst liebte, und sein früheres Leben, und weil sie für das, was ihnen im gewöhnlichen Sinne fehlte, ineinander Entschädigung suchten. Und vielleicht, weil es die schmerzlich selige Zwillingsfrage war, daß einer den anderen genau so lieben wollte wie sich selbst.

«Wer ist der Mann gewesen, der das gesagt hat?» fragte Agathe.

«Ach, ich weiß nicht: vielleicht Aristoteles» gab Ulrich zur Antwort und wurde schweigsam.

Nun sahen sie wieder hinaus, die Augen auf die Straße gerichtet, und die Schar der Fußgänger und Gefährte schwamm vor dem Blick vorbei, der kein bestimmtes Ziel hatte. Bei diesem Zustand des Körpers verschwammen auch die Gedanken zu großen bewegten Massen, zwischen denen sich einzelnes mehr oder minder willkürlich hervorhob.

Der Begriff der Aristotelischen Selbstliebe, der Philautia, des männlich schönen Verhältnisses zu sich selbst, das nicht Ichsucht sei, sondern Wesensliebe des niederen Seelenteils zum höheren Selbst, wie eine ursprüngliche Lesart zu verstehen gibt, dieser anscheinend sehr sittsame, in Wahrheit aber zu vielem fähige Gedanke, hatte es Ulrich seinerzeit gleich angetan, bei der ersten flüchtigen Bekanntschaft, bei der es leider auch nach den Lernjahren geblieben war. Die buchgelehrte und christliche Überlieferung hat aus dieser griechischen Selbstliebe, ihrer geistigen Leidenschaft unkundig, mehr oder minder das Wohlgefallen gemacht, womit ein Schulmeister die Schulzucht betrachten mag. Einer neurerischen Zeit - seit man wieder mehr der Leidenschaften, und vornehmlich der niederen bedächtig ist — mochte sie dem erziehlichen Verhältnis gleichzustellen sein, das zwischen dem auf glühenden Kohlen thronenden moralischen Ich und eben diesem niedrig schwelenden Bereich der Triebe bestehen soll; und auch das gefiel Ulrich nicht. Er hatte seine eigene Vermutung, und auch sie mochte leicht falsch sein; aber seit je war ihm die Verbindung des Gutseins gegen andere mit dem Gutsein gegen sich selbst — und zumal die dann auch kühnlich mögliche Beschreibung des guten Verhaltens gleich der einer Bewegung, die das Geliebte wie den Liebenden, das Gewollte wie das Wollende, kurz, das Gebende und das Empfangende von außen und innen erfaßt — als eine Gedankenverbindung vorgekommen, die nur einem Menschen hätte einfallen können, dem mystische Empfindungen nicht ganz fremd gewesen wären. Und weil es so ist, daß man festeren Boden unter den Füßen zu haben meint, wenn man die Fußstapfen eines Vorgängers erkennen kann, trennte er sich nicht alsbald von diesem Einfall, wodurch nach und nach einige Augenblicke heiter schmerzlichen Gedankenspiels, denen das Gespräch sein Entstehen verdankt hatte, einen Unterbau von Vorgeschichte erhielten, mit Einsprüchen und Unterbrechungen, die von Agathe kamen.

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«Warum denkst du an so alte Geschichten?» fragte sie anfangs, denn sie verband mit dem Namen zunächst bloß ein Mißtrauen, wie sie es gegen einen nebelgrauen, unendlich langen Bart gehabt hätte.

«Kannst du dich des Fühlens entsinnen, das uns begleitet hat, während wir im Gespräch, eingehängt ineinander, hierher gingen?» erwiderte Ulrich. «Wenn du etwas gesagt hast, war mir im nächsten Augenblick zumute, als hätte meine Stimme es ausgesprochen. Wenn sich etwas in deiner Stimme änderte, änderten sich meine Gedanken. Und wenn du etwas gefühlt hast, so kamen sicher die Folgen in meinem Gefühl zum Vorschein. »

Agathe lachte. «Ich glaube, du lügst jetzt, meine Selbstliebe! Soviel ich mich erinnere, habe ich dich manchmal nicht verstanden, und manchmal sind wir verschiedener Meinung gewesen!»

«Sonst hätte ja auch bloß Übereinstimmung zwischen uns bestanden, und vielleicht noch Empfindsamkeit!» verteidigte sich Ulrich. «Es ist aber mehr als das gewesen. Eine besondere Art der gegenseitigen Ergänzung, wie zwei Spiegel einander dasselbe Bild zuwerfen, das immer inständiger wird.

Und die Natur war genau so im Bunde wie wir selbst. »

«Und das war Philautia?» fragte Agathe auf eine Art, die ihren Unglauben an solche Erwägungen ausdrückte.

«Eben ja und nein. » Ulrich zögerte. «Es gibt da noch einen zweiten Begriff, und ich habe die beiden wohl vermengt. Der große Denklehrer hat auch den Gedanken ausgeführt, daß es Ursachen bestimmter Art gebe, die nicht wie andere in ihre Folgen übergehen, sondern die mit ihnen schon zum voraus verbunden sind, wie etwa ein Redner von dem beeinflußt wird, der ihm zuhört, also daß sie sich wechselseitig auch die ganze Zeit über beeinflussen. Eine Zielursache bestimmt die Geschehnisse, und gleichzeitig dienen diese dazu, sie zu entwickeln; und das findest du überall, wo Absichten, Wachstums-und Anpassungsvorgänge, gegenseitige Ausgestaltung, zweiseitige Wirkungen im Spiel sind, im lebendigen Geschehen also, und vornehmlich im zweckvollen und beseelten. Darum hat man zu Zeiten geglaubt, einen Gegenbegriff zu den kalten Beobachtungen der Naturwissenschaft daran zu haben, und auch heute spukt das wieder in manchen Köpfen. Aber entschuldige, daß ich dich mit solchen Erinnerungen unterhalte, die ich halb vergessen habe, und die wahrscheinlich niemals etwas ganz Fertiges und Klares bedeutet haben!»

«Wenn es dich unvermeidlich dünkt!» rief Agathe getrost aus; halb zärtliche Dulderin, halb beglaubigend, daß dann auch sie es zu verstehen hoffe.

«In die Beschreibung unseres kleinen Spaziergangs oder in die von dir und mir» fuhr Ulrich denn fort «hat sich also etwas eingemengt, das sehr unklar, aber sehr bekannt, und nichts weniger als eine Geheimlehre ist.

Aber vielleicht habe ich es auch nicht zu Unrecht eingemengt. Denn das Ursprungserlebnis ist doch wohl dieser Zustand von Ich und Du und von Mensch und Natur, daß sie sich wiegen wie auf demselben Ast; und daß ein Mystiker dabei die Beseelung der Welt zu erleben meint, der nüchtern Irrende oder Findende aber einen Grundbegriff zur Beschreibung der lebenden Natur im Gegensatz zur toten entdeckt: Das sind vielleicht nur verschiedene Auslegungen!» Er blickte zu dem Wipfel des Baums empor, der sich vor seinem Auge leise im Himmelsblau bewegte; und die Menschen vor dem Gitter strömten mit dem seltsam streifenden Geräusch eines Flusses vorbei, das vom Scheuern der Steine aus dem Schotterbett heraufdringt, wenn man sich von den Wellen tragen läßt.

«Womit wollen wir beginnen?» fragte Agathe entschlossen, nachdem sie seinem Blick gefolgt war, der wieder zur Straße ging.

«Das läßt sich wohl nicht auf Befehl tun!» mahnte Ulrich lächelnd ab.

«Nein. Aber einen Versuch könnten wir machen. Und wir werden uns ihm nach und nach anvertrauen. »

«Es muß von selbst kommen. »

«Tun wir etwas dazu!» schlug Agathe vor. «Hören wir zum Beispiel jetzt auf zu reden und überlassen wir uns ganz dem, was wir sehen!»

«Meinetwegen!» gab Ulrich zu.

Eine kleine Weile blieben sie nun still und Agathe spürte etwas, das sie an den Augenblick erinnerte, wo der weiche Zug abgefallener Baumblüten durch die Luft-geschwebt war und alles Gefühl zum Stillstand gebracht hatte. Aber ein wenig später war ihr wieder etwas anderes eingefallen. «Schließlich heißt doch, etwas auf gewöhnliche Art zu lieben, es anderem vorzuziehn?» flüsterte sie. «Also müßten wir trachten, einen von diesen in unser Gefühl einzulassen, aber gleichsam bei offen bleibender Tür!»

«Bleib still! Vor allem mußt du doch still sein!» wehrte Ulrich die Störung ab.

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Nun sahen sie wieder eine Weile hinaus.

«Es gelingt ja doch nicht!» beklagte sich Agathe leise, stützte sich auf den Ellbogen und sah ihren Bruder zweifelnd an «Eigentlich sind wir schreckliche Nichtstuer!»

Ulrich lachte: «Du vergißt, daß auch die Seligkeit keine Arbeit ist!»

«Laß uns etwas Gutes tun!» schlug sie unvermittelt vor. «Am Gitter wird sich schon ein Anlaß finden!»

«Dazu muß man selbst gut sein. Sonst erfährst du gar nicht, was gut ist! Darum habe ich wohl von der Philautia gesprochen; jetzt verstehe ich es. »

Agathe antwortete mit bitterer Heiterkeit: «Ein bequemer Grundsatz! Wenn man gut ist, ist alles gut, was man tut und läßt. »

«Vielleicht» sagte Ulrich und fuhr mit der Mischung von Ernst und Unernst fort, die gewöhnlich dem leeren Verstandesgeschick zur Last gelegt wird, in Wahrheit aber von dem Hinundherstrahlen der Gefühle hervorgerufen wird: «Ein guter Mann kann auch töten. Er darf sich jedenfalls verteidigen. Ein tiefer und im Grunde glücklicher Ernst, der das Gegenteil der kämpfenden Roheit ist, wird auch in seine Feindseligkeit mehr Seligkeit als Feindlichkeit legen!»

«Das glaubst du aber doch selbst nicht, daß man ohne Roheit kämpfen kann!» rief Agathe aus.

«Oh, Gott nein!» bestätigte Ulrich auch das. «Bei einem Manne unserer Zeit, wie auch ich einer bin, ist die Todesverachtung ja doch nur Lebensverachtung, im Grunde also Selbstverachtung. Wir schätzen eher noch den Tod als das Glück — »

«Willst du also gar nichts tun?» unterbrach Agathe diese Meditation.

Ulrich lachte. Er war gereizt. Sollte er bekennen, daß ihm in diesem Augenblick neben seiner Schwester Männerstreit und Tapferkeit noch einmal beneidenswert und als das einzige männliche Glück vorkamen, und bloß wegen der bittersüßen Erfahrung, wie feig und unentschlossen jedes andere Glück mache.

Nun verstand Agathe den Scherz nicht mehr. «Ist alles das dein Ernst?» fragte sie.

«Es ist der Schatten meines Ernstes!»

Aber sie stand trotzdem auf und leistete Widerstand.

58 Die Sonne scheint auf Gerechte und Ungerechte

[Aus einem frühen Entwurf zu: Sonderaufgabe eines Gartengitters]

Agathe leistete nun ernsthaft Widerstand: «Wir haben doch keine Untersuchung abzuschließen, sondern, wenn du den Ausdruck gestattest, unser Herz zu öffnen» verlangte sie mit einiger spöttischer Schärfe. «Und auch womit man anzufangen hätte, ist seit einiger Zeit nicht mehr neu, nämlich schon seit dem Evangelium nicht! Schließe Haß, Widerstand, Hader von dir aus; glaube einfach nicht daran, daß es sie gebe! Tadle nicht, zürne nicht, mache nicht verantwortlich, wehre dich gegen nichts! Kämpfe nicht mehr; formuliere (denke) und feilsche nicht; vergiß und verlerne zu verneinen!

Fülle so jeden Spalt, jede Ritze zwischen dir und ihnen aus; liebe, fürchte, bitte und gehe mit ihnen; und nimm alles, was in Zeit und Raum geschieht, was kommt und geht, was schön ist und was stört, nicht als das Wirkliche, sondern als ein Wort und Gleichnis des Herrn. So hätten wir ihnen zu begegnen!»

Wie es gewöhnlich geschah, hatte sich ihr Gesicht während dieser langen und leidenschaftlichen und ungewohnt entschiedenen Rede tiefer gefärbt. «Vortrefflich! Jedes Wort Buchstabe in einer großen Schrift!» rief Ulrich anerkennend aus. «Und auch wir werden uns Mut einflößen müssen. Aber solchen Mut?

Wäre es ganz dein Wille?»

Agathe überwand ihren Eifer und verneinte stumm und ehrlich. «Nicht ganz!» fügte sie, damit sie es auch nicht zu sehr verleugne, erläuternd hinzu.

«Es ist die Lehre dessen, der uns geraten hat, die linke Backe hinzuhalten, wenn wir einen Streich auf die rechte empfangen haben. Und das ist wohl die sanfteste Ausschreitung, die es je gegeben hat» fuhr Ulrich nachdenklich fort. «Aber verkenne eines nicht, daß auch diese Botschaft in der Ausübung eine psychologische Praktik ist! Ein bestimmtes Lebensverhalten und eine bestimmte Gruppe von Ideen und Gefühlen gehören da zusammen und stützen sich gegenseitig. Ich meine, alles, was an uns leidend, erleidend, zart, empfindsam, hegend und Hingabe, kurz Liebe ist. Und von da ist ein so weiter Abstand zu allem übrigen und vornehmlich zu dem, was hart, angreifend und tätig-lebensgestaltend ist, daß diese anderen Gefühle und Ideen und die bitteren Notwendigkeiten ganz dem Blick entschwinden. Das heißt 640

nicht, daß sie aus der Wirklichkeit weichen, sondern bloß, daß man ihnen nicht zürnt, daß man sie nicht verneint und daß man es verlernt, von ihnen zu wissen; es ist also wie ein Dach, unter das der Wind greifen kann und das niemals lange stehen wird —»

«Man glaubt eben an die Güte! Es ist Glauben! Das vergißt du!» warf Agathe ein.

«Nein, das vergesse ich nicht, aber dazu ist es erst später gekommen - - - Die Lehre vom Reich, das am Ende aller Tage kommen wird, statt von der Seligkeit, die der Menschensohn schon auf Erden gelebt hat, möchte etwas vor den Händen haben!»

«Es ist eine Verheißung gewesen. Warum machst du es schlecht! Ist es denn nichts wert, an etwas nicht bloß mit ganzer Seele glauben zu können, sondern mit Haut, und Haaren, mit Sonnenschirm und Kleidern?»

«Aber der Atem der Verkündigung ist eben nicht Verheißung und Glauben, sondern Ahnung gewesen! Ein Zustand, worin man Gleichnisse liebt! Ein kühnerer Zustand als Glaube! Und ich bin nicht der erste, der das bemerkt. Als wahrhaft wirklich hat dem Heilbringer nur das Erlebnis dieser ahnenden Gleichnisse von froher Widerstandslosigkeit und Liebe gegolten; der hochnotpeinliche Rest, den wir Wirklichkeit nennen, das natürliche, vierschrötige, gefährliche Leben hat sich in seiner Seele bloß ganz entstofflicht wie ein Bilderrätsel gespiegelt. Und, bei Jehova und Jupiter! das setzt, erstens, die Zivilisation voraus, denn niemand ist so arm, daß sich nicht ein Räuber finden ließe, der ihn erschlägt; und eine Wüste setzt es voraus, in der es wohl böse Geister gibt, aber keine Löwen. Zweitens ist trotzdem diese Hohe und Frohe Botschaft anscheinend ziemlich in Unkenntnis aller gleichzeitigen Zivilisation entstanden. Sie ist fern der Tausendfältigkeit der Kultur und des Geistes, fern den Zweifeln, aber auch der Wahl, fern der Krankheit, aber auch fast allen Erfindungen zu ihrer Bekämpfung; kurz gesagt, ist sie fern allen Schwächen, aber auch allen Vorzügen des menschlichen Wissens und Könnens, das doch zu ihrer Zeit gar nicht gering gewesen ist.

Und nebenbei bemerkt, hat sie darum auch etwas einfache Begriffe von Gut und Böse, Schön und Häßlich.

Nun, in dem Augenblick, wo du solchen Einwänden und Bedingungen Platz einräumst, wirst du dich auch mit meinem weniger einfachen Verfahren begnügen müssen! -»

Agathe widersprach trotzdem. «Du vergißt eines, » wiederholte sie «daß diese Lehre den Anspruch erhebt, von Gott zu kommen; und dann ist alles Verwickeitere, was von ihr abweicht, eben falsch oder gleichgültig!»

«Still!» bat Ulrich und legte den Finger an den Mund. «Du kannst doch nicht so störrisch handgreiflich von Gott reuen, als ob er dort hinter dem Busch säße wie im Jahre Hundert!»

«Meinetwegen, ich kann es nicht» gab Agathe zu. «Aber laß dir auch etwas sagen! Du bist doch selbst bereit, wenn du dir die Seligkeit auf Erden ausdenkst, auf Wissenschaft, Kunstrichtungen, Komfort und alle Heutlerei zu verzichten. Und warum nimmst du es dann anderen so übel?»

«Da hast du gewiß recht» räumte nun Ulrich ein. Ein trockenes Reis war ihm zwischen die Finger geraten, und er stocherte damit nachdenklich im Boden. Sie waren von ihrem Platz ein wenig zurückgeglitten, so daß wieder nur die Köpfe über den Rand des Hügels sahen, und auch das geschah bloß, wenn sie sie hoben.

Wie zwei Schützen lagen sie nebeneinander auf dem Bauch, die vergessen haben, worauf sie lauern; und Agathe schlang nun, von der Nachgiebigkeit ihres Bruders gerührt, den Arm um seinen Nacken und machte auch ein Zugeständnis. «Sieh, was tut sie?» rief sie aus und wies mit der Fingerspitze neben sein Ästlein auf eine Ameise, die dort eine andere überfallen hatte.

«Sie tötet» versicherte Ulrich kalt.

«Verhindere es!» bat Agathe und erhob ein Bein vor Aufregung gegen den Himmel, so daß es auf dem Knie kopfstand.

Ulrich schlug vor: «Versuche es doch als Gleichnis aufzunehmen. Du brauchst ihm in Eile nicht einmal eine besondere Bedeutung geben zu können, nimm ihm bloß die seine! Dann wird es wie ein herber Lufthauch oder der Schwefelgeruch faulenden Laubes im Herbst: irgendein verdunstender Tropfen Schwermut, der die Auflösungsbereitschaft der Seele erzittern macht. Ich könnte mir denken, daß man damit sogar über seinen eigenen Tod freundlich hinwegkäme, aber freilich nur, weil man bloß einmal stirbt und es dann besonders wichtig nimmt; denn vor dem dauernden kleinen Durcheinander der Natur und ihrer Mißhelligkeiten ist der Verstand der Heiligen und Helden ziemlich ruhmlos!»

Agathe hatte ihm, während er so sprach, das Hölzchen aus den Fingern genommen und damit die angegriffene Ameise zu retten versucht, mit dem Erfolg, daß sie beide beinahe zerquetschte, aber 641

schließlich auseinanderbrachte. Nun krochen sie in verminderter Lebendigkeit neuen Abenteuern entgegen.

«Hat es Sinn gehabt?» fragte Ulrich.

«Ich verstehe, daß du damit sagen willst, was wir am Gitter versucht hätten, sei gegen Natur und Verstand gewesen» gab Agathe zur Antwort.

«Warum sollte ich es nicht sagen!» meinte Ulrich. «Immerhin habe ich zu deiner Überraschung sagen wollen, die Herrlichkeit Gottes zuckt nicht mit der Wimper, wenn Unheil geschieht. Vielleicht auch: das Leben schluckt Leichen und Unrat, ohne daß sich sein Lächeln trübt. Und sicher dies: der Mensch ist reizend, solange man keine moralischen Anforderungen an ihn stellt… » Ulrich dehnte sich verantwortungslos in der Sonne. Denn sie brauchten ihre Stellung bloß ein wenig zu verändern, und nicht einmal aufzustehen, so verschwand die Welt, die sie belauscht hatten, und wurde von einer großen, von säuselndem Gebüsch begrenzten Wiese ersetzt, die sich in sanftem Abfall bis zu ihrem schönen, alten Hause erstreckte und im vollen Sommerlicht dalag. Sie hatten die Ameisen aufgegeben und brieten sich an den Spitzen der Sonnenstrahlen, halb bewußtlos davon und von einem kühlenden Wind zeitweilig begossen.

«Die Sonne scheint auf Gerechte und Ungerechte!» sprach Ulrich in friedfertigem Spott den Segen darüber.

«<Liebet eure Feinde, denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten> heißt es»

widersprach ihm Agathe so leise, als vertraue sie es bloß der Luft an.

«Wirklich? Wie ich es sage, wäre es wunderbar natürlich!»

«Aber du sagst es falsch. »

«Bist du sicher? Wo steht es überhaupt?»

«In der Bibel natürlich. Ich werde im Hause nachschlagen! Ich will dir wohl einmal zeigen, daß ich auch recht haben kann!»

Er wollte sie zurückhalten, aber da stand sie schon neben ihm und eilte davon. Ulrich schloß die Augen, dann öffnete und schloß er sie wieder. Die Einsamkeit ohne Agathe war von allem verlassen; als wäre er selbst nicht darin. Dann kehrten die Schritte wieder. Große Schallstapfen in der Stille wie in weichem Schnee. Dann stellte sich das unbeschreibliche Gefühl der Nähe ein und zuletzt füllte sich die Nähe mit einem fröhlichen Lachen, das die Worte einleitete: «Es heißt: <Liebet eure Feinde, denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte>!»

«Und wo kommt es vor?»

«Nirgendwo als in der Bergpredigt, die du so gut zu kennen scheinst, mein Lieber. »