«Sie wissen noch immer nicht, warum Arnheim hier ist? Er ist ein intimer Freund von Fürst Mosjoutoff und Persona grata beim Zaren. Steht in Verbindung mit Rußland und soll die hiesige Aktion pazifistisch beeinflussen. Alles inoffiziell, sozusagen private Initiative der russischen Majestät. Ideologische Angelegenheit. Etwas für Sie, mein Freund!» schloß er spöttisch; «Leinsdorf hat keine Ahnung davon!»

Sektionschef Tuzzi hatte diese Nachricht durch seinen amtlichen Apparat erfahren. Er glaubte sie, weil er Pazifismus für eine Bewegung hielt, die gut zu der Gesinnung einer schönen Frau paßte und es erklärte, daß Diotima von Arnheim entflammt war und Arnheim sich mehr in seinem Hause aufhielt als anderswo. Er war vorher nahe daran gewesen, eifersüchtig zu werden. Er hielt «geistige» Neigungen nur bis zu einem gewissen Grad für möglich, aber es widerstrebte ihm, listige Mittel anzuwenden, um herauszubekommen, ob dieser Grad noch gewahrt sei, darum hatte er sich gezwungen, seiner Frau zu vertrauen; aber wenn sich darin das Gefühl für eine männlich-vorbildliche Haltung auch stärker erwies als die Geschlechtsgefühle, so erregten diese immerhin noch genug Eifersucht in ihm, um ihm zum erstenmal klarzumachen, daß ein 321

Mann mit Beruf niemals die Zeit hat, seine Frau zu überwachen, wenn er die Aufgaben seines Lebens nicht vernachlässigen will. Er sagte sich zwar, wenn schon ein Lokomotivführer keine Frau auf der Maschine haben dürfe, so dürfe noch viel weniger ein Mann, der ein Reich lenkt, eifersüchtig sein, aber die edle Unwissenheit, in der er auf diese Weise verblieb, paßte wieder nicht zur Diplomatie und raubte Tuzzi etwas von seiner beruflichen Sicherheit. Darum fand er sein volles Selbstvertrauen mit großer Dankbarkeit wieder, als sich alles, was ihn beunruhigte, harmlos aufzuklären schien. Nun kam es ihm sogar wie eine kleine Strafe für seine Frau vor, daß er alles von Arnheim schon wußte, während sie noch nichts als den Menschen in diesem sah und nicht ahnte, daß er ein Sendling des Zaren sei; Tuzzi bat sie wieder mit großem Vergnügen um kleine Aufklärungen, die sie gnädig-ungeduldig übernahm, und er hatte sich eine ganze Reihe von scheinbar harmlosen Fragen ausgedacht, aus deren Beantwortung er seine Schlüsse ziehen wollte. Gerne würde der Gatte auch dem «Vetter» einiges davon erzählt haben und erwog gerade, wie er es tun könne, ohne seine eigene Frau bloßzustellen, als Graf Leinsdorf die Leitung des Gesprächs wieder in die Hand nahm. Er war als einziger sitzen geblieben, und niemand hatte beobachtet, was in ihm vorgegangen war, seit sich die Schwierigkeiten gehäuft hatten. Sein Kämpferwille schien sich aber gesammelt zu haben, er drehte seinen Wallensteinbart und sagte langsam und fest: «Es muß etwas geschehn!»

«Erlaucht haben einen Beschluß gefaßt?» fragte man ihn.

«Es ist mir nichts eingefallen» erwiderte er schlicht; «aber trotzdem muß etwas geschehn!» Und saß da wie ein Mann, der sich nicht wegrühren wird, ehe sein Wille erfüllt ist.

Es ging eine Kraft davon aus, so daß jeder die leere Anstrengung, etwas zu finden, in sich schlottern fühlte wie einen Pfennig, der sich in der Sparbüchse verloren hat und trotz allen Schütteins nicht aus dem Schlitz heraus will.

Arnheim sagte: «Ach, man darf sich doch nicht nach solchen Vorkommnissen richten!»

Leinsdorf antwortete nicht.

Es wurde noch einmal die ganze Geschichte der Vorschläge wiederholt, die der Parallelaktion einen Inhalt hätten geben sollen.

Graf Leinsdorf antwortete darauf wie ein Pendel, das jedesmal eine andere Lage hat und immer wieder den gleichen Weg zurücklegt: «Das erlaubt die Rücksicht auf die Kirche nicht. Das erlaubt die Rücksicht auf die Freidenker nicht. Dagegen hat sich der Zentralverein der Architekten gewehrt. Dagegen hat das Finanzministerium Bedenken. »Es ging ohne Ende in der gleichen Weise weiter.

Ulrich, der sich nicht daran beteiligte, fand sich in einem Zustand, als ob die fünf Personen, die da sprachen, soeben aus einer flüssigen Trübung herauskristallisiert wären, die seine Sinne seit Monaten umfangen gehalten hatte. Was sollte es heißen, daß er zu Diotima gesagt hatte, man müsse sich der Unwirklichkeit bemächtigen, oder ein andermal, man solle die Wirklichkeit abschaffen?! Da saß sie nun, hatte solche Sätze in der Erinnerung und mochte allerhand von ihm denken. Und wie war er dazu gekommen, ihr zu erzählen, daß man wie eine Figur auf einer Buchseite leben sollte? Er nahm an, daß sie das längst schon Arnheim weitererzählt haben werde!

Er nahm aber auch an, daß er so gut wie jeder andere Mensch wisse, wieviel Uhr es sei oder was ein Regenschirm koste! Wenn er trotzdem in diesem Augenblick seinen Standpunkt zwischen sich und den anderen hatte, gleich weit von da und dort, so war dies nicht in die Form einer Wunderlichkeit gekleidet, wie sie ein gedämpfter und abwesender Bewußtseinszustand mit sich bringen mag, sondern er empfand im Gegenteil wieder jene in sein Leben eindringende Helle, die er schon zuvor in Bonadeas Gegenwart wahrgenommen hatte. Er erinnerte sich, wie er, vor gar nicht langer Zeit, im Herbst mit Tuzzis auf der Rennbahn gewesen war, als es einen Zwischenfall mit großen verdächtigen Wettverlusten gab und aus friedlichen Zuschauermassen im Nu eine See wurde, die in den Platz flutete und nicht nur alles, was in ihrem Bereich war, zerstörte, sondern auch die Kassen plünderte, ehe sie sich unter dem Einfluß der Polizei wieder zu einer Versammlung von Menschen zurückbildete, die einem harmlosen und gewohnten Vergnügen beiwohnen wollen. Angesichts solcher Geschehnisse war es lächerlich, an Gleichnisse und verschwimmende Grenzformen zu denken, die möglicher-oder auch unmöglicherweise das Leben annehmen könnte. Ulrich fühlte ein unbeschädigtes Verständnis dafür in sich, daß das Leben ein derber und notvoller Zustand sei, worin man nicht zu viel an das Morgen denken dürfe, weil man genug Mühe mit dem Heute hat. Wie könnte man übersehen, daß die Menschenwelt nichts Schwebendes ist, sondern nach ge322

drungenster Festigkeit verlangt, weil sie bei jeder Unregelmäßigkeit fürchten muß, gleich ganz aus den Fugen zu gehn! Ja noch mehr, wie könnte ein guter Beobachter nicht anerkennen, daß dieses Lebensgemisch von Sorgen, Trieben und Ideen, das die Ideen höchstens zu seiner Rechtfertigung mißbraucht oder als Reizmittel benützt, gerade so wie es ist, formend und bindend auf sie wirkt, die ihre natürliche Bewegung und Begrenzung davon erhalten! Man preßt wohl den Wein aus den Trauben, aber wieviel schöner, als es ein Teich voll Wein wäre, ist der Weinberg mitsamt seiner ungenießbaren, rohen Erde und seinen unübersehbar flimmernden Pflockreihen aus totem Holz! «Mit einem Wort, die Schöpfung» dachte er «ist nicht einer Theorie zuliebe entstanden, sondern» und er wollte sagen aus Gewalt, doch da sprang ein anderes Wort ein, als er erwartet hatte, und sein Gedanke ging so zu Ende: «sondern sie entsteht aus Gewalt und Liebe, und die übliche Verbindung zwischen diesen beiden ist falsch!»

In diesem Augenblick waren Gewalt und Liebe für Ulrich wieder nicht ganz die gewöhnlichen Begriffe.

Alles, was er an Neigung zum Bösen und Harten besaß, lag in dem Wort Gewalt, es bedeutete den Ausfluß jedes ungläubigen, sachlichen und wachen Verhaltens; hatte doch eine gewisse harte, kalte Gewalttätigkeit auch bis in seine Berufsneigungen hineingespielt, so daß er vielleicht nicht ganz ohne eine Absicht auf das Grausame Mathematiker geworden war. Das hing zusammen wie das Dickicht eines Baums, das den Stamm selbst verdeckt. Und wenn man von Liebe nicht bloß im üblichen Sinn spricht, sondern sich bei ihrem Namen nach einem Zustand sehnt, der bis in die Atome des Körpers anders ist als der Zustand der Liebesarmut; oder wenn man fühlt, daß man ebensogut jede Eigenschaft an sich hat wie keine; oder wenn man unter dem Eindruck steht, daß nur Seinesgleichen geschieht, weil das Leben - zum Platzen voll Einbildungauf sein Hier und Jetzt, letzten Endes aber ein sehr Ungewisser, ja ausgesprochen unwirklicher Zustand! — sich in die paar Dutzend Kuchenformen stürzt, aus denen die Wirklichkeit besteht; oder daß an allen Kreisen, in denen wir uns drehen, ein Stück fehlt; daß von allen Systemen, die wir errichtet haben, keines das Geheimnis der Ruhe besitzt: so hängt auch das, so verschieden es aussieht, zusammen wie die Äste eines Baums, die nach allen Seiten den Stamm verbergen.

In diesen beiden Bäumen wuchs getrennt sein Leben. Er konnte nicht sagen, wann es in das Zeichen des Baums des harten Gewirrs getreten war, aber früh war das geschehen, denn schon seine unreifen napoleonischen Pläne zeigten den Mann, der das Leben als eine Aufgabe für seine Tätigkeit und Sendung ansah. Dieser Drang zum Angriff auf das Leben und zur Herrschaft darüber war jederzeit deutlich zu bemerken gewesen, mochte er sich als Ablehnung bestehender oder als wechselndes Streben nach neuer Ordnung, als logisches, als moralisches oder sogar bloß als das Verlangen nach athletischer Vorbereitung des Körpers dargestellt haben. Und alles, was Ulrich im Lauf der Zeit Essayismus und Möglichkeitssinn und phantastische, im Gegensatz zur pedantischen Genauigkeit genannt hatte, die Forderungen, daß man Geschichte erfinden müßte, daß man Ideen-, statt Weltgeschichte leben sollte, daß man sich dessen, was sich nie ganz verwirklichen läßt, zu bemächtigen und am Ende vielleicht so zu leben hätte, als wäre man kein Mensch, sondern bloß eine Gestalt in einem Buch, von der alles Unwesentliche fortgelassen ist, damit sich das übrige magisch zusammenschließe, - alle diese, in ihrer ungewöhnlichen Zuspitzung wirklichkeitsfeindlichen Fassungen, die seine Gedanken angenommen hatten, besaßen das Gemeinsame, daß sie auf die Wirklichkeit mit einer unverkennbaren schonunglosen Leidenschaftlichkeit einwirken wollten.

Schwieriger zu erkennen, weil schatten-und traumhafter, waren die Zusammenhänge im anderen Baum, in dessen Bild sich sein Leben darstellte. Ursprüngliche Erinnerung an ein kindhaftes Verhältnis zur Welt, an Vertrauen und Hingabe mochten den Grund bilden; in der Ahnung, einmal als weite Erde gesehen zu haben, was sonst nur den Topf füllt, aus dem die kümmerlichen Gewächse der Moral sprießen, hatte das weitergelebt. Ohne Zweifel bildete jene leider etwas lächerliche Geschichte mit der Frau Major den einzigen Versuch zu voller Ausbildung, der auf der sanften Schattenseite seines Wesens entstanden war, und bezeichnete zugleich den Beginn eines Rückschlags, der nicht mehr endete. Blätter und Zweige des Baums trieben seither auf der Oberfläche umher, aber dieser selbst blieb verschwunden, und es ließ sich nur an solchen Zeichen erkennen, daß er doch noch vorhanden war. Am deutlichsten hatte sich diese untätige Hälfte seines Wesens vielleicht in der unwillkürlichen Überzeugung von der bloß vorläufigen Nützlichkeit der tätigen und rührigen Hälfte ausgeprägt, den sie wie einen Schatten auf diese warf. Bei allem, was er unternahm - körperliche Leidenschaften ebenso darunter verstanden wie geistige -, war er sich schließlich wie der Gefangene von Vorbereitungen vorgekommen, die nicht zu ihrem eigentlichen Ende kamen, und 323

im Verlauf der Jahre war seinem Leben darüber das Gefühl der Notwendigkeit ausgegangen wie das öl in einer Lampe. Seine Entwicklung hatte sich offenbar in zwei Bahnen zerlegt, eine am Tag liegende und eine dunkel abgesperrte, und der ihn umlagernde Zustand eines moralischen Stillstands, der ihn seit langem und vielleicht mehr als nötig bedrückt hatte, konnte von nichts anderem als davon kommen, daß es ihm niemals gelungen war, diese beiden Bahnen zu vereinen.

Nun erkannte Ulrich, in der Erinnerung daran, daß sich ihm ihre unmögliche Verbindung zuletzt in dem gespannten Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit, Gleichnis und Wahrheit dargestellt hatte, mit einemmal, daß alles das bei weitem mehr bedeutete als nur eine zufällige Eingebung in einem der wie ziellose Wege verschlungenen Gespräche, die er in der letzten Zeit mit den unpassendsten Personen geführt hatte. Denn so weit die menschliche Geschichte zurückreicht, lassen sich diese beiden Grundverhaltensweisen des Gleichnisses und der Eindeutigkeit unterscheiden. Eindeutigkeit ist das Gesetz des wachen Denkens und Handelns, das ebenso in einem zwingenden Schluß der Logik wie in dem Gehirn eines Erpressers waltet, der sein Opfer Schritt um Schritt vor sich her drängt, und sie entspringt der Notdurft des Lebens, die zum Untergang führen würde, wenn sich die Verhältnisse nicht eindeutig gestalten ließen.

Das Gleichnis dagegen ist die Verbindung der Vorstellungen, die im Traum herrscht, es ist die gleitende Logik der Seele, der die Verwandtschaft der Dinge in den Ahnungen der Kunst und Religion entspricht; aber auch was es an gewöhnlicher Neigung und Abneigung, Übereinstimmung und Ablehnung, Bewunderung, Unterordnung, Führerschaft, Nachahmung und ihren Gegenerscheinungen im Leben gibt, diese vielfältigen Beziehungen des Menschen zu sich und der Natur, die noch nicht rein sachlich sind und es vielleicht auch nie sein werden, lassen sich nicht anders begreifen als in Gleichnissen. Ohne Zweifel ist das, was man die höhere Humanität nennt, nichts als ein Versuch, diese beiden großen Lebenshälften des Gleichnisses und der Wahrheit miteinander zu verschmelzen, indem man sie zuvor vorsichtig trennt. Hat man aber an einem Gleichnis alles, was vielleicht wahr sein könnte, von dem getrennt, was nur Schaum ist, so hat man gewöhnlich ein wenig Wahrheit gewonnen und den ganzen Wert des Gleichnisses zerstört; diese Trennung mag darum in der geistigen Entwicklung unvermeidlich gewesen sein, doch hatte sie die gleiche Wirkung wie das Einkochen und Eindicken eines Stoffes, dessen innerste Kräfte und Geister sich während dieses Vorgangs als Dampfwolke davonmachen. Es läßt sich heute manchmal nicht der Eindruck abweisen, daß die Begriffe und Regeln des moralischen Lebens nur ausgekochte Gleichnisse sind, um die ein unerträglich fetter Küchendampf von Humanität wallt, und wenn hier eine Abschweifung erlaubt ist, so kann es nur die sein, daß dieser undeutlich über alles ausgebreitete Eindruck auch das zur Folge hatte, was die Gegenwart ehrlich ihre Verehrung des Gemeinen nennen sollte. Denn man lügt heute weniger aus Schwäche als aus der Überzeugung, daß ein Mann, der das Leben meistert, lügen können muß. Man ist gewalttätig, weil die Eindeutigkeit der Gewalt nach langem ergebnislosen Reden wie eine Erlösung wirkt.

Man vereinigt sich zu Gruppen, weil Gehorsam alles das zu tun erlaubt, was man aus eigener Überzeugung längst nicht mehr vermöchte, und die Feindseligkeit dieser Gruppen schenkt den Menschen die nimmer ruhende Gegenseitigkeit der Blutrache, während die Liebe sehr bald zum Einschlafen käme. Das hat mit der Frage, ob die Menschen gut oder böse seien, weit weniger zu tun als damit, daß sie die Verbindung von Höhe und Niederung verloren haben. Und nur eine widerspruchsvolle andere Folge dieses Auseinanderfallens ist auch der überladene geistige Schmuck, mit dem sich das Mißtrauen gegen den Geist heute behängt. Die Kuppelung von Weltanschauung mit Tätigkeiten, die nur wenig von ihr vertragen, wie die Politik; die allgemeine Sucht, aus jedem Gesichtspunkt gleich einen Standpunkt zu machen und jeden Standpunkt für einen Gesichtspunkt zu halten; das Bedürfnis von Eiferern jeder Abschattung, die eine Erkenntnis, die ihnen zuteil geworden ist, rundum wie in einem Spiegelkabinett zu wiederholen: alle diese so landläufigen Erscheinungen bedeuten nicht, was sie sein möchten, ein Streben nach Humanität, sondern deren Ausfall. Im ganzen entsteht so der Eindruck, daß aus allen menschlichen Beziehungen erst wieder die falsch darin sitzende Seele völlig entfernt werden müßte; und in dem Augenblick, wo Ulrich dies dachte, fühlte er, daß sein Leben, wenn es überhaupt Sinn besaß, keinen anderen hatte als diesen, daß sich die beiden Grundsphären der Menschlichkeit darin selbst zerlegt zeigten und einander in der Wirkung entgegenstanden. Solche Menschen werden offenbar heute geboren, aber sie bleiben noch allein, und allein war er nicht imstande, das Auseinandergefallene von neuem zusammenzubringen. Er gab sich keiner Täuschung über den Wert seiner Gedankenexperimente hin; wohl mochten sie niemals ohne Folgerichtigkeit Gedanke an Gedanke fügen, aber es geschah doch so, als würde Leiter auf Leiter gestellt, 324

und die Spitze schwankte schließlich in einer Höhe, die weit entfernt vom natürlichen Leben war. Er empfand tiefe Abneigung dagegen.

Und vielleicht aus diesem Grund geschah es, daß er plötzlich Tuzzi ansah. Tuzzi sprach. Als öffnete sich sein Ohr den ersten Lauten des Morgens, hörte ihn Ulrich sagen: «Ich vermag nicht zu beurteilen, ob große menschliche und künstlerische Leistungen heute nicht vorhanden seien, wie Sie sagen; aber das eine darf ich behaupten, daß nirgends die Außenpolitik so schwierig ist wie bei uns. Es läßt sich einigermaßen voraussehen, daß die Politik der Franzosen auch im Jubiläumsjahr von den Gedanken der Revanche und des Kolonialbesitzes geleitet sein wird, die der Engländer von ihrem Bauernschach auf dem Weltbrett, wie man die Art ihres Vorgehens genannt hat, endlich die der Deutschen von dem, was sie in einer nicht immer eindeutigen Weise ihren Platz an der Sonne nennen: aber unsere alte Monarchie ist bedürfnislos, und darum weiß kein Mensch vorher, zu welchen Auffassungen wir bis dahin gezwungen werden können!» Es schien, daß Tuzzi bremsen und warnen wollte. Er redete offenbar ohne ironische Absicht; das Aroma der Ironie ging lediglich von der naiven Sachlichkeit aus, in deren trockener Schale er die Überzeugung darbot, daß weltliche Bedürfnislosigkeit eine große Gefahr sei. Ulrich fühlte sich davon ermuntert, als ob er auf eine Kaffeebohne gebissen hätte. Inzwischen hatte sich Tuzzi in seiner warnenden Absicht aber noch versteift und führte seine Rede zu Ende. «Wer darf sich heute» fragte er «denn überhaupt trauen, große politische Ideen zu verwirklichen?! Er müßte ein Stück Verbrecher und Bankerotteur in sich haben! Das wollen Sie doch nicht? Diplomatie ist dazu da, um zu konservieren. »

«Das Konservieren führt zum Krieg» erwiderte Arnheim.

«Das kann schon sein» meinte Tuzzi. «Wahrscheinlich bleibt es das einzige, was man tun kann, daß man den Augenblick, wo man hineingeführt wird, günstig wählt! Erinnern Sie sich an die Geschichte Alexanders des Zweiten? Sein Vater Nikolai war ein Despot, aber er ist eines natürlichen Todes gestorben; Alexander dagegen war ein hochherziger Herrscher, der seine Regierung sogleich mit liberalen Reformen begann; die Folge war, daß aus dem russischen Liberalismus der russische Radikalismus geworden ist und Alexander nach drei vergeblichen Mordversuchen einem vierten zum Opfer fiel. »

Ulrich sah Diotima an. Aufgerichtet, aufmerksam, ernst und üppig saß sie da und bekräftigte die Worte ihres Gatten. «Das ist richtig. Ich habe vom geistigen Radikalismus auch bei unseren Bestrebungen den Eindruck gewonnen: wenn man ihm einen Finger reicht, will er gleich die ganze Hand. »

Tuzzi lächelte; es kam ihm vor, er habe einen kleinen Sieg über Arnheim davongetragen.

Arnheim saß ungerührt dabei, die Lippen wie eine aufgesprungene Knospe atmend geöffnet. Wie ein verschlossener Turm des Fleisches sah Diotima über ein tiefes Tal zu ihm hinüber.

Der General putzte seine Hornbrille.

Ulrich sagte langsam: «Das kommt nur davon, daß die Bemühungen aller, die sich berufen fühlen, den Sinn des Lebens wiederherzustellen, heute das eine gemeinsam haben, daß sie dort, wo man nicht bloß persönliche Ansichten, sondern Wahrheiten gewinnen könnte, das Denken verachten; dafür legen sie sich dort, wo es auf die Unerschöpflichkeit der Ansichten ankommt, auf Schnellbegriffe und Halbwahrheiten fest!»

Niemand antwortete darauf. Warum hätte auch jemand antworten sollen? Was man so spricht, sind doch nur Worte. Das Tatsächliche war, daß sie zu sechs Personen in einem Zimmer saßen und eine wichtige Unterredung hatten; was sie dabei redeten und auch was sie nicht redeten, gar aber Gefühl, Ahnung, Möglichkeit war in dieser Tatsächlichkeit eingeschlossen, ohne ihr gleichgestellt zu sein, es war etwa so darin eingeschlossen, wie es die” dunklen Bewegungen von Leber und Magen in einer angekleideten Person sind, die soeben ihre Unterschrift unter eine wichtige Urkunde setzt. Und diese Rangordnung durfte man nicht verletzen, darin bestand die Wirklichkeit!

Ulrichs alter Freund Stumm war jetzt mit der Klärung seiner Brille fertig, setzte sie auf und sah ihn an.

Obgleich Ulrich mit allen diesen Personen immer nur gespielt zu haben glaubte, fühlte er sich mit einemmal sehr verlassen zwischen ihnen. Er erinnerte sich, vor einigen Wochen oder Monaten etwas Ähnliches gefühlt zu haben wie in diesem Augenblick: Widerstreben eines kleinen entlassenen Atemzuges der Schöpfung gegen die versteinerte Mondlandschaft, in die er hineingerät; und es wollte ihm scheinen, daß alle entscheidenden Augenblicke seines Lebens von einem solchen Eindruck des Staunens und der Einsamkeit begleitet worden waren. Aber war es dieses Mal Angst, was ihn dabei belästigte? Er vermochte sich über sein Gefühl nicht klarzuwerden; es sagte ihm ungefähr, daß er sich noch nie im Leben wahrhaft 325

entschieden habe und es bald werde tun müssen, aber das dachte er nicht in angemessenen Worten, sondern fühlte es eben nur in seinem Unbehagen, als wollte ihn etwas von diesen Menschen, zwischen denen er saß, wegreißen, und obwohl sie ihm doch ganz gleichgültig waren, stemmte sich sein Wille plötzlich mit Armen und Beinen dagegen!

Graf Leinsdorf, den das Schweigen, das inzwischen eingetreten war, an die Pflichten eines Realpolitikers erinnert hatte, sagte mahnend: «Also was soll geschehn? Wir müssen doch wenigstens vorläufig irgend etwas Entscheidendes tun, um den Gefahren für unsere Aktion vorzubeugen!»

Da unternahm Ulrich einen unsinnigen Versuch. «Erlaucht», sagte er «es gibt nur eine einzige Aufgabe für die Parallelaktion: den Anfang einer geistigen Generalinventur zu bilden! Wir müssen ungefähr das tun, was notwendig wäre, wenn ins Jahr 1918 der Jüngste Tag fiele, der alte Geist abgeschlossen werden und ein höherer beginnen sollte. Gründen Sie im Namen Seiner Majestät ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele; alle anderen Aufgaben sind vorher unlösbar oder nur Scheinaufgaben!» Und Ulrich fügte einiges von dem hinzu, was ihn in den Minuten seiner Versunkenheit beschäftigt hatte.

Während er so sprach, schien es ihm, daß allen nicht nur die Augen aus den Höhlen traten, sondern vor Überraschung sogar die ganzen Oberkörper aus den Sitzflächen; man erwartete, daß nach dem Hausherrn nun er eine Anekdote zum besten geben wolle, und als der Witz nicht kam, saß er wie ein kleines Kind zwischen schiefen Türmen, die sein einfältiges Spiel etwas beleidigt betrachten. Nur Graf Leinsdorf machte ein freundliches Gesicht. «Das ist schon ganz recht», meinte er erstaunt «aber wir haben doch die Pflicht, über die Andeutungen hinauszugelangen, bis wir was Wahres haben, und Besitz und Bildung haben uns da eben gründlich im Stich gelassen!»

Arnheim glaubte, den adeligen Herrn davor bewahren zu müssen, daß er auf Ulrichs Scherze hereinfalle.

«Unser Freund wird von einer bestimmten Idee verfolgt» erläuterte er; «er glaubt daran, daß es eine Art synthetischer Erzeugung des richtigen Lebens gibt, so wie man einen synthetischen Kautschuk oder Stickstoff herstellen kann. Aber der menschliche Geist» - er wandte sich mit seinem ritterlich vollkommensten Lächeln Ulrich zu - «hat leider die Beschränkung, daß sich seine Lebensformen nicht wie die Versuchsmäuse im Laboratorium züchten lassen, sondern daß ein großer Kornboden höchstens ausreicht, um ein paar Mausfamilien zu tragen!» Er entschuldigte sich noch bei den übrigen für diesen gewagten Vergleich, aber er war zufrieden mit ihm, weil er etwas zu Graf Leinsdorf passendes Landwirtschaftlich-Grundadeliges hatte und doch den Unterschied zwischen Gedanken mit und ohne Verantwortlichkeit für die Ausführung lebhaft ausdrückte.

Aber Se. Erlaucht schüttelte ärgerlich den Kopf. «Ich versteh den Herrn Doktor schon ganz gut» meinte er.

«Früher sind die Menschen in die Verhältnisse, die sie vorgefunden haben, hineingewachsen, und das war eine verläßliche Art, in der sie zu sich gekommen sind; aber heute, bei der Durcheinanderschüttelung, v/o alles von Grund und Boden gelöst wird, müßte man schon sozusagen auch bei der Erzeugung der Seele die Überlieferung des Handwerks durch die Intelligenz der Fabrik ersetzen. » Es war dies eine jener bemerkenswerten Antworten, die dem hohen Herrn zuweilen überraschend unterliefen; denn er hatte während der ganzen Zeit, ehe er das sagte, Ulrich nur mit einem fassungslosen Ausdruck angestarrt.

«Aber alles das, was der Herr Doktor sagt, ist doch ganz undurchführbar!» stellte Arnheim mit Nachdruck fest.

«Aber warum nicht gar!» meinte Graf Leinsdorf kurz und kampflustig.

Diotima legte sich ins Mittel. «Aber Erlaucht», sagte sie, als bäte sie ihn um etwas, das man nicht aussprechen will, nämlich zur Vernunft zu kommen, «alles, was mein Vetter sagt, haben wir doch schon längst versucht! Was sollten denn diese anstrengenden großen Besprechungen wie die heutige anderes sein?!» «Ja?» erwiderte die gereizte Erlaucht. «Und ich habe mir gleich gedacht, daß bei diesen gescheiten Männern nichts herauskommen wird! Diese Psychoanalyse und Relativitätstheorie, und wie das Zeug alles heißt, das ist ja alles nur Eitelkeit! Jeder möchte sich die Welt auf eine besondere Weise zurechtlegen! Ich sage Ihnen, der Herr Doktor hat sich vielleicht nicht ganz einwandfrei ausgedrückt, aber im Grund hat er ganz recht! Immer wird etwas Neues gemacht, kaum daß eine neue Zeit angefangen hat, und nie kommt etwas G’scheites heraus!» Die Nervosität, die der verfehlte Verlauf der Parallelaktion hervorrief, war durchgebrochen. Graf Leinsdorf drehte jetzt statt des Bartes gereizt einen Daumen um den anderen, ohne es zu gewahren. Vielleicht war auch die Abneigung gegen Arnheim durchgebrochen. Denn als Ulrich angefangen hatte von Seele zu sprechen, war Graf Leinsdorf sehr verwundert gewesen, aber was er dann 326

hörte, gefiel ihm ganz gut. «Daß solche Leute wie der Arnheim so viel von ihr reden», dachte er «ist ja doch nur Pflanz; das braucht man nicht, dafür ist schon die Religion da. » Aber auch Arnheim war bis in die Lippen blaß geworden. In einem solchen Ton wie jetzt mit ihm hatte Graf Leinsdorf bisher nur zum General gesprochen. Er war nicht der Mann, sich das bieten zu lassen! Aber unwillkürlich hatte die Entschiedenheit, mit der Se. Erlaucht an die Seite Ulrichs getreten war, Eindruck auf ihn gemacht und rief nun wieder seine eigenen schmerzlichen Empfindungen für diesen wach. Es verwirrte ihn, daß er sich mit Ulrich aussprechen wollte und doch nicht die Gelegenheit dazu gefunden hatte, ehe es nun zu einem Zusammenstoß vor allen kommen mußte; und gerade auf diese Weise geschah es, daß er sich nicht gegen Graf Leinsdorf wandte, den er einfach beiseite ließ, sondern mit allen Zeichen heftiger körperlicher Erregung, die man an ihm nicht zu sehen gewohnt war, das Wort an Ulrich richtete. «Glauben Sie denn selbst an alles, was Sie gesagt haben?!»

fragte er streng und alle Rücksicht der Höflichkeit übergehend. «Glauben Sie an die Durchführbarkeit?

Sind Sie wirklich der Meinung, daß man bloß nach <Gesetzen der Analogie> leben könne? Was würden Sie also tun, wenn Ihnen nun Seine Erlaucht völlig freie Hand ließe ?! Sagen Sie es doch, ich bitte Sie eindringlich darum!»

Der Augenblick war peinlich. Diotima fiel merkwürdigerweise eine Geschichte ein, die sie vor einigen Tagen in der Zeitung gelesen hatte. Eine Frau war zu einer furchtbaren Strafe verurteilt worden, weil sie ihrem Geliebten die Gelegenheit geboten hatte, ihren alten Mann umzubringen, der seit Jahren die Ehe nicht mehr «vollzog» und doch in keine Trennung willigte. Dieser Vorfall hatte durch seine fast medizinische Körperlichkeit und eine gewisse gegensätzliche Anziehung ihre Aufmerksamkeit erregt; wie die Verhältnisse lagen, war alles so verständlich, daß man keine der Personen als schuldig empfand, in ihrer beschränkten Möglichkeit, sich zu helfen, sondern irgendwie ein widernatürliches Ganzes, das solche Zustände schuf. Sie begriff nicht, warum sie gerade daran jetzt denken mußte. Aber sie dachte auch daran, daß Ulrich in der letzten Zeit zu ihr viel «Schwankendes und Schwebendes» gesprochen habe, und ärgerte sich, weil er immer gleich eine Unverschämtheit damit verband. Und sie selbst hatte davon gesprochen, daß in bevorzugten Menschen die Seele aus ihrer Uneigentlichkeit hervorzutreten vermöchte, und darum kam ihr vor, daß ihr Vetter genau so unsicher sei wie sie selbst und vielleicht ebenso leidenschaftlich. Und das alles war in ihrem Kopf oder in ihrem Busen, dem verlassenen Sitz der gräflich Leinsdorfischen Freundschaft, augenblicklich mit der Geschichte der verurteilten Frau in einer Weise verflochten, daß sie mit geöffneten Lippen dasaß und das Gefühl hatte, es werde etwas Furchtbares geschehen, wenn man Arnheim und Ulrich gewähren lasse, aber vielleicht erst recht, wenn man nicht gewähren lasse und sich einmenge.

Ulrich aber hatte, während Arnheim ihn angriff, Sektionschef Tuzzi angesehn. Tuzzi verbarg nur mit Mühe eine fröhliche Neugierde zwischen den braunen Falten seines Gesichts. Nun komme ja, wie es scheine, das Getue in seinem Hause an seinen eigenen Gegensätzen zum Zerspringen, dachte er. Er hatte auch für Ulrich kein Mitgefühl; was dieser Mensch redete, ging ihm ganz gegen die Natur, denn er war überzeugt, daß der Wert eines Mannes im Willen liege, oder im Beruf, und jedenfalls nicht in Gefühlen und Gedanken, und schon gar über Gleichnisse solchen Unsinn zu sprechen, fand er geradezu unanständig. Vielleicht ahnte Ulrich etwas davon, denn es fiel ihm ein, daß er Tuzzi einmal angekündigt habe, er werde sich töten, wenn das Jahr seines Lebensurlaubs ohne Ergebnis verstreiche; er hatte das nicht gerade mit diesen Worten gesagt, aber immerhin peinlich deutlich, und fühlte sich beschämt. Und wieder hatte er den nicht recht begründeten Eindruck, eine Entscheidung sei nahe. Er dachte in diesem Augenblick an Gerda Fischel und erkannte die Gefahr, daß sie zu ihm kommen und das letzte Gespräch fortsetzen werde. Es wurde ihm plötzlich klar, daß sie, wenn er auch nur damit gespielt hatte, schon bis an die äußerste Grenze der Worte gekommen seien, und von da weiter gab es nur noch einen Schritt: auf die schwebenden Wünsche des Mädchens liebevoll einzugehen, sich geistig zu entgürten, die «zweite Umwallung» zu übersteigen. Aber das war verrückt, und er war überzeugt, daß es ihm immer unmöglich sein werde, mit Gerda so weit zu gehen, und daß er sich überhaupt nur deshalb mit ihr eingelassen habe, weil er bei ihr sicher war. Er befand sich in einem eigentümlichen Zustand nüchterner, gereizter Gehobenheit, sah darin Arnheims erregtes Gesicht, faßte auf, wie ihm dieser noch vorwarf, daß er keine «Wirklichkeitsgesinnung» habe und daß -

«verzeihen Sie, solche krasse Entweder-Oder allzu jugendlich» — seien, hatte aber völlig das Bedürfnis, darauf zu antworten, verloren. Er sah nach seiner Uhr, lächelte beschwichtigend und bemerkte, daß es sehr spät geworden sei und zu spät, um zu erwidern.

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Damit hatte er zum erstenmal wieder Verbindung mit den anderen gefunden. Sektionschef Tuzzi stand sogar auf und bemäntelte diese Ungezogenheit nachträglich nur flüchtig, indem er irgendetwas tat. Auch Graf Leinsdorf hatte sich inzwischen beruhigt; es hätte ihn gefreut, wenn Ulrich imstande gewesen wäre, den «Preußen» abblitzen zu lassen, aber da es nicht geschah, war er es auch so zufrieden. «Wenn einem jemand gefällt, dann gefällt er einem eben!» dachte er. «Da kann der andere noch so gescheit reden!» Und in einer kühnen, aber unbewußten Annäherung an Arnheim und dessen «Geheimnis des Ganzen» fügte er, während er Ulrichs im Augenblick durchaus nicht geistreichen Gesichtsausdruck betrachtete, aufgeräumt hinzu: «Beinahe möchte man ja sagen, daß ein netter, sympathischer Mensch überhaupt nichts ganz Dummes reden oder tun kann!»

Man brach schleunig auf. Der General versorgte seine Hornbrille in der Revolvertasche seiner Hose, nachdem er vergeblich versucht hatte, sie in die Schöße seines Waffenrocks zu schieben, denn er hatte für dieses zivile Instrument der Weisheit noch keinen passenden Platz gefunden. «Das ist der bewaffnete Ideenfriede!» sagte er dabei, auf den allgemeinen und raschen Aufbruch anspielend, spieß-gesellenhaft und vergnügt zu Tuzzi.

Nur Graf Leinsdorf hielt die Davonstrebenden noch einmal gewissenhaft zurück. «Also worauf haben wir uns nun schließlich geeinigt?» fragte er, und als niemand eine Antwort fand, fügte er beruhigend hinzu: «Na, wir werden es ja schließlich noch sehn!»

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Rachels schwarzer Tag

Das Erwachen des Mannes und der Beschluß, Rachel zu verführen, hatten Soliman kalt gemacht wie das Wild den Jäger oder das Schlachttier den Fleischer, aber er wußte nicht, wie er sein Ziel erreichen könne, in welcher Weise dabei vorzugehen sei und welche Umstände des Beisammenseins genügten; mit einem Wort, der Wille des Mannes ließ ihn die ganze Schwäche des Knaben fühlen. Auch Rachel wußte, was kommen mußte, und seit sie Ulrichs Hand vergeßlich in der ihren gehalten und das Abenteuer mit Bonadea bestanden hatte, war sie aus Rand und Band oder sozusagen von großer erotischer Zerstreutheit, die wie ein Blumenregen auch auf Soliman fiel. Allein die Verhältnisse waren ihnen nicht günstig und schufen Verzögerungen; die Köchin war erkrankt, und Rachel mußte ihren Ausgang opfern, der Verkehr im Haus gab zu tun, und Arnheim war zwar oft bei Diotima, aber vielleicht hatte man beschlossen, auf die Kleinen mehr achtzugeben, denn er brachte nur selten seinen Soliman mit, und wenn es geschah, so sahen sie sich nur für Minuten und in Gegenwart ihrer Herrschaften, mit unschuldigen und finsteren Gesichtern, die sie machen mußten.

In dieser Zeit wurden sie beinahe böse aufeinander, weil jeder den anderen die Pein fühlen ließ, an einer zu kurzen Kette zu hängen. Soliman verleitete der drängende Trieb überdies zu gewaltsamen Ausfällen; er plante, nachts aus dem Hotel durchzugehn, und damit es sein Herr nicht erführe, stahl er ein Bettuch und versuchte, mit Schneiden und Drehn eine Strickleiter daraus zu machen, es gelang aber nicht, und er ließ das mißbrauchte Laken in einem Lichtschacht verschwinden. Dann überlegte er lange vergeblich, wie man nachts an den Figuren und Gesimsen einer Hauswand hinab-und emporklettern könnte, und sah tagsüber auf seinen Wegen von der Architektur der ihrethalben berühmten Stadt nichts als die touristischen Vorteile und Schwierigkeiten; Rachel aber, der er kurz und flüsternd diese Pläne und ihre Hindernisse anvertraute, glaubte, wenn sie abends ihr Licht auslöschte, nicht selten zu Füßen der Mauer den schwarzen Vollmond seines Gesichts auftauchen zu sehn oder hörte ein zirpendes Rufen, dem sie schüchtern Antwort gab, weit aus dem Fenster ihrer Kammer in die leere Nacht gebeugt, ehe sie eben deren Leere einsehen mußte. Sie war aber nicht mehr ungehalten über diese romantischen Störungen, sondern gab sich ihnen mit schmachtender Trauer hin. Dieses Schmachten galt eigentlich Ulrich, und Soliman war der Mann, den man nicht liebt, dessen ungeachtet man sich ihm hingeben wird, worüber sich Rachel durchaus nicht im Zweifel befand; denn daß man sie mit ihm nicht zusammenkommen ließ, daß sie in letzter Zeit ihre Stimmen kaum laut hörten und Ungunst ihrer Oberen über sie gemeinsam hereingebrochen war, wirkte ähnlich, wie eine Nacht voll Ungewißheit, Unheimlichkeiten und Seufzern auf Liebende wirkt, und sammelte ihre glühenden Vorstellungen wie ein Brennglas, unter dessen Strahl man weniger eine angenehme Wärme fühlt, als daß 328

man es nicht länger aushält.

Und hierin war Rachel, die sich nicht mit Strickleitern und Kletterträumen ablenkte, die Praktischere. Aus der Nebelgestalt einer Entführung auf Lebensdauer war bald eine heimlich zu verschaffende Nacht und aus der Nacht, da auch sie unerreichbar blieb, eine unbewachte Viertelstunde geworden; und schließlich dachten weder Diotima noch Graf Leinsdorf oder Arnheim daran, wenn ihr «Amt» sie bewog, nach großen und erfolglosen Versammlungen des Geistes besorgte Überlegungen des Ergebnisses auszutauschen, die sie oft noch eine Stunde lang, bar jedes anderen Bedürfnisses, festhielten, daß eine solche Stunde aus vier Viertelstunden besteht. Aber Rachel hatte das berechnet, und weil die Köchin noch immer nicht ganz auf dem Posten war und die Erlaubnis besaß, sich früh zur Ruhe zu begeben, genoß ihre jüngere Kollegin den Vorzug, so viel zu tun zu haben, daß man nie wissen konnte, wo sie sich gerade aufhielt, und wurde im Zimmerdienst während dieser Zeit nach Möglichkeit geschont. Zur Probe - immerhin bloß so, wie Personen, die zu feig zum Selbstmord sind, so lange vorgespiegelte Versuche unternehmen, bis ihnen einer aus Versehen gelingt - hatte sie schon einige Male Soliman eingeschmuggelt, der mit einer dienstbeflissenen Ausrede für den Fall seiner Entdeckung ausgerüstet war, und hatte ihm zu verstehen gegeben, daß dieser Weg in ihre Kammer auch möglich wäre, und nicht nur der an der Hauswand empor. Über gemeinsames Gähnen im Vorzimmer und lauschende Beobachtung der Lage war das junge Liebespaar aber noch nicht hinausgekommen, bis eines Abends, wo die Stimmen im Zimmer so gleichmäßig einander folgten wie die Töne beim Dreschen, Soliman mit einer wunderschönen Romanphrase erklärte, daß er sich nicht mehr länger zu gedulden vermöge.

Auch in der Kammer war es noch er, der den Riegel vorschob; aber dann trauten sie sich nicht, Licht zu machen, und standen zuerst blind vor einander, irgendwie zugleich mit dem Augenlicht aller Sinne beraubt, wie Statuen in einem dunklen Park. Soliman dachte wohl daran, Rachels Hand zu pressen oder sie ins Bein zu zwicken, damit sie aufschrie, denn so beschaffen waren bisher seine männlichen Siege gewesen, aber er mußte sich Zwang auferlegen, denn sie durften keinen Lärm machen, und als er doch schüchtern einen kleinen rohen Versuch unternahm, strömte aus Rachel bloß ungeduldige Gleichgültigkeit zu ihm zurück.

Denn Rachel spürte die Hand des Geschicks, die sie im Kreuz anfaßte und vorwärts schob, während ihr Nase und Stirn eiskalt wurden, als wäre sie schon jetzt von allen ihren Einbildungen verlassen. Da fühlte sich auch Soliman gänzlich von sich verlassen und bis in die Knochen ungeschickt, und es ließ sich nicht absehen, wie das dunkle voreinander Stehen ein Ende finden solle. Schließlich mußte eben die edle, aber etwas erfahrenere Rachel doch den Verführer machen. Und dabei kam ihr der Groll zu Hilfe, den sie gegen Diotima an Stelle der früheren Liebe empfand, denn seit sie sich nicht mehr damit begnügte, Teilhaberin an den hohen Entzückungen ihrer Herrin zu sein, und ihr eigenes Liebesgeschäft betrieb, hatte sie sich sehr verändert. Sie log nicht nur, um ihre Zusammenkünfte mit Soliman zu decken, sondern sie riß auch beim Frisieren mit dem Kamm an Diotimas Haar, um sich für die Aufmerksamkeit zu rächen, mit der ihre Unschuld bewacht wurde. Am meisten aber ärgerte sie nun, was sie früher am höchsten begeistert hatte, daß sie die Hemden, Hosen und Strümpfe tragen mußte, die ihr Diotima schenkte, wenn sie ausgedient hatten; denn wenn sie auch das Weißzeug auf ein Drittel seines Umfangs zusammenschneiderte und gänzlich neu gestaltete, kam sie sich darin eingekerkert vor und fühlte das Joch der Sitte am nackten Leibe. Gerade das gab ihr aber diesmal den erfinderischen Gedanken ein, dessen sie in ihrer Lage Not hatte. Denn sie hatte Soliman ja schon früher von den Veränderungen erzählt, die sich an der Wäsche ihrer Herrin seit geraumer Zeit bemerken ließen, und brauchte sie ihm bloß zu zeigen, um eine Anknüpfung zu finden, die politisch dringend nötig war. «Du kannst daran sehen, wie schlecht sie sind» sagte sie, indem sie Soliman im Dunkel den weißen Mondlichtsaum ihrer Höschen sehen ließ, «und wenn sie etwas miteinander haben, so betrügen sie den Herrn sicher auch in der Geschichte mit dem Krieg, der bei uns vorbereitet wird!» Und als der Knabe vorsichtig die zarten und gefährlichen Hosen betastete, fügte sie etwas atemlos hinzu: «kh wette, Soliman, daß deine Hosen so schwarz wie du sind; so hab ich es immer gehört!» Und Soliman grub beleidigt, aber sanft seine Nägel in ihr Bein, und Rachel mußte eine Bewegung zu ihm machen, um sich zu befreien, und mußte noch dies und jenes sagen oder tun, was keinen rechten Erfolg hatte, aber schließlich gebrauchte sie ihre spitzen kleinen Zähne und behandelte Solimans Gesicht, das sich kindisch an das ihre preßte und bei jeder Bewegung diesem knabenhaft von neuem in den Weg sprang, wie einen großen Apfel.

Und da vergaß sie, sich dieser Anstrengungen, und Soliman vergaß, sich seiner Ungeschicklichkeit zu schämen, und durch das Dunkel sauste der schwebende Sturm der Liebe.

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Hart setzte er die Liebenden zur Erde, als er sie losließ; er verschwand durch die Wände, und das Dunkel zwischen ihnen war wie ein Stück Kohle, an dem sich die Sünder schwarz gemacht hatten. Sie wußten nicht, wie spät es sei, überschätzten die verflossene Zeit und fürchteten sich. Rachels zaghafter letzter Kuß schmeckte Soliman wie eine Belästigung; er wünschte Licht zu machen und benahm sich wie ein Einbrecher, der die Beute hat und nun alle Kräfte darauf richtet, gut davonzukommen. Rachel, die verschämt und schnell ihre Kleidung in Ordnung gebracht hatte, sah ihn mit einem Blick an, der kein Ziel und keinen Boden hatte. Über die Augen hing ihr das wirre Haar, und hinter den Augen begegneten ihr zum erstenmal wieder alle die weiten Bilder ihrer Ehrliebe, die sie bis zu diesem Augenblick vergessen hatte. Sie hatte sich außer allen möglichen eigenen Tugenden einen schönen, reichen und abenteuerlichen Geliebten gewünscht, und da stand Soliman, nicht sehr ordentlich angezogen, erschreckend häßlich, und sie glaubte von allem, was er ihr erzählt hatte, kein Wort. Vielleicht hätte sie sein dickes, gespanntes Gesicht im Dunkel ganz gerne noch eine Weile in ihren Armen gehalten, ehe sie sich voneinander lösten; aber nun, wo Licht brannte, war er ihr neuer Geliebter und weiter nichts, eingeschrumpft aus tausend Männern zu einem etwas lächerlichen kleinen Wicht und dem einen, der alle anderen ausschließt. Rachel aber war wieder ein Dienstmädchen, das sich verführen hatte lassen und sich nun sehr vor einem Kind fürchtete, durch das dies an den Tag käme. Sie war bloß zu eingeschüchtert von dieser Verwandlung, um zu seufzen. Sie half Soliman beim Ankleiden, denn der Junge hatte in der Verwirrung seinen engen Rock mit den vielen Knöpfen abgeworfen, aber sie half ihm nicht aus Zärtlichkeit, sondern damit sie rascher hinunterkämen. Es kam ihr alles furchtbar überzahlt vor, und eine Entdeckung wäre nicht zu ertragen gewesen. Immerhin, als sie fertig waren, drehte sich Soliman ihr zu und wieherte ein großartiges Lächeln, denn schließlich war er doch sehr stolz; und Rachel nahm rasch eine Streichholzschachtel an sich, löschte das Licht, schob leise den Riegel zurück, und ehe sie die Türe öffnete, flüsterte sie ihm zu: «Du mußt mir noch einen Kuß geben!»

Denn so gehörte es sich, aber es schmeckte beiden, als hätten sie Zahnpulver auf den Lippen. Als sie im Vorzimmer ankamen, waren sie sehr erstaunt, daß es noch zur rechten Zeit geschah und die Gespräche hinter der Türe genau so weiterliefen wie vorher; als die Gäste aufbrachen, war Soliman verschwunden, und eine halbe Stunde später kämmte Rachel das Haar ihrer Herrin mit großer Sorgfalt und beinahe mit der alten demütigen Liebe.

«Ich freue mich, daß meine Ermahnungen bei dir Erfolg gehabt haben!» lobte Diotima, und sie, die in so vielen Fragen zu keiner rechten Zufriedenheit kam, klopfte ihre kleine Dienerin freundlich auf die Hand.

118

So töte ihn doch!

Walter hatte an Stelle seines Büroanzugs einen besseren angelegt und band seine Krawatte vor Clarissens Toilettenspiegel, der trotz der im neuen Geschmack sich krümmenden Umrahmung ein verzerrtes, untiefes Bild aus dem billigen, wahrscheinlich blasigen Glas zurückwarf. «Ganz recht haben sie», sagte er ärgerlich

«diese berühmte Aktion ist nur ein Schwindel!»

«Was haben sie schon davon, daß sie schreien?!» meinte Clarisse.

«Was hat man überhaupt heute vom Leben! Wenn sie auf die Straße gehn, so bilden sie wenigstens einen Zug; einer spürt den Körper des anderen! Wenigstens denken sie nicht und schreiben sie nicht: daraus wird schon irgend etwas werden!»

«Und du meinst wirklich, daß die Aktion diese Empörung verdient?»

Walter zuckte die Achseln. «Hast du nicht in der Zeitung von der Resolution der deutschen Vertrauensmänner gelesen, die dem Ministerpräsidenten überbracht worden ist? Kränkungen und Benachteiligungen der deutschen Bevölherung und so weiter? Und den höhnischen Beschluß des Tschechenklubs? Oder gar die kleine Nachricht, daß die polnischen Abgeordneten in ihre Wahlbezirke abgereist sind: wenn man zwischen den Zeilen zu lesen versteht, sagt die das meiste, denn die Polen, von denen immer die Entscheidung abhängt, lassen die Regierung in Stich! Die Lage ist gespannt.

Es war nicht an der Zeit, durch eine gemeinsame patriotische Aktion alle zu reizen!»

«Wie ich heute morgen in der Stadt war, » erzählte Clarisse «habe ich berittene Polizei marschieren gesehn; ein ganzes Regiment; eine Frau hat mir erzählt, daß sie irgendwo versteckt werden!»

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«Natürlich. Auch das Militär steht in den Kasernen bereit. »

«Glaubst du, daß es zu etwas kommt?!»

«Das kann man doch nicht wissen!»

«Sie reiten dann in die Leute hinein? Eigentlich ist das scheußlich, wenn man sich vorstellt, daß man lauter Pferdeleiber zwischen sich hat!»

Walter hatte seine Krawatte noch einmal aufgeknüpft und band sie von neuem. «Hast du schon einmal so etwas mitgemacht?» fragte Clarisse.

«Wie ich Student war. »

«Und seither nicht?»

Walter schüttelte verneinend den Kopf.

«Du hast vorhin gesagt, daß Ulrich schuld ist, wenn es zu etwas kommt?» suchte sich Clarisse noch einmal zu vergewissern.

«Das habe ich nicht gesagt!» verwahrte sich Walter. «Ihm sind politische Ereignisse leider gleichgültig. Ich habe nur gesagt, es sieht ihm ähnlich, so etwas leichtfertig heraufzubeschwören; er verkehrt in dem Kreis, der die Schuld trägt!»

«Ich möchte mit in die Stadt kommen!» eröffnete Clarisse.

«Keinesfalls! Es würde dich zu sehr aufregen!» Walter erwiderte das sehr entschieden; er hatte im Büro allerhand erfahren, was man von der Demonstration erwartete, und wollte Clarisse davon fernhalten. Denn das war nichts für sie, die Hysterie, die von einer großen Menge aufsteigt; man mußte Clarisse behandeln wie eine Schwangere. Er verschluckte sich beinahe an diesem Wort, das in die spröde Reizbarkeit seiner sich ihm verschließenden Geliebten unversehens die törichte Wärme der Schwangerschaft brachte. «Aber solche Zusammenhänge, die über die gewöhnlichen Begriffe hinausgehn, gibt es!» sagte er sich nicht ganz ohne Stolz und bot Clarisse an: «Wenn es dir lieber ist, bleibe auch ich zu Hause. »

«Nein, » erwiderte sie «wenigstens sollst du dabei sein. »

Sie wollte allein bleiben. Als ihr Walter von der bevorstehenden Kundgebung erzählt und beschrieben hatte, wie so etwas aussehe, hatte sie eine Schlange vor Augen gehabt, mit lauter Schuppen, die sich jede einzeln bewegen. Sie wünschte sich selbst von diesem Anblick zu überzeugen, ohne vorher noch viel zu reden.

Walter legte den Arm um sie. «Ich bleibe auch zu Hause?» wiederholte er fragend.

Clarisse streifte den Arm ab, holte ein Buch von der Wand und beachtete ihn nicht. Es war ein Band ihres Nietzsche. Aber Walter, statt sie nun zu verlassen, bat: «Laß mich doch sehn, was dich beschäftigt!»

Es ging schon gegen den Spätnachmittag. Ein unbestimmtes Vorgefühl von Frühling war in der Wohnung; als hörte man Vogelstimmen, durch Glas und Mauern gedämpft; Blumenduft stieg trügerisch auf, aus dem Geruch des Bodenlacks, der Stoffbezüge und geputzten Messingklinken. Walter streckte den Arm nach dem Buch aus. Clarisse umschloß das Buch mit beiden Händen und hielt ihren Finger in die aufgeschlagenen Seiten.

Und nun spielte sich eines jener «fürchterlichen» Erlebnisse ab, an denen diese Ehe so reich war. Alle hatten sie die gleiche Vorlage: In einem Theater möge die Bühne erlöschen und zwei einander gegenüberliegende Logen aufleuchten; in diesen befinden sich Walter auf der einen, Clarisse auf der anderen Seite, ausgezeichnet unter allen Weibern und Männern, zwischen ihnen der tiefe schwarze Abgrund, der von unsichtbaren Menschen warm ist; nun öffnet Clarisse den Mund, und dann antwortet Walter, und alles lauscht atemlos, denn es ist ein Schau-und Klangspiel, wie noch keines menschlichem Vermögen gelungen ist. - So geschah es also auch jetzt, während Walter bittend den Arm ausstreckte und Clarisse, einige Schritte von ihm entfernt, den Finger fest in das aufgeblätterte Buch klemmte. Sie hatte aufs Geratewohl jene schöne Stelle getroffen, wo der Meister von der Verarmung durch den Verfall des Willens spricht, die sich in allen Gebilden des Lebens in einem Wuchern der Einzelheiten auf Unkosten des Ganzen äußert. «Das Leben in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben»: diesen Satz hatte sie noch im Gedächtnis und sonst von dem größeren Ganzen, das sie in dem Augenblick überflogen hatte, ehe Walter sie darin wieder störte, nur ungefähr die Richtung, wo der Sinn lag; und da machte sie nun trotz der Ungunst des Augenblicks eine große Entdeckung. Denn der Meister sprach an dieser Stelle zwar von allen Künsten, ja sogar von allen Formen des Menschenlebens, aber/er benutzte nur Beispiele der Literatur; und da Clarisse das Allgemeine nicht verstand, entdeckte sie, daß Nietzsche nicht die ganze Tragweite seiner Gedanken erfaßt habe, denn sie galten auch für Musik!! Sie hörte dabei ihres Gatten krankes Klavierspiel, 331

als klänge es leibhaft neben ihr, sein gefühlvolles Hängenbleiben, das stockende Austreten der Töne, sobald seine Gedanken zu ihr herüber schweiften und, mit einer anderen Stelle des Meisters zu sprechen, «der moralische Nebenhang» den «Künstler» in ihm überwältigte. Clarisse verstand es zu hören, wenn Walter sie stumm begehrte, und sie konnte die Musik sehen, wenn sie aus seinem Gesicht entwich. Dann leuchteten in diesem nur die Lippen, und er sah aus, als hätte er sich in den Finger geschnitten und würde ohnmächtig. Und so sah er auch jetzt aus, während er, nervös lächelnd, den Arm ausgestreckt hatte. So viel hatte Nietzsche natürlich nicht wissen können, doch war es wie ein Zeichen, daß sie der Zufall gerade eine Stelle hatte aufschlagen lassen, die daran rührte, und indem sie alles das auf einmal sah, hörte und begriff, schlug der Blitz der Erfindung in sie, und sie stand auf einem hohen Berg namens Nietzsche, der Walter unter sich begraben hatte, ihr aber gerade nur unter die Fußsohlen reichte! Die «angewandte Philosophie und Dichtung» der meisten Menschen, die weder schöpferisch noch dem Geist unzugänglich sind, besteht aus solchen schimmernden Verschmelzungen einer kleinen persönlichen Abänderung mit einem großen fremden Gedanken.

Walter war inzwischen aufgestanden und näherte sich nun Clarisse. Er war entschlossen, die Demonstration, an der er hatte teilnehmen wollen, fahrenzulassen und bei ihr zu bleiben. Er sah sie bei seiner Annäherung widerwillig an die Wand gelehnt dastehen, und diese geflissentlich zur Schau getragene Gebärde einer Frau, die vor einem Mann zurückweicht, übertrug leider nicht ihren Abscheu auf ihn, sondern weckte die männlichen Vorstellungen, die als Ursache dazu gepaßt haben würden. Denn ein Mann muß imstande sein, zu befehlen und seinen Willen einem Widerstrebenden aufzunötigen, und plötzlich bedeutete Walter dieses Bedürfnis, sich als Mann zu bewähren, gerade so viel, wie den Kampf gegen die versprengten Reste des aus seiner Jugend übriggebliebenen Aberglaubens zu führen, daß man etwas Besonderes sein müsse. «Man muß nichts Besonderes sein!» sagte er sich trotzig. Es erschien ihm als eine Feigheit, diese Einbildung nicht entbehren zu können. «Wir alle haben Exzesse in uns» dachte er wegwerfend. «Wir haben das Kranke, das Schaurige, das Einsame, das Bösartige in uns; jeder von uns könnte etwas, das nur er könnte: das bedeutet noch gar nichts!» Es erbitterte ihn der Wahn, daß man die Aufgabe haben solle, das Ungewöhnliche zu entwickeln, statt diese leicht verderblichen Auswüchse zurückzunehmen, organisch einzuschmelzen und das leicht allzu ruhig werdende bürgerliche Blut ein wenig mit ihnen aufzufrischen. So dachte er und wartete auf den Tag, wo ihm Musik und Malen nicht mehr bedeuten sollten als eine edle Art, sich zu vergnügen. Daß er sich ein Kind wünschte, gehörte zu diesen neuen Aufgaben; das Verlangen, das ihn in seiner Jugend beherrscht hatte, ein Titan und Feuerbringer zu werden, zeitigte es nun als letzte Folge, daß er den Glauben, man müsse zuvor wie alle werden, mit einiger Übertreibung aufnahm; er schämte sich zu dieser Zeit, weil er kein Kind besaß, er hätte fünf Kinder gewollt, wenn das Clarisse und sein Einkommen gestattet haben würden, denn es drängte ihn, die Mitte eines warmen Lebenskreises zu sein, und er wünschte sich, den großen das Leben tragenden Menschendurchschnitt an Durchschnittlichkeit noch zu übertreffen, unerachtet des Widerspruchs, der gerade in diesem Verlangen liegt. Aber mochte es sein, daß er zu viel nachgedacht oder geschlafen hatte, ehe er sich zum Ausgehen herrichtete und dieses Gespräch begann, er hatte jetzt heiße Wangen, und wie sich zeigte, begriff Clarisse gleich, warum er sich ihrem Buch näherte, und diese Feinheit der beiderseitigen Abstimmung trotz der schmerzlichen Zeichen von Abneigung bewegte ihn sofort geheimnisvoll, so daß die Brutalität darunter zu leiden hatte und seine Einfachheit wieder in Stücke ging. «Warum willst du mir nicht zeigen, was du gelesen hast? Laß uns doch sprechen!» begehrte er eingeschüchtert.

«Man kann nicht <sprechen>!» zischte Clarisse.

«Wie du überspannt bist!» rief Walter aus. Er wollte ihr das Buch aufgeschlagen entwinden. Clarisse hielt es eigensinnig an sich. Aber nachdem sie eine Weile miteinander gerungen hatten, fiel Walter ein: «Was will ich denn eigentlich von dem Buch!?» und er ließ Clarisse los. Damit wäre die Angelegenheit nun eigentlich zu Ende gewesen, wenn sich Clarisse nicht in dem Augenblick, wo sie wieder frei war, erst recht so heftig gegen die Wand gepreßt hätte, als müßte sie sich, um drohender Gewalt auszuweichen, rückwärts durch eine steife Hecke drücken. Sie fand keinen Atem, war bleich und schrie ihm heiser zu: «Statt selbst etwas zu leisten, möchtest du dich in einem Kind fortsetzen!»

Wie giftiges Feuer würgte ihr Mund ihm diesen Satz entgegen, und nun keuchte auch Walter unwillkürlich von neuem sein «Laß uns sprechen!»

«Ich will nicht sprechen, du bist mir widerwärtig!!» antwortete Clarisse, plötzlich wieder in vollem Besitz 332

ihrer Stimmittel und diese so zielbewußt ausnützend, als fiele eine schwere Porzellanschüssel genau zwischen ihren und Walters Füßen zur Erde. Walter trat einen Schritt zurück und sah sie überrascht an.

Clarisse meinte es nicht so böse. Sie hatte bloß Angst, daß sie doch einmal aus Gutmütigkeit oder aus Nachlässigkeit nachgeben könnte; dann würde Walter sie sofort mit Wik-kelbändern an sich schnüren, und das durfte am wenigsten jetzt geschehen, wo sie die ganze Frage zur Entscheidung bringen wollte. Die Ereignisse hatten sich «zugespitzt»; dieses Wort fühlte sie dick unterstrichen in ihrem Kopf, das Walter gebraucht hatte, um ihr zu erklären, warum die Leute auf die Straße gingen; denn Ulrich, der mit Nietzsche dadurch zusammenhing, daß er ihr seine Werke zur Hochzeit geschenkt hatte, befand sich auf der anderen Seite, gegen die sich die Spitze richtete, falls es losging; und Nietzsche hatte ihr soeben ein Zeichen gegeben, und wenn sie sich dabei auf einem «hohen Berg» stehen sah, was ist ein hoher Berg anderes als hoch zugespitzte Erde?! Das waren also ganz sonderbare Zusammenhänge, die wohl kaum noch ein Mensch enträtselt haben konnte, und sie kamen sogar Clarisse nicht klar vor; aber gerade darum wollte sie allein sein und Walter aus dem Haus scheuchen. Der wilde Haß, der in diesem Augenblick aus ihrem Gesicht loderte, war kein ungemischter und ernster, sondern nur ein körperlich rasender bei Ungewisser Beteiligung der Person, ein «Klavierzorn», wie er auch Walter geläufig war, und so kam es, daß auch er, nachdem er seine Frau schon eine Weile verdutzt angestarrt hatte, plötzlich von nachgeholter Blässe überzogen wurde, die Zähne bleckte und als Antwort darauf, daß er ihr widerwärtig sei, ausrief: «Hüte dich vor dem Genie! Gerade du hüte dich!»

Er schrie noch heftiger, als sie es getan hatte, und die dunkle Prophezeiung kam ihm selbst schauerlich vor, denn sie hatte sich, stärker als er selbst, einfach einen Weg durch seine Kehle gebrochen, und er sah plötzlich alles schwarz im Zimmer, als wäre eine Sonnenfinsternis eingetreten.

Auch auf Clarisse hatte es Eindruck gemacht. Sie schwieg mit einemmal.

Es bedeutet ein Affekt, der so stark ist wie eine Sonnenverfinsterung, auch gewiß keine einfache Sache, und wie immer er zustande gekommen sein mochte, so war mitten darin ganz unversehens Walters Eifersucht auf Ulrich mit einem Schlag zerborsten. Warum er ihn dabei ein Genie nannte? Es hieß wohl ungefähr soviel wie Überhebung, die nicht weiß, wie bald sie zerschellen soll. Walter sah mit einemmal alte Bilder vor sich: Ulrich, in Uniform nachhause kommend, der Barbar, der schon Geschichten mit wirklichen Frauen hatte, als Walter, obwohl er älter war, noch Gedichte auf Steinstatueh in Parken machte. Später: Ulrich, neue Nachrichten vom Geist der Genauigkeit, der Geschwindigkeit, des Stahls nachhause bringend; aber für den Humanisten Walter war auch das der Einbruch einer Barbarenhorde. Immer hatte Walter gegenüber dem jüngeren Freund das geheime Unbehagen des körperlich und auch an Unternehmungskraft Schwächeren empfunden, aber zugleich in sich den Geist gesehen und in jenem nur den rohen Willen. Und immer bestand zwischen ihnen, diese Auffassung bestärkend, das Verhältnis: Walter vom Schönen oder Guten bewegt, Ulrich kopfschüttelnd. Solche Eindrücke bleiben. Wenn es Walter gelungen wäre, die aufgeschlagene Stelle zu sehen, um die er mit Clarisse kämpfte, so würde er in der darin beschriebenen Zersetzung, die den Lebenswillen vom Ganzen in die Einzelheiten verdrängt, keineswegs einen Tadel seiner eigenen künstlerischen Grübelsucht erkannt haben, wie Clarisse es verstand, sondern er würde überzeugt gewesen sein, daß dies eine ausgezeichnete Beschreibung seines Freundes Ulrich sei, angefangen von der Überwertung der Einzelheiten, wie sie dem modernen Erfahrungsaberglauben eigentümlich ist, bis zu der Fortsetzung dieses barbarischen Zerfalls in das Ich hinein, was er einen Mann ohne Eigenschaften oder Eigenschaften ohne Mann genannt hatte, während Ulrich in seinem Größenwahn diese Bezeichnung noch dazu gut hieß. Alles das meinte Walter mit dem Schmähruf Genie; denn wenn sich irgendwer eine einsame Individualität nennen durfte, so meinte er das selbst zu sein, und doch hatte er das aufgegeben, um zur natürlichen menschlichen Aufgabe zurückzulenken, und fühlte sich seinem Freund darin um ein ganzes Zeitalter voraus. Aber während Clarisse auf seine Schmähung schwieg, dachte er:

«Wenn sie jetzt nur ein einziges Wort zu Ulrichs Gunsten erwidert, so ertrage ich es nicht!» und der Haß schüttelte ihn, als täte das der Arm Ulrichs.

In seiner übermäßigen Erregung spürte er, wie er seinen Hut an sich reißen und forteilen würde. Er stürzte durch Gassen, ohne sie wahrzunehmen. Die Häuser bogen sich in seiner Vorstellung ordentlich im Wind zur Seite. Erst nach einer Weile verlangsamte sich sein Schritt, und nun sah er den Menschen ins Gesicht, an denen er vorbeikam. Diese Gesichter, die freundlich in das seine blickten, beruhigten ihn.

Und nun setzte er auch, soweit sein Bewußtsein außerhalb dieses Phantasieerlebnisses geblieben war, dazu 333

an, Clarisse zu erzählen, was er meine. Aber die Worte glänzten ihm in den Augen statt im Munde. Wie soll man auch das Glück beschreiben, zwischen Menschen und Brüdern zu sein! Clarisse würde sagen, es fehle ihm an Eigenheit. Aber Clarissens steiles Selbstbewußtsein hatte etwas Unmenschliches, und den überheblichen Forderungen, die es an ihn stellte, wollte er nicht mehr genügen! Er empfand das schmerzlichste Verlangen, mit ihr in eine Ordnung eingeschlossen zu sein, statt im offenen Irrwahn der Liebe und persönlichen Gesetzlosigkeit zu treiben. «Man muß unter allem, was man ist und tut, und sogar dann, wenn man sich im Gegensatz zu anderen befindet, eine Grundbewegung zu ihnen hin vorhanden fühlen»: ungefähr so hätte er ihr entgegen mögen. Denn Walter hatte immer Glück gehabt mit Menschen; selbst im Streit wurden sie von ihm angezogen, und er von ihnen, und so war die etwas flache Meinung, daß der Menschengemeinschaft eine ausgleichende, das Tüchtige belohnende Kraft innewohne, die sich schließlich immer durchzusetzen verstehe, in seinem Leben zu einer stehenden Überzeugung geworden. Es fiel ihm ein, daß es Menschen gibt, die Vögel anlocken; die Vögel fliegen gern zu ihnen hin, und solche Menschen haben oft selbst etwas Vogelhaftes in ihrem Ausdruck. Es war überhaupt seine Überzeugung, daß jeder Mensch ein Tier habe, mit dem er auf unerklärliche Weise zusammenhänge. Diese Theorie hatte er einmal ausgedacht; sie war nicht wissenschaftlich, aber er glaubte, daß musikalische Menschen vieles ahnen, was über der Wissenschaft liegt, und schon seit seiner Kindheit stand es fest, daß sein Tier Fische seien. Fische hatten ihn immer heftig angezogen, vermischt mit Grauen, und zu Beginn eines Ferienaufenthalts hielt er es stets wie toll mit ihnen; er konnte dann stundenlang am Wasser stehn, sie aus ihrem Element herausangeln und ihre Leichen neben sich ins Gras legen, bis das plötzlich mit einem Widerwillen abschloß, der an Entsetzen streifte. Und Fische in der Küche gehörten zu seinen frühesten Leidenschaften. Die Gerippe der Ausgeweideten wurden in einen Weidling getan, ein nachenförmiges Küchengerät, grün-weiß glasiert, wie Gras und Wolken, und halb mit Wasser gefüllt, worin die Skelette aus irgendeinem mit den Gesetzen des Küchenreichs zusammenhängenden Grund liegen blieben, bis die Mahlzeit fertig bereitet war und sie auf den Mist wanderten; zu diesem Gefäß zog es geheimnisvoll den Knaben, der stundenlang unter kindlichen Vorwänden dahin zurückkehrte und, wenn er rundweg befragt wurde, die Sprache verlor. Heute würde er vielleicht zur Antwort geben können, daß der Zauber der Fische darin bestehe, daß sie nicht zwei Elementen angehören, sondern ganz in einem ruhn. Er sah sie wieder vor sich, wie er sie oft im tiefen Wasserspiegel gesehen, und sie bewegten sich nicht so wie er selbst über einem Boden hin, an dessen Grenze gegen ein leeres Zweites (weder da, noch dort daheim! dachte Walter, den Gedanken kreuz und quer spinnend; einer Erde angehörig, mit der man gerade nur die kleine Fläche der Füße gemeinsam hat, und mit dem ganzen Körper in eine Luft ragend, in der man fallen würde und die man von ihrem Platz drängt!), sondern der Boden der Fische, ihre Luft, ihr Trank, ihre Speise, ihr Schreck vor Feinden, der schattenhafte Zug ihrer Liebe und ihr Grab schlössen sie ein; sie bewegten sich in dem, wovon sie bewegt wurden, wie es der Mensch nur im Traum erlebt oder vielleicht in dem sehnsüchtigen Verlangen, die schützende Zärtlichkeit des Mutterleibs wiederzufinden, woran zu glauben damals gerade Mode zu werden anfing. Aber warum tötete er dann die Fische und riß sie heraus? Es bereitete ihm einen unaussprechlichen, heiligen Genuß! Und er wollte nicht wissen, warum; er, Walter, der Rätselvolle! Aber Clarisse hatte einmal Fische einfach Wasserbourgeois genannt?! Er zuckte beleidigt zusammen. Und während er - in dem erdachten Zustand, worin er sich befand und eben auch alles das dachte - durch die Straßen eilte und den Menschen, die ihm begegneten, in die Gesichter sah, war gutes Fischwetter geworden; es regnete zwar noch nicht gerade, aber Nässe fiel, und die Gehsteige und Fahrbahnen waren, wie er jetzt erst bemerkte, schon seit einer Weile dunkelbraun. Nun sahen die Menschen, die sich darauf bewegten, schwarz gekleidet aus und sie trugen steife Hüte, aber keine Kragen; Walter nahm es ohne Verwunderung hin; jedenfalls waren sie keine Bourgeois, sondern kamen anscheinend aus einer Fabrik, gingen in lockeren Gruppen, und andere Menschen, die noch nicht Feierabend machten, schoben sich so wie er hastiger zwischen ihnen vor, und er wurde sehr glücklich, bloß die nackten Hälse erinnerten ihn an etwas, das ihn störte und nicht ganz geheuer war. Und plötzlich quoll Regen aus dem Bild; ein Stieben von Menschen begann, etwas Aufgeschlitztes war in der Luft, Weißblinkendes; Fische fielen; und über alles hin zog ein zitternder, zärtlicher, scheinbar gar nicht dazugehörender Ruf einer einzelnen Stimme, die einen kleinen Hund bei seinem Namen lockte.

Diese letzten Veränderungen waren so unabhängig von ihm, daß sie ihn selbst überraschten. Er hatte nicht wahrgenommen, daß seine Gedanken träumten und mit unfaßbarer Geschwindigkeit auf Bildern 334

dahintrieben. Er starrte auf und sah in das Gesicht seiner jungen Frau, das noch immer von Abneigung verzerrt war. Er fühlte sich sehr unsicher. Er erinnerte sich, daß er einen Vorwurf ausführlich hatte darlegen wollen; sein Mund stand noch offen. Aber er wußte nicht: waren seither Minuten vergangen, Sekunden oder nur Tausendstel von Sekunden? Es wärmte ihn dabei ein wenig Stolz, so wie nach einem eiskalten Bad die Haut von zweideutigen Schauern überhaucht wird; und das sagte ungefähr: «Seht ihr, wessen ich fähig bin!» Nicht weniger empfand er sich aber im gleichen Augenblick von diesem Durchbruch des Unterirdischen beschämt; hatte er doch soeben noch davon sprechen wollen, daß das Eingeordnete, Selbstbeherrschte und sich im großen Kreis Bescheidende geistig weit höher stehe als das Abnorme, und nun lagen seine Überzeugungen mit den Wurzeln nach oben, und der Schlamm des Lebensvulkans klebte an ihnen! Darum war das stärkste Gefühl seit seinem Erwachen eigentlich Schreck. Es erschien ihm gewiß, daß ihm etwas Schreckliches bevorstehe. Diese Angst hatte keinen vernünftigen Inhalt; noch halb bildhaft denkend, hatte er bloß die Vorstellung, daß Clarisse und Ulrich bemüht seien, ihn aus seinem Bild herauszureißen. Er nahm seine Gedanken zusammen, um dieses Wachträumen abzuschütteln, und wollte etwas sagen, was der durch seine Heftigkeit gelähmten Unterredung zu einem vernünftigen Fortgang verhelfen sollte; er hatte auch schon irgend etwas auf der Zunge, aber eine Ahnung, daß sich seine Worte verspätet hätten, daß inzwischen schon anderes gesprochen worden sei und vor sich gegangen sei, ohne daß er davon wisse, hielt ihn zurück, und plötzlich hörte er, in der Zeit nachrückend, wie Clarisse zu ihm sagte:

«Wenn du Ulrich töten willst, so töte ihn doch! Du hast zuviel Gewissen; ein Künstler kann gute Musik nur ohne Gewissen machen!» Walter wollte es die längste Zeit nicht verstehen. Manchmal begreift man ja etwas erst dadurch, daß man selbst eine Antwort darauf gibt, und er zögerte, eine Antwort zu geben, weil er fürchten mußte, seine Abwesenheit zu verraten. Und in dieser Unsicherheit begriff er oder ließ sich die Überzeugung aufnötigen, daß Clarisse wirklich das ausgesprochen habe, was den Ursprung der beängstigenden Gedankenflucht bildete, die er soeben erlebt hatte. Sie hatte recht, daß Walter, wäre ihm jeder Wunsch erlaubt gewesen, oft keinen anderen gehabt hätte, als Ulrich tot zu sehen. So etwas kommt in Freundschaften, die sich nicht so rasch aufzulösen pflegen, wie es die Liebe tut, nicht ganz selten vor, wenn sie heftig an den Wert der Person rühren. Und es war nicht sehr blutig gemeint; denn in dem Augenblick, wo er sich vorstellte, daß Ulrich tot wäre, kam sofort die alte Jugendliebe für den verlorenen Freund wenigstens teilweise wieder zum Vorschein; und so, wie im Theater die bürgerliche Hemmung vor der Untat durch ein großes künstliches Gefühl aufgehoben wird, hatte er beinahe den Eindruck, daß bei dem Gedanken einer tragischen Lösung auch dem in der Rolle des Opfers Gedachten etwas Schönes geschehe.

Er fühlte sich sehr gehoben, obgleich er furchtsam war und kein Blut sehen konnte. Und obgleich er ehrlich wünschte, daß Ulrichs Hochmut einmal zusammenbrechen möge, hätte er nicht einmal dazu etwas getan.

Aber Gedanken haben ja ursprünglich keine Logik, wie sehr man sie ihnen auch zuschreiben mag; erst der phantasielose Widerstand der Wirklichkeit bringt die Achtsamkeit auf die Widersprüche in das Gedicht Mensch. Vielleicht hatte also auch Clarisse recht, wenn sie behauptete, daß ein Zuviel an bürgerlichem Gewissen für den Künstler hinderlich sein kann. Und alles war das zugleich in Walter, der seine Frau unschlüssig und widerstrebend anblickte.

Aber Clarisse wiederholte eifrig: «Wenn er dich an deinem Werk hindert, so darfst du ihn aus dem Weg räumen!» Sie schien das anregend und unterhaltsam zu finden.

Walter wollte die Hände nach ihr ausstrecken. Seine Arme waren wie eingeklemmt, aber er kam ihr wohl doch dabei nahe; «Nietzsche und Christus sind an ihrer Halbheit zugrunde gegangen!» flüsterte sie ihm ins Ohr. Alles das war unsinnig. Wie brachte sie da Christus herein?! Was sollte es heißen, daß Christus an Halbheit zugrunde gegangen sei?! Solche Vergleiche waren nur peinlich. Doch fühlte Walter noch immer etwas unbeschreiblich Anstiftendes von der Bewegung dieser Lippen ausgehen; offenbar wurde sein eigener, hart erarbeiteter Entschluß, sich der Menschenmehrheit anzuschließen, von dem unterdrückten heftigen Bedürfnis nach einer Ausnahmestellung stets angefochten. Er faßte Clarisse so fest an, wie es nur seine Kraft erlaubte, und hinderte sie, sich zu bewegen. Ihre Augen standen als zwei Scheibchen vor den seinen. «Ich weiß nicht, wie dir solche Gedanken einfallen können!» sagte er einigemal hintereinander, erhielt aber keine Antwort. Und ohne es zu wollen, mußte er sie dabei an sich gezogen haben, denn Clarisse spreizte die Nägel ihrer zehn Finger wie ein Vogel gegen sein Gesicht, so daß es sich dem ihren nicht weiter nähern konnte. «Sie ist wahnsinnig!» fühlte Walter. Aber er konnte sie nicht loslassen. Eine Häßlichkeit, die gar nicht zu. verstehen war, lag über ihrem Gesicht. Er hatte noch nie einen Wahnsinnigen gesehen; 335

aber so, dachte er, müßten sie aussehen.

Und plötzlich stöhnte er auf: «Du liebst ihn?!» Es war dies wohl weder eine sonderlich originelle noch eine Bemerkung, die zum erstenmal zwischen ihnen umkämpft wurde; aber um nicht glauben zu müssen, daß Clarisse krank sei, wollte er lieber hinnehmen, daß sie Ulrich liebe, und dieser Opfermut war wahrscheinlich nicht ganz unbeeinflußt davon, daß ihm Clarisse, deren schmallippige Frührenaissanceschönheit er bisher immer bewundert hatte, zum ersten Mal häßlich vorkam, und diese Häßlichkeit hing vielleicht wieder damit zusammen, daß ihr Gesicht nicht mehr von der Liebe zu ihm zärtlich beschützt, sondern von der rohen Liebe des Nebenbuhlers aufgedeckt wurde. Für Verwicklungen war damit reichlich gesorgt, und sie zitterten ihm zwischen Herz und Auge, als etwas Neuartiges, das ebensoviel allgemeine wie private Bedeutung hatte; aber daß er, den Satz «du liebst ihn» aussprechend, ganz unmenschlich stöhnte, geschah vielleicht, weil er von Clarissens Verrücktheit schon angesteckt war, und es setzte ihn ein wenig in Schrecken.

Clarisse hatte sich sachte losgemacht, näherte sich ihm jedoch noch einmal freiwillig und gab einigemal, als sänge sie etwas, zur Antwort: «Ich will kein Kind von dir; ich will kein Kind von dir!» Dabei küßte sie ihn flüchtig und rasch hintereinander.

Dann war sie fort.

Hatte sie wirklich auch gesagt: «Er will ein Kind von mir?» Walter konnte sich nicht mit Sicherheit erinnern, daß sie es gesagt hätte, aber er hörte gleichsam die Möglichkeit. Er stand eifersüchtig vor dem Klavier und fühlte sich einseitig von etwas Warmem und etwas Kaltem angeweht. Waren es die Ströme des Genies und des Irrsinns? Oder die der Nachgiebigkeit und des Hasses? Oder die der Liebe und des Geistes?

Er konnte sich vorstellen, daß er Clarisse den Weg freigeben und sein Herz auf diesen Weg legen könnte, damit sie darüber gehe, und er konnte sich vorstellen, daß er mit gewaltigen Worten sie und Ulrich vernichten könnte. Er war unschlüssig, ob er zu Ulrich eilen oder seine Symphonie zu schreiben beginnen solle, aus der in diesem Augenblick der ewige Kampf zwischen Erde und Sternen werden konnte, oder ob es gut wäre, vorher seine Erregung ein wenig im Nixenteich der verbotenen Wagnermusik abzukühlen. Der unausdrückbare Zustand, worin er sich befunden hatte, begann sich allmählich in diese Überlegungen aufzulösen. Er öffnete das Klavier, zündete sich eine Zigarette an, und während sich seine Gedanken immer breiter zerstreuten, fingen seine Finger auf den Tasten die wogende Rückenmarksmusik des sächsischen Zauberers an. Und nachdem diese langsame Entladung eine Weile gedauert hatte, war es ihm ganz klar geworden, daß seine Frau und er sich in einem unzurechnungsfähigen Zustand befunden hatten; aber trotz des peinlichen Eindrucks, den ihm das bereitete, wußte er, daß es so bald danach noch vergeblich wäre, Clarisse suchen zu gehn, um ihr das begreiflich zu machen. Und plötzlich zog es ihn unter Menschen. Er stülpte den Hut auf und ging in die Stadt, um seine ursprüngliche Absicht zu verwirklichen und sich in die allgemeine Erregung zu mengen, falls es ihm gelingen sollte, diese zu finden. Er hatte unterwegs ganz den Eindruck, daß er eine dämonische Truppenmacht in sich führe, als deren Kapitän er zu den anderen stoßen werde. Aber, schon in der Elektrischen sah das Leben ganz gewöhnlich aus; daß sich Ulrich auf der Gegenseite befinden müsse, daß vielleicht das Palais des Grafen Leinsdorf gestürmt werden könnte, daß Ulrich etwa an einer Laterne hing, von stürmenden Füßen zertrampelt wurde, ein andermal dagegen von Walter beschützt und zitternd gerettet wurde, das waren höchstens ganz flüchtige Tagschatten auf dem hellen Ordnungszustand der Fahrt mit festem Preis, Haltestellen und warnenden Glockenzeichen, dem sich Walter, nun wieder ruhiger atmend, verwandt fühlte.

119

Kontermine und Verführung

Damals sah es aus, als drängten die Geschehnisse einem Ausgang zu, und auch für Direktor Leo Fischel, der in Sachen Arnheim geduldig in der Kontermine ausgeharrt hatte, kam die Stunde der Genugtuung.

Leider war um diese Zeit Frau Klementine gerade nicht zu Hause, und so mußte er sich damit begnügen, ein über Börsenvorgänge gewöhnlich gut unterrichtetes Mittagblatt in der Hand haltend, bei seiner Tochter Gerda einzutreten; er setzte sich in einen bequemen Stuhl, deutete auf eine kleine Zeitungsnachricht und fragte behaglich: «Weißt du jetzt, mein Kind, weshalb der gedankentiefe Finanzmann in unserer Mitte 336

weilt?»

Er nannte Arnheim zu Hause niemals anders, um zu zeigen, daß er sich als seriöser Geschäftsmann aus der Bewunderung der Frauen seiner Familie für den reichen Schwätzer nichts mache. Und wenn auch nicht der Haß Hellsichtigkeit verleiht, so hat doch ein Börsengerücht nicht selten recht, und Fischeis Abneigung gegen den Mann ließ ihn das halb Ausgesprochene sofort richtig ergänzen. «Nun, weißt du?» wiederholte er und suchte das Auge seiner Tochter in den Triumphstrahl seines Blicks zu zwingen. «Die galizischen ölfelder möchte er unter die Kontrolle seines Konzerns bringen!»

Damit stand Fischel wieder auf, packte seine Zeitung zusammen, wie man einen Hund am Genick faßt, und verließ das Zimmer, weil ihm eingefallen war, einige Leute telefonisch anzurufen, um ganz sicher zu gehen.

Er hatte das Gefühl, sich das, was er soeben gelesen hatte, immer schon gedacht zu haben (wie man sieht, ist die Wirkung von Börsennotizen also die gleiche wie die der schönen Literatur), und war mit Arnheim zufrieden, als ob einem so vernünftigen Mann doch nichts anderes zuzutrauen gewesen wäre, worüber er völlig vergaß, daß er ihn bis dahin bloß für einen Schwätzer gehalten hatte. Er wollte sich keine Mühe geben, Gerda die Bedeutung seiner Mitteilung auseinander zu setzen; jedes weitere Wort hätte der Sprache der Tatsachen nur Abbruch getan. «Die galizischen ölfelder möchte er unter die Kontrolle seines Konzerns bringen!» mit dem Gewicht dieses schlichten Satzes auf der Zunge zog er sich zurück und dachte sich bloß noch: «Wer es aushalten kann, zu warten, der gewinnt immer!» was eine alte Börsenregel ist, die wie alle Wahrheiten der Börse die ewigen Wahrheiten auf das richtigste ergänzt.

Kaum war er draußen, zeigte sich die ungestüme Wirkung auf Gerda; sie hatte bis dahin ihrem Vater nicht das Vergnügen bereitet, sich getroffen oder auch nur überrascht zu zeigen, aber nun riß sie eilig einen Schrank auf, nahm Mantel und Hut heraus, richtete Haar und Kleid vor dem Spiegel, blieb vor dem Spiegel sitzen und besah zweifelnd ihr Gesicht. Sie hatte den Entschluß gefaßt, zu Ulrich zu laufen. Das war in dem Augenblick geschehen, wo ihr bei der Mitteilung ihres Vaters einfiel, diese Nachricht müsse doch gerade Ulrich so rasch wie möglich erfahren, denn es war ihr genug über die Verhältnisse in der Umgebung Diotimas bekannt, um erkennen zu können, wie wichtig die Neuigkeit ihres Vaters für ihn sei. Und in dem Augenblick, wo sie das beschloß, war ihr zumute, als ob in ihre Empfindungen die Bewegung einer Masse käme, die lange gezögert hat; sie hatte sich bis dahin so zu tun gezwungen, als hätte sie Ulrichs Einladung, ihn zu besuchen, vergessen, aber kaum lösten sich in der dunklen Masse ihrer Empfindungen die ersten nun langsam von der Stelle, so kam in die weiter entfernten schon ein unaufhaltsames Laufen und Drängen, und sie konnte sich nicht entschließen, aber der Beschluß war fertig, ohne sich um sie zu kümmern.

«Er liebt mich nicht!» sagte sie sich, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete, das in den letzten Tagen noch schärfer geworden war. «Er kann mich auch nicht lieben, wenn ich so aussehe!» dachte sie dabei matt. Und fügte im gleichen Augenblick trotzig hinzu: «Er ist es nicht wert! Ich habe mir alles nur eingeredet!»

Völlige Mutlosigkeit befiel sie. Die Vorgänge der letzten Zeit hatten an ihr gezehrt. Ihr Verhältnis zu Ulrich kam ihr so vor, als hätten sie durch Jahre mit aller Aufmerksamkeit etwas verwickelt gemacht, das ganz einfach sei. Und Hans rieb mit seinen kindischen Zärtlichkeiten ihre Nerven auf; sie behandelte ihn mit Heftigkeit und zuletzt manchmal mit Verachtung, aber Hans antwortete mit noch größerer Heftigkeit, wie ein Knabe, der droht, sich ein Leid anzutun, und wenn sie ihn beruhigen mußte, wurde sie wieder von ihm umarmt und schattenhaft berührt, wovon ihre Schultern mager wurden und ihre Haut die Frische verlor. Mit allen diesen Qualen hatte Gerda abgeschlossen, als sie ihren Schrank öffnete, um den Hut herauszunehmen, und die Angst vor dem Spiegel endete damit, daß sie rasch wieder aufstand und fortstürzte, ohne im geringsten von dieser Angst befreit zu sein.

Als Ulrich sie eintreten sah, wußte er alles; noch dazu hatte sie einen Schleier vorgebunden, wie ihn Bonadea bei ihren Besuchen zu tragen pflegte. Sie zitterte am ganzen Leibe und suchte das durch eine künstlich unbefangene Haltung zu verbergen, die närrisch steif wirkte.

«Ich komme zu dir, weil ich soeben von meinem Vater etwas sehr Wichtiges erfahren habe» sagte sie.

«Zu sonderbar!» dachte Ulrich. «Nun spricht sie mich mit einemmal Du an!» Dieses gewaltsame Du brachte ihn in Wut, und um sich das nicht merken zu lassen, suchte er es sich damit zu erklären, daß Gerdas übertriebenes Gebaren sicherlich ihrem Besuch die Merkmale eines Verhängnisses, ja überhaupt die besondere Bedeutung nehmen solle, um ihn wie ein vernünftiges, bloß etwas verspätetes Ereignis hinzustellen, woraus von allem das Gegenteil zu schließen war, so daß die Vorsätze des Mädchens offenbar bis 337

ans letzte reichten. «Wir sagen uns doch schon lange du und mit Worten bloß deshalb nicht, weil wir uns immer ausgewichen sind!» erläuterte Gerda, die sich ihren Auftritt unterwegs überlegt hatte und auf das Erstaunen vorbereitet war, das er erregen werde.

Aber Ulrich verfuhr kurz, indem er den Arm um ihre Schulter legte und sie küßte. Gerda gab nach wie eine weiche Kerze. Ihr Atem, ihre Finger, die nach ihm griffen, waren die von Bewußtlosen. In diesem Augenblick kam die Grausamkeit des Verführers über ihn, der sich unwiderstehlich von der Unentschlossenheit einer Seele angezogen fühlt, die von ihrem eigenen Körper mitgeschleift wird wie ein Gefangener in den Armen seiner Häscher. Vom Winternachmittag drängte bei den Fenstern matter Schein in das dunkelnde Zimmer, und in einem dieser hellen Ausschnitte stand er und hielt das Mädchen in seinem Arm; der Kopf hob sich gelb und scharf von dem weichen Kissen des Lichts ab, und die Farbe des Gesichts war ölig, so daß Gerda in diesem Augenblick beinahe wie eine Tote aussah. Er küßte sie langsam überall hin auf die freie Fläche zwischen Kopfhaar und Kleid und mußte dabei einen leichten Widerwillen überwinden, bis auf die Berührung ihrer Lippen, die den seinen in einer Weise entgegenkamen, die ihn an die schwachen Ärmchen gemahnte, mit denen ein Kind den Nacken eines Erwachsenen umschlingt. Er dachte an das schöne Gesicht Bonadeas, das unter dem Griff der Leidenschaft an eine Taube erinnerte, deren Federn sich in den Fängen eines Raubvogels sträuben, und an Diotimas statuenhafte Huld, die er nicht genossen hatte; statt der Schönheit, die ihm diese beiden Frauen schenken wollten, lag nun seltsamerweise Gerdas inbrünstig verzerrtes, hilflos häßliches Gesicht unter seinem Blick.

Gerda verharrte indes nicht lange in dieser wachen Ohnmacht. Sie hatte geglaubt, nur für die Dauer eines Blicks die Augen zu schließen, und während Ulrich ihr Gesicht küßte, kam ihr das vor, wie die Sterne in der Unendlichkeit des Raumes und der Zeit stehen, so daß sie keinen Eindruck von Dauer und Grenzen dieses Vorganges hatte, aber bei dem ersten Nachlassen seiner Bemühung wachte sie auf und stellte sich wieder selbständig auf die Beine. Es waren die ersten Küsse wirklicher, nicht bloß gespielter und eingebildeter Leidenschaft gewesen, die sie soeben gegeben und, wie sie fühlte, auch empfangen hatte, und der Widerhall in ihrem Körper war so ungeheuer, als ob sie schon dieser Augenblick zur Frau gemacht hätte. Mit diesem Vorgang verhält es sich aber ähnlich wie mit dem Zahnausreißen: obgleich nachher weniger des Körpers vorhanden ist als vorher, hat man doch das Gefühl größerer Vollständigkeit, weil ein Anlaß der Beunruhigung endgültig beseitigt ist; und nachdem ihr Zustand daran angeklungen hatte, richtete sich Gerda voll frischer Entschiedenheit auf. «Du hast noch gar nicht gefragt, was ich dir zu sagen gekommen bin!» erklärte sie ihrem Freund.

«Daß du mich liebst!» entgegnete Ulrich etwas kleinlaut.

«Nein, daß dein Freund Arnheim deine Kusine betrügt; er spielt den Verliebten, aber er hat ganz andere Absichten!» Und Gerda erzählte ihm die Entdeckung ihres Papas.

Auf Ulrich machte diese Mitteilung in ihrer Einfachheit einen tiefen Eindruck. Er fühlte die Verpflichtung, Diotima zu warnen, die mit ausgebreitetem seelischen Gefieder in eine lächerliche Enttäuschung hineinsegelte. Denn trotz der boshaften Genugtuung, mit der er dieses Bild ausgestaltete, fühlte er, daß er Mitleid mit seiner schönen Kusine hatte. Mächtig überwogen wurde dieses aber von der herzlichen Anerkennung für Papa Fischel, und obgleich Ulrich nahe daran war, ihm großen Kummer zu bereiten, bewunderte er ehrlich seinen verläßlichen altmodischen, mit schönen Überzeugungen ausgeschmückten Geschäftsverstand, dem die einfachste Aufklärung der Geheimnisse eines neumodischen großen Geistes geglückt war. Ulrichs Stimmung war dadurch sehr von den zarten Forderungen abgewichen, die Gerdas Anwesenheit an ihn stellte. Es wunderte ihn, daß er noch vor wenigen Tagen imstande gewesen sei, an die Möglichkeit zu denken, daß er diesem Mädchen sein Herz öffnen könnte; «die zweite Umwallung übersteigen», dachte er «nennt Hans diese lästerliche Vorstellung zweier liebessüchtigen Engel!» und genoß in Gedanken, als striche er mit den Fingern darüber hin, die wundervoll glatte, harte Oberfläche der nüchternen Gestalt, die das Leben heutzutage durch die verständigen Bemühungen Leo Fischeis und seiner Gesinnungsgenossen empfängt. So war der Satz «Dein Papa ist wundervoll!» das einzige, was er erwiderte.

Gerda, die von der Wichtigkeit ihrer Nachricht durchdrungen war, hatte anderes erwartet; sie wußte nicht, was sie von der Wirkung ihrer Mitteilung verlangte, aber ungefähr war es so wie der Augenblick, wenn in einem Orchester alle Instrumente blasen und schwingen, und die Gleichgültigkeit, die ihr Ulrich plötzlich entgegenzusetzen schien, erinnerte sie wieder schmerzlich daran, daß er sich immer ihr gegenüber zum Anwalt des Durchschnittlichen, Gewöhnlichen und Ernüchternden aufgeworfen habe. Denn hatte sie sich 338

inzwischen eingeredet, daß dies bloß eine stachlige Form der Liebesannäherung bedeute, wofür sie in ihrer Mädchenseele ja selbst das Vorbild fand, so sagte ihr jetzt — «wo sie sich doch schon liebten», wie die etwas kindliche Formel dafür in ihrem Inneren lautete - eine verzweifelte warnende Klarheit, daß der Mann, dem sie alles hingebe, sie nicht ernst genug nehme. Von der Sicherheit, die sie gewonnen hatte, verlor sich darüber wieder ein guter Teil, aber ändernteils war ihr dieses «Nicht ernst genommen werden» wunderbar angenehm; es nahm alle Anstrengungen fort, die das Verhältnis mit Hans zu seiner Aufrechterhaltung forderte, und wenn Ulrich ihren Vater lobte, so begriff sie zwar nicht, wie er dies tun könne, aber fühlte eine Ungewisse Ordnung wieder hergestellt, die sie dadurch verletzt hatte, daß sie Papa Leo wegen Hansen kränkte. Dieses sanfte Gefühl einer etwas ungewöhnlichen Rückkehr in den Schoß der Familie, die sie durch ihren Fehltritt feierte, lenkte sie so sehr ab, daß sie Ulrichs Arm zarten Widerstand entgegensetzte und zu ihrem Freund die Worte sprach: «Wir wollen uns zuerst menschlich zusammenfinden; das übrige wird sich schon noch ergeben!» Diese Worte entstammten einem Programm der «Tatgemeinschaft» und waren augenblicklich das letzte, was von Hans Sepp und seinem Kreise übrig blieb.

Ulrich aber hatte ihr seinen Arm wieder um die Schulter gelegt, weil er seit der Mitteilung über Arnheim fühlte, daß etwas Wichtiges vor ihm liege, aber zuvor dieses Beisammensein mit Gerda zu einem Ende geführt werden müsse. Er empfand nichts anderes dabei, als daß es außerordentlich unangenehm sei, alles das durchführen zu müssen, was dazu gehöre, und darum schlang er den zurückgewiesenen Arm sogleich noch einmal um sie, aber diesmal mit jener stummen Sprache, die ohne Gewalt und eindringlicher als Worte ankündigt, daß jeder weitere Widerstand vergeblich sei. Gerda fühlte die Männlichkeit, die aus diesem Arm auf sie wirkte, den Rücken hinab; sie hatte den Kopf gesenkt und blickte eigensinnig in ihren Schoß, als hielte sie dort wie in einer Schürze die Gedanken beisammen, durch deren Hilfe sie mit Ulrich

«menschlich zusammenfinden» wolle, ehe das geschehen dürfe, was erst die Krönung sein sollte; aber es kam ihr vor, daß ihr Gesicht immer blöder und leerer werde, und wie eine leere Schale schwebte es schließlich empor und lag mit den Augen unter den Augen des Verführers.

Er beugte sich hinab und bedeckte es mit den rücksichtslosen Küssen, die das Fleisch in Bewegung setzen.

Gerda stand willenlos auf und ließ sich führen. Es waren ungefähr zehn Schritte, die sie bis in Ulrichs Schlafzimmer zurückzulegen hatten, und das Mädchen stützte sich auf, wie ein schwer Verwundeter oder Kranker. Fremd kam ein Fuß vor den anderen, obgleich sie sich nicht schleppen ließ, sondern freiwillig ging. Eine solche Leere trotz solcher Erregung hatte Gerda noch nicht erlebt; sie meinte, ihr Blut habe sie verlassen, es war ihr eiskalt, sie kam an einem Spiegel vorbei, der ihr Bild in viel zu großer Entfernung zu zeigen schien, trotzdem bemerkte sie darin, daß ihr Gesicht kupferrot war, mit blassen Flecken. Und plötzlich, so wie bei Unglücksfällen der Blick oft eine überempfindliche Aufnahmefähigkeit für alles Gleichzeitige hat, sah sie das geschlossene Männerschlafzimmer mit allen seinen Einzelheiten rings um sich. Es fiel ihr ein, daß sie mit mehr Klugheit und Berechnung vielleicht als Frau hätte hier einziehen können; es würde sie sehr glücklich gemacht haben, aber sie suchte nach Worten, um zu sagen, daß sie keinen Vorteil wolle, sondern nur sich schenken; diese Worte fand sie nicht, sagte zu sich: «Es muß sein!»

und öffnete den Kragen ihres Kleides.

Ulrich hatte sie losgelassen; er brachte es nicht über sich, den zarten Beistand der Liebe beim Entkleiden zu leisten, stand abseits und warf seine eigenen Kleider ab. Gerda gewahrte den schlank aufgerichteten mächtigen Körper des Mannes in seinem Gleichgewicht von Gewalttätigkeit und Schönheit. Erschreckt wurde sie gewahr, daß sich ihr eigener Körper, obgleich sie noch in Unterkleidern dastand, mit einer Gänsehaut überzog. Wieder suchte sie nach Worten, die ihr helfen sollten; sie stand allzu jämmerlich da!

Was sie sagen wollte, sollte Ulrich in der Weise zu ihrem Geliebten machen, die ihr vorschwebte, in einer unendlich süßen Auflösung, die zu erreichen man gar nicht tun mußte, was sie zu tun im Begriffe stand. Es war ebenso wundervoll wie undeutlich. Sie sah sich einen Augenblick lang mit ihm in einem grenzenlosen Feld von Kerzen stehen, die wie Reihen Stiefmütterchen im Boden staken und auf ein einziges Zeichen zu ihren Füßen aufflammten. Aber da sie kein Wort davon hervorbringen konnte, fühlte sie sich bestürzend häßlich und erbärmlich, ihre Arme zitterten, sie war nicht imstande, sich zu Ende zu entkleiden, und ihre blutlosen Lippen schlössen sich fest aneinander, um nicht unheimlich wortleere Bewegungen auszuführen.

Bei diesem Stand der Dinge trat Ulrich, der ihre Qual und die Gefahr bemerkte, daß alles zunichte werden könnte, was mit so viel Überwindung bis hieher gefördert worden war, auf sie zu und löste ihr Achselband.

Gerda schlüpfte wie ein Knabe ins Bett. Ulrich sah einen Augenblick lang die Bewegung eines nackten 339

jungen Menschen; es hatte mit Liebe nicht mehr zu tun wie das Aufblinken eines Fisches. Er glaubte zu erraten, daß Gerda sich entschlossen habe, ein Geschehnis so rasch wie möglich zu überstehen, das nicht mehr zu vermeiden war, und noch nie war es ihm so klar geworden wie in der Sekunde, wo er ihr folgte, wie sehr das leidenschaftliche Eindringen in einen fremden Körper eine Fortsetzung der kindischen Neigung für heimliche und verbrecherische Verstecke ist. Seine Hände stießen auf die noch immer von Angst gerauhte Haut des Mädchens, und er selbst fühlte sich erschreckt statt hingezogen. Er mochte diesen Körper nicht, der halb schon schlaff und halb noch unreif war; was er tat, kam ihm völlig sinnlos vor, und er würde am liebsten die Flucht aus dem Bett ergriffen haben, die zu verhindern er alles an Gedanken aufbieten mußte, was sich dazu eignete. So kam es, daß er sich in verzweifelter Eile alles einredete, was es heute an allgemeinen Gründen gibt, um sich ohne Ernst, ohne Glauben, ohne Rücksicht und ohne Befriedigung zu betragen; und er fand darin, daß er sich dem ohne Widerstand überließ, zwar nicht die Ergriffenheit der Liebe, wohl aber eine halb verrückte, an ein Gemetzel, einen Lustmord, oder wenn es das geben kann, einen Lustselbstmord erinnernde Ergriffenheit von den Dämonen der Leere, die hinter allen Bildern des Lebens zuhause sind.

Seine Lage erinnerte ihn mit einemmal durch einen unklaren Zusammenhang an seinen nächtlichen Kampf mit den Strolchen, und er wollte diesmal schneller sein, aber im gleichen Augenblick begann etwas Entsetzliches. Gerda hatte alles, was sie überhaupt in sich erreichen konnte, zu Willen gemacht und dazu verwendet, die schmähliche Angst niederzuhalten, die sie litt; es war ihr zumute, als sollte sie hingerichtet werden, und in dem Augenblick, wo sie Ulrich in ungewohnter Nacktheit neben sich spürte und von seinen Händen berührt wurde, schleuderte ihr Körper allen ihren Willen von sich. Irgendwo tief in ihrer Brust fühlte sie noch immer unsagbare Freundschaft, einen zitternd zarten Wunsch, Ulrich zu umarmen, sein Haar zu küssen, seiner Stimme mit ihren Lippen zu folgen, und hatte die VorStellung, wenn sie sein wahres Wesen berühre, werde sie daran zergehen wie ein wenig Schnee in einer warmen Hand; aber das war ein Ulrich, der, wie gewöhnlich gekleidet, sich in den bekannten Räumen ihres Elternhauses bewegte, und nicht dieser nackte Mann, dessen Feindseligkeit sie erriet und der ihr Opfer nicht ernst nahm, obgleich er ihr keine Besinnung ließ. Und auf einmal bemerkte Gerda, daß sie schrie. Wie ein Wölkchen, wie eine Seifenblase hing ein Schrei in der Luft, und andere folgten ihm. Es waren kleine Schreie, aus der Brust gestoßen, als ringe sie mit etwas, ein Wimmern, aus dem sich helle I-Laute rundeten und lösten. Ihre Lippen krümmten sich beweglich und waren naß wie in tödlicher Wollust, sie wollte aufspringen, konnte sich aber nicht erheben. Ihre Augen gehorchten ihr nicht und führten Zeichen aus, die sie ihnen nicht erlaubt hatte.

Gerda flehte um Schonung, wie es ein Kind tut, das eine Strafe empfangen soll oder zum Arzt geführt wird und keinen Schritt weiter tun kann, weil es völlig von Schreien zerrissen und gekrümmt wird. Sie hatte die Hände an die Brüste gezogen und bedrohte Ulrich mit den Nägeln, während sie ihre langen Schenkel krampfhaft zupreßte. Diese Empörung ihres Körpers gegen sie selbst war schrecklich. Sie hatte ganz und gar das Gefühl von Theater dabei, aber saß auch allein und verlassen in dem dunklen Zuschauerraum und konnte nicht aufhalten, daß heftig und unter Schreien ihr Schicksal gespielt wurde, ja daß sie unwillkürlich mitspielte.

Ulrich starrte voll Grauen in die kleinen Pupillen der verschleierten Augen, aus denen der Blick merkwürdig steif hervorkam, und betrachtete entgeistert die seltsamen Bewegungen, in denen sich Wunsch und Verbot, Seele und Seelenlosigkeit in einer unausdrückbaren Weise verschränkten. Flüchtig fiel der Eindruck der blassen blonden Haut in sein Auge, mit den schwarzen Härchen, die dort, wo sie sich zu Flächen verdichteten, rot wurden. Es war ihm langsam klar geworden, daß er einen hysterischen Anfall vor sich habe, aber er wußte nicht, was er dagegen tun solle. Er fürchtete sich davor, daß die furchtbar peinigenden Schreie noch lauter werden könnten. Er erinnerte sich, daß ein heftiges Anbrüllen imstande sein solle, einen solchen Anfall zu brechen, vieHeicht auch ein plötzlicher Schlag. Das ungreifbare Etwas an Vermeidlichkeit, das mit dem Entsetzlichen verbunden war, hieß ihn daran denken, daß ein jüngerer Mann vielleicht versuchen würde, noch weiter auf Gerda einzudringen. «Vielleicht käme man so darüber weg» dachte er. «Vielleicht darf man ihr gerade nicht nachgeben, nachdem sich die dumme Gans einmal zu weit eingelassen hat!» Er tat nichts davon, aber solche ärgerlichen Gedanken fuhren kreuz und quer, denn er flüsterte unwillkürlich und unaufhörlich Gerda tröstliche Worte zu, versprach, daß er ihr nichts tun werde, erklärte, daß ihr noch nichts geschehen sei, bat sie um Verzeihung, und diese im Grauen zusammengefegte Wortspreu kam ihm so lächerlich und unwürdig vor, daß er sich dabei gegen die Versuchung wehren mußte, 340

einfach einen Arm voll Polster zu nehmen und mit ihnen diesen Mund zu ersticken, dessen Laute nicht aufzuhalten waren.

Endlich ließ aber der Anfall von selbst nach, und der Körper beruhigte sich. Die Augen des Mädchens wurden feucht, es setzte sich im Bett auf, die kleinen Brüste hingen matt an seinem vom Bewußtsein noch nicht wieder beaufsichtigten Leib, und Ulrich fühlte aufatmend noch einmal die ganze Abneigung gegen das Unmenschliche, nur Körperliche des Erlebnisses, das er hatte überstehen müssen. Dann kehrte das gewöhnliche Bewußtsein in Gerda zurück; in ihren Augen öffnete sich etwas, so wie einer die Augen schon eine Weile aufgeschlagen hat, ehe er aus dem Schlaf erwacht, sie starrte noch eine Sekunde verständnislos geradeaus, dann bemerkte sie, daß sie nackt dasitze, blickte Ulrich an, und das Blut schlug ihr in Wellen ins Gesicht zurück. Ulrich wußte nichts Besseres, als noch einmal alles zu wiederholen, was er ihr schon zugeflüstert hatte; er legte den Arm um ihre Schulter, zog sie tröstend an seine Brust und bat sie, sich nichts aus dem Geschehenen zu machen. Gerda war nun wieder in die Lage zurückgekehrt, in der sie von ihrem Anfall überrascht worden war, aber merkwürdig blaß und verlassen kam ihr alles vor; das aufgeschlagene Bett, ihr entblößter Körper in den Armen eines eifrig flüsternden Mannes und die Gefühle, die sie hieher geführt hatten: sie wußte wohl, was es bedeuten wollte, aber sie wußte auch, daß inzwischen etwas Gräßliches geschehen war, woran sie sich nur widerwillig und gedämpft erinnerte, und obgleich es ihr nicht entging, daß die Stimme Ulrichs jetzt zärtlicher klang, bezog sie das darauf, daß sie nun für ihn eine Kranke sei, und dachte, daß er sie krank gemacht habe, aber es kam ihr alles gleichgültig vor, und sie hatte keinen anderen Wunsch als, ohne ein Wort sagen zu müssen, nicht mehr da zu sein. Sie senkte den Kopf und drängte Ulrich von sich, tastete nach ihrem Hemd und zog es sich wie ein Kind über den Kopf oder wie ein Mensch, dem es auf sich nicht mehr ankommt. Ulrich half ihr dabei. Er zog ihr sogar selbst die Strümpfe über die Beine, und auch er hatte den Eindruck, ein Kind anzuziehen. Gerda wankte, als sie zum erstenmal wieder auf den Füßen stand. Ihre Erinnerung sagte ihr, mit welchen Gefühlen sie das Elternhaus verlassen hatte, in das sie nun zurückkehrte. Sie fühlte, daß sie die Probe nicht bestanden habe, und war tief unglücklich und beschämt. Sie erwiderte kein Wort auf alles, was Ulrich sagte. Ganz weit von allem Gegenwärtigen kam ihr ins Gedächtnis, daß er einmal im Scherz von sich den Ausspruch getan habe, die Einsamkeit verleite ihn zu Ausschreitungen. Sie war ihm nicht böse. Sie wollte bloß niemals wieder hören, was er sagte. Er erbot sich, einen Wagen zu holen, sie schüttelte nur den Kopf, zog den Hut über die verwirrten Haare und verließ ihn, ohne ihn anzusehen. Wie er sie fortgehen sah, ihren Schleier jetzt in der Hand, hatte Ulrich das Gefühl, wie ein Junge dabeizustehn; denn er hätte sie wohl in diesem Zustand nicht von sich lassen dürfen, aber es fiel ihm nichts ein, womit er sie zurückhalten konnte,, und er selbst war, da er ihr hatte helfen müssen, nur halb angekleidet, was auch dem Ernst, in dem er zurückblieb, etwas Unfertiges gab, als müßte er sich erst ganz ankleiden, um sich über das, was mit seiner Person zu geschehen habe, entscheiden zu können.

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Die Parallelaktion erregt Aufruhr

Als Walter die innere Stadt betrat, lag etwas in der Luft. Die Leute gingen nicht anders als sonst, und die Wagen und Bahnen fuhren wie immer; vielleicht war da oder dort eine ungewöhnliche Bewegung zu sehen, aber sie löste sich wieder auf, ehe man sie recht wahrnehmen konnte: trotzdem schien alles mit einem kleinen Merkzeichen versehen zu sein, dessen Spitze in eine bestimmte Richtung wies, und kaum war Walter einige Schritte gegangen, so fühlte er dieses Zeichen auch an sich. Er folgte der Richtung und hatte das Empfinden, daß der Beamte des Kunstdepartements, der er war, aber auch der kämpf ende Maler und Musiker, ja sogar der gequälte Gatte Clarissens einer Person Platz machten, die sich in keinem dieser bestimmten Zustände befand; auch die Straßen gerieten mit ihrer Tätigkeit und ihren putzübersäten, großtuenden Häusern in einen ähnlichen «Vorzustand», wie er das bei sich nannte, denn es machte ungefähr den Eindruck einer kristallenen Form auf ihn, deren Flächen in einer Flüssigkeit nachzugeben beginnen und in einen älteren Zustand zurückfallen. So altgesinnt er war, wenn es künftige Neuerungen abzulehnen galt, so gern war er bereit, für sich selbst das Gegenwärtige zu verurteilen, und die Auflösung der Ordnung, die er spürte, regte ihn günstig an. Die Menschen, denen er in großen Mengen begegnete, 341

erinnerten ihn an seinen Traum; der Eindruck einer beweglichen Eile ging von ihnen aus, und eine Zusammengehörigkeit, die ihm weit ursprünglicher vorkam, als es die gewöhnliche, durch Verstand, Moral und kluge Sicherungen besorgte ist, machte eine freie, lockere Gemeinschaft aus ihnen. Er dachte an einen großen Blumenstrauß, von dem man die Bindfäden genommen hat, so daß er sich öffnet, ohne doch auseinander zu fallen; und er dachte an einen Körper, von dem man die Kleidung entfernt hat, so daß die lächelnde Nacktheit hervorkommt, die keine Worte hat, noch braucht. Als er aber, rascher ausschreitend, bald auf einen großen Trupp bereitgehaltener Polizei stieß, machte auch das keine Störung aus, und der Anblick entzückte ihn wie ein Feldlager, das den Alarm erwartet und mit seinen vielen roten Halskragen, abgesessenen Reitern und der Bewegung einzelner Mannschaften, die ihr Einrücken oder Abgehen meldeten, seine Sinne kriegerisch aufregte.

Hinter dieser Absperrungslinie fiel Walter, obgleich sie sich noch nicht geschlossen hatte, sofort das dunklere Straßenbild auf; man sah fast keine Frauen auf den Wegen, und auch die bunten Uniformen müßiggängerischer Offiziere, die sonst diese Gassen belebten, schien die herrschende Ungewißheit eingeschluckt zu haben. Gleich ihm selbst strebten aber viele Leute stadteinwärts, und der Eindruck, den ihre Bewegung machte, war nun ein anderer; er erinnerte an Spreu und Abschnitzel, die ein starker Windstoß hinter sich her zieht. Er sah auch bald die ersten Gruppen, die sich aus ihnen bildeten und, wie es schien, nicht nur von Neugierde, sondern ebensosehr von der Unentschlossenheit zusammengehalten wurden, ob man dem ungewöhnlichen Reiz weiter folgen oder umkehren solle. Auf seine Fragen erhielt Walter verschiedene Antworten. Die einen, an die er sich wandte, erwiderten, daß eine große Kundgebung der Staatstreue im Gange sei, die anderen glaubten gehört zu haben, daß sich die Kundgebung gegen gewisse allzu betriebsame Patrioten richte, und ebenso geteilt waren die Meinungen in der Frage, ob die alle beherrschende Erregung eine Erregung des deutschen Volkes über die Nachgiebigkeit der Regierung sei welche die slawischen Wünsche begünstige, was die meisten glaubten, oder ob die Erregung regierungsfreundlich sei und zu einem Aufmarsch aller gutgesinnten Kakanier gegen die unaufhörlichen Unruhen auffordere. Es waren Mitläufer wie er, und Walter erfuhr nichts, was er nicht schon in seinem Büro erzählen gehört hätte, aber ein Hang zu schwätzen, über den er nicht Herr wurde, hieß ihn immer weiter fragen. Und ob ihm die Leute, denen er sich anschloß, mitteilten, daß sie selbst nicht wüßten, was los sei, oder ob sie lachten und über ihre eigene Neugierde spotteten, so hörte er doch, je weiter er kam, desto einmütiger den ernsten Nachsatz, daß irgend, etwas endlich einmal geschehen müsse, wenn sich auch niemand freiwillig bereit fand, ihm zu erklären, was. Und je weiter er auf diese Weise kam, desto öfter bemerkte er auf den Gesichtern, in die er blickte, etwas unvernünftig Überströmendes und über die Vernunft Wegströmendes, es schien wahrhaftig schon gleichgültig zu sein, was dort geschah, wohin es alle zog, und zu genügen, daß es etwas Ungewöhnliches sei, um sie außer sich zu bringen; und obwohl dieses

«Außer sich geraten» nur in jenem abgeschwächten Wortsinn zu verstehen war, der eine sehr gewöhnliche leichte Erregung bedeutet, spürte man doch darin eine ferne Verwandtschaft mit vergessenen Zuständen der Verzückung und Verklärung, gleichsam eine wachsende unbewußte Bereitschaft, aus Kleidern und Haut zu fahren.

Und Walter ordnete sich, Vermutungen austauschend und Dinge redend, die wenig zu ihm paßten, den anderen ein, die sich aus abbröckelnden Gruppen Wartender und halbschlüssig Weitergehenden zu einem Zug formten, der sich gegen den vermuteten Schauplatz bewegte und ohne bestimmte Absicht zusehends an Dichte und innerer Kraft gewann. Aber noch hatten alle diese Empfindungen etwas von Kaninchen, die um den Bau huschen und in jedem Augenblick bereit sind, darin zu verschwinden, als sich von der Spitze des ungeordneten Zugs, die man nicht sehen konnte, bis zu seinem Ende eine bestimmtere Erregung fortpflanzte. Ein Trupp Studenten oder anderer junger Leute, der bereits irgendwas getan hatte und «aus der Schlacht» kam, war dort zu der großen Menge gestoßen; man hörte etwas, das man nicht verstand, verstümmelte Botschaften und Wellen stummer Erregung liefen von vorne nach hinten, und die Leute empfanden, je nach ihrer Natur und nach dem, was sie auffaßten, Empörung oder Angst, Rauflust oder einen sittlichen Befehl und drängten nun in einem Zustand vorwärts, worin sie von solchen recht gewöhnlichen Vorstellungen geleitet wurden, die in jedem anders aussahen, aber trotz ihrer das Bewußtsein beherrschenden Stellung so wenig bedeuteten, daß sie sich zu einer allen gemeinsamen lebendigen Kraft vereinten, die mehr auf die Muskeln einwirkte als auf den Kopf. Auch Walter, der sich jetzt mitten im Zug befand, wurde davon angesteckt und geriet alsbald in eine aufgeregte und leere Verfassung, die mit dem 342

Beginn eines Rausches Ähnlichkeit hatte. Man weiß nicht recht, wie diese Veränderung entsteht, die aus eigenwilligen Menschen in gewissen Augenblicken eine einwillige Masse macht, die der größten Überschwenglichkeit im Guten wie im Bösen fähig und der Überlegung unfähig ist, auch wenn die Menschen, aus denen sie besteht, zumeist ihr Leben lang nichts so gepflegt haben wie Maß und Besonnenheit. Wahrscheinlich springt die auf Entspannung drängende Erregung einer Menge, die keinen Ausweg für ihre Gefühle hat, auf jede Bahn über, die sich unversehens öffnet, und voraussichtlich werden es unter allen die Erregbarsten, Empfindlichsten und Widerstandsunfähigsten sein, das heißt aber auch die Extremen, zu plötzlicher Gewalttat oder rührseligem Edelmut Fähigen, die das Beispiel geben und den Weg öffnen; sie bedeuten in der Masse die Punkte des geringsten Widerstandes, aber der Schrei, der mehr durch sie hinausstößt, als daß er von ihnen ausgestoßen würde, der Stein, der ihnen in die Hand kommt, das Gefühl, in das sie ausbrechen, legen den Weg frei, auf dem die anderen, die ihre Erregung aneinander bis zur Unerträglichkeit gesteigert haben, besinnungslos nachdrängen, und sie geben den Handlungen ihrer Umgebung die Form der Massenhandlung, die von allen halb als Zwang und halb als Befreiung empfunden wird.

An diesen Erregungen, die man ebensogut schon an den Zuschauern jedes Wettkampfes oder den Zuhörern einer Rede beobachten kann, ist übrigens die Psychologie ihrer Entladung lange nicht so bedeutsam wie die Frage, aus welchen Ursachen die Bereitschaft zu ihnen entsteht, denn wäre der Sinn des Lebens in Ordnung, würde es auch seine Sinnlosigkeit sein und müßte nicht die Begleiterscheinungen des Schwachsinns haben.

Das wußte nun Walter so gut wie nicht leicht ein anderer und hatte nicht wenig Verbesserungsvorschläge in sich, die dabei alle hervorkamen, so daß er sich mit einem schalen, üblen Gefühl fortwährend gegen die Mitgerissenheit wehrte, die ihn trotzdem begeisterte. In einem Augenblick sich lichtenden Bewußtseins dachte er dabei an Clarisse. «Gut, daß sie nicht hier ist», dachte er «sie würde diesem Druck nicht standhalten!» Aber ein stechender Schmerz schloß ihn im selben Augenblick von der Fortsetzung dieses Gedankens aus; er hatte sich an den überaus deutlichen Eindruck des Wahnsinns erinnert, den sie auf ihn gemacht hatte. Er dachte «vielleicht bin ich selbst wahnsinnig, weil ich es so lange nicht bemerkt habe!» Er dachte «ich werde es bald sein, wenn ich immer mit ihr lebe!» Er dachte «ich glaube es nicht!» Er dachte

«aber es ist ganz sicher!» Er dachte «ihr geliebtes Gesicht ist zwischen meinen Händen zu einer Fratze erstarrt!» Aber richtig konnte er alles das nicht mehr denken, denn Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit blendeten sein Bewußtsein. Er fühlte bloß, daß es trotz dieses Schmerzes unvergleichlich schöner sei, Clarisse zu lieben, als hier mitzulaufen, und drückte sich, der Angst ausweichend, tiefer in die Reihe hinein, worin er marschierte.

Auf einem anderen Wege als er hatte indessen Ulrich das Palais des Grafen Leinsdorf erreicht. Als er ins Tor bog, stand in der Einfahrt ein Doppelposten, und im Hof lagerte ein starkes Polizeipikett. Se. Erlaucht begrüßte ihn gefaßt und zeigte sich bereits davon unterrichtet, daß er zum Ziel des Volksunwillens geworden sei. «Ich muß etwas zurücknehmen» sagte er. «Ich habe zu Ihnen einmal gesagt, daß man ziemlich sicher sein kann, wenn viele Leute für etwas sind, daß auch etwas Brauchbares daraus wird. Das hat natürlich Ausnahmen!»

Der Majordomus kam kurz nach Ulrich herauf und überbrachte die inzwischen unten eingelaufene Meldung, daß sich der Zug der Menge dem Palais nähere, woran seine umsichtige Besorgnis die Frage knüpfte, ob Tor und Fensterläden geschlossen werden sollten. Se. Erlaucht schüttelte das Haupt. «Was fallt Ihnen denn ein!» entschied er leutselig. «Darüber täten sich die nur freuen, weil es so aussehen möchte, als ob wir Angst hätten. Und außerdem sind ja alle die Wächter da, die uns die Polizei geschickt hat!» Zu Ulrich aber wandte er sich und sagte im Ton moralischer Kränkung: «Sollen sie uns nur die Fenster einschlagen! Ich hab es ja gesagt, daß bei den gescheiten Männern nichts herauskommen wird!» Ein tiefer Groll schien in ihm zu arbeiten, den er unter würdiger Ruhe verbarg.

Ulrich war ans Fenster getreten, als der Zug aufzog. An den Straßenrändern schritten Schutzleute mit und stoben Unbeteiligte wie eine Wolke aus dem Weg, die der geschlossene Marschtritt aufwirbelte. Weiterhin stand da und dort schon eingekeiltes Fuhrwerk fest, um das der gebieterische Strom in unabsehbaren schwarzen Wellen floß, auf denen man den aufgelösten Gischt der hellen Gesichter tanzen fühlte. Als die Spitze der Marschierenden des Palais ansichtig wurde, schien es, daß irgend ein Befehl die Schritte mäßige, eine Stauwelle lief nach hinten, die anrückenden Reihen keilten sich ineinander, und es entstand ein Bild, das einen Augenblick lang an einen Muskel erinnerte, der sich vor dem Schlag verdickt. Im nächsten 343

Augenblick sauste dieser Schlag durch die Luft und sah wunderlich genug aus, denn er bestand aus einem Schrei der Entrüstung, von dem man früher die aufgerissenen Münder sah, als man den Laut hörte. Schlag um Schlag klappten die Gesichter in dem Augenblick auf, wo sie auf den Plan traten, und da das Geschrei der weiter Entfernten von dem der inzwischen nahe Gekommenen übertönt wurde, konnte man bei fern gerichtetem Blick dieses stumme Schauspiel sich immer wiederholen sehn.

«Der Rachen des Volks!» Sagte Graf Leinsdorf, der für einen Augenblick hinter Ulrich getreten war, mit großem Ernst, als ob das ein so feststehendes Wort wäre wie das tägliche Brot. «Aber was schreien sie eigentlich? Ich kann es bei dem Lärm nicht verstehen. »

Ulrich meinte, daß sie hauptsächlich «Pfui!» schrien.

«Ja, aber ist noch etwas dabei?»

Ulrich sagte ihm nicht, daß unter den dunkel tanzenden Lauten des Pfui nicht selten der langgezogene helle Ruf «Nieder mit Leinsdorf!» zu hören war; er glaubte sogar einigemale unter abwechselndem «Heil» auf Deutschland auch ein «Hoch Arnheim!» vernommen zu haben, war da aber selbst seiner Sache nicht sicher, weil das kräftige Fensterglas den Schall undeutlich machte.

Ulrich war sogleich, nachdem Gerda davongelaufen war, hieher gegangen, denn er fühlte das Bedürfnis, wenigstens Graf Leinsdorf mitzuteilen, was ihm zu Ohren gekommen war und Arnheim über Erwarten bloßstellte; aber er hatte davon bisher noch nichts über die Lippen gebracht. Er sah in die dunkle Bewegung unter dem Fenster, und eine Erinnerung an seine Offizierszeit erfüllte ihn mit Verachtung, denn er sagte zu sich: «Mit einer Kompagnie Soldaten würde man diesen Platz leerfegen!» Er sah es beinahe vor sich, als wären die drohenden Mäuler ein einziger geifernder Mund, in dessen Furchtbarkeit sich plötzlich der Schreck schlich; die Ränder wurden schlaff und verzagt, die Lippen sanken zögernd über die Zähne; und mit einemmal verwandelte seine Phantasie die drohende schwarze Menge in stiebendes Hühnervolk, zwischen das der Hund gefahren ist! Das geschah in ihm, als ob sich alles Böse noch einmal hart zusammengekrampft hätte, aber die alte Genugtuung, das Zurückweichen des sittlich bewegten vor dem empfindungslos gewalttätigen Menschen zu beobachten, war wie immer eine zweischneidige Empfindung.

«Was haben Sie denn?» fragte Graf Leinsdorf, der hinter Ulrich hin und her ging und durch eine sonderbare Bewegung wirklich den Eindruck empfing, es habe sich dieser an einer scharfen Schneide wehgetan, wozu weit und breit keine Möglichkeit vorhanden war; und als er keine Antwort erhielt, blieb er stehen, schüttelte den Kopf und sagte: «Wir dürfen schließlich nicht vergessen, daß der hochherzige Entschluß, durch den Seine Majestät dem Volk ein gewisses Mitbestimmungsrecht in seinen Angelegenheiten geschenkt hat, noch nicht so lange her ist; da läßt es sich begreifen, daß noch nicht überall eine politische Reife eingetreten ist, wie sie des von höchster Seite großmütig entgegengebrachten Vertrauens in jeder Hinsicht würdig wäre!

Ich glaube, daß ich das gleich in der ersten Sitzung gesagt habe!»

Bei dieser Anrede verzichtete Ulrich auf den Wunsch, Se. Erlaucht oder Diotima von den Ränken Arnheims zu verständigen; trotz aller Gegnerschaft fühlte er sich ihm näher verwandt als den anderen, und die Erinnerung, daß er selbst sich über Gerda hergemacht habe wie ein großer Hund über einen heulenden kleinen —: er wurde jetzt gewahr, daß sie ihn seither unaufhörlich gequält hatte, aber sie ließ darin nach, sobald er an die Niedertracht dachte, die sich Arnheim gegen Diotima herausnahm. Der Geschichte mit dem schreienden Körper, der zwei ungeduldig wartenden Seelen ein Theater vorgemacht hatte, konnte man, wenn man wollte, sogar eine komische Seite abgewinnen; und die Leute hier unten, auf die Ulrich noch immer gebannt hinabsah, ohne sich um Graf Leinsdorf zu kümmern, führten ja auch nur eine Komödie auf!

Das war es, was ihn daran fesselte. Sie wollten ganz gewiß niemand angreifen und zerreißen, obgleich sie so aussahen. Sie zeigten sich überaus ernstlich erzürnt, aber das war nicht der Ernst, der feuernden Gewehren entgegentreibt; es war nicht einmal der Ernst der Feuerwehr! «Nein, was sie treiben, » dachte er

«ist eher eine kultische Handlung, ein geweihtes Spiel mit beleidigten tiefsten Empfindungen, irgend ein zivilisiert-unzivilisierter Rest von Gemeinschaftshandlungen, die der einzelne nicht bis ins letzte genau zu nehmen braucht!» Er beneidete sie. «Wie angenehm sind sie sogar jetzt noch, wo sie sich möglichst unangenehm zu machen suchen!» dachte er. Der Schutz vor Einsamkeit, den eine Menge gewährt, strahlte von unten herauf, und daß er selbst ohne ihn hier oben stehen mußte - was er einen Augenblick lang so lebhaft empfand, als sähe er sein Bild hinter Glas, wie es in die Hauswand gefügt war, von der Straße aus -

kam ihm als der Ausdruck seines Schicksals vor. Dieses Schicksal, fühlte er, wäre ein besseres gewesen, wenn er jetzt in Zorn geraten oder an Graf Leinsdorfs Stelle die bereitgehaltene Wache alarmieren würde, 344

um sich ein andermal mit den gleichen Leuten freundlich einszuwissen; denn wer mit seinen Zeitgenossen Karten spielt, handelt, streitet und Vergnügen teilt, der darf gelegentlich auch auf sie schießen lassen, ohne daß dies aus der Art schlagen würde. Es gibt eine gewisse Verträglichkeit mit dem Leben, die jeden Menschen das Seine tun läßt, ohne sich um ihn zu kümmern, und unter der gleichen Bedingung jedem das Ihre antut: daran dachte Ulrich. Und das ist vielleicht eine etwas sonderbare Regel, aber nicht weniger sicher als ein Naturtrieb, denn von ihr geht offenbar die vertrauliche Witterung der menschlichen Wohlgeratenheit aus, und wer diese Fähigkeit des Kompromisses nicht hat, einsam, rücksichtslos und ernst ist, der beunruhigt die anderen in jener ungefährlichen, aber ekelerregenden Weise, wie es eine Raupe tut.

Er fühlte sich in diesem Augenblick ganz von der tiefen Abneigung gegen die Unnatürlichkeit eines einsamen Menschen und seine Gedankenexperimente bedrückt, die der bewegte Anblick einer von natürlichen und gemeinsamen Empfindungen aufgewühlten Menge erregen kann.

Die Demonstration hatte inzwischen an Heftigkeit zugenommen. Graf Leinsdorf ging im Hintergrund des Zimmers aufgeregt hin und her und warf von Zeit zu Zeit einen Blick durch das zweite Fenster. Er schien sehr zu leiden, obgleich er es nicht zeigen wollte; seine hervorstehenden Augen staken wie zwei harte Steinkugeln in den weichen Furchen seines Gesichts, und die hinter dem Rücken verschränkten Arme dehnte er manchmal wie in schweren Anfechtungen. Plötzlich erkannte Ulrich, daß man ihn selbst, der dauernd am Fenster stand, für den Grafen halte. Aller Blicke zielten von unten in sein Gesicht, und Stöcke wurden mit Nachdruck gegen ihn geschwungen. Wenige Schritte weiter, wo der Weg abbog und den Eindruck mächte, in der Kulisse zu verschwinden, schminkten sich die meisten schon ab; es wäre unsinnig gewesen, ohne Zuschauer weiter zu drohen, und auf eine Weise, die ihnen ganz natürlich vorkam, verschwand im selben Augenblick die Erregung aus ihrem Gesicht, ja es gab nicht wenige, die lachten und sich fröhlich zeigten wie auf einem Ausflug. Und auch Ulrich, der das beobachtete, lachte, aber die, welche nachkamen, meinten, das sei der lachende Graf, und ihr Zorn steigerte sich furchtbar, und Ulrich lachte nun erst gar über das ganze Gesicht.

Aber plötzlich brach er mit Ekel ab. Und während sein Auge noch abwechselnd in die drohenden Münder und nach den heiteren Gesichtern sah und die Seele sich weigerte, diese Eindrücke weiterfort aufzunehmen, ging mit ihm eine seltsame Veränderung vor. «Ich kann dieses Leben nicht mehr mitmachen, und ich kann mich nicht mehr dagegen auflehnen!» fühlte er; aber zugleich fühlte er hinter sich das Zimmer, mit den großen Bildern an der Wand, dem langen Empireschreibtisch, den steifen Senkrechten der Klingelzüge und Fensterbehänge. Und das hatte nun selbst etwas von einer kleinen Bühne, an deren Ausschnitt er vorne stand, draußen zog das Geschehen auf der größeren Bühne vorbei, und diese beiden Bühnen hatten eine eigentümliche Art, sich ohne Rücksicht darauf, daß er zwischen ihnen stand, zu vereinen. Dann zog sich der Eindruck des Zimmers, das er hinter seinem Rücken wußte, zusammen und stülpte sich hinaus, wobei er durch ihn hindurch-oder wie etwas sehr Weiches rings um ihn vorbeiströmte. «Eine sonderbare räumliche Inversion!» dachte Ulrich. Die Menschen zogen hinter ihm vorbei, er war durch sie hindurch an ein Nichts gelangt; vielleicht zogen sie aber auch vor und hinter ihm dahin, und er wurde von ihnen umspült wie ein Stein von den veränderlich-gleichen Wellen des Baches: es war ein Vorgang, der sich nur halb begreifen ließ, und was Ulrich besonders daran auffiel, war das Glasige, Leere und Ruhselige des Zustands, worin er sich befand. «Kann man denn aus seinem Raum hinaus, in einen verborgenen zweiten?» dachte er, denn es war ihm geradeso zumute, als hätte ihn der Zufall durch eine geheime Verbindungstür geführt.

Er schüttelte diese Träume mit einer so heftigen Bewegung des ganzen Körpers ab, daß Graf Leinsdorf erstaunt stehenblieb. «Was haben Sie denn heute?!» fragte Se. Erlaucht. «Sie lassen sich das zu nahe gehn!

Ich bleibe dabei: Wir müssen die Deutschen über die Nichtdeutschen gewinnen, ob es schmerzt oder nicht!» - Bei dieser Ansprache konnte Ulrich wenigstens wieder lächeln und sah das mit vielen Falten und Hügeln geprägte Gesicht des Grafen dankbar vor sich. Es gibt einen besonderen Augenblick, wenn man mit dem Flugzeug landet; der Boden tritt rund und üppig aus der kartenhaften Flachheit hervor, zu der er durch Stunden vermindert war, und die alte Bedeutung, welche die irdischen Dinge wieder erlangen, scheint aus dem Boden zu wachsen: daran sah sich Ulrich erinnert. Aber unbegreiflicherweise schoß ihm im selben Augenblick der Beschluß durch den Kopf, ein Verbrechen zu begehn, oder vielleicht war es auch nur ein gestaltloser Einfall, denn er verband gar keine Vorstellung damit. Möglich, daß es mit Moosbrugger zusammenhing, denn er würde gerne diesem Narren geholfen haben, den das Schicksal so zufällig mit ihm zusammengeführt hatte, wie zwei Menschen auf die gleiche Bank in einem Park zu sitzen kommen. Aber 345

eigentlich fand er in diesem «Verbrechen» nur das Bedürfnis, sich auszuschließen oder das Leben, das man verträglich zwischen den anderen führt, zu verlassen. Was man Staats-oder menschenfeindliche Gesinnung nennt, dieses tausendfältig begründete und verdiente Gefühl, es entstand nicht, es wurde von nichts bewiesen, es war einfach da, und Ulrich erinnerte sich, daß es ihn durch sein ganzes Leben begleitet hatte, aber selten in solcher Stärke. Man darf wohl sagen, daß bisher bei allen Umwälzungen auf der Erde immer der geistige Mensch zu Schaden gekommen ist; sie beginnen mit dem Versprechen, eine neue Kultur herbeizuführen, räumen mit dem, was die Seele bis dahin erreicht hat, auf wie mit feindlichem Besitz und werden von der nächsten Umwälzung überholt, ehe sie die alte Höhe überschreiten konnten. So ist das, was man die Kulturperioden nennt, nichts als eine lange Reihe von Umkehrzeichen gescheiterter Unternehmungen, und der Gedanke, sich außer diese Reihe zu stellen, war für Ulrich nichts Neues! Neu daran waren nur die sich verstärkenden Merkmale eines Beschlusses, ja geradezu einer Tat, die schon im Entstehen zu sein schien. Er bemühte sich nicht im geringsten, dieser Vorstellung einen Inhalt zu geben; das Gefühl, nun werde nicht wieder etwas Allgemeines und Theoretisches folgen, wie er dessen schon müde war, sondern er müsse etwas Persönliches und Tätiges unternehmen, woran er mit Blut, Armen und Beinen teilhabe, füllte ihn für einige Augenblicke ganz aus. Er wußte, daß er in dem Augenblick dieses sonderbaren «Verbrechens», das sein Bewußtsein noch nicht erfaßt hatte, der Welt nicht mehr die Stirn bieten können würde, aber Gott weiß, warum das eine leidenschaftlich zärtliche Empfindung war; sie verband sich mit der wunderlichen Raumerinnerung der Vermischung des Geschehens vor und hinter den Fenstern, deren schwächeres Echo er in jedem Augenblick wieder wachrufen konnte, zu einem dunkel erregenden Verhältnis zur Welt, das Ulrich, wenn er Zeit gehabt hätte, darüber länger nachzudenken, vielleicht auf die sagenhafte Wollust der Helden geführt hätte, die von den Göttinnen, um die sie warben, verschlungen wurden.

Aber er wurde statt dessen von Graf Leinsdorf unterbrochen, der während dem seinen eigenen Kampf ausgekämpft hatte. «Ich muß hier ausharren, um dieser Empörung die Stirne zu bieten, » begann Se.

Erlaucht «darum kann ich nicht fort! Aber Sie, mein Lieber, müßten eigentlich jetzt so schnell wie möglich zu Ihrer Kusine gehen, ehe sie noch über die Vorgänge erschrickt und vielleicht einem unserer Journalisten eine Äußerung gibt, die augenblicklich nicht am Platz ist! Sagen Sie ihr vielleicht - » er dachte noch einmal nach, bevor er einen Beschluß faßte - «Ja, ich denke, Sie sagen ihr am besten: Jedes starke Heilmittel hat starke Wirkungen! Und sagen Sie ihr: Wer das Leben bessern will, darf sich in kritischen Lagen nicht scheuen, zu brennen oder zu schneiden!» Er dachte noch einmal nach; er sah dabei beunruhigend entschlossen aus, und sein Kinnbart stieg und senkte sich lotrecht, wenn er beinahe schon etwas sagte, es sich aber doch noch einmal überlegte. Aber schließlich brach etwas von seiner natürlichen Güte durch, und er fuhr fort: «Sie müssen ihr aber auch auseinandersetzen, daß sie sich gar nicht ängstigen soll! Man braucht sich vor den wilden Männern nämlich nie zu fürchten. Je mehr wirklich in ihnen steckt, desto eher bequemen sie sich den wirklichen Verhältnissen an, wenn man ihnen Gelegenheit dazu gibt. Ich weiß nicht, ob Ihnen das auch schon aufgefallen ist, aber es hat noch nie eine Opposition gegeben, die nicht aufgehört hätte, Opposition zu machen, wenn sie ans Ruder gekommen ist; das ist nämlich nicht bloß so, wie man glauben könnte, daß es sich von selbst versteht, sondern das ist etwas sehr Wichtiges, denn daraus entsteht, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Tatsächliche, Verläßliche und Kontinuierliche in der Politik!»

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Die Aussprache

Als Ulrich bei Diotima eintraf, meldete ihm Rachel beim öffnen, daß die gnädige Frau nicht zu Hause, aber Dr. Arnheim hier sei und auf sie warte. Ulrich erklärte, daß er eintreten wolle, ohne zu bemerken, daß bei seinem Anblick seiner reuigen kleinen Freundin das Blut ins Gesicht geschlagen war.

Auf der Straße flutete noch Unruhe hin und her, und Arnheim, der am Fenster gestanden hatte, kam ihm von dort entgegen, um ihn zu begrüßen. Der unerwartete Zufall dieses zögernd gesuchten Zusammentreffens belebte sein Gesicht, aber er wollte vorsichtig sein und fand nicht den gewünschten Anfang. Auch Ulrich konnte sich nicht entschließen, gleich mit den galizischen öllagern zu beginnen, und so schwiegen die beiden Männer bald nach den ersten Begrüßungsworten und traten schließlich gemeinsam ans Fenster, wo 346

sie stumm auf die Erregung in der Tiefe hinabsahen.

Nach einer Weile sagte Arnheim: «Ich kann Sie nicht verstehen; ist es nicht tausendmal wichtiger, sich mit dem Leben abzugeben, als zu schreiben?!»

«Ich schreibe ja nichts» erwiderte Ulrich knapp.

«Daran tun Sie recht!» - Arnheim paßte sich der Antwort an - «Das Schreiben ist, so wie die Perle, eine Krankheit. Sehen Sie -: » Er wies mit zweien seiner gepflegten Finger auf die Straße, eine Bewegung, die trotz ihrer Schnelligkeit ein wenig vom päpstlichen Segen an sich hatte. «Da kommen die Leute einzeln und in Rudeln, und von Zeit zu Zeit wird von innen ein Mund aufgerissen und schreit! Ein andermal würde der Mann schreiben; da haben Sie recht!»

«Aber Sie sind doch selbst ein berühmter Schriftsteller?!»

«Oh, das will nichts bedeuten!» - Aber nach dieser Antwort, die in liebenswürdiger Weise alles offen ließ, wandte sich Arnheim Ulrich zu, indem er sich ihm ausführlich in ganzer Breite zudrehte und, Brust an Brust vor ihm stehend, die Worte weit auseinanderlegend, sagte: «Darf ich Sie etwas fragen?»

Es war natürlich unmöglich, darauf nein zu sagen; aber da Ulrich unwillkürlich ein wenig abgerückt war, wirkte diese rhetorische Höflichkeit wie eine Seilschlinge, die ihn wieder heranholte. «Ich hoffe, » begann Arnheim «daß Sie unseren letzten kleinen Zusammenstoß nicht übel vermerkt, sondern der Teilnahme zugute gehalten haben, die ich Ihren Anschauungen entgegenbringe, auch wenn sie, was ja nicht selten geschieht, den meinen zu widersprechen scheinen.

Dann darf ich Sie also fragen, ob Sie wirklich daran festhalten, daß - ich möchte es gerne zusammenfassend sagen: - daß man mit einem eingeschränkten Realgewissen leben soll? Drücke ich mich richtig aus?»

Das Lächeln, womit Ulrich antwortete, sagte: ich weiß es nicht und warte ab, was du noch sagen wirst.

«Sie haben von einem gleichsam in Schwebe zu lassenden Leben gesprochen, nach der Art von Gleichnissen, die unentschieden zwischen zwei Welten zu Hause sind? Sie haben außerdem zu Ihrer Frau Kusine verschiedenes gesagt, was außerordentlich fesselnd ist. Es wäre sehr kränkend für mich, wenn Sie mich etwa für einen preußischen Geschäfts-Militaristen hielten, der für derlei kein Verständnis hat. Aber Sie sagen zum Beispiel, es sei nur der gleichgültige Teil unser selbst, woraus unsere Wirklichkeit und Geschichte entstehe; ich verstehe das etwa so, daß man die Formen und Typen des Geschehens erneuern müßte und daß es bis dahin ihrer Meinung nach einigermaßen gleichgültig sei, was gerade Hinz und Kunz widerfahre?»

«Ich meine, » schaltete Ulrich vorsichtig und widerstrebend ein «es erinnert an einen Stoff, der in tausenden Ballen technisch sehr vollendet erzeugt wird, aber nach alten Mustern, um deren Entwicklung sich niemand kümmert. »

«Mit anderen Worten, » fiel Arnheim ein «ich verstehe Ihre Behauptung so, daß der gegenwärtige, zweifellos unbefriedigende Weltzustand davon komme, daß die Führer glauben, Weltgeschichte machen zu müssen, statt alle Kraft des Menschen darauf zu richten, die Sphäre der Macht mit Ideen zu durchdringen.

Man könnte es vielleicht noch richtiger mit einem Fabrikanten vergleichen, der darauf los produziert und sich nur nach dem Markt richtet, statt diesen zu regulieren! Sie sehen also, daß mich Ihre Gedanken sehr nahe berühren. Aber Sie müssen gerade deshalb verstehen, daß diese Gedanken auf mich als einen Mann, der unaufhörlich Entscheidungen treffen muß, von denen ausgedehnte Betriebe in Bewegung erhalten werden, mitunter auch geradezu ungeheuerlich wirken! Zum Beispiel, wenn Sie eben den Verzicht auf die Realbedeutung unseres Tuns fordern; auf den vorläufig definitiven> Charakter unserer Handlungen, wie unser Freund Leinsdorf so entzückend sagt, dessenungeachtet man wirklich nicht ganz darauf verzichten kann!»

«Ich verlange gar nichts» sagte Ulrich.

«Oh, Sie verlangen wohl mehr! Sie verlangen das Bewußtsein des Versuchs!» Arnheim sagte es mit Lebhaftigkeit und Wärme. «Die verantwortlichen Führer sollen daran glauben, daß sie nicht Geschichte zu machen, sondern Versuchsprotokolle auszufüllen haben, die weiteren Versuchen zur Grundlage dienen können! Ich bin entzückt von diesem Einfall; aber wie sieht es zum Beispiel mit Kriegen und Revolutionen aus? Kann man die Toten wieder aufwecken, wenn der Versuch durchgeführt ist und vom Arbeitsplan abgesetzt wird?!»

Ulrich unterlag nun doch dem Reiz des Sprechens, der nicht viel anders zur Fortsetzung anstachelt wie der 347

des Rauchens, und entgegnete, daß man wahrscheinlich alles, um es fördern zu können, in vollem Ernst anpacken müsse, auch wenn man wisse, daß fünfzig Jahre nach seiner Durchführung noch jeder Versuch der Mühe nicht wert war. Aber dieser perforierte Ernst> sei auch sonst nichts Ungewöhnliches; man setze oft genug sein Leben im Spiel und für nichts ein. Psychologisch würde ein Leben auf Versuch also nichts Unmögliches bedeuten; was fehle, sei bloß der Wille, eine in gewissem Sinne unbegrenzte Verantwortung zu übernehmen. «Darin liegt der entscheidende Unterschied» schloß er. «Früher hat man gleichsam deduktiv empfunden, von bestimmten Voraussetzungen ausgehend, und diese Zeit ist vorbei; heute lebt man ohne leitende Idee, aber auch ohne das Verfahren einer bewußten Induktion, man versucht darauf los wie ein Affe!»

«Ausgezeichnet!» gab Arnheim freiwillig zu. «Aber nun verzeihen Sie mir noch eine letzte Frage: Sie empfinden, wie mir Ihre Kusine wiederholt gesagt hat, lebhafte Teilnahme für einen krankhaft-gefährlichen Menschen. Ich verstehe das, nebenbei bemerkt, sehr gut. Auch gibt es noch kein rechtes Verfahren mit solchen Leuten, und das Verhalten der menschlichen Gesellschaft ist ihnen gegenüber schändlich fahrlässig.

Aber wie die Verhältnisse nun einmal liegen und nur die Wahl lassen, daß dieser Mensch entweder unschuldig getötet wird oder Unschuldige tötet: Würden Sie ihn in der Nacht vor seiner Hinrichtung entschlüpfen lassen, wenn Sie die Macht dazu hätten?»

«Nein!» sagte Ulrich.

«Nein? Wirklich nein?!» fragte Arnheim, plötzlich sehr lebhaft.

«Ich weiß es nicht. Ich glaube nein. Ich könnte mich natürlich darauf ausreden, daß ich in einer falsch eingerichteten Welt gar nicht so handeln darf, wie es mir recht vorkommt; aber ich will Ihnen einfach zugeben, daß ich nicht weiß, was ich zu tun hätte. »

«Dieser Mann ist zweifellos unschädlich zu machen» sagte Arnheim nachdenklich. «Er ist aber in den Zeiten seiner Anfälle ein Sitz des Dämonischen, das in allen starken Jahrhunderten dem Göttlichen verwandt empfunden worden ist. Früher hätte man den Mann, wenn seine Anfälle kamen, in die Wüste geschickt; er würde dann vielleicht auch gemordet haben, aber in einer großen Vision, wie Abraham den Isaak schlachten wollte! Das ist es! Wir wissen heute nichts mehr damit anzufangen, und wir meinen nichts mehr ehrlich!»

Vielleicht hatte sich Arnheim zu diesen letzten Worten hinreißen lassen und wußte selbst nicht genau, was er damit sagen wollte; daß Ulrich nicht so viel «Seele und Torheit» aufbrachte, um die Frage, ob er Moosbrugger retten würde, ohne Hemmung zu bejahen, hatte seinen eigenen Ehrgeiz aufgestachelt. Aber Ulrich, obwohl er diese Wendung des Gesprächs fast als ein Zeichen empfand, das ihn unerwartet an seinen

«Beschluß» im Leinsdorfschen Palais erinnerte, ärgerte sich über die verschwenderische Ausschmückung, die Arnheim dem Gedanken an Moosbrugger gab, und beides ließ ihn gespannt trocken fragen: «Würden Sie ihn befreien?»

«Nein» erwiderte Arnheim lächelnd; «aber ich wollte Ihnen einen anderen Vorschlag machen. » Und ohne ihm Zeit zum Widerstand zu lassen, fuhr er fort: «Ich will Ihnen schon lange diesen Vorschlag machen, damit Sie Ihr Mißtrauen gegen mich aufgeben, das mich, offen gestanden, kränkt; ich möchte Sie sogar für mich gewinnen! Haben Sie eine Vorstellung davon, wie ein großes Wirtschaftsunternehmen innen aussieht?

Es hat zwei Spitzen: die Geschäftsleitung und den Verwaltungsrat; über diesen beiden gewöhnlich noch eine dritte, das Exekutivkomitee, wie Sie es hierzulande nennen, das aus Teilen von beiden besteht und täglich oder beinahe täglich zusammentritt. Der Verwaltungsrat ist selbstverständlich mit Vertrauensleuten der Aktienmajorität besetzt - » Er gönnte Ulrich jetzt erst eine Pause, und sie war so, als prüfe er ihn, ob ihm nicht schon bisher etwas aufgefallen sei. «Ich sagte, die Aktienmajorität entsende ihre Vertrauensleute in Verwaltungsrat und Exekutivkomitee» half er nach: «Stellen Sie sich unter dieser Majorität etwas Bestimmtes vor?»

Ulrich tat es nicht; er besaß nur eine unbestimmte Sammelvorstellung vom Geldwesen, die Beamte, Schalter, Kupons und urkundenähnliche Papiere enthielt.

Arnheim half abermals nach. «Haben Sie schon jemals einen Verwaltungsrat gewählt? Sie haben es nie getan!» -setzte er gleich selbst hinzu - «Und es würde auch keinen Sinn haben, daran zu denken, denn Sie werden nie die Aktienmajorität eines Unternehmens besitzen!» Er sagte das so bestimmt, daß sich Ulrich fast durch den Mangel einer so wichtigen Eigenschaft hätte beschämt fühlen können; und es war auch ein echt Arnheimscher Einfall, mit einem einzigen Schritt und ohne Mühe von den Dämonen zu den 348

Verwaltungsräten überzugehn. Er fuhr lächelnd fort: «Ich habe Ihnen eine Person bisher nicht genannt, und es ist in gewissem Sinn die wichtigste! Ich habe <die Aktienmajorität> gesagt, das klingt wie eine harmlose Vielheit: dennoch ist das fast immer eine einzelne Person, ein ungenannter und der großen Öffentlichkeit unbekannter Hauptanteilbesitzer, der von jenen verdeckt wird, die er an seiner Statt vorschickt!»

Nun dämmerte es Ulrich natürlich, daß dies Dinge seien, von denen man jeden Tag in der Zeitung lesen könne; aber Arnheim verstand es immerhin, ihnen Spannung zu geben. Neugierig fragte er ihn, wer die Aktienmajorität der Lloyd-Bank besitze.

«Das weiß man nicht» erwiderte Arnheim ruhig. «Richtiger gesagt, Eingeweihte wissen es natürlich, aber es ist nicht üblich, davon zu sprechen. Lassen Sie mich lieber auf den Kern dieser Dinge kommen: Überall, wo zwei solche Kräfte da sind, ein Auftraggeber auf der einen, eine Verwaltung auf der anderen Seite, entsteht von selbst die Erscheinung, daß jedes mögliche Mehrungsmittel ausgenutzt wird, ob es nun moralisch und schön ist oder nicht. Ich sage wirklich <von selbst>, denn diese Erscheinung ist in hohem Grade unabhängig vom Persönlichen. Der Auftraggeber kommt nicht unmittelbar in Berührung mit der Ausführung, und die Organe der Verwaltung sind dadurch gedeckt, daß sie nicht aus persönlichen Gründen, sondern als Beamte handeln. Dieses Verhältnis finden Sie heute allenthalben und durchaus nicht nur im Geldwesen. Sie können versichert sein, daß unser Freund Tuzzi in größter Gewissensruhe das Zeichen zu einem Krieg geben würde, selbst wenn er persönlich nicht einen alten Hund totschießen könnte, und Ihren Freund Moosbrugger werden Tausende zum Tode befördern, weil sie es bis auf drei nicht mit leiblicher Hand zu tun brauchen! Durch diese zur Virtuosität ausgebildete <Indirektheit> wird heute das gute Gewissen jedes Einzelnen wie der ganzen Gesellschaft gesichert; der Knopf, auf den man drückt, ist immer weiß und schön, und was am anderen Ende der Leitung geschieht, geht andere Leute an, die für ihre Person wieder nicht drücken. Finden Sie es abscheulich? So lassen wir Tausende sterben oder vegetieren, bewegen Berge von Leid, richten damit aber auch etwas aus! Ich möchte beinahe behaupten, daß sich darin, in der Form der sozialen Arbeitsteilung, nichts anderes ausdrückt als die alte Zweiteilung des menschlichen Gewissens in gebilligten Zweck und in Kauf genommene Mittel, wenn auch in einer grandiosen und gefährlichen Weise. »

Ulrich hatte zu Arnheims Frage, ob er das verabscheue, die Achseln gezuckt. Die Teilung des moralischen Bewußtseins, von der Arnheim sprach, diese fürchterlichste Erscheinung des heutigen Lebens, hat es immer gegeben, aber sie ist zu ihrem grauenvollen guten Gewissen erst als eine Folge der allgemeinen Arbeitsteilung gelangt, und als solche besitzt sie auch etwas von deren großartiger Unvermeidlichkeit. Es widerstrebte Ulrich, sich schlechtweg über sie zu entrüsten, und erregte zum Trotz das komische und angenehme Gefühl in ihm, das eine Hundertkilometergeschwindigkeit bereitet, wenn ein bestaubter Moralist am Wege steht und schimpft. Als Arnheim schwieg, sagte er darum zuerst: «Jede Form der Arbeitsteilung läßt sich entwickeln. Die Frage, die Sie mir stellen dürfen, ist also nicht, ob ich <abscheulich finde>, sondern ob ich glaube, daß man zu würdigeren Zuständen gelangen könne, ohne umkehren zu müssen!»

«Ihre Generalinventur!» schaltete Arnheim ein. «Wir haben die Teilung der Tätigkeiten ausgezeichnet organisiert, dabei aber die Instanzen für die Zusammenfassung vernachlässigt; wir zerstören die Moral und die Seele fortwährend nach den neuesten Patenten und glauben sie mit den alten Hausmitteln der religiösen und philosophischen Überlieferung zusammenhalten zu können! Ich spotte nicht gerne in dieser Weise»

verbesserte er sich «und halte Witz ganz allgemein für etwas sehr Zweideutiges; aber ich habe den Vorschlag, den Sie in unserer Gegenwart Graf Leinsdorf gemacht haben, daß man das Gewissen neu organisieren solle, auch niemals bloß für einen Scherz gehalten!»

«Es war einer» erwiderte Ulrich schroff. «Ich glaube nicht an die Möglichkeit. Eher bilde ich mir noch ein, daß der Teufel die europäische Welt aufgebaut hat und Gott seinen Konkurrenten zeigen lassen will, was er kann!»

«Eine hübsche Idee!» sagte Arnheim. «Aber warum haben Sie sich dann über mich geärgert, als ich Ihnen nicht glauben wollte?»

Ulrich antwortete nicht.

«Was Sie soeben sagten, steht auch in Widerspruch zu der sehr unternehmenden Äußerung über das Verfahren, wie wir uns einem richtigen Leben nähern könnten, die Sie eine Weile früher getan haben» fuhr Arnheim still und hartnäckig fort. «Überhaupt fällt mir auf, ganz abgesehen davon, ob ich Ihnen im 349

einzelnen zustimmen kann oder nicht, wie sehr sich in Ihnen tätige Neigungen und Gleichgültigkeit mischen. »

Als Ulrich auch darauf eine Antwort nicht nötig fand, sagte Arnheim so höflich, wie es einer Ungezogenheit gegenüber das richtige ist: «Ich habe nur Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken wollen, wie sehr man sich heute bei wirtschaftlichen Entscheidungen, von denen ohnehin beinahe alles abhängt, auch noch die moralische Verantwortung selbst zurechtlegen muß und wie fesselnd sie dadurch werden. » Es lag ein leichter werbender Nachdruck selbst in dieser zurechtweisenden Bescheidenheit.

«Verzeihen Sie» entgegnete Ulrich; «ich habe über Ihre Worte nachgedacht. » Und als täte er es noch, fügte er hinzu: «Ich würde gerne wissen, ob Sie es auch für eine zeitgemäße Indirektheit und Bewußtseinsteilung halten, wenn man der Seele einer Frau mystische Gefühle einflößt, während man es für das Vernünftigste hält, ihrem Gatten ihren Körper zu überlassen?»

Arnheim verfärbte sich ein wenig bei diesen Worten, aber er verlor nicht die Beherrschung der Lage. Er erwiderte ruhig: «Ich weiß nicht mit Sicherheit, was Sie meinen. Aber wenn Sie von einer Frau sprechen würden, die Sie lieben, könnten Sie das nicht sagen, denn die Gestalt der Wirklichkeit ist immer reicher als die Linienführung der Grundsätze. » - Er war vom Fenster weggegangen und lud Ulrich zum Sitzen ein.

«Sie geben sich nicht leicht gefangen!» - fuhr er in einem Ton fort, der sowohl von Anerkennung wie von Bedauern etwas hatte - «Aber ich weiß, daß ich für Sie mehr ein feindliches Prinzip als einen persönlichen Gegner bedeute. Und die, welche für ihre Person die besten Gegner des Kapitalismus sind, sind im Geschäft nicht selten seine besten Diener; ich darf mich sogar ein wenig selbst dazu rechnen, sonst würde ich mir nicht erlauben, Ihnen das zu sagen. Unbedingte und leidenschaftliche Menschen sind, wenn sie einmal die Notwendigkeit eines Zugeständnisses eingesehen haben, gewöhnlich seine begabtesten Verfechter. Ich will darum meinen Vorsatz unter allen Umständen zu Ende führen und schlage Ihnen vor: Treten Sie in die Unternehmungen meiner Firma ein. »

Er machte absichtlich nicht viel Aufhebens von diesem Vorschlag, im Gegenteil, er schien die billige Wirkung der Überraschung, deren er freilich sicher war, durch unbetontes und schnelles Sprechen mildern zu wollen; Ulrichs erstaunten Blick in keiner Weise erwidernd, zählte er nun gleichsam die Einzelheiten auf, die dann zu erledigen wären, wenn das einträte, wozu er im Augenblick keineswegs persönlich Stellung nehmen wolle. «Sie würden natürlich anfangs nicht die Ausbildung haben, » sagte er sanft «um eine leitende Stellung übernehmen zu können, und wahrscheinlich hätten Sie dazu auch noch gar nicht Lust; ich würde Ihnen darum eine Stellung an meiner Seite anbieten, nennen wir sie Generalsekretär, eine Stellung, die ich eigens für Sie schaffen möchte. Ich hoffe, daß ich Sie damit nicht beleidige, denn ich denke mir diesen Posten durchaus nicht mit einem bestechenden Gehalt ausgestattet; wohl aber sollten Sie in Ihrer Tätigkeit die Möglichkeit finden, sich mit der Zeit jedes Einkommen zu verschaffen, das Ihnen wünschenswert erscheint, und ich bin überzeugt, daß Sie mich nach Ablauf eines Jahres ganz anders verstehen werden als jetzt. »

Als Arnheim diese Rede schloß, fühlte er doch, daß er erregt war. Eigentlich wunderte er sich in diesem Augenblick darüber, daß er Ulrich nun wirklich ein solches Angebot gemacht habe, durch dessen Zurückweisung er nur bloßgestellt werden konnte, ohne daß mit der Annahme ein erfreulicher Zweck verbunden war. Denn die Vorstellung, dieser vor ihm befindliche Mensch könne zu etwas imstande sein, was er selbst nicht zuwegebringe, war im Verlauf des Gesprächs geschwunden, und das Bedürfnis, diesen Mann zu verführen und in seine Macht zu bringen, war unsinnig geworden, seitdem es sich Luft gemacht hatte. Daß er sich vor etwas gefürchtet hatte, was er dieses Mannes «Witz» nannte, erschien ihm unnatürlich. Er, Arnheim, war ein großer Herr, und für einen solchen hat das Leben einfach zu sein! Er verträgt sich mit allem anderen Großen, soweit ihm das erlaubt ist, lehnt sich nicht abenteuerlicherweise gegen alles auf und zieht nicht alles in Zweifel, das wäre gegen seine Natur; auf der anderen Seite aber gibt es natürlich die schönen und zweifelhaften Dinge, und man zieht so viel von ihnen heran, als es möglich ist.

Noch nie glaubte Arnheim so stark wie in diesem Augenblick die Sicherheit der westlichen Kultur empfunden zu haben, die ein wundervolles Geflecht von Kräften und Hemmungen ist! Wenn Ulrich das nicht einsah, so war er nichts als ein Abenteurer, und daß er sich durch ihn beinahe zu dem Gedanken hatte verleiten lassen -: hier versagten aber Arnheim die Worte trotz ihrer stummen Verborgenheit; er brachte es nicht fertig, sich die Vorstellung deutlich ausgliedern zu lassen, daß er daran gedacht habe, Ulrich an Sohnes Statt an sich zu ziehen. Es wäre gar nicht viel dabei gewesen, ein Gedanke schließlich wie unzählige 350

andere, die man nicht zu verantworten braucht, und wahrscheinlich von irgendeiner Lebenstrauer eingegeben, wie sie am Grunde jedes tätigen Lebens zurückbleibt, weil man nie das findet, womit man zufrieden ist; und vielleicht hatte er den Gedanken überhaupt nicht in dieser anfechtbaren Form gehabt, sondern nur etwas empfunden, dem man diese Form hätte geben können: trotzdem wollte er sich nicht daran erinnern und hatte bloß schreiend deutlich die Vorstellung im Kopf, wenn man Ulrichs Jahre von den seinen abziehe, bleibe kein so großer Unterschied übrig, und dahinter allerdings die schattenhaftere zweite, daß ihm Ulrich als Warnung vor Diotima dienen sollte! Er erinnerte sich, schon öfters sein Verhältnis zu Ulrich so empfunden zu haben wie einen Nebenkrater, an dem man die Unheimlichkeit der Vorgänge erkennt, die sich im Hauptkrater vorbereiten, und es beunruhigte ihn einigermaßen, daß es hier nun zum Ausbruch gekommen war, denn die Worte waren ausgeflossen und bahnten sich ihren Weg ins Leben.

«Was soll geschehn, » fuhr es Arnheim durch den Kopf «wenn dieser Mensch annimmt?!» In solcher Weise näherten sich die gespannten Augenblicke ihrem Ende, in denen ein Arnheim auf die Entscheidung eines jüngeren, Mannes warten mußte, dem er nur durch seine Einbildung Bedeutung geliehen hatte. Er saß sehr steif da, mit feindlich geöffneten Lippen, und dachte: «Es wird sich schon irgendwie regeln lassen, falls es sich nicht noch vermeiden läßt. »

Während Gefühl und Überlegung diesen Weg zurücklegten, stand jedoch die Lage nicht still, sondern es folgten Frage und Antwort geläufig aufeinander.

«Und welchen Eigenschaften» fragte Ulrich trocken «verdanke ich diesen Vorschlag, der kaufmännisch wohl kaum zu rechtfertigen ist?»

«Sie irren in dieser Frage immer wieder» entgegnete Arnheim. «Dort, wo ich stehe, sucht man die kaufmännische Rechtfertigung nicht in Heller und Pfennig; was ich an Ihnen verlieren könnte, spielt keine Rolle gegenüber dem, was ich zu gewinnen hoffe!»

«Sie machen mich aufs äußerste neugierig» meinte Ulrich; «daß ich ein Gewinn sein solle, wird mir sehr selten gesagt. Ein kleiner hätte ich vielleicht für meine Wissenschaft werden können, aber selbst da habe ich, wie Sie wissen, enttäuscht. »

«Darüber, daß Sie ungewöhnlich viel Verstand besitzen, » antwortete Arnheim (immer noch in dem Ton stiller Unerschütterlichkeit, an dem er äußerlich festhielt) «sind Sie mit sich selbst im reinen; das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Aber es wäre sogar möglich, daß wir schärfere und verläßlichere Intelligenzen in unseren Betrieben hätten. Es ist dagegen Ihr Charakter, es sind Ihre menschlichen Eigenschaften, was ich aus bestimmten Gründen dauernd an meiner Seite haben möchte. »

«Meine Eigenschaften?» Ulrich mußte lächeln. «Wissen Sie, daß mich meine Freunde einen Mann nennen, der keine Eigenschaften hat?»

Arnheim ließ sich eine kleine Gebärde der Ungeduld entschlüpfen, die ungefähr besagte: «Erzählen Sie mir nichts von sich, was ich längst besser weiß!» In diesem Zucken, das über sein Gesicht bis in die Schulter lief, setzte sich seine Unzufriedenheit durch, während die Worte noch nach Plan und Vorsatz weiterliefen.

Ulrich fing diesen Ausdruck auf, und so leicht war er durch Arnheim zu reizen, daß er dem Gespräch nun doch die bisher vermiedene Wendung zu voller Offenheit gab. Sie waren indes wieder aufgestanden, er trat einige Schritte von seinem Gegenüber weg, um die Wirkung besser beobachten zu können, und sagte: «Sie haben mir so viele bedeutsame Fragen gestellt, daß auch ich etwas wissen möchte, ehe ich mich entscheide.

» Und auf eine einladende Bewegung Arnheims fuhr er klar und sachlich fort: «Man hat mir erzählt, daß Ihre Teilnahme an allem, was mit der hier im Gange befindlichen <Aktion> zusammenhängt — und sowohl Frau Tuzzi wie meine Wenigkeit wären da nur ein Zusatz! - der Erwerbung von großen Teilen der galizischen ölfeider dienen soll?»

Arnheim war, soviel man in dem schon schlecht gewordenen Licht sehen konnte, bleich geworden und ging langsam auf Ulrich zu. Dieser hatte den Eindruck, sich gegen eine Unhöflichkeit vorsehen zu müssen, und bedauerte, durch seine unvorsichtige Geradheit dem anderen die Möglichkeit gegeben zu haben, eine Fortsetzung des Gesprächs in dem Augenblick abzulehnen, wo sie ihm unangenehm werden mußte: Er sagte darum so liebenswürdig wie möglich: «Ich wünsche Sie natürlich nicht zu beleidigen, aber unsere Aussprache würde nie ihre volle Bedeutung gewinnen, wenn wir sie nicht rücksichtslos führten!»

Diese paar Worte und die Zeit für das kurze Stück Wegs genügten, um Arnheim seine Fassung wiederfinden zu lassen; er trat mit einer lächelnden Bewegung an Ulrich heran, legte ihm die Hand, ja eigentlich den Arm auf die Schulter und sagte vorwurfsvoll: «Wie können Sie einem solchen 351

Börsengerücht aufsitzen!»

«Ich habe es nicht als Gerücht, sondern von jemand erfahren, der gut unterrichtet ist. »

«Ja, ich habe auch schon davon gehört, daß man das erzählt: wie konnten Sie es nur glauben! Natürlich bin ich nicht bloß zu meinem Vergnügen hier; ich kann es mir leider niemals erlauben, daß die Geschäfte ganz ruhen. Und ich will auch nicht leugnen, mit einigen Personen über diese öllager gesprochen zu haben, wiewohl ich Sie bitten muß, über dieses Zugeständnis Schweigen zu bewahren. Aber alles das ist doch nicht das Wesentliche!»

«Meine Kusine» fuhr Ulrich fort «ahnt von Ihrem Petroleum nicht das geringste. Sie hat von ihrem Galten den Auftrag empfangen, Sie ein wenig über den Zweck Ihres Aufenthaltes auszuhorchen, weil man Sie hier für eine Vertrauensperson des Zaren hält; aber ich bin überzeugt, daß sie diese diplomatische Mission nicht gut ausführt, denn sie ist sicher, einzig und allein selbst der Zweck Ihrer Anwesenheit zu sein!»

«Seien Sie doch nicht so undelikat!» Arnheims Arm gab Ulrichs Schulter eine freundschaftliche leichte Bewegung.

«Nebenbedeutungen laufen vielleicht immer und überall mit; aber Sie haben soeben, trotz der vermeintlichen Satire, mit der ungezogenen Aufrichtigkeit eines Schuljungen darüber gesprochen!»

Dieser Arm auf seiner Schulter machte Ulrich unsicher. Es war eine lächerliche und unangenehme Empfindung, sich umarmt zu fühlen, ja man konnte sie geradezu jämmerlich nennen; aber Ulrich hatte lange Zeit keinen Freund besessen, und vielleicht war es darum auch ein wenig verwirrend. Er würde diesen Arm gern abgestreift haben, und unwillkürlich bemühte er sich darum; aber Arnheim nahm die kleinen Zeichen von Unwillkommenheit wahr und mußte sich anstrengen, um das nicht merken zu lassen, und aus Höflichkeit, weil er Arnheims schwierige Lage mitfühlte, hielt Ulrich still und ertrug die Berührung, die nun immer sonderbarer auf ihn zu wirken begann, wie ein schweres Gewicht, das in einen locker aufgeschütteten Damm einsinkt und ihn entzweireißt. Diesen Wall von Einsamkeit hatte Ulrich, ohne daß er es wollte, um sich aufgerichtet, und nun drang durch eine Bresche das Leben ein, der Puls eines anderen Menschen, und es war ein dummes Gefühl, lächerlich, aber doch ein wenig aufregend.

Er dachte an Gerda. Erinnerte sich, wie schon sein Jugendfreund Walter das Verlangen in ihm erregt hatte, einmal wieder und so zügellos ganz mit einem Menschen übereinstimmen zu können, als ob es in der weiten Welt keine anderen Unterschiede gäbe als die der Zu-und Abneigung. Jetzt, wo es zu spät war, stieg das Verlangen danach wieder in ihm auf, in silbernen Wellen, schien es, wie die Weite eines Stroms hinab die Wellen von Wasser, Luft und Licht zu einem einzigen Silber werden, und so betörend, daß er sich hüten mußte, dem nachzugeben und in seiner zweideutigen Lage ein Mißverständnis hervorzurufen. Aber als sich seine Muskeln steiften, erinnerte er sich, daß Bonadea zu ihm gesagt hatte: «Ulrich, du bist nicht schlecht, du machst dir bloß Schwierigkeiten, gut zu sein!» - Bonadea, die an jenem Tag so erstaunlich klug gewesen war und auch noch das gesagt hatte: «Im Traum denkst du doch auch nicht, da erlebst du!» Und er hatte gesagt: «Ich war ein Kind, so weich wie Luft in einer Mondnacht… », und erinnerte sich jetzt, daß ihm dabei eigentlich ein anderes Bild vorgeschwebt hatte: die Spitze eines brennenden Magnesiumlichts; denn so wie diese sprühend zu Licht zerrissen wird, glaubte er sein Herz zu kennen, aber das war lange her, und er hatte sich nicht recht getraut, diesen Vergleich auszusprechen, und war dem anderen erlegen; überdies nicht im Gespräch mit Bonadea, sondern mit Diotima, wie ihm soeben einfiel. «Die Unterschiede des Lebens liegen an den Wurzeln sehr nahe beisammen», fühlte er und sah sich den Mann an, der ihm aus nicht sehr durchsichtigen Gründen angetragen hatte, sein Freund zu werden.

Arnheim hatte seinen Arm zurückgezogen. Sie standen jetzt wieder in der Fensternische, wo sie das Gespräch begonnen hatten; unten auf der Straße brannten bereits friedlich die Lampen, aber man spürte die auswirkende Bewegung der Vorgänge, die stattgefunden hatten. Zeitweilig kamen noch zusammengeballte Rudel von Menschen vorbei, sprachen hitzig, und dann und wann sprang auch noch ein Mund auf und stieß eine Drohung aus oder irgendein fak-kelndes «Huhuh!», dem Lachen folgte. Man empfing den Eindruck eines Zustands von Halbbewußtsein. Und im Licht dieser unruhigen Straße, zwischen den lotrecht herabfallenden Vorhängen, die das gedunkelte Bild des Zimmers umrahmten, sah er die Figur Arnheims und fühlte er seine eigene dastehen, zur Hälfte hell, zur Hälfte schwarz und von dieser Doppelbeleuchtung leidenschaftlich zugeschärft. Ulrich erinnerte sich der Heilrufe auf Arnheim, die er gehört zu haben glaubte, und mochte jener mit diesen Vorgängen zusammenhängen oder nicht, in der cäsarischen Ruhe, die er, nachdenklich auf die Straße blickend, zur Schau trug, wirkte er wie die beherrschende Figur in diesem 352

Augenblicksgemälde und schien seine eigene Gegenwart darin auch bei jedem Blick zu fühlen. Man begriff neben ihm, was Selbstbewußtsein heißt: Das Bewußtsein vermag nicht, das Wimmelnde, Leuchtende der Welt in Ordnung zu bringen, denn je schärfer es ist, desto grenzenloser wird, wenigstens vorläufig, die Welt; das Selbstbewußtsein aber tritt hinein wie ein Regisseur und macht eine künstliche Einheit des Glücks daraus. Ulrich beneidete diesen Mann um sein Glück. Es schien ihm in diesem Augenblick nichts leichter zu sein, als an ihm ein Verbrechen zu begehn, denn mit seinem Bedürfnis nach Bildhaftigkeit lockte dieser Mann auch diese alten Texte auf die Szene! «Nimm einen Dolch und erfülle sein Schicksal!»: Ulrich hatte diese Worte ganz mit schlechtem schauspielerischen Tonfall im Ohr, aber unwillkürlich richtete er es so ein, daß er mit dem halben Körper hinter Arnheim zu stehen kam. Er sah die dunkle, breite Fläche des Halses und der Schultern vor sich. Namentlich der Hals reizte ihn. Seine Hand suchte in den Taschen der rechten Körperseite nach dem Federmesser. Er hob sich auf die Fußspitzen und senkte seinen Blick an Arnheim vorbei noch einmal in die Straße. Im Halbdunkel draußen wurden die Menschen wie Sand von einer Welle angeschleppt, die ihre Körper bewegte. Irgend etwas mußte ja wohl aus dieser Kundgebung folgen, und so schickte die Zukunft eine Welle voraus, und es fand eine Art überpersönlicher schöpferischer Durchdringung der Menschen statt, aber es war wie immer eine höchst ungenaue und fahrlässige: so ähnlich empfand Ulrich, was er sah, und wurde eine kurze Weile davon festgehalten, aber er war es bis zu Ekelgefühlen müde, daran Kritik zu üben. Er ließ sich vorsichtig wieder auf die Sohlen sinken, schämte sich der Gedankenspielerei, die ihn diesen Weg vorher in entgegengesetzter Richtung hatte zurücklegen lassen, ohne das aber sonderlich wichtig zu nehmen, und fühlte eine große Verlockung, Arnheim auf die Schulter zu tippen und ihm zu sagen: «Ich danke Ihnen, ich habe es satt, ich will etwas Neues versuchen, und ich nehme Ihren Vorschlag an!»

Da Ulrich aber auch das nicht wirklich tat, kamen die beiden Männer über die Antwort auf Arnheims Anfrage hinweg. Arnheim nahm das Gespräch an einer früheren Stelle wieder auf: «Besuchen Sie manchmal den Film? Sie sollten es tun!» sagte er. «Vielleicht hat er in seiner gegenwärtigen Form noch keine ganz große Zukunft, aber lassen Sie sich erst größere kommerzielle Interessen - etwa elektrochemische oder solche der Farbenindustrie - damit verknüpfen, so werden Sie in einigen Jahrzehnten eine Entwicklung sehen, die durch nichts aufzuhalten ist. Dann setzt der Vorgang ein, wo jedes Mehrungs-und Steigerungsmittel herhalten muß, und was immer unsere Dichter oder Ästhetiker sich einbilden werden, entstehen wird eine Kunst der A. E. G. oder der Deutschen Farbwerke. Es ist entsetzlich, mein Lieber!

Schreiben Sie? Nein, ich habe Sie das bereits vorhin gefragt. Aber warum schreiben Sie nicht? Sie haben recht. Der künftige Dichter und Philosoph wird über das Laufbrett der Journalistik kommen! Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, daß unsere Journalisten immer besser und unsere Dichter immer schlechter werden?

Ohne Frage ist das eine gesetzmäßige Entwicklung; es ist etwas im Gange, und ich bin auch gar nicht im Zweifel, was das ist: das Zeitalter der großen Individualitäten geht zu Ende!» Er beugte sich vor. «Ich kann nicht ausnehmen, welches Gesicht Sie dazu machen; ich habe schlechtes Büchsenlicht!» Er lachte ein wenig. «Sie haben eine Generalinventur des Geistes gefordert: Glauben Sie daran? Glauben Sie denn, daß das Leben vom Geist regulierbar ist?! Sie haben natürlich nein gesagt: Aber ich glaube Ihnen nicht, denn Sie sind ein Mensch, der den Teufel umarmen würde, weil er der Mann ohnegleichen ist!»

«Woraus ist das?» fragte Ulrich,

«Aus der unterdrückten Vorrede zu den Räubern. »

«Natürlich aus der unterdrückten, » dachte Ulrich «wie denn aus einer gewöhnlichen!»

«Geister, die das abscheuliche Laster reizet, um der Größe willen, die ihm anhängt» zitierte Arnheim aus seinem umfassenden Gedächtnis weiter. Er fühlte, daß er wieder Herr der Lage sei und Ulrich, aus welchen Gründen immer, nachgegeben habe; es war nicht mehr feindliche Härte neben ihm, man brauchte auch nicht mehr von dem Antrag zu sprechen, das war in einer glücklichen Weise vorbeigegangen; aber so wie ein Ringkämpfer das Ermatten des Gegners errät und da sein ganzes Gewicht einsetzt, fühlte er das Bedürfnis, die volle Schwere jenes Antrags nachwirken zu lassen, und fuhr fort: «Ich glaube, daß Sie mich jetzt besser verstehen werden als anfangs. Ich gestehe Ihnen also offen, daß ich mich zuweilen allein fühle.

Wenn die Leute <neu> sind, denken sie zu wirtschaftlich; wenn die Wirtschaftsfamilien aber die zweite oder dritte Generation bilden, verlieren sie die Phantasie. Sie bringen dann nur noch einwandfreie Verwalter hervor, Schlösser, Jagden, Offiziere und adelige Schwiegersöhne. Ich kenne diese Leute in der ganzen Welt; es sind kluge und feine Menschen darunter, aber sie sind nicht fähig, auch nur einen 353

Gedanken hervorzubringen, der mit diesem letzten Unruhig-, Unabhängig-und vielleicht Unglücklichsein zusammenhängt, das ich durch das Schillerzitat gekennzeichnet habe. »

«Ich kann leider das Gespräch nicht fortsetzen» erwiderte Ulrich. «Frau Tuzzi dürfte den Wiedereintritt der Ruhe in einem befreundeten Haus abwarten, aber ich muß fort. Sie trauen mir also zu, daß ich, ohne von Wirtschaft etwas zu verstehen, diese Unruhe besitze, die ihr so förderlich ist, indem sie ihr das allzu Wirtschaftliche nimmt?» Er hatte Licht gemacht, um sich zu verabschieden, und wartete auf Antwort.

Arnheim legte ihm in majestätischer Freundlichkeit den Arm auf die Schulter, eine Gebärde, die sich nun schon bewährt zu haben schien, und erwiderte: «Verzeihen Sie mir, wenn ich vielleicht etwas viel gesagt habe, es war eine Stimmung der Einsamkeit! Die Wirtschaft kommt zur Macht, und was fangen wir mit der Macht an, fragt man sich manchmal! Nehmen Sie es mir nicht übel!»

«Aber im Gegenteil!» versicherte Ulrich. «Ich habe mir vorgenommen, Ihren Vorschlag ernst zu überlegen!» - Er sagte das schnell, und man konnte diese Hast als Erregung deuten. Darum blieb Arnheim, der noch auf Diotima wartete, etwas verdutzt zurück und fürchtete, daß es gar nicht so einfach sein werde, Ulrich auf eine ehrenvolle Weise von diesem Vorschlag wieder abzubringen.

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Heimweg

Ulrich ging zu Fuß nach Hause. Es war eine schöne, aber dunkle Nacht. Die Häuser bildeten hoch und geschlossen den sonderbaren, oben offenen Raum Straße, über dem in der Luft irgend etwas, Finsternis, Wind oder Wolken, vor sich ging. Der Weg war so menschenleer, als ob die frühere Unruhe nun einen tiefen Schlummer hinterlassen hätte. Wenn Ulrich einem Fußgänger begegnete, so kam der Schall der Schritte durch lange Zeit allein auf ihn zu wie eine gewichtige Anmeldung. Man konnte das Gefühl von Geschehen haben in dieser Nacht wie in einem Theater. Man fühlte, daß man eine Erscheinung in dieser Welt war; etwas, das größer wirkt, als es ist; das hallt und, wenn es an beleuchteten Flächen vorbeikommt, seinen Schatten zur Begleitung hat wie einen mächtig zuckenden Narren, der sich aufrichtet und im nächsten Augenblick wieder demütig an die Fersen kriecht. «Wie glücklich kann man sein!» dachte er.

Er durchschritt einen Torbogen in einem etwa zehn Schritte lang neben der Straße laufenden steinernen Gang, der von ihr durch dicke Gewölbepfeiler getrennt war; Dunkelheit sprang aus Ecken, Überfall und Totschlag fak-kelten in dem halberleuchteten Durchlaß: heftiges, altertümlich und blutig feierliches Glück faßte die Seele an. Vielleicht war dies zu viel; Ulrich stellte sich plötzlich vor, mit wieviel Selbstgenuß und innerer «Regie» Arnheim jetzt an seiner Stelle hier gehen würde. Er hatte keine Freude mehr an seinem Schatten und Hall, und die geisternde Musik in den Mauern war erloschen. Er wußte, daß er Arnheims Antrag nicht annehmen werde; aber er kam sich jetzt nur noch wie ein durch die Galerie des Lebens irrendes Gespenst vor, das voll Bestürzung den Rahmen nicht finden kann, in den es hineinschlüpfen soll, und war ordentlich froh, als sein Weg bald in eine weniger drückende und großartige Gegend gelangte.

Breite Straßen und Plätze öffneten sich dunkel, und gewöhnliche Häuser, mit Lichtstockwerken friedlich bestirnt, hatten weiter nichts Zauberhaftes an sich. Ins Freie tretend, nahm er von diesem Frieden Witterung, und ohne daß er recht wußte warum, erinnerte er sich an einige Kinderbildnisse, die er vor einiger Zeit wiedergesehen hatte: sie zeigten ihn in Gesellschaft seiner früh verstorbenen Mutter, und mit Fremdheit hatte er auf ihnen einen kleinen Knaben erblickt, den eine altmodisch gekleidete, schöne Frau glücklich anlächelte. Die äußerst eindringliche Vorstellung eines braven, liebevollen, klugen kleinen Jungen, die man sich von ihm gemacht hatte; Hoffnungen, die ganz und gar noch nicht seine eigenen waren; Ungewisse Erwartungen einer ehrenvollen erwünschten Zukunft, die wie die offenen Flügel eines goldenen Netzes nach ihm langten -: obgleich alles das seinerzeit unsichtbar gewesen war, hatte es sich nach Jahrzehnten doch sehr deutlich den alten Platten ablesen lassen, und mitten aus dieser sichtbaren Unsichtbarkeit, die so leicht hätte Wirklichkeit werden können, blickte ihm sein weiches, leeres Kindergesicht mit dem etwas verstörten Ausdruck des Stillhaltens entgegen. Er hatte keine Spur von Neigung für diesen Knaben gefühlt, und wenn er auch auf seine schöne Mutter einigen Stolz setzte, hatte das Ganze doch vor allem den Eindruck auf ihn gemacht, einem großen Schreck entronnen zu sein.

Wer diesen Eindruck erlebt hat, daß ihm seine Person, in einen gewesenen Augenblick der 354

Selbstzufriedenheit gehüllt, aus alten Bildern entgegenblickte, als wäre ein Bindemittel ausgetrocknet oder abgefallen, wird das Gefühl verstehen, mit dem er sich die Frage vorlegte, wie dieses Bindemittel denn eigentlich beschaffen sei, daß es bei anderen nicht versage. Er befand sich nun in einer der Baumanlagen, die als ein unterbrochener Ring der Linie folgen, wo früher die Wälle waren, und hätte sie mit wenigen Schritten durchqueren Können, aber der große Streif Himmels, der sich der Länge nach über den Bäumen dehnte, verlockte ihn, abzubiegen und seiner Richtung zu folgen, wobei er sich dem überaus privat wirkenden Lichterkranz, der die winterlichen Anlagen, die er durchschritt, himmlisch zurückgezogen umschwebte, immerfort zu nähern schien, ohne ihm näher zu kommen. «Es ist eine Art perspektivischer Verkürzung des Verstandes, » sagte er sich «was diesen allabendlichen Frieden zustandebringt, der in seiner Erstreckung von einem zum ändern Tag das dauernde Gefühl eines mit sich selbst einverstandenen Lebens ergibt. Denn der Menge nach ist es ja beiweitem nicht die Hauptvoraussetzung des Glücks, Widersprüche zu lösen, sondern sie verschwinden zu machen, wie sich in einer langen Allee die Lücken schließen, und so, wie sich allenthalben die sichtbaren Verhältnisse für das Auge verschieben, daß ein von ihm beherrschtes Bild entsteht, worin das Dringende und Nahe groß erscheint, weiter weg aber selbst das Ungeheuerliche klein, Lücken sich schließen und endlich das Ganze eine ordentliche glatte Rundung erfährt, tun es eben auch die unsichtbaren Verhältnisse und werden von Verstand und Gefühl derart verschoben, daß unbewußt etwas entsteht, worin man sich Herr im Hause fühlt. Diese Leistung ist es also, »

sagte sich Ulrich «die ich nicht in wünschenswerter Weise vollbringe. »

Er blieb einen Augenblick vor einer breiten Pfütze stehen, die seinen Weg sperrte. Vielleicht war es diese Lache zu seinen Füßen, und vielleicht waren es auch die besenkahlen Bäume zu seinen Seiten, was in diesem Augenblick plötzlich Straße und Dorf hervorzauberte und die zwischen Erfüllung und Vergeblichkeit liegende Eintönigkeit der Seele in ihm weckte, die dem Land eigentümlich ist und ihn seit jener ersten «Reise-Flucht» in seiner Jugend mehr als einmal zu einer Wiederholung gelockt hatte. «Es wird alles so einfach!» fühlte er. «Die Gefühle schläfern; die Gedanken lösen sich voneinander wie Wolken nach bösem Wetter, und mit einemmal bricht ein leerer schöner Himmel aus der Seele! Nun mag angesichts dieses Himmels eine Kuh mitten am Weg strahlen: es ist eine Eindringlichkeit des Geschehens, als ob sonst nichts auf der Welt wäre! Eine Wolke mag, hindurchwandernd, das gleiche über der ganzen Gegend tun: das Gras wird dunkel, und eine Weile später blitzt das Gras ringsum vor Nässe, sonst ist nichts geschehn, aber das ist eine Fahrt wie von einer Küste eines Meeres zur andern! Ein alter Mann verliert seinen letzten Zahn: und dieses kleine Ereignis bedeutet einen Einschnitt im Leben aller seiner Nachbarn, woran sie ihre Erinnerungen knüpfen können! Und so singen die Vögel alle Abende um das Dorf und immer in der gleichen Weise, wenn hinter der sinkenden Sonne die Stille kommt, aber es ist jedesmal ein neues Ereignis, als wäre die Welt noch keine sieben Tage alt! Am Land kommen die Götter noch zu den Menschen», dacnte er «man ist jemand und erlebt etwas, aber in der Stadt, wo es tausendmal so viel Erlebnisse gibt, ist man nicht mehr imstande, sie in Beziehung zu sich zu bringen: und so beginnt ja wohl das berüchtigte Abstraktwerden des Lebens. »

Aber indem er das dachte, wußte er auch, daß es die Macht des Menschen tausendfach ausdehnt, und wenn es selbst im einzelnen ihn zehnfach verdünnt, ihn im ganzen noch hundertfach vergrößert, und ein Rücktausch kam für ihn nicht ernsthaft in Frage. Und als einer jener scheinbar abseitigen und abstrakten Gedanken, die in seinem Leben oft so unmittelbare Bedeutung gewannen, fiel ihm ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: «Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!» Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten «Faden der Erzählung», aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. Wohl dem, der sagen kann «als», «ehe» und «nachdem»! Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen. Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat: der Wanderer mag bei strömendem Regen die Landstraße reiten oder bei zwanzig Grad Kälte mit den Füßen im Schnee knirschen, dem Leser wird behaglich zumute, und das wäre schwer zu begreifen, wenn dieser ewige Kunstgriff der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre 355

Kleinen beruhigen, diese bewährteste «perspektivische Verkürzung des Verstandes» nicht schon zum Leben selbst gehörte. Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig «weil» und

«damit» hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen «Lauf» habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem «Faden» mehr folgt, sondern sich in einer unendlich ver-wobenen Fläche ausbreitet.

Als er sich mit dieser Erkenntnis wieder in Bewegung setzte, erinnerte er sich allerdings, daß Goethe in einer Kunstbetrachtung geschrieben hat: «Der Mensch ist kein lehrendes, er ist ein lebendes, handelndes und wirkendes Wesen!» Er zuckte respektvoll die Achseln. «Höchstens so, wie ein Schauspieler das Bewußtsein für Kulisse und Schminke verliert und zu handeln meint, darf der Mensch heute den unsicheren Hintergrund von Lehre vergessen, von dem alle seine Tätigkeiten abhängen!» dachte er. Aber dieser Gedanke an Goethe war wohl ein wenig mit dem an Arnheim vermischt gewesen, der jenen beständig als Eidhelfer mißbrauchte, denn Ulrich fühlte sich im gleichen Augenblick unangenehm an die ungewöhnliche Unsicherheit erinnert, die der Arm dieses Mannes in ihm erweckt hatte, als er auf seiner Schulter lag. Er war inzwischen unter den Bäumen hervor an den Rand des Straßenzuges gekommen und suchte nach einem Weg, der ihn in die Richtung seiner Wohnung leiten sollte. Nach den Namen der Gassen spähend, wäre er aber beinahe in einen Schatten hineingerannt, der sich löste, und er mußte hastig seinen Schritt hemmen, um die Prostituierte nicht umzustoßen, die ihm in den Weg getreten war. Da stand sie nun und lächelte, statt ihren Ärger darüber zu zeigen, daß er sie fast wie ein Büffel überrannt hatte, und Ulrich fühlte plötzlich, daß dieses geschäftsmäßige Lächeln in der Nacht eine kleine Wärme verbreitete. Sie sagte einige Worte; sie sprach ihn mit den abgegriffenen Worten an, die locken wollen und wie der schmutzige Rest von allen Männern sind. «Komm mit mir, Kleiner!» sagte sie oder etwas Ähnliches. Ihre Schultern fielen wie die eines Kindes ab, unter dem Hut quoll ein wenig blondes Haar hervor, und im Laternenschein war von ihrem Gesicht etwas Blasses, unregelmäßig Liebliches zu sehen; unter der Nachtbemalung mochte die Haut eines noch jungen Mädchens mit vielen Sommersprossen verborgen sein. Sie sah zu ihm empor und war viel kleiner als Ulrich, trotzdem sagte sie noch einmal «Kleiner» zu ihm und fand in ihrer Teilnahmlosigkeit nichts Unpassendes an dieser Lautverbindung, die sie hunderte Male an einem Abend von sich gab.

Ulrich fühlte sich davon gerührt. Er schob sie nicht zur Seite, sondern blieb stehen und ließ sie ihren Antrag wiederholen, als hätte er schlecht gehört. Da hatte er unerwartet eine Freundin gefunden, die sich ihm für eine kleine Vergütung ganz zur Verfügung stellte; sie wird sich bemühen, liebenswürdig zu sein und alles zu vermeiden, was ihm mißfallen könnte; sie wird, wenn er ihr ein Zeichen des Einverständnisses gibt, ihren Arm in seinen legen, mit einem zarten Zutrauen und einem leichten Zögern, wie es nur entsteht, wenn Vertraute nach unverschuldeter Trennung sich zum ersten Male wiedersehn; und wenn er ihr ein Mehrfaches ihres gewöhnlichen Preises verspricht und gleich auf den Tisch legt, damit sie nicht ans Geld zu denken braucht, sondern sich in dem sorglos gefälligen Zustand findet, den ein gutes Geschäft hinterläßt, so wird sich zeigen, daß auch die reine Gleichgültigkeit an dem Vorzug aller reinen Empfindungen teilhat, frei von persönlicher Anmaßung zu sein und ohne die eitle Verwirrung der Gefühlsansprüche zu dienen: halb ernst, halb scherzhaft ging ihm das durch den Kopf, und er brachte es nicht über sich, die kleine Person ganz zu enttäuschen, die darauf wartete, daß er in das Geschäft einschlage. Er bemerkte, daß es ihn nach ihrer Zuneigung verlange; aber ungeschickt genug, statt einfach ein paar Worte in ihrer Berufssprache mit ihr zu wechseln, griff er in die Tasche, drückte eine Geldnote, die ungefähr dem Werte eines Besuchs entsprach, dem Mädchen in die Hand und ging weiter. Einen Augenblick lang hatte er dabei die Hand, die sich merkwürdigerweise überrascht wehrte, fest in der seinen gehalten und ein einziges, freundliches Wort gesagt. Dann ließ er die Erbötige in der Überzeugung zurück, daß sie nun zu ihren Kolleginnen gehen werde, die nebenan im Dunkel wisperten, und das Geld zeigen und schließlich durch irgendeinen Spott dem Luft machen werde, worüber sie sich keine rechte Meinung bilden konnte.

Diese Begegnung blieb noch eine Weile lebendig, als wäre sie ein zartes Idyll von einer Minute Dauer gewesen. Er täuschte sich nicht über die rohe Armut seiner flüchtigen Freundin. Aber wenn er sich vorstellte, wie sie den Blick ein wenig verrenken und einen jener kleinen, ungeschickt gemachten Seufzer 356

ausstoßen würde, die sie im rechten Augenblick anzubringen gelernt hat, so strömte diese tief gemeine, völlig unbegabte Schauspielerei für einen ausgemachten Betrag doch auch etwas Rührendes aus, er wußte nicht warum; vielleicht deshalb, weil es die menschliche Komödie auf der Schmiere gespielt war. Und schon während Ulrich mit dem Mädchen sprach, hatte ihn eine sehr naheliegende Gedankenverbindung an Moosbrugger erinnert. Moosbrugger, der krankhafte Komödiant, der Prostituiertenjäger und -vertilger, der durch jene Unglücksnacht genau so gegangen war wie er heute. Als die kulissenhafte Unsicherheit der Straßenwände einen Augenblick stillhielt, war er auf das unbekannte Wesen gestoßen, das ihn in der Mordnacht bei der Brücke erwartete. Welch wunderbares Erkennen mußte das gewesen sein, vom Kopf bis zu den Sohlen: Ulrich glaubte einen Augenblick es sich vorstellen zu können! Er fühlte, daß ihn etwas hochhob, wie das eine Welle tut. Er verlor das Gleichgewicht, aber er brauchte es nicht, dahingetragen in der Bewegung. Sein Herz zog sich zusammen, aber das Vorstellen verwirrte sich dabei in einer unbegrenzten Erweiterung und hörte alsbald in einer Art fast entmachtender Wollust auf. Er suchte sich zu ernüchtern. Er hatte offenbar so lange an einem Leben ohne innere Einheit festgehalten, daß er nun sogar einen Geisteskranken um seine Zwangsvorstellungen und den Glauben an seine Rolle beneidete! Aber Moosbrugger lockte ja nicht nur ihn, sondern alle anderen Menschen auch? Er hörte in sich Arnheims Stimme fragen: «Würden Sie ihn befreien?» Und sich antworten: «Nein. Wahrscheinlich nein. » -

«Tausendmal nein!» fügte er hinzu und fühlte trotzdem wie eine Blendung das Bild eines Handelns, worin das Zugreifen, wie es aus höchster Erregung folgt, und das Ergriffenwerden in einem unbeschreiblichen gemeinsamen Zustande eins wurden, der Lust von Zwang, Sinn von Notwendigkeit, höchste Tätigkeit von seligem Empfangen nicht unterscheiden ließ. Flüchtig erinnerte er sich an die Auffassung, daß solche Unglücksgeschöpfe die Verkörperung unterdrückter Triebe seien, an denen alle teilhaben, die Fleischwerdung ihrer Gedankenmorde und Phantasieschändungen: So mochten dann die, die daran glaubten, in ihrer Art mit ihm fertig werden und ihn zur Wiederherstellung ihrer Moral ju-stifizieren, nachdem sie sich an ihm gesättigt hatten! Sein Zwiespalt war ein anderer und gerade der, daß er nichts unterdrückte und dabei sehen mußte, daß ihn aus dem Bild eines Mörders nichts Fremderes anblickte als aus anderen Bildern der Welt, die alle so waren wie seine eigenen alten Bilder: halb gewordener Sinn, halb wieder hervorquellender Unsinn! Ein entsprungenes Gleichnis der Ordnung: das war Moosbrugger für ihn! Und plötzlich sagte Ulrich: «Alles das -!» und machte eine Bewegung, als würde er etwas mit dem Handrücken zur Seite schleudern. Er hatte es nicht zu sich gesagt, er hatte es laut gesagt, schloß jäh die Lippen und führte den Satz nur stumm zu Ende: «Alles das muß entschieden werden!» Er wollte nicht mehr im einzelnen wissen, was

«alles das» sei; «alles das» war, was ihn beschäftigt und gequält und manchmal auch beseligt hatte, seit er seinen «Urlaub» genommen, und in Fesseln gelegt wie einen Träumenden, in dem alles möglich ist bis auf das eine, aufzustehn und sich zu bewegen; alles das führte auf Unmöglichkeiten, vom ersten Tag bis zu den letzten Minuten dieses Nachhausewegs! Und Ulrich fühlte, daß er nun endlich entweder für ein erreichbares Ziel wie jeder andere leben oder mit diesen «Unmöglichkeiten» Ernst machen müsse, und da er nun in die Umgebung seiner Wohnung gelangt war, durcheilte er die letzte Gasse mit dem sonderbaren Gefühl, daß ihm etwas nahe bevorstehe. Es war ein beflügelndes, zu einer Tat strömendes, aber inhaltleeres und dadurch wieder eigenartig freies Gefühl.

Vielleicht wäre es ebenso vorbeigegangen wie viele andere; aber als er in die Straße einbog, worin er wohnte, bemerkte er nach wenigen Schritten, daß die Fenster seines Hauses 834

erleuchtet waren, und kurze Zeit später, als er vor dem Gittertor seines Gartens stand, war das unbezweifelbare Gewißheit. Sein alter Diener hatte gebeten, die heutige Nacht außer Haus bei Verwandten in einer anderen Gegend zubringen zu dürfen, er selbst war seit dem Erlebnis mit Gerda, das sich noch in Tageshelle abgespielt hatte, nicht zu Hause gewesen, die Gärtnersleute, die er im Unterstock beherbergte, betraten niemals seine Räume: aber überall brannte Licht, es schienen fremde Leute bei ihm zu sein, Einbrecher, die er überraschte. Ulrich war so verwirrt und hatte so wenig die Absicht, sich diesem ungewöhnlichen Gefühl zu entziehn, daß er ohne Zögern auf sein Haus zuschritt. Er erwartete nichts Bestimmtes. Er sah Schatten an den Fenstern, die auf einen einzelnen Menschen schließen ließen, der sich hinter diesen bewegte; es mochten aber auch mehrere sein, und es fragte sich, ob man auf ihn schießen werde, wenn er sein Haus betrete, oder ob er sich selbst schußfertig machen solle. In einem anderen Zustande würde Ulrich wahrscheinlich einen Schutzmann geholt oder wenigstens die Lage erkundet haben, ehe er sich zu etwas entschloß, aber er wollte allein mit diesem Erlebnis sein und holte nicht einmal die 357

Pistole hervor, die er seit jener Nacht, wo er von Strolchen niedergeschlagen worden, manchmal bei sich trug. Er wollte —: das wußte er nicht, es sollte sich zeigen!

Aber als er die Haustür aufstieß, zeigte sich, daß der mit so unklaren Gefühlen erwartete Einbrecher bloß Clarisse war.

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Die Umkehrung

Vielleicht hatte bei Ulrichs Verhalten von Anfang an die Überzeugung mitgespielt, es werde sich alles harmlos aufklären, jene Ungeneigtheit, an das Schlimmste zu glauben, mit der man immer in Gefahren geht; aber als ihm in der Halle unerwartet sein alter Diener entgegentrat, hätte er ihn beinahe niedergeschlagen.

Weil er es glücklicherweise im letzten Augenblick unterließ, erfuhr er durch ihn, daß ein Telegramm gekommen sei, das Clarisse in Empfang genommen habe, und daß die gnädige junge Frau schon vor etwa einer Stunde gekommen sei, gerade als der Alte weggehen wollte, und sich nicht habe abweisen lassen, so daß er es vorgezogen habe, auch für seine Person im Haus zu bleiben und für heute auf seinen Urlaub zu verzichten, denn der gnädige Herr möge ihm die Bemerkung verzeihen, aber die junge Dame habe auf ihn einen sehr aufgeregten Eindruck gemacht.

Als Ulrich ihm gedankt hatte und seine Wohnung betrat, lag Clarisse auf einem Diwan, etwas zur Seite gedreht und die Beine an den Leib gezogen; ihre taillenlos schlanke Figur, der knabenartig frisierte Kopf mit dem langen lieblichen Gesicht, das ihm, auf den Arm gestützt, entgegensah, als er die Tür öffnete, waren überaus verführerisch. Er erzählte ihr, daß er sie für einen Einbrecher gehalten habe. Clarisse bekam Augen, die wie das Schnellfeuer eines Brownings waren. «Vielleicht bin ich einer!» erwiderte sie. «Der alte Schlaukopf, der dich bedient, hat mich um keinen Preis bleiben lassen wollen; ich habe ihn schlafen geschickt, aber ich weiß, daß er sich unten irgendwo versteckt hat! Schön hast du’s hier!» Dabei reichte sie ihm die Depesche, ohne aufzustehen. «Ich habe einmal sehen wollen, wie du nach Hause kommst, wenn du glaubst, daß du allein bist» fuhr sie fort. «Walter ist in einem Konzert. Er kommt erst nach Mitternacht zurück. Ich habe ihm aber nicht gesagt, daß ich zu dir gehe. »

Ulrich riß die Depesche auf und las sie, während er nur mit halbem Ohr hörte, was Clarisse sagte; er wurde überraschend bleich und las ungläubig noch einmal den sonderbaren Wortlaut. Er hatte schon seit einiger Zeit, obgleich er verschiedene Anfragen seines Vaters wegen der Parallelaktion und der verminderten Zurechnungsfähigkeit zu beantworten verabsäumt hatte, kein Mahnschreiben erhalten, ohne daß es ihm aufgefallen wäre; nun meldete ihm das Telegramm in einer ausführlichen, aus halb unterdrückten Vorwürfen und voller Todesfeierlichkeit wunderlich gemischten Weise, die sein Vater offenbar selbst noch auf das genaueste geregelt und aufgesetzt hatte, das Ableben seines Erzeugers. Sie hatten wenig Neigung füreinander besessen, ja es war Ulrich der Gedanke an seinen Vater beinahe immer unangenehm gewesen, trotzdem dachte er, während er den schnurrig-unheimlichen Text ein zweites Mal las: «Ich bin nun ganz allein auf der Welt!» Es war nicht so recht der wörtliche und schlecht zu dem nun beendeten Verhältnis passende Sinn dieser Worte, was er meinte; eher fühlte er sich verwundert aufsteigen, als wäre ein Ankertau zerrissen, oder fühlte einen sich nun ganz herstellenden Zustand der Landesfremdheit in einer Welt, der er durch seinen Vater noch verbunden gewesen war.

«Mein Vater ist gestorben!» sagte er zu Clarisse und hob mit einiger unwillkürlicher Feierlichkeit die Hand mit der Depesche.

«Ach!» antwortete Clarisse. «Ich gratuliere!» Und nach einer kleinen, besinnlichen Pause fügte sie hinzu:

«Da wirst du jetzt wohl sehr reich?» Sie sah sich neugierig um.

«Ich glaube nicht, daß er mehr als wohlhabend war» erwiderte Ulrich ablehnend. «Ich lebte hier über seine Verhältnisse. »

Clarisse bestätigte die Zurechtweisung mit einem ganz kleinen Lächeln, einer Art Kratzfuß von Lächeln; viele ihrer ausdrücklichen Bewegungen waren so hastig und auf kleinstem Raum übertrieben wie die Verbeugung eines Knaben, der einer gesellschaftlichen Verpflichtung seinen Erziehungstribut entrichten muß. Sie blieb allein im Zimmer zurück, da sich Ulrich für einige Augenblicke entschuldigte, um die Anordnungen für seine Abreise zu treffen. Als sie nach dem heftigen Auftritt, den sie miteinander gehabt, 358

Walter verlassen hatte, war sie nicht weit gegangen, denn vor der Türe ihrer Wohnung führte eine selten benutzte Stiege zum Boden hinauf, und dort war sie, in ein Tuch gehüllt, sitzen geblieben, bis sie ihren Gatten das Haus verlassen hörte. Sie wußte irgendetwas von Schnürböden in Theatern; dort oben, von wo die Seile laufen, saß sie also, während Walter seinen Abgang über die Treppe hatte. Sie malte sich aus, daß die Schauspielerinnen in ihren Spielpausen, wo sie nichts zu tun hatten, in Tücher geschlagen in dem Gebälk über der Bühne sitzen und zusehen; sie war jetzt auch eine solche Schauspielerin und hatte alle Vorgänge unter sich zu Füßen. Darin kam wieder ihr alter Lieblingsgedanke hervor, daß das Leben eine schauspielerische Aufgabe sei. Man braucht es gewiß nicht mit der Vernunft zu begreifen - dachte sie; was weiß man denn überhaupt davon, selbst wenn einer mehr wußte als sie. Aber man muß den richtigen Instinkt für das Leben haben, wie ein Sturmvogel! Man muß seine Arme - und das hieß nun bei ihr: seine Worte, seine Küsse, seine Tränen -ausspannen wie Flügel! In dieser Vorstellung fand sie einen Ersatz dafür, daß sie nicht mehr an Walters Zukunft glauben konnte. Sie sah das steile Treppenhaus hinunter, das Walter hinabgestiegen war, breitete die Arme aus und hielt sie in dieser Lage erhoben, so lange sie vermochte: vielleicht konnte sie ihm dadurch helfen! «Steil aufwärts und steil abwärts sind in ihrer Stärke feindlich verwandt und gehören zusammen!» dachte sie. «Jubelnde Weltschräge» nannte sie ihre ausgebreiteten Arme und den Blick in die Tiefe. Sie ließ den Vorsatz fahren, heimlich den Kundgebungen in der Stadt zuzusehen; was ging sie die «Herde» an, das ungeheure Drama der einzelnen hatte begonnen!

So war Clarisse zu Ulrich gegangen. Sie hatte unterwegs manchmal ihr listiges Lächeln gezeigt, wenn sie daran dachte, daß Walter sie für verrückt halte, sobald sie etwas von ihrer höheren Einsicht in ihrer beider Zustand merken ließ. Es schmeichelte ihr, daß er sich davor fürchtete, ein Kind von ihr zu bekommen, und es doch kaum erwarten konnte; sie verstand unter «verrückt» etwa so viel wie einem Wetterleuchten ähnlich zu sein oder sich in einem solchen hohen Zustand von Gesundheit zu befinden, daß es andere erschreckt, und es war eine Eigenschaft, die sich in ihrer Ehe entwickelt hatte, Schritt um Schritt, so wie ihre Überlegenheit und beherrschende Stellung wuchs. Immerhin wußte sie aber, daß sie manchmal den anderen unverständlich war, und als Ulrich wieder eintrat, hatte sie das Gefühl, ihm etwas sagen zu müssen, wie es sich bei einem Ereignis gehörte, das in sein Leben so tief einschnitt. Sie sprang rasch von ihrem Diwan auf, durchschritt einigemal das Zimmer und die angrenzenden Räume und sagte dann: «Also mein herzlichstes Beileid, alter Junge!»

Ulrich sah sie erstaunt an, obwohl er diesen Ton schon an ihr kannte, wenn sie nervös war. «Sie hat dann manchmal etwas so unvermittelt Konventionelles», dachte er «wie wenn in ein Buch versehentlich eine Seite aus einem anderen eingebunden ist. » Sie hatte ihm ihren Satz nicht etwa mit dem üblichen Ausdruck zugerufen, sondern von der Seite, über die Schulter weg, und das verstärkte diese Wirkung, daß man nicht einen falschen Ton zu hören glaubte, sondern einen verwechselten Text, und den nicht ganz geheuren Eindruck empfing, sie selbst bestehe aus mehreren solcher Textlagen. Sie blieb jetzt, da Ulrich nicht antwortete, vor ihm stehen und sagte: «Ich muß mit dir reden!»

«Ich möchte dir gerne eine Erfrischung anbieten» sagte Ulrich.

Clarisse bewegte nur zum Zeichen der Ablehnung die aufgerichtete Hand in Schulterhöhe rasch hin und her.

Sie nahm ihre Gedanken zusammen und begann: «Walter will durchaus ein Kind von mir. Verstehst du das?» Sie schien auf eine Antwort zu warten.

Was hätte Ulrich erwidern sollen?

«Ich will aber nicht!» rief sie heftig aus.

«Sei doch nicht gleich bös» meinte Ulrich. «Wenn du nicht willst, kann es ohnehin nicht geschehn.»

«Aber daran geht er zugrunde!»

«Leute, die jederzeit zu sterben meinen, leben lang! Du und ich werden längst verhutzelt sein, aber Walter wird noch unter weißem Haar und als Direktor seines Archivs ein Jünglingsgesicht haben!»

Clarisse drehte sich nachdenklich auf dem Absatz herum und ging von Ulrich fort; in einiger Entfernung nahm sie wieder Stellung und «faßte» ihn «ins Auge». «Weißt du, wie ein Regenschirm aussieht, nachdem man den Stock herausgezogen hat? Walter fällt zusammen, wenn ich mich abwende. Ich bin sein Stock, er ist -» «Der Schirm» hatte sie sagen wollen, aber es fiel ihr eine wesentliche Verbesserung ein; «er ist mein Schirm-Herr» sagte sie. «Er glaubt mich beschirmen zu müssen. Erst möchte er mich dazu mit einem schweren Bauch sehen. Dann wird er mir zureden, daß eine natürliche Mutter ihr Kind selbst stillt. Dann wird er dieses Kind in seinem Sinn erziehen wollen. Das weißt du doch selbst. Er will sich einfach Rechte 359

aneignen und mit einer großartigen Ausrede Spießbürger aus uns beiden machen. Aber wenn ich weiter, so wie ich es bisher getan habe, nein sage, dann ist es aus mit ihm! Ich bin einfach alles für ihn!»

Ulrich lächelte ungläubig zu dieser umfassenden Behauptung.

«Er will dich töten!» fügte Clarisse rasch hinzu. «Was? Ich dachte, das hättest du ihm geraten?» «Ich möchte das Kind von dir haben!» sagte Clarisse. Ulrich pfiff überrascht durch die Zähne. Sie lächelte wie ein sehr junger Mensch, der eine ungezogene Forderung gestellt hat.

«Ich möchte jemand, den ich so gut kenne wie Walter, nicht hintergehn. Ich habe eine Abneigung dagegen»

sagte Ulrich langsam.

«So? Du bist also sehr anständig?» Clarisse schien dem eine Bedeutung beizumessen, die Ulrich nicht verstand; sie überlegte, und erst nach einer Weile setzte sie ihren Angriff fort: «Aber wenn du mich liebst, hat er dich in der Hand!?» «Wieso?»

«Das ist doch ganz klar; ich kann es bloß nicht recht sagen. Du wirst dich gezwungen sehen, rücksichtsvoll gegen ihn zu sein. Er wird uns sehr leid tun. Du kannst ihn doch natürlich nicht einfach betrügen, also wirst du ihm etwas dafür zu geben suchen. Na, und so weiter. Und was das Wichtigste ist: Du wirst ihn zwingen, daß er sein Bestes hergibt. Das kannst du doch nicht leugnen, daß wir in uns stecken wie die Figuren in einem Steinblock. Man muß sich aus sich herausarbeiten! Man muß sich gegenseitig dazu zwingen!»

«Gut» sagte Ulrich; «aber du setzt viel zu schnell voraus, daß es geschehen wird. »

Clarisse lächelte wieder. «Vielleicht vorschnell!» sagte sie. Sie näherte sich ihm und hing freundschaftlich ihren Arm in den seinen, der schlaff vom Körper hängen blieb, ohne ihr Platz zu bereiten. «Gefalle ich dir nicht? Hast du mich nicht gern?» fragte sie. Und als Ulrich keine Antwort gab, fuhr sie fort: «Ich gefalle dir, das weiß ich doch; ich habe oft genug bemerkt, wie du mich anschaust, wenn du bei uns bist! Erinnerst du dich, ob ich dir schon einmal gesagt habe, du bist der Teufel? Mir ist so. Versteh mich gut: Ich sage nicht, du bist ein armer Teufel, das ist einer, der das Böse will, weil er es nicht besser versteht; du bist ein großer Teufel, du weißt, was gut wäre, aber du tust gerade das Gegenteil von dem, was du möchtest! Du findest das Leben, wie wir alle es führen, abscheulich, und darum sagst du zum Trotz, man soll es weiterführen. Und du sagst furchtbar anständig: <Ich betrüge meine Freunde nicht!>, aber du sagst es bloß, weil du dir schon hundertmal gedacht hast: <Ich möchte Clarisse haben!> Aber weil du ein Teufel bist, hast du auch etwas von Gott in dir, Ulo! Von einem großen Gott! Einem, der lügt, damit man ihn nicht erkennen soll! Du möchtest mich — »

Sie hatte statt eines Arms jetzt seine beiden Arme ergriffen und stand mit emporgehobenem Gesicht vor ihm, den Leib wie eine Pflanze zurückgebogen, die man sanft an der Blüte anfaßt. «Jetzt wird es gleich wieder über ihr Gesicht strömen, so wie damals!» fürchtete Ulrich. Aber es geschah nicht. Ihr Gesicht blieb schön. Sie hatte nicht ihr gewöhnliches schmales Lächeln, sondern ein geöffnetes, das mit dem Fleisch der Lippen zugleich ein wenig die Zähne zeigte, als wollte sie sich wehren, und die Form ihres Mundes bildete den doppelt geschwungenen Bogen des Liebesgotts, der sich in den Hügeln der Stirn wiederholte und über ihnen noch einmal in der lichtdurchstrahlten Wolke des Haars.

«Du möchtest mich längst zwischen die Zähne deines Lügenmunds nehmen und forttragen, wenn du es nur über dich brächtest, dich mir zu zeigen, wie du bist!» war Clarisse fortgefahren. Ulrich machte sich sanft los.

Sie ließ sich auf den Diwan nieder, als hätte er sie dorthin gesetzt, und zog ihn nach.

«Du solltest nicht so übertreiben» verwies ihr Ulrich ihre Worte.

Clarisse hatte ihn losgelassen. Sie schloß die Augen und stützte den Kopf in beide Arme, deren Ellbogen sich auf die Knie stemmten; ihr zweiter Angriff war abgeschlagen, und sie hatte jetzt die Absicht, Ulrich durch eisige Logik zu überzeugen. «Du brauchst dich nicht an die Worte zu halten» antwortete sie; «das sind Redensarten, wenn ich Teufel sage oder Gott. Aber wenn ich allein zu Haus bin, gewöhnlich den ganzen Tag, und in der Umgebung herumstreife, habe ich mir früher oft gedacht: Gehe ich jetzt links, so kommt Gott, gehe ich rechts, so kommt der Teufel. Oder ich habe dasselbe Gefühl gehabt, wenn ich etwas in die Hand nehmen sollte und konfite es rechts oder links tun. Wenn ich das Walter gezeigt habe, so hat er die Hände aus Angst in die Taschen gesteckt! Er freut sich an den Blumen oder schon an einer Schnecke; aber sag, ist das Leben, das wir führen, nicht furchtbar traurig? Es kommt weder Gott noch Teufet So gehe ich schon jahrelang herum. Was kann denn kommen?! Nichts: das ist alles, wenn mit der Kunst nicht noch durch ein Wunder eine Änderung glückt!»

Sie machte in diesem Äugenblick einen so sanft traurigen Eindruck, daß sich Ulrich verleiten ließ, ihr 360

weiches Haar mit der Hand zu berühren. «Du magst im einzelnen schon recht haben, Clarisse, » sagte er

«aber ich verstehe bei dir nie die Zusammenhänge und Sprünge der Folgen.

«Die sind einfach» antwortete sie, noch in der gleichen Haltung wie zuvor. «Ich habe mit der Zeit eben eine Idee bekommen: Hör zu!» Nun richtete sie sich aber auf und war plötzlich wieder lebhaft. «Hast du nicht selbst einmal gesagt, daß der Zustand, in dem wir leben, Risse hat, aus denen sozusagen ein unmöglicher Zustand hervorschaut. Du brauchst nichts zu erwidern; ich weiß das schon lange. Jeder Mensch will natürlich sein Leben in Ordnung haben, aber keiner hat es! Ich mache Musik oder male; das ist aber so, wie wenn ich eine spanische Wand vor ein Loch in der Mauer stellen würde. Du und Walter habt außerdem Ideen, davon verstehe ich wenig, aber irgendetwas stimmt dabei auch nicht, und du hast gesagt, daß man zu diesem Loch aus Trägheit und Gewohnheit nicht hinsieht oder sich mit bösen Dingen davon ablenkt. Nun, das Weitere ist einfach: durch dieses Loch muß man hinaus! Und ich kann das! Ich habe Tage, wo ich aus mir hinausschlüpfen kann. Dann steht man — wie soll ich das sagen? — wie geschält zwischen den Dingen, von denen auch die schmutzige Rinde abgezogen ist. Oder man ist mit allem, was dasteht, durch die Luft wie ein zusammengewachsener Zwilling verbunden. Es ist ein unerhört großartiger Zustand; alles geht ins Musikalische und Farbige und Rhythmische, und ich bin dann nicht die Bürgerin Clarisse, als die ich getauft bin, sondern vielleicht ein glänzender Splitter, der in ein ungeheures Glück eindringt. Aber das weißt du ja alles selbst! Denn das hast du -gemeint, wenn du gesagt hast, daß die Wirklichkeit einen unmöglichen Zustand in sich hat und daß man seinen Erlebnissen nicht die Wendung zu sich geben und sie nicht als persönlich und wirklich ansehen darf, sondern daß man sie, wie gesungen oder gemalt, hinauswenden muß und so weiter und so weiter: ich könnte dir alles ja ganz genau wiederholen!» — Dieses

«und so weiter» kehrte wie ein wilder Reim wieder, während Clarisse überstürzt weitersprach, und fast jedesmal schloß sie die Behauptung daran: «Und du hast die Kraft dazu, aber du willst nicht; ich weiß nicht, warum du nicht willst, aber ich werde an dir rütteln!!»

Ulrich hatte sie sprechen lassen; er hatte hie und da stumm verneint, wenn sie ihm etwas zuschrieb, was sich zu weit vom Möglichen entfernte, fand aber nicht den Willen in sich, Einspruch zu erheben, und ließ seine Hand auf ihrem Haar ruhen, darunter er das wirre Pulsen dieser Gedanken fast mit den Fingerspitzen fühlte.

Er hatte Clarisse noch nie so sinnlich erregt gesehen, und es verwunderte ihn fast, daß auch in ihrem schmalen, harten Körper alle Lockerung und weiche Ausbreitung des weiblichen Erglühens Platz fand, wobei die ewige Überraschung, daß sich eine Frau, die man für alle nur geschlossen gekannt hat, plötzlich öffnet, ihre Wirkung auch diesmal nicht verfehlte. Ihre Worte stießen ihn aber nicht ab, obwohl sie die Vernunft beleidigten; denn indem sie seinem Inneren nahekamen und sich davon wieder bis zur Absurdität entfernten, wirkte diese dauernde rasche Bewegung wie ein Sehwirren oder Summen, dessen Tonschönheit oder -häß-lichkeit neben der Heftigkeit der Schwingung nicht zur Geltung kam. Er fühlte daß es ihm seine eigenen Entschlüsse wie eine wilde Musik erleichterte, ihr zuzuhören, und nur als ihm vorkam, sie selbst finde keinen Ausweg aus ihren Worten mehr und kein Ende, schüttelte er mit seiner gebreiteten Hand ein wenig ihren Kopf, um sie zurückzurufen und zu ermahnen.

Aber da geschah das Gegenteil von dem, was er wollte, denn Clarisse rückte ihm nun plötzlich auf den Leib.

Sie schlang so geschwind, daß er es nicht abwehren konnte und ordentlich verdutzt darüber war, ihren Arm um seinen Hals und preßte ihre Lippen auf seine, hatte ihre Beine mit einer raschen Bewegung unter sich gezogen und rutschte zu ihm hin, so daß sie in seinen Schoß zu knien kam, und an der Schulter fühlte er den kleinen Ball ihres Busens. Er faßte das wenigste auf, was sie sagte. Sie stammelte von ihrer Kraft zu erlösen und seiner Feigheit, und so viel verstand er, daß er ein «Barbar» sei und sie deshalb von ihm und nicht von Walter den Erlöser der Welt empfangen werde, eigentlich waren ihre Worte aber nur ein wildes Spiel nahe an seinem Ohr, ein halblautes, hastiges Murmeln, mehr mit sich selbst beschäftigt als mit der Mitteilung, und nur hie und da war in diesem drieselnden Bach ein einzelnes Wort, wie «Moosbrugger» oder

«Teufelsauge», wahrzunehmen. Er hatte zu seiner Verteidigung seine kleine Bedrängerin an den Oberarmen gefaßt und auf den Diwan gedrückt, nun arbeitete sie mit den Beinen an ihm herum, preßte das Haar ihres Kopfes an sein Gesicht und trachtete, sein Genick wieder zu umschlingen. «Ich werde dich ermorden, wenn du nicht nachgibst!» sagte sie hell und klar. Sie glich einem Knaben, der sich in einem Gemisch von Zärtlichkeit und Ärger nicht abweisen lassen will und in seiner Erregung immer mehr steigert. Die Anstrengung, sie zu bändigen, ließ das Fließen der Wollust in ihren Gliedern dabei nur schwach fühlen; trotzdem hatte Ulrich den Augenblick, wo er fest seinen Arm um ihren Körper schlang und sie 361

niederdrückte, heftig empfunden. Es war geradeso, als wäre ihr Körper in sein Gefühl eingedrungen; er kannte sie doch schon so lange und hatte oft ein wenig mit ihr gebalgt, aber er hatte dieses vertraut-fremde kleine Wesen, mit seinem wild springenden Herzen, noch nie so von oben bis unten berührt, und als sich Clarissens Bewegungen nun, von seinen Händen gefesselt, sänftigten und diese Lösung der Glieder zärtlich in ihren Augen zu schimmern begann, wäre beinahe das geschehen, was er nicht wollte. In diesem Augenblick erinnerte er sich aber an Gerda, als ob jetzt erst die Forderung vor ihm stünde, mit sich selbst zu einem Abschluß zu kommen.

«Ich will nicht, Clarisse!» sagte er und ließ sie los. «Ich will jetzt allein bleiben und habe vor meiner Abreise noch viel zu ordnen!»

Als Clarisse seine Ablehnung begriff, war das, als ob mit einigen harten Rucken ein anderes Räderwerk in ihrem Kopf eingeschaltet würde. Sie sah Ulrich mit peinlich verzerrten Zügen einige Schritte weit vor sich stehen, sah ihn reden, verstand scheinbar nichts, aber während sie den Bewegungen seiner Lippen folgte, fühlte sie einen wachsenden Widerwillen, dann bemerkte sie, daß sich ihre Röcke über die Knie hochgeschoben hatten, und schnellte in die Höhe. Ehe sie sich noch an irgend etwas erinnerte, stand sie auf den Beinen, schüttelte ihr Haar und ihre Kleider zurecht, als hätte sie in Gras gelegen, und sagte: «Natürlich mußt du einpacken, ich will dich nicht länger aufhalten!» Sie hatte ihr gewöhnliches Lächeln wieder, das sich spöttisch unsicher durch einen schmalen Spalt zwängte, und wünschte gute Reise. «Wenn du wiederkommst, wird wahrscheinlich Meingast bei uns sein; er hat sich angekündigt, und das bin ich eigentlich dir zu sagen gekommen!» fügte sie nebenbei an.

Ulrich hielt zögernd ihre Hand.

Ihr Finger feilte spielend an der seinen; sie würde für ihr Leben gern gewußt haben, was sie ihm eigentlich alles gesagt hatte, denn es mußte alles mögliche gewesen sein, weil sie so erregt gewesen war, daß sie es vergessen konnte! Ungefähr wußte sie, was vorgegangen war, und machte sich nichts daraus, denn ihr Gefühl sagte ihr, daß sie tapfer oder opferbereit gewesen sei und Ulrich zaghaft. Sie hatte bloß den Wunsch, sich recht kameradschaftlich von ihm zu verabschieden, damit er darüber nicht im Zweifel bleibe. Sie sagte leichthin: «Es ist besser, du erzählst Walter nichts von diesem Besuch, und was wir gesprochen haben, bleibt bis zum nächsten Mal unter uns!» Sie reichte ihm an der Gartentür noch einmal die Hand und lehnte eine weitere Begleitung ab.

Als Ulrich zurückkehrte, erging es ihm sonderbar. Er mußte einige Briefe schreiben, um sich von Graf Leinsdorf und Diotima zu verabschieden, und hatte auch sonst verschiedenes in Ordnung zu bringen, denn er sah voraus, daß ihn die Übernahme seines Erbes längere Zeit fernhalten werde; dann tat er die mannigfaltigen Gegenstände des kleinen Gebrauchs und Bücher in die von seinem Diener, den er schlafen geschickt hatte, schon gepackten Koffer, und als er mit alledem fertig war, fühlte er keine Lust mehr, sich zur Ruhe zu legen. Er war abgespannt und überreizt als Folge des bewegten Tags, und diese beiden Zustände schwächten sich nicht, sondern hoben sich wechselseitig in die Höhe, so daß er sich bei großer Müdigkeit schlaflos fühlte. Nicht denkend, sondern hin und her schwingenden Erinnerungen folgend, gestand Ulrich sich zunächst ein, daß der schon einigemal empfangene Eindruck, Clarisse sei nicht bloß ein ungewöhnliches, sondern im geheimen wohl bereits ein geisteskrankes Wesen, keinen Zweifel mehr erlaube, und doch hatte sie in ihrem Anfall, oder wie man den Zustand nennen mochte, worin sie sich vor kurzem befunden, Aussprüche getan, die manchen seiner eigenen bedenklich ähnlich waren. Es hätte ihn von neuem und gründlich zum Nachdenken darüber bringen können, aber er fühlte sich bloß in einer unangenehmen und zu der Natur seines Halb-schlafzustandes gegensätzlichen Weise darauf aufmerksam gemacht, daß er noch viel zu tun habe. Von dem Jahr, das er sich vorgesetzt hatte, war die eine Hälfte fast schon verstrichen, ohne daß er mit irgendeiner Frage in Ordnung gekommen wäre. Es fuhr ihm durch den Sinn, daß Gerda von ihm verlangt hatte, er möge ein Buch darüber schreiben. Aber er wollte leben, ohne sich in einen wirklichen und einen schattenhaften Teil zu spalten. Er entsann sich des Augenblicks, wo er mit Sektionschef Tuzzi darüber gesprochen hatte. Er sah sich und ihn in Diotimas Salon stehn, und es hatte etwas Dramatisches, etwas von Darstellern an sich. Er erinnerte sich, leichthin gesagt zu haben, er werde wohl ein Buch schreiben oder sich töten müssen. Aber auch der Gedanke an den Tod war, wenn er sich das jetzt, und sozusagen aus der Nähe, überlegte, durchaus nicht der wirkliche Ausdruck seines Zustands; denn wenn er ihm weiter nachgab und sich vorstellte, er könnte sich ja, statt abzureisen, noch vor dem Morgen töten, so kam es ihm in dem Augenblick, wo er die Todesnachricht seines Vaters erhalten hatte, einfach als 362

ein unpassendes Zusammentreffen vor! Er befand sich in einem halben Zustand des Schlafs, wo die Gebilde der Einbildungskraft einander zu jagen beginnen. Er sah den Lauf einer Waffe vor sich, in dessen Dunkel er hineinblickte und darin er ein schattiges Nichts, den die Tiefe absperrenden Schatten wahrnahm, und fühlte, es sei eine seltsame Übereinstimmung und ein sonderbares Zusammentreffen, daß dieses gleiche Bild einer geladenen Waffe in seiner Jugend ein Lieblingsbild seines auf Flug und Ziel wartenden Willens gewesen war. Und er sah mit einemmal viele solcher Bilder wie jenes der Pistole und seines Beisammenstehens mit Tuzzi. Der Anblick einer Wiese am frühen Morgen. Das von der Eisenbahn gesehene, von dicken Abendnebeln erfüllte Bild eines langen gewundenen Flußtals. Am anderen Ende Europas ein Ort, wo er sich von einer Geliebten getrennt hatte; das Bild der Geliebten war vergessen, jenes der erdigen Straßen und schilfgedeckten Häuser frisch wie gestern. Das Achselhaar einer anderen Geliebten, einzig und allein übrig geblieben von ihr. Einzelne Teile von Melodien. Die Eigenart einer Bewegung. Gerüche von Blumenbeeten, einst unbeachtet über heftigen Worten, die aus tiefer Erregung der Seelen kamen, heute diese Vergessenen überlebend. Ein Mensch auf verschiedenen Wegen, beinahe peinlich anzusehen: er; wie eine Reihe Puppen übrig geblieben, in denen die Federn längst gebrochen sind. Man sollte meinen, solche Bilder seien das Flüchtigste von der Welt, aber eines Augenblicks ist das ganze Leben in solche Bilder aufgelöst, nur sie stehen auf dem Lebensweg, nur von ihnen zu ihnen scheint er gelaufen zu sein, und das Schicksal hat nicht Beschlüssen und Ideen gehorcht, sondern diesen geheimnisvollen, halb unsinnigen Bildern.

Aber während ihn diese sinnlose Ohnmacht aller Bemühungen, deren er sich gerühmt hatte, beinahe zu Tränen rührte, entfaltete sich in dem übernächtigen Zustand, worin er sich befand, oder fast müßte man sagen, geschah um ihn wunderliches Gefühl. In allen Zimmern brannten noch die Lampen, die Clarisse, als sie allein war, überall angezündet hatte, und der Überfluß des Lichts strömte zwischen den Wänden und Dingen hin und her, den dazwischen liegenden Raum mit einem fast lebenden Etwas ausfüllend. Und wahrscheinlich war es die in jeder schmerzlosen Müdigkeit enthaltene Zärtlichkeit, die das Gesamtgefühl seines Körpers veränderte, denn dieses immer vorhandene, wenn auch unbeachtete Selbstgefühl des Körpers, ohnehin ungenau begrenzt, ging in einen weicheren und weiteren Zustand über. Es war eine Auflockerung, als hätte sich ein zusammenschnürendes Band entknotet; und da sich ja weder an den Wänden und Dingen etwas wirklich änderte und kein Gott das Zimmer dieses Ungläubigen betrat und Ulrich selbst keineswegs auf die Klarheit seines Urteils verzichtete (soweit ihn nicht seine Müdigkeit darüber täuschte), konnte es nur die Beziehung zwischen ihm und seiner Umgebung sein, was dieser Veränderung unterworfen war, und von dieser Beziehung wieder nicht der gegenständliche Teil, noch Sinne und Verstand, die ihm nüchtern entsprechen, sondern es schien sich ein tief wie Grundwasser ausgebreitetes Gefühl zu ändern, worauf diese Pfeiler des sachlichen Wahrnehmens und Denkens sonst ruhten, und sie rückten nun weich auseinander oder ineinander: diese Unterscheidung hatte nämlich im gleichen Augenblick auch ihren Sinn verloren. «Es ist ein anderes Verhalten; ich werde anders und dadurch auch das, was mit mir in Verbindung steht!» dachte Ulrich, der sich gut zu beobachten meinte. Man hätte aber auch sagen können, daß seine Einsamkeit — ein Zustand, der sich ja nicht nur in ihm, sondern auch um ihn befand und also beides verband - man hätte sagen können, und er fühlte es selbst, daß diese Einsamkeit immer dichter oder immer größer wurde. Sie schritt durch die Wände, sie wuchs in die Stadt, ohne sich eigentlich auszudehnen, sie wuchs in die Welt. «Welche Welt?» dachte er. «Es gibt ja gar keine!» Es kam ihm vor, daß dieser Begriff keine Bedeutung mehr hätte. Aber Ulrich hatte sich immer noch so viel Selbstüberwachung bewahrt, daß dieser zu hoch gesteigerte Ausdruck ihn im gleichen Augenblick unangenehm berührte; er suchte nach keinen anderen Worten mehr, ja im Gegenteil, er näherte sich von da an wieder der Vollwachheit und nach wenigen Sekunden fuhr er auf. Es graute der Tag und mischte seine Fahlheit in die rasch abwelkende Helligkeit des künstlichen Lichts.

Ulrich sprang auf und dehnte seinen Körper. Es war etwas darin zurückgeblieben, das sich nicht abschütteln ließ. Er strich sich mit dem Finger über die Augen, aber sein Blick behielt etwas von der Weichheit einer einsinkenden Berührung der Dinge. Und mit einemmal erkannte er in einer schwer beschreiblichen, abströmenden Weise, einfach so, als verließe ihn die Kraft, es länger abzuleugnen, daß er wieder dort stand, wo er sich schon einmal vor vielen Jahren befunden hatte. Er schüttelte lächelnd den Kopf. Einen «Anfall der Frau Major» nannte er sein Befinden spöttisch. Nach der Meinung seiner Vernunft bestand keine Gefahr, denn es war niemand da, mit dem er eine solche Torheit hätte wiederholen können. Er öffnete ein Fenster. Es war eine gleichgültige Luft draußen, eine Allerweltsmorgenluft mit den ersten anklingenden 363

Geräuschen der Stadt. Während die Kühle seine Schläfen wusch, begann ihn die Abneigung des Europäers gegen Gefühlsduselei mit ihrer klaren Harte zu erfüllen, und er nahm sich vor, dieser Geschichte, wenn es sein müßte, mit aller Exaktheit zu begegnen. Und doch hatte er, lange so am Fenster stehend und ohne Gedanken in den Morgen blickend, auch da noch etwas von dem blinkenden Vergleiten aller Empfindungen in sich.

Er war überrascht, als mit einemmal sein Diener mit dem feierlichen Ausdruck des Frühaufgestandenen eintrat, um ihn zu wecken. Er badete, gab rasch seinem Körper einige lebhafte Bewegung und fuhr zur Bahn.

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Книгу прислал Алексей Левкин