Professor Lindner schüttelte bloß den Kopf dazu.

Aber als der Mittelgang abgetragen wurde und die Nachspeise auf den Tisch kam, begann er nachdenklich und behutsam: «Sieh, gerade in den Jahren des größten Appetits kann man die folgenreichsten Siege über sich gewinnen, und zwar nicht etwa durch ungesundes Hungern, sondern nach ausreichender Ernährung durch gelegentlichen Verzicht auf ein Lieblingsgericht!»

Peter schwieg und zeigte kein Verständnis dafür, aber sein Kopf bedeckte sich wieder bis über die Ohren mit lebhaftem Rot.

«Es wäre verfehlt, » fuhr sein Vater bekümmert fort, «wenn ich dich für dieses Ungenügend strafen wollte, denn da du überdies kindisch lügst, liegt noch ein solcher Mangel an sittlichem Ehrbegriff vor, daß man den Boden erst urbar machen muß, auf dem die Strafe wirken kann. Ich verlange darum von dir nichts, als daß du das selbst einsiehst, und bin sicher, daß du dich dann auch selbst bestrafen wirst!»

Dies war der Augenblick, wo Peter lebhaft auf seine schwache Gesundheit hinwies wie auch auf seine Überarbeitung, die in letzter Zeit sein Versagen in der Schule verursacht haben könnten und ihn außerstand setzten, seinen Charakter durch Verzicht auf den letzten Gang zu stählen.

584

«Der französische Philosoph Comte» erwiderte Professor Lindner darauf gelassen «pflegte nach dem Essen an Stelle des Desserts auch ohne besonderen Anlaß ein Stück trok-kenen Brots zu kauen, bloß um dabei an diejenigen zu denken, die nicht einmal trockenes Brot haben. Es ist ein feiner Zug, der uns daran erinnert, daß jede Übung in der Enthaltsamkeit und Einfachheit eine tiefe soziale Bedeutung hat!»

Peter hatte schon längst eine äußerst unvorteilhafte Vorstellung von der Philosophie, aber auch die Dichtkunst brachte ihm sein Vater nun in üble Erinnerung, denn er fuhr fort: «Auch der Dichter Tolstoi sagt, die Enthaltsamkeit sei die erste Stufe zur Freiheit. Der Mensch hat viele knechtische Begierden, und damit der Kampf gegen alle erfolgreich sei, muß man bei den elementarsten beginnen: der Eßsucht, dem Müßiggang und der Sinnenlust. » - Professor Lindner pflegte eines dieser drei Worte, die in seinen Ermahnungen oft vorkamen, so unpersönlich wie das andere auszusprechen; und lange, ehe Peter mit dem Wort Sinnenlust eine bestimmte Vorstellung zu verbinden vermochte, hatte er schon den Kampf gegen sie an der Seite des Kampfes gegen Eßsucht und Müßiggang kennengelernt, ohne sich etwas anderes dabei zu denken als sein Vater, der sich nichts mehr dabei zu denken brauchte, weil er sicher war, daß damit der Elementarunterricht in der Selbstbestimmung beginne. Auf diese Weise kam es, daß Peter an einem Tag, wo er die Sinnenlust zwar auch noch nicht in ihrer begehrtesten Gestalt kannte, ihr aber doch schon um die Röcke strich, zum erstenmal davon überrascht wurde, daß er gegen ihre lieblose, von seinem Vater gewohnheitsmäßig ausgeführte Verbindung mit Eßsucht und Müßiggang plötzlich zornigen Widerwillen empfand; er durfte es bloß nicht geradeswegs ausdrücken, sondern mußte lügen und rief aus: «Ich bin ein schlichter Mensch und kann mich nicht mit Dichtern und Philosophen vergleichen!» Wobei er trotz seiner Erregung die Worte nicht unbedacht wählte.

Sein Erzieher schwieg darauf.

«Ich habe Hunger!» fügte Peter noch leidenschaftlicher

hinzu.

Lindner lächelte schmerzlich und verächtlich.

«Ich gehe zugrunde, wenn ich nicht genügend zu essen bekomme!» plärrte Peter beinahe.

«Die erste Erwiderung des Menschen auf alle Eingriffe und Angriffe von außen, geschieht mittels der Stimmwerkzeuge!» belehrte ihn sein Vater.

Und das «klägliche Geschrei der Begierden», wie Lindner es nannte, erstarb. Peter wollte an diesem besonders männlichen Tag nicht weinen, aber die Forderung, beredten Verteidigungsgeist zu entwickeln, lastete furchtbar auf ihm. Es fiel ihm durchaus nichts mehr ein, und er haßte in diesem Augenblick sogar die Lüge, weil man sprechen muß, um sich ihrer zu bedienen. In seinen Augen wechselte Mordgier mit Klagegeheul. Als es so weit gekommen war, sagte Professor Lindner gütig zu ihm: «Du mußt dir ernsthafte Übungen in der Schweigsamkeit auferlegen, damit nicht der unbedachte und ungebildete Mensch in dir rede, sondern der besonnene und erzogene, von dem Worte ausgehn, die Friede und Festigkeit bringen!»

Und dann dachte er mit freundlichem Antlitz nach. «Ich habe, wenn man andere gut machen will, keinen besseren Rat, » eröffnete er das Ergebnis, zu dem er kam, seinem Sohn «als daß man selbst gut sei; auch Matthias Claudius sagt: <Ich kann nichts anderes aussinnen, als daß man selbst sein muß, wie man die Kinder machen will>!» Und mit diesen Worten schob Professor Lindner gütig und entschieden die Nachspeise von sich, obgleich es seine Lieblingsspeise Milchreis mit Zucker und Schokolade war, ohne sie zu berühren, und seinen Sohn durch solche liebende Unerbittlichkeit zwingend, zähneknirschend das gleiche zu tun.

Da geschah es, daß die Wirtschafterin hereinkam und Agathe anmeldete. August Lindner richtete sich verstört auf. «Also doch!» sagte eine schrecklich deutliche stumme Stimme zu ihm. Er war bereit, sich entrüstet zu fühlen, aber er war auch bereit, brüderliche Milde zu empfinden, die sich mit feinem moralischen Tastsinn einfühlt, und diese zwei Gegenspiele, mit einem großen Gefolge von Prinzipien, begannen eine wilde Jagd durch seinen ganzen Körper zu veranstalten, ehe es ihm gelang, den einfachen Befehl zu geben, daß die Dame ins Empfangszimmer geführt werde. «Du erwartest mich hier!» sagte er streng zu Peter und entfernte sich großen Schrittes. Peter aber hatte etwas Ungewöhnliches an seinem Vater bemerkt, er wußte bloß nicht was; immerhin gab es ihm so viel Leichtsinn und Mut, daß er sich nach dessen Abgang und nach kurzem Zögern einen Löffel voll Schokolade in den Mund strich, die zum Überstreuen bereitstand, dann einen Löffel Zucker und schließlich einen großen Löffel voll Reis, Schokolade und Zucker, was er mehrmals wiederholte, ehe er die Schüsseln auf alle Fälle wieder glättete.

585

Und Agathe saß eine Weile allein in der fremden Wohnung und wartete auf Professor Lindner, denn dieser ging in einem ändern Zimmer von einer Seite zur ändern und sammelte seine Gedanken, ehe er dem schönen und gefährlichen Weib entgegentrat. Sie sah um sich und fühlte plötzlich eine Angst, als hätte sie sich in den Ästen eines geträumten Baums verstiegen und müßte fürchten, aus seiner Welt von gewundenem Holz und tausenden Blättern nicht mehr heil zurückzufinden. Eine Fülle von Einzelheiten verwirrte sie, und in dem dürftigen Geschmack, der sich in ihnen aussprach, verschränkte sich auf das merkwürdigste eine abweisende Herbheit mit einem Gegenteil, für das sie in ihrer Aufregung nicht gleich ein Wort fand. Das Abweisende mochte dabei vielleicht an die gefrorene Steifheit von Kreidezeichnungen erinnern, doch sah das Zimmer auch aus, als röche es großmütterlich verzärtelt nach Arznei und Salbe, und es schwebten altmodische und unmännliche, mit unangenehmer Geflissentlichkeit auf das menschliche Leiden gerichtete Geister in dem Raum. Agathe schnupperte. Und obwohl die Luft nichts als ihre Einbildungen enthielt, sah sie sich von ihren Gefühlen nach und nach weit zurückgeführt und erinnerte sich nun an den bänglichen «Geruch des Himmels», jenen halb entlüfteten und seiner Würze entleerten, an den Tuchen der Soutanen haften gebliebenen Weihrauchduft, den ihre Lehrer einst an sich getragen hatten, als sie ein Mädchen war, das gemeinsam mit kleinen Freundinnen in einem frommen Institut erzogen wurde und keineswegs in Frömmigkeit erstarb. Denn so erbaulich dieser Geruch auch für Menschen ist, die das Richtige mit ihm verbinden, in den Herzen der heranwachsenden weltlichwiderstrebenden Mädchen bestand seine Wirkung in der lebhaften Erinnerung an Protestgerüche, wie sie Vorstellung und erste Erfahrungen mit dem Schnurrbart eines Mannes oder mit seinen energischen, nach scharfen Essenzen duftenden und von Rasierpuder überhauchten Wangen verbinden. Weiß Gott, auch dieser Geruch hält nicht, was er verspricht! Und während Agathe auf einem der entsagungsvollen Lindnerschen Polsterstühle saß und wartete, schloß sich nun der leere Geruch der Welt mit dem leeren Geruch des Himmels unentrinnbar um sie zusammen wie zwei hohle Halbkugeln, und eine Ahnung wandelte sie an, daß sie im Begriff sei, eine unachtsam überstandene Lebensschulstunde nachzuholen.

Sie wußte nun, wo sie war. Zaghaft bereit, versuchte sie, sich dieser Umgebung anzupassen und der Lehren zu gedenken, von denen sie sich vielleicht zu früh hatte abwenden lassen. Aber ihr Herz scheute bei dieser Willigkeit wie ein Pferd, das keinem Zuspruch zugänglich ist, und fing in wilder Angst zu laufen an, wie es geschieht, wenn Gefühle da sind, die den Verstand warnen möchten und keine Worte finden. Trotzdem versuchte sie es nach einer Weile abermals; und um es zu unterstützen, dachte sie dabei an ihren Vater, der ein liberaler Mann gewesen war und für seine Person immer einen etwas seichten Aufklärungsstil zur Schau getragen hatte, unerachtet dessen er aber den Entschluß aufbrachte, sie einer Klosterschule zur Erziehung zu übergeben. Sie fühlte sich geneigt, das als eine Art Versöhnungsopfer aufzufassen und als den von heimlicher Unsicherheit erzwungenen Versuch, einmal das Gegenteil von dem zu tun, wovon man überzeugt zu sein meint: und weil sie sich jeder Inkonsequenz verwandt fühlte, mutete sie die Lage, in die sie sich selbst gebracht hatte, dabei einen Augenblick lang als eine geheimnisvolle unbewußt-töchterliche Wiederholung an. Aber auch dieser zweite, freiwillig geförderte fromme Schauer war nicht von Bestand; und anscheinend hatte sie ein für allemal, als sie in allzu seelsorgliche Obhut gesteckt worden, die Fähigkeit verloren, für ihre bewegten Ahnungen den Ankerplatz in einem Glauben zu finden: Denn sie brauchte bloß wieder ihre Umgebung zu mustern, und mit dem grausamen Spürsinn, den die Jugend für den Abstand hat, der zwischen der Unendlichkeit einer Lehre und der Endlichkeit des Lehrers besteht, ja auch leicht dahin führt, von dem Diener auf den Herrn zurückzuschließen, sah sie sich von dem sie umrahmenden Heim, darin sie sich gefangen begeben und erwartungsvoll niedergelassen hatte, plötzlich unaufhaltsam zum Lachen gereizt.

Doch grub sie unwillkürlich die Nägel in das Holz des Sessels, denn sie schämte sich der Unschlüssigkeit.

Und am liebsten hätte sie dem Unbekannten, der sich der Tröstung anmaßte, alles, was sie bedrückte, jetzt so rasch wie möglich und auf einmal ins Gesicht geschleudert, so er bloß geruht hätte, sich endlich zu zeigen: Den bösen Handel mit dem Testament — völlig unverzeihlich, wenn man es ohne Trotz überlegt.

Hagauers Briefe, ihr Abbild so abscheulich verzerrend wie ein schlechter Spiegel, ohne daß sich die Ähnlichkeit ganz hätte leugnen lassen. Dann wohl auch, daß sie diesen Mann vernichten wollte, nun aber doch nicht wirklich töten; und daß sie ihn einst wohl geheiratet hätte, aber auch nicht wirklich, sondern blind vor Selbstverachtung. Es gab lauter ungewöhnliche Halbheiten in ihrem Leben; aber schließlich hätte dann auch, alles vereinend, die zwischen Ulrich und ihr schwebende Ahnung zur Sprache kommen müssen, 586

und diesen Verrat konnte sie ja doch nie und nimmer begehen! Sie fühlte sich unwirsch wie ein Kind, dem stets eine zu schwere Aufgabe zugemutet wird. Warum wurde das Licht, das sie manchmal sah, jedesmal gleich wieder verlöscht wie eine durch weites Dunkel schwankende Laterne, deren Schimmer von der Finsternis bald eingeschluckt, bald freigegeben wird?! Sie war aller Entschließung beraubt, und zum Überfluß entsann sie sich, daß Ulrich einmal gesagt habe, wer dieses Licht suche, der müsse über einen Abgrund, der keinen Boden und keine Brücke hat. Glaubte er also zuinnerst selbst nicht an die Möglichkeit dessen, was sie gemeinsam suchten? So dachte sie, und obwohl sie nicht wirklich zu zweifeln wagte, fühlte sie sich doch tief erschüttert. Niemand konnte ihr also helfen als der Abgrund selbst! Dieser Abgrund war Gott: ach, was wußte sie! Mit Abneigung und verächtlich musterte sie die Brücklein, die hinüberführen wollten, die Demut des Zimmers, die fromm an den Wänden angebrachten Bilder, alles das, was ein vertrauliches Verhältnis zu ihm vortäuschte. Sie war ebenso nahe daran, sich selbst zu demütigen, wie sich mit Grausen abzuwenden. Und am liebsten wäre sie wohl noch einmal davongelaufen; als sie sich aber erinnerte, daß sie immer davonliefe, fiel ihr noch einmal Ulrich ein, und sie kam sich «furchtbar feig» vor.

Das Schweigen zu Hause war doch schon wie eine Windstille gewesen, die dem Sturm vorangeht, und von dem Druck dieses Herannahens war sie hierhergeschleudert worden. So sah sie es jetzt an, nicht ganz ohne ein aufkommendes Lächeln; und da lag es auch nahe, daß ihr noch etwas einfiel, das Ulrich gesagte hatte, denn er hatte irgend einmal gesagt: «Niemals findet sich ein Mensch selbst völlig feig; denn wenn er vor etwas erschrickt, so läuft er genau so weit davon, daß er sich wieder als Held vorkommt!» Und da saß sie also!

44 Eine gewaltige Aussprache

In diesem Augenblick trat Lindner ein und hatte sich ebensoviel zu sagen vorgenommen wie seine Besucherin; aber es kam alles anders, als sie sich einander gegenüber befanden, Agathe ging gleich mit Worten zum Angriff über, die zu ihrem Erstaunen weitaus gewöhnlicher ausfielen, als es ihrer Vorgeschichte entsprochen hätte. «Sie erinnern sich wohl, daß ich Sie gebeten habe, mir einiges zu erklären» begann sie. «Ich bin jetzt da. Ich weiß noch gut, was Sie gegen meine Scheidung gesagt haben.

Vielleicht habe ich es seither sogar besser verstanden!» Sie saßen an einem großen, runden Tisch, und die ganze Länge seines Durchmessers trennte sie. Agathe fühlte sich, im Verhältnis zu den letzten Augenblicken ihres Alleinseins, gleich im ersten Augenblick dieses Beisammenseins tief gesunken, dann aber auf festem Boden; sie legte dort das Wort Scheidung wie einen Köder aus, obwohl ihre Neugierde, Lindners Meinung zu erfahren, auch aufrichtig war.

Und dieser antwortete wirklich fast in demselben Augenblick: «Ich weiß recht wohl, warum Sie diese Erklärung von mir verlangen. Man wird Ihnen zeitlebens eingeflüstert haben, daß der Glaube an Übermenschliches und der Gehorsam gegen Gebote, die in diesem ihren Ursprung haben, dem Mittelalter angehöre! Sie haben erfahren, solche Märchen seien durch die Wissenschaft abgetan worden! Sind Sie aber dessen gewiß, daß es wirklich so ist?!»

Agathe bemerkte zu ihrer Überraschung, daß sich ungefähr bei jedem dritten Wort seine Lippen unter dem schütteren Bart wie zwei Angreifer aufrichteten. Sie gab keine Antwort.

«Haben Sie darüber nachgedacht?» fuhr Lindner streng fort. «Kennen Sie die wahre Unzahl von Fragen, die damit zusammenhängen? Ich sehe: Sie kennen sie nicht! Aber Sie haben eine großartige Handbewegung, mit der Sie das abtun, und wissen wahrscheinlich nicht einmal, daß Sie bloß unter dem Einfluß fremden Zwanges handeln!»

Er hatte sich in die Gefahr gestürzt. Es blieb ungewiß, an welche Einflüsterer er dabei dachte. Er fühlte sich fortgerissen. Seine Rede war ein langer Tunnel, den er durch einen Berg gebohrt hatte, um jenseits über eine Vorstellung: «Lügen freigeistiger Männer» herzufallen, die dort in prahlerischem Licht prangte. Er meinte weder Ulrich noch Hagauer, aber er meinte beide, er meinte alle. «Und wenn Sie auch nachgedacht hätten» - er rief es mit kühn ansteigender Stimme aus - «und von diesen Irrlehren überzeugt wären: daß der Körper nichts als ein System toter Korpuskeln sei, die Seele ein Drüsenspiel, die Gesellschaft ein Lumpenbündel mechanisch-wirtschaftlicher Gesetze; und sogar, wenn das richtig wäre, wovon es weit entfernt ist - so würde ich doch solchem Denken das Wissen von der Wahrheit des Lebens absprechen!

Denn was sich Wissenschaft nennt, hat nicht die geringste Zuständigkeit, mit ihrem äußerlichen Verfahren 587

das zu erklären, was als innere, geistige Gewißheit im Menschen lebt. Die Lebenswahrheit ist ein anfangloses Wissen, und die Tatsachen des wahren Lebens werden nicht durch Beweis vermittelt: wer lebt und leidet, hat sie in sich selbst als die geheimnisvolle Macht höherer Ansprüche und als die lebendige Deutung seiner selbst!»

Lindner war aufgestanden. Seine Augen blitzten wie zwei Kanzelredner auf der von seinen langen Beinen gebildeten Höhe. Er sah mit Machtgefühlen auf Agathe hinab. «Warum spricht er gleich So viel?» dachte sie. «Und was hat er gegen Ulrich? Er kennt ihn kaum und spricht doch offenkundig gegen ihn!?» Da gab ihr die weibliche Übung im Erregen von Gefühlen, schneller, als es Nachdenken vermocht hätte, die Gewißheit ein, daß Lindner nur deshalb so spräche, weil er in einer lächerlichen Weise eifersüchtig sei. Sie sah mit einem bezaubernden Lächeln zu ihm auf. Er stand groß, schwank und bewaffnet vor ihr und kam ihr wie eine kampflustige Riesenheuschrecke aus vergangenen Erdzeitaltern vor. «Du lieber Himmel, » dachte sie «jetzt werde ich wieder etwas sagen, das ihn ärgert, und er wird wieder hinter mir drein laufen: Wo bin ich?! Welches Spiel treibe ich?!» Es verwirrte sie, daß sie von Lindner zum Lachen gereizt wurde und doch einzelne seiner Worte nicht ohneweiters los wurde, wie «anfangloses Wissen» oder «lebendige Deutung»: so fremde Worte in der Gegenwart, aber ihr heimlich vertraut, als hätte sie selbst sie immer gebraucht, ohne daß sie sich erinnern konnte, diese Ausdrücke früher auch nur gehört zu haben. Sie dachte: «Es ist schauerlich, aber einzelne seiner Worte hat er mir schon wie Kinder ins Herz gesenkt!»

Lindner bemerkte, daß er auf sie Eindruck gemacht habe, und diese Genugtuung versöhnte ihn ein wenig.

Er sah eine junge Frau vor sich, an der Erregung und gespielte Gleichgültigkeit, ja selbst Keckheit verdächtig zu wechseln schienen: und da er ein genauer Kenner der Frauenseele zu sein glaubte, ließ er sich davon nicht beirren, sondern wußte, daß die Versuchung zu Hochmut und Eitelkeit für schöne Frauen außerordentlich groß sei. Er konnte überhaupt ein schönes Gesicht selten ohne eine Beimischung von Mitleid betrachten. Damit ausgezeichnete Menschen waren nach seiner Überzeugung fast immer Märtyrer ihrer glänzenden Außenseite, die sie zu Dünkel verführte und seinem schleichenden Gefolge von Herzenskälte und Äußerlichkeit. Immerhin kann es aber auch vorkommen, daß hinter einem schönen Antlitz eine Seele wohnt, und wieviel Unsicherheit hat sich denn nicht oft schon hinter Hochmut, wieviel Verzweiflung unter Leichtsinn verborgen! Oft sind das sogar besonders edle Menschen, denen bloß die Hilfe richtiger und unerschütterlicher Überzeugungen abgeht. Und Lindner wurde nun nach und nach wieder ganz davon überwältigt, daß sich der erfolgreiche Mensch in die Stimmung des vernachlässigten hineinzuversetzen habe; und als er dies tat, wurde er gewahr, daß die Form von Agathes Antlitz und Körper jene liebliche Ruhe besitze, die nur dem Großen und Edlen zu eigen ist, ja das Knie in den Falten der Umhüllung erschien ihm sogar als das einer Niobe. Es setzte ihn in Erstaunen, daß sich ihm gerade dieser Vergleich aufdränge, der seines Wissens keinesfalls passend sein konnte, aber anscheinend hatte sich darin der Adel seines moralischen Schmerzes selbsttätig mit der verdächtigen Vorstellung vieler Kinder verbunden, denn er fühlte sich nicht minder angezogen als geängstigt. Er bemerkte nun auch den Busen, der in raschen, kleinen Wellen atmete. Es wurde ihm schwül zumute, und wäre ihm nicht abermals seine Weltkenntnis zu Hilfe gekommen, so hätte er sich sogar ratlos gefühlt: sie flüsterte ihm aber im Augenblick der höchsten Verfänglichkeit zu, daß dieser Busen etwas Unausgesprochenes umschließen müsse, und daß dieses Geheimnis nach allem, was er wußte, mit der Scheidung von seinem Kollegen Hagauer zusammenhängen dürfte; und das rettete ihn aus beschämender Torheit, indem es ihm augenblicklich die Möglichkeit bot, sich die Enthüllung dieses Geheimnisses an Stelle der des Busens zu wünschen. Er tat es aus ganzer Kraft, und die Verbindung von Sünde mit der ritterlichen Tötung des Sündendrachens schwebte ihm dabei in glühenden Farben vor, ähnlich wie sie auf der Glasmalerei in seinem Arbeitszimmer leuchteten.

Agathe unterbrach dieses Nachsinnen mit einer Frage, die sie in gemäßigtem, ja verhaltenen Ton an ihn richtete, nachdem sie sich wieder gefaßt hatte. «Sie haben behauptet, daß ich unter Einflüsterungen, unter einem fremden Zwang handle: was haben Sie damit gemeint?»

Lindner hob verblüfft den Blick, der auf ihrem Herzen geruht hatte, zu ihren Augen. Was ihm noch nie widerfahren war, er wußte nicht mehr, was er zuletzt gesagt hatte. Er hatte in dieser jungen Frau ein Opfer des freien Geistes gesehen, der die Zeit verwirrt, und hatte es über seiner Siegesfreude vergessen.

Agathe wiederholte ihre Frage mit einer kleinen Veränderung: «Ich habe Ihnen anvertraut, daß ich mich von Professor Hagauer scheiden lassen will, und Sie haben mir erwidert, daß ich unter Einflüsterungen 588

handle. Es könnte mir nützen, zu erfahren, was Sie darunter verstehen. Ich wiederhole Ihnen, daß keiner der landläufigen Gründe ganz zutrifft; nicht einmal die Abneigung ist nach den Maßen der Welt unüberwindlich gewesen. Ich bin bloß überzeugt worden, daß sie nicht überwunden werden darf, sondern unermeßlich vergrößert werden soll!»

«Von wem?»

«Das ist eben die Frage, die Sie mir lösen helfen sollen. » Sie sah ihn wieder mit einem sanften Lächeln an, das sozusagen abscheulich tief ausgeschnitten war und den inneren Busen entblößte, als läge nur noch ein schwarzes Spitzentuch darüber.

Unwillkürlich schützte Lindner davor das Auge mit einer Bewegung der Hand, die seine Brille zu richten vorgab. Die Wahrheit war, daß Mut in seinem Weltbild als auch in den Gefühlen, die er Agathe entgegenbrachte, dieselbe ängstliche Rolle spielte. Er gehörte zu denen, die erkannt haben, daß es den Sieg der Demut erleichtert, wenn sie den Hochmut zuvor mit der Faust niederstreckt, und seine gelehrte Natur hieß ihn keinen Hochmut so bitterlich fürchten wie den der freien Wissenschaft, die dem Glauben vorwirft, daß er unwissenschaftlich sei. Hätte man ihm gesagt, daß die Heiligen mit ihren leer und bittend erhobenen Händen veraltet seien und gegenwärtig mit Säbel, Pistole oder noch neueren Instrumenten in der Faust dargestellt werden müßten, so möchte ihn das empört haben, aber die Waffen des Wissens wollte er dem Glauben nicht vorenthalten sehen. Das war beinahe zur Gänze ein Irrtum, aber nicht er allein beging ihn; und darum war er über Agathe mit Worten hergefallen, die in seinen Veröffentlichungen einen ehrenvollen Platz verdient hätten - und ihn dort wahrscheinlich auch einnahmen -, der sich ihm Anvertrauenden gegenüber aber fehl am Ort gewesen waren. Da er den Sendling ihm feindlicher Weltteile, den ein gütiges oder dämonisches Geschick in seine Hände gegeben, nun bescheiden nachdenklich vor sich sitzen sah, spürte er das selbst und war in Verlegenheit, was er antworten solle. «Ach!» sagte er, möglichst allgemein und wegwerfend, und traf zufällig nicht weit vom Richtigen: «Ich habe den Geist gemeint, der heute herrscht und junge Menschen befürchten läßt, daß sie dumm, ja sogar unwissenschaftlich erscheinen könnten, wenn sie nicht allen modernen Aberglauben mitmachen. Was weiß ich, welche Schlagworte Ihnen im Sinn liegen mögen: Ausleben! Lebensbejahung! Kultur der Persönlichkeit! Freiheit des Denkens oder der Kunst! Jedenfalls alles, nur nicht die Gebote der ewigen und einfachen Moral!»

Die glückliche Steigerung: «dumm, ja sogar unwissenschaftlich» erfreute ihn durch ihre Feinheit und hatte seinen Kampfgeist wieder aufgerichtet. «Sie werden sich wundern, » fuhr er fort «daß ich im Gespräch mit Ihnen auf Wissenschaft Wert lege, ohne davon unterrichtet zu sein, ob Sie sich viel oder wenig mit ihr befaßt haben - »

«Gar nicht!» unterbrach ihn Agathe. «Ich bin eine unwissende Frau. » Sie betonte es und schien daran, vielleicht mit einer Art von Schein-Unheiligkeit, Vergnügen zu haben.

«Aber es ist Ihr Milieu!» berichtigte Lindner mit Nachdruck. «Und ob Freiheit der Sitten oder der Wissenschaft, in beiden drückt sich dasselbe aus: der von der Moral losgelöste Geist!»

Agathe empfand auch diese Worte wieder als nüchterne Schatten, die gleichwohl von etwas Dunklerem herfielen, das ihnen in der Nähe war. Sie war nicht gesonnen, ihre Enttäuschung zu verbergen, offenbarte sie aber lachend: «Sie haben mir letzthin den Rat gegeben, nicht an mich zu denken, und reden selbst immerzu von mir» gab sie dem Mann vor ihr spöttisch zu bedenken.

Dieser wiederholte: «Sie haben Angst, sich unzeitgemäß vorzukommen!»

In Agathes Augen zuckte es ärgerlich. «Ich bin ratlos, so wenig paßt auf mich, was Sie sagen!»

«Und ich sage Ihnen: <Ihr seid teuer erkauft, werdet nicht Knechte der Menschen!>» Die Vortragsweise, die zur ganzen Verkörperung in Widerspruch stand wie eine schwere Blüte zu einem schwachen Stengel, erheiterte Agathe. Sie fragte dringlich und beinahe rauh: «Also, was soll ich tun? Ich erhoffe mir von Ihnen eine bestimmte Antwort. »

Lindner schluckte und wurde dunkel vor Ernst. «Tun Sie, was Ihre Pflicht ist!»

«Ich weiß nicht, was meine Pflicht ist!»

«Dann müßten Sie sich Pflichten suchen!»

«Ich weiß doch nicht, was Pflichten sind!»

Lindner lächelte grimmig. «Da haben wir ja gleich die Freiheit der Persönlichkeit!» rief er. «Eitel Spiegelung! Sie sehen es doch an sich: wenn der Mensch frei ist, ist er unglücklich! Wenn der Mensch frei ist, ist er ein Phantom!» fügte er, aus Verlegenheit die Stimme noch etwas mehr hebend, hinzu. Dann senkte 589

er sie aber wieder und schloß mit Überzeugung: «Pflicht ist, was die Menschheit in richtiger Selbsterkenntnis gegen ihre eigene Schwäche aufgerichtet hat. Pflicht ist ein und dieselbe Wahrheit, die alle großen Persönlichkeiten bekannt oder auf die sie ahnungsvoll hingewiesen haben. Pflicht ist das Werk jahrhundertelanger Erfahrung und das Ergebnis des Seherblicks der Begnadeten. Pflicht ist aber auch, was selbst der einfachste Mensch im geheimen Innern genau kennt, wenn er nur aufrichtig lebt!»

«Das war ein von Kerzen durchzitterter Gesang» stellte Agathe anerkennend fest.

Unliebsam war, daß Lindner auch fühlte, daß er falsch gesungen habe. Er hätte etwas anderes sagen sollen, getraute sich aber nicht zu erkennen, worin die Abweichung von der echten Stimme seines Herzens bestehe.

Er gestattete sich bloß den Gedanken, daß dieses junge Wesen von seinem Mann tief enttäuscht sein müsse, da es so dreist und verbittert gegen sich selbst wüte, und daß es trotz alles Tadels, den es herausfordere, eines stärkeren Mannes würdig wäre; er hatte aber den Eindruck, daß auf diesen Gedanken ein noch weitaus gefährlicherer folgen wolle. Indessen schüttelte Agathe aber langsam und sehr entschlossen den Kopf; und mit der unwillkürlichen Sicherheit, mit der ein erregter Mensch vom ändern zu dem verführt wird, was die bedenkliche Lage ganz zum Sturz bringt, fuhr sie fort: «Aber wir sprechen von meiner Scheidung! Und warum sagen Sie da heute nichts mehr von Gott? Warum sagen Sie nicht einfach zu mir: <Gott befiehlt, daß Sie bei Professor Hagauer bleiben!>? Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß er so etwas befehlen mag!»

Lindner zuckte unwillig die hohen Schultern; ja, er schien mit ihrer auffahrenden Bewegung fürwahr selbst in die Höhe zu schweben. «Ich habe nie mit Ihnen davon gesprochen, das haben bloß Sie versucht!»

verwahrte er sich schroff. «Und was das übrige betrifft, glauben Sie nur ja nicht, daß sich Gott um die kleinen selbstischen Händel unseres Gefühls kümmert! Dafür ist sein Gesetz da, das wir zu befolgen haben!

Oder dünkt Sie das nicht heldisch genug, da doch der Mensch heute in allem das <Persönliche> will? Nun, dann setze ich Ihren Ansprüchen ein höheres Heldentum entgegen, das der heroischen Unterwerfung!»

Jedes Wort davon besagte bedeutend mehr, als sich ein Laie erlauben sollte, wäre es selbst nur in Gedanken; Agathe hinwieder konnte zu so grobem Hohn bloß unaufhörlich lächeln, wollte sie nicht gezwungen sein, daß sie aufstehe und ihren Besuch abbreche, und sie tat es natürlich mit so sicherer Geschicklichkeit, daß sich Lindner immer wirrer gereizt fühlte. Er gewahrte seine Einfalle beunruhigend aufsteigen und immer mehr eine glühende Trunkenheit verstärken, die ihn der Besinnung beraubte und von dem Willen widerhallte, den störrischen Sinn zu brechen und vielleicht die Seele zu retten, der er sich gegenüber sah.

«Unsere Pflicht ist schmerzhaft!» rief er aus. «Unsere Pflicht mag widerwärtig und ekelerregend sein!

Glauben Sie nur ja nicht, daß ich der Anwalt Ihres Gatten sein will und von Natur auf seiner Seite stehe.

Aber Sie müssen dem Gesetz gehorchen, weil es das einzige ist, was uns dauernd Friede gewährt und uns vor uns beschützt!»

Agathe lachte ihn jetzt aus; sie hatte die Waffe erraten, die ihr die Wirkungen an die Hand gaben, die von ihrer Scheidung ausgingen, und sie drehte das Messer in der Wunde um. «Ich begreife von dem allen wenig» sagte sie. «Aber darf ich Ihnen aufrichtig einen Eindruck bekennen? Wenn Sie zornig sind, werden Sie ein wenig schlüpfrig!»

« Ach, lassen Sie das!» verwies es Lindner. Er prallte zurück und hatte nur den einen Wunsch, so etwas um keinen Preis zuzulassen. Er hob abwehrend die Stimme und beschwor das vor ihm sitzende sündliche Phantom. «Der Geist darf sich nicht dem Fleisch unterwerfen und seinen Reizen und Schauern! Nicht einmal in der Form des Abscheus! Und ich sage Ihnen: Es mag die Beherrschung des fleischlichen Unwillens, welche die Schule der Ehe anscheinend von Ihnen verlangt hat, schmerzlich sein, so dürfen Sie ihr doch nicht entfliehn. Denn es lebt im Menschen ein Verlangen nach Befreiung, und wir dürfen so wenig die Knechte des Abscheus unseres Fleisches sein wie die seiner Wollust! Das ist es doch offenbar, was Sie haben hören wollen, denn sonst wären Sie nicht zu mir gekommen!» - schloß er, nicht minder großartig als hämisch. Er stand hochgereckt vor Agathe, die Bartfäden bewegten sich um seine Lippen. Noch nie hatte er solche Worte zu einer Frau gesprochen außer zu seiner verstorbenen eigenen, und da waren die Gefühle andere gewesen. Denn jetzt waren sie mit Wollust untermischt, als schwänge er eine Geißel in der Faust, den Erdball zu züchtigen, und zugleich waren sie ängstlich, als schwebte er gleich einem entführten Hut auf der Höhe des bußpredigerlichen Wirbelsturms, der ihn erfaßt hatte.

«Da haben Sie soeben wieder merkwürdig gesprochen!» bemerkte Agathe leidenschaftslos und wollte seine Unverschämtheit jetzt mit einigen trockenen Worten abstellen; doch dann ermaß sie den ungeheuren 590

Absturz, der ihm bevorstünde, und zog es vor, sich sanft zu demütigen, indem sie einhielt und mit einer Stimme, die scheinbar plötzlich von Reue verdunkelt worden war, fortfuhr: «Ich bin bloß deshalb gekommen, weil ich wollte, daß Sie mich führen. »

Lindner, in ratlosem Eifer, schwang die Wortgeißel weiter; ihm ahnte, daß ihn Agathe mit Absicht in die Irre treibe, aber er fand nicht zurück und vertraute sich der Zukunft an. «Lebenslänglich an einen Mann gefesselt zu sein, ohne körperliche Neigung zu empfinden, ist gewiß eine schwere Strafe» rief er aus. «Aber hat man sich diese nicht gerade dann, wenn der Partner unwürdig ist, dadurch zugezogen, daß man auf die Zeichen des inwendigen Lebens nicht genug geachtet hat?! Viele Frauen lassen sich doch von äußeren Umständen betören, und wer weiß, ob man nicht gestraft wird, um aufgerüttelt zu werden!» Plötzlich überschlug sich seine Stimme. Agathe hatte seine Worte mit zustimmender Kopfbewegung begleitet; aber daß sie sich Hagauer als betörenden Verführer vorstellen sollte, war zuviel für sie gewesen, und ihre heiteren Augen verrieten es. Lindner, aufs äußerste irregemacht, schmetterte in der Fistel: «Denn der die Rute spart, der haßt sein Kind, der es aber liebt, züchtiget es!»

Der Widerstand seines Opfers hatte aus dem auf sicherer Warte hausenden Lebensphilosophen nun vollends einen Dichter von Strafen und ihren erregenden Begleitumständen gemacht. Er war von einer ihm unbekannten Empfindung berauscht, die aus einer innigen Verbindung der moralischen Zurechtweisung, durch die er seinen Besuch stachelte, mit einer Aufreizung seiner ganzen Männlichkeit hervorging und die man symbolisch, wie er nun selbst einsah, als wollüstig bezeichnen konnte.

Aber die «arrogante Eroberin», die von der leeren Eitelkeit ihrer weltlichen Schönheit doch endlich zur Verzweiflung hätte getrieben werden sollen, knüpfte sachlich auch an seine Drohungen mit der Rute an und fragte still: «Von wem werde ich gestraft? An wen denken Sie?»

Und das ließ sich nicht aussprechen! Lindner verlor plötzlich den Mut. Schweiß stand zwischen seinen Haaren. Es war unmöglich, in einem solchen Zusammenhang den Namen Gottes zu nennen. Sein Blick, der wie eine zweizinkige Gabel vorgestreckt war, zog sich langsam von Agathe zurück. Agathe fühlte das. «Er kann es also auch nicht!» dachte sie. Sie empfand eine wahnwitzige Lust, an diesem Menschen weiter zu zerren, so lange, bis das aus seinem Mund hervorginge, was er ihr nicht preisgeben wollte. Doch für diesmal war es genug; das Gespräch war an seiner äußersten Grenze angelangt. Agathe verstand, daß es nur eine glühende, und in der Glut durchsichtig gewordene Ausrede gewesen war, um das Entscheidende nicht sagen zu müssen. Übrigens wußte auch Lindner jetzt, daß alles, was er vorgebracht, ja alles, was ihn erregt hatte, ja die Übertreibung selbst, nur der Angst vor Übertreibungen entsprungen war, als deren zuchtloseste er es ansah, sich dem, was von hohen Worten verhüllt bleiben soll, mit fürwitzigen Sinnes-und Gefühlswerkzeugen zu nahen, wozu ihn offenbar diese übertriebene junge Frau drängte. Er nannte es bei sich jetzt «eine Verletzung der Dezenz des Glaubens». Denn während dieser Augenblicke strömte das Blut aus Lindners Kopf zurück und nahm seine ordentliche Bahn wieder auf; er erwachte wie ein Mensch, der sich weit weg von der Tür seines Hauses nackend dastehen findet, und erinnerte sich, daß er Agathe nicht ohne Trost und Belehrung fortschicken dürfe. Tief aufatmend trat er von ihr zurück, strich seinen Bart und sagte verweisend: «Sie haben ein unruhiges und phantastisches Selbst!»

«Und Sie haben eine eigentümliche Art von Galanterie!» entgegnete Agathe kühl, denn sie hatte jetzt keine Lust mehr auf eine Fortsetzung.

Lindner fand es indes zu seiner Wiederherstellung erforderlich, noch etwas zu sagen: «Sie sollten in der Schule der Wirklichkeit lernen, Ihre Subjektivität unerbittlich in die Zügel zu nehmen, denn wer das nicht kann, dessen Phantasie und Einbildung wird ihn gar zu bald am Boden schleifen… !» Er hielt ein, denn die sonderbare Frau zog noch immer die Stimme ganz unerwünscht aus seiner Brust. «Wehe dem, der sich von der Sitte loslöst, er löst sich von der Wirklichkeit los!» fügte er leise hinzu.

Agathe zuckte die Achseln. «Ich hoffe Sie das nächste Mal bei uns zu sehen!» schlug sie vor.

«Da muß ich doch erwidern: Nie!» verwahrte sich Lindner heftig und nun ganz irdisch. «Zwischen Ihrem Bruder und mir bestehen Gegensätze der Lebensauffassung, die einen Verkehr besser meiden lassen» fügte er als Entschuldigung hinzu.

«Also werde wohl ich fleißig in die Schule der Wirklichkeit kommen müssen» gab Agathe ruhig zur Antwort.

«Nein!» wiederholte Lindner, vertrat ihr dabei aber merkwürdigerweise beinahe drohend den Weg; denn sie hatte sich mit jenen Worten zum Gehen angeschickt. «Das darf nicht geschehen! Sie dürfen mich 591

Kollege Hagauer gegenüber nicht in die peinliche Lage bringen, daß ich ohne sein Wissen Ihre Besuche empfange!»

«Sind Sie immer so leidenschaftlich wie heute?» fragte Agathe spöttisch und zwang ihn dadurch, ihr den Weg freizugeben. Sie fühlte sich jetzt am Ende schal, aber gekräftigt. Die Angst, die Lindner vor ihr verriet, zog sie zu Handlungen hin, die ihrem wahren Zustand fremd waren; während aber die Forderungen ihres Bruders sie leicht entmutigten, gab ihr dieser Mann die Freiheit zurück, ihr Inneres nach Willkür zu regen, und es tröstete sie, ihn zu verwirren.

«Habe ich mir vielleicht etwas vergeben?» fragte sich Lindner, nachdem sie gegangen war. Er steifte die Schultern und marschierte einigemal im Zimmer auf und ab. Schließlich beschloß er, den Verkehr fortzusetzen, und faßte sein Unbehagen, das dabei sehr groß war, in die soldatischen Worte: «Mari muß den festen Willen zur Tapferkeit gegenüber allem Peinlichen haben!»

Peter aber war, als Agathe aufbrach, vom Schlüsselloch fortgehuscht, wo er nicht ohne Staunen belauscht hatte, was sein Vater mit der «großen Gans» anhebe.

45 Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse

Bald nach diesem Besuch wiederholte sich das «Unmögliche», das Agathe und Ulrich beinahe schon körperlich umschwebte, und es geschah wahrlich, ohne daß irgenderlei geschah.

Die Geschwister kleideten sich zu einer Abendunterhaltung um, es war niemand als Ulrich im Haus, Agathe zu helfen, sie hatten nicht rechtzeitig begonnen und waren darum eine Viertelstunde lang in lebhaftester Eile gewesen, als eine kleine Pause eintrat. Auf den Lehnen und Flächen des Zimmers lag Stück für Stück fast noch der ganze Kriegsschmuck ausgebreitet, der von einer Frau bei solcher Gelegenheit angelegt wird, und Agathe bückte sich soeben über ihren Fuß, mit der ganzen Aufmerksamkeit, die das Anziehen eines dünnen Seidenstrumpfs erfordert. Ulrich stand ihr im Rücken. Er sah ihren Kopf, den Hals, die Schulter und diesen beinahe nackten Rücken; der Körper bog sich über dem emporgezogenen Knie ein wenig zur Seite, und am Hals rundete die Spannung des Vorgangs drei Falten, die schlank und lustig durch die klare Haut eilten wie drei Pfeile: die liebliche Körperlichkeit dieses Bilds, der sich augenblicks ausbreitenden Stille entsprungen, schien ihren Rahmen verloren zu haben und ging so unvermittelt und unmittelbar in den Körper Ulrichs über, daß dieser seinen Platz verließ und, nicht ganz so bewußtlos, wie ein Fahnentuch vom Wind entrollt wird, aber auch nicht mit bewußter Überlegung, auf den Fußspitzen näher schlich, die Gebeugte überraschte und mit sanfter Wildheit in einen dieser Pfeile biß, wobei sein Arm die Schwester umschlang. Dann ließen Ulrichs Zähne ebenso vorsichtig die Überfallene los; die rechte Hand hatte ihr Knie umfaßt, und während er mit dem linken Arm ihren Körper an seinen drückte, riß er sie auf emporschnellenden Beinsehnen mit sich in die Höhe. Agathe schrie dabei erschrocken auf.

Bis dahin hatte sich alles ebenso übermütig und scherzhaft abgespielt wie vieles zuvor, und mochte es auch in den Farben der Liebe gestreift sein, so doch nur mit der eigentlich schüchternen Absicht, deren gefährlichere ungewöhnliche Natur unter solchem heiter vertraulichen Kleid zu bergen. Aber als Agathe ihr Erschrecken überwand und sich nicht sowohl durch die Luft fliegen als vielmehr in dieser ruhen fühlte, von aller Schwere plötzlich entbunden und an deren Stelle von dem sanften Zwang der allmählich langsamer werdenden Bewegung gelenkt, bewirkte es einer jener Zufälle, die niemand in seiner Macht hat, daß sie sich in diesem Zustand wundersam besänftigt vorkam, ja aller irdischen Unruhe entrückt; mit einer das Gleichgewicht ihres Körpers verändernden Bewegung, die sie niemals hätte wiederholen können, streifte sie auch noch den letzten Seidenfaden von Zwang ab, wandte sich fallend ihrem Bruder zu, setzte gleichsam noch im Fall das Steigen fort, und lag niedersinkend als eine Wolke von Glück in seinen Armen.

Ulrich trug sie, ihren Körper sanft an sich drückend, durch das dunkelnde Zimmer ans Fenster und stellte sie neben sich in das milde Licht des Abends, das ihr Gesicht wie Tränen überströmte. Trotz der Kraft, die alles erforderte, und des Zwangs, den Ulrich auf seine Schwester ausgeübt hatte, kam ihnen das, was sie taten, merkwürdig entlegen von Kraft und Zwang vor; man hätte es vielleicht wieder mit der wundersamen Inbrunst eines Bildes vergleichen können, das für die Hand, die es von außen ergreift, nichts als eine lächerliche, angestrichene Fläche ist. So hatten sie denn auch nichts im Sinn als den leiblichen Vorgang, der ihr Bewußtsein ganz erfüllte, und doch besaß er neben seiner Natur als harmloser, ja anfangs sogar etwas 592

derber Scherz, der alle Muskeln in Bewegung setzte, eine zweite Natur, die äußerst zart alle Gliedmaßen lahmte und zugleich mit einer unsagbaren Empfindlichkeit umstrickte. Sie schlangen fragend einander die Arme um die Schultern. Der geschwisterliche Wuchs der Körper teilte sich ihnen mit, als stiegen sie aus einer Wurzel auf. Sie sahen einander so neugierig in die Augen, als sähen sie dergleichen zum erstenmal.

Und obwohl sie das, was eigentlich vorgegangen sei, nicht hätten erzählen können, weil ihre Beteiligung daran zu inständig war, glaubten sie doch zu wissen, daß sie sich soeben unversehens einen Augenblick inmitten dieses gemeinsamen Zustands befunden hätten, an dessen Grenze sie schon so lange gezögert, den sie einander schon so oft beschrieben und den sie doch immer nur von außen geschaut hatten.

Prüften sie es nüchtern, und verstohlen taten sie das beide, so bedeutete es freilich kaum mehr als einen reizenden Zufall und hätte sich im nächsten Augenblick, oder wenigstens mit der Wiederkehr einer Beschäftigung, in nichts auflösen sollen; trotzdem geschah das nicht. Im Gegenteil, sie verließen das Fenster, machten Licht, nahmen ihre Tätigkeit wieder auf, standen aber doch bald von ihr ab; und ohne daß sie sich darüber hätten verständigen müssen, ging Ulrich an den Fernsprecher und teilte dem Hause, wo sie erwartet wurden, mit, daß sie nicht kämen. Er hatte da schon den Abendanzug an, aber Agathes Kleid hing noch ungeschlossen die Schulter hinab, und sie bemühte sich eben erst, ihrem Haar eine gesittete Ordnung zu geben. Der technische Beiklang seiner Stimme im Gerät und die Verbindung mit der Welt, die sich herstellte, hatten Ulrich nicht im geringsten ernüchtert; er setzte sich seiner Schwester gegenüber, die in ihrer Beschäftigung einhielt, und nichts war, als ihre Blicke einander da begegneten, so gewiß, wie daß die Entscheidung gefallen sei und jedes Verbot ihnen nun gleichgültig wäre. Trotzdem kam es anders. Ihr Einverständnis tat sich ihnen mit jedem Atemzug kund; es war ein trotzig erlittenes, sich endlich vom Unmut der Sehnsucht zu erlösen, und es war ein so süß erlittenes, daß sich die Vorstellungen der Verwirklichung beinahe von ihnen losrissen und sie schon in der Einbildung vereinten, wie der Sturm einen Schaumschleier den Wellen voranpeitscht: aber ein noch größeres Verlangen gebot ihnen Ruhe, und sie vermochten nicht, noch einmal aneinander zu rühren. Sie wollten es beginnen, aber die Gebärden des Fleisches waren ihnen unmöglich geworden, und sie fühlten eine unbeschreibliche Warnung, die mit den Geboten der Sitte nichts zu tun hatte. Es schien sie aus der Welt der vollkommeneren, wenn auch noch schattenhaften Vereinigung, von der sie zuvor wie in einem schwärmerischen Gleichnis genossen hatten, ein höheres Gebot getroffen, eine höhere Ahnung, Neugierde oder Voraussicht angehaucht zu haben.

Die Geschwister verharrten nun verwirrt und nachdenklich, und nachdem sie ihre Empfindungen besänftigt hatten, fingen sie zögernd zu sprechen an.

Ulrich sagte sinnlos, wie man in die Luft spricht: «Du bist der Mond — »

Agathe verstand es.

Ulrich sagte: «Du bist zum Mond geflogen und mir von ihm wiedergeschenkt worden - »

Agathe schwieg: Mondgespräche sind so von ganzem Herzen verbraucht.

Ulrich sagte: «Es ist ein Gleichnis. <Wir waren außer uns>, <Wir hatten unsere Körper vertauscht, ohne uns zu berühren>, sind auch Gleichnisse! Aber was bedeutet ein Gleichnis? Ein wenig Wirkliches mit sehr viel Übertreibung. Und doch wollte ich schwören, so wahr es unmöglich ist, daß die Übertreibung sehr klein und die Wirklichkeit fast schon ganz groß gewesen ist!»

Er sprach nicht weiter. Er dachte: «Von welcher Wirklichkeit spreche ich? Gibt es eine zweite?»

Verläßt man hier das Gespräch der Geschwister, um einer Vergleichsmöglichkeit zu folgen, von der es zumindest mitbestimmt wurde, so wäre wohl zu sagen, daß diese Wirklichkeit fürwahr am nächsten mit der abenteuerlich veränderten in Mondnächten verwandt war. Begreift man doch auch diese nicht, wenn man in ihr bloß eine Gelegenheit zu etwas Schwärmerei sieht, die bei Tag besser unterdrückt bleibt, muß sich vielmehr, wenn man das Richtige bemerken will, das ganz Unglaubliche vergegenwärtigen, daß sich auf einem Stück Erde wirklich alle Gefühle wie verzaubert ändern, sobald es, aus der leeren Geschäftigkeit des Tags in die empfindungsvolle Körperlichkeit der Nacht taucht! Nicht nur schmelzen die äußeren Verhältnisse dahin und bilden sich neu im flüsternden Beilager von Licht und Schatten, sondern auch die inneren rücken auf eine neue Weise zusammen: Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn und gewinnt Nachbarsinn. Alle Versicherungen drücken nur ein einziges flutendes Erlebnis aus. Die Nacht schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme, und an ihrer Brust ist kein Wort falsch und keines wahr, sondern jedes ist die unvergleichliche Geburt des Geistes aus dem Dunkel, die der Mensch in einem neuen Gedanken erfährt. So hat jeder Vorgang in Mondnächten die Natur des Unwiederholbaren. Er 593

hat die Natur des Gesteigerten. Er hat die der uneigennützigen Freigebigkeit und Entäußerung. Jede Mitteilung ist eine neidlose Teilung. Jedes Geben ein Empfangen. Jede Empfängnis vielseitig verflochten in die Erregung der Nacht. So zu sein, es ist der einzige Zugang zum Wissen dessen, was vor sich geht. Denn das Ich behält in diesen Nächten nichts zurück, keine Verdichtung des Besitzes an sich selbst, kaum eine Erinnerung; das gesteigerte Selbst strahlt in eine grenzenlose Selbstlosigkeit hinein. Und diese Nächte sind voll des unsinnigen Gefühls, daß etwas geschehen werde, wie es noch nie dagewesen sei, ja wie es sich die verarmte Vernunft des Tages nicht einmal vorstellen könne. Und nicht der Mund schwärmt, sondern der Körper, vom Kopf bis zu den Füßen, ist über dem Dunkel der Erde und unter dem Licht des Himmels in eine Erregung eingespannt, die zwischen zwei Gestirnen schwingt. Und das Flüstern mit den Gefährten ist voll einer ganz unbekannten Sinnlichkeit, die nicht die Sinnlichkeit einer Person ist, sondern die des Irdischen, des in die Empfindung Dringenden überhaupt, die plötzlich enthüllte Zärtlichkeit der Welt, die unaufhörlich alle unsere Sinne berührt und von unseren Sinnen berührt wird.

Wohl hatte Ulrich nie eine besondere Vorliebe zum Mondscheinschwärmen an sich wahrgenommen; doch wie man gewöhnlich das Leben ohne Gefühle hinunterschlingt, so hat man manchmal viel später seinen geisterhaft gewordenen Geschmack auf der Zunge; und derart fühlte er alles, was er an solcher Schwärmerei versäumt hatte, alle achtlos und einsam, ehe er seine Schwester kannte, verbrachten Nächte plötzlich als silberübergossenes unendliches Gebüsch, als Mondflecken im Gras, als hangende Apfelbäume, singenden Frost und vergoldete Schwarzwässer wieder. Es waren lauter Einzelheiten, die nicht zusammenhingen und nie beisammen gewesen waren, die sich nun aber wie der Duft vermengten, der aus vielerlei Krautern eines berauschenden Getränks aufsteigt. Und als er das Agathe sagte, fühlte sie es auch.

Darum faßte Ulrich das alles, was er gesagt hatte, schließlich zu der Behauptung zusammen: «Was uns mit dem ersten Augenblick einander zugewandt hat, ließe sich recht ein Leben der Mondnächte nennen!» Und Agathe atmete tief auf. Das mochte heißen, was es wolle; und wahrscheinlich hieß es: Warum weißt du aber nicht auch einen Zauber dagegen, daß es uns im letzten Augenblick trennt?! Sie seufzte so natürlich und vertraulich, daß sie nicht einmal selbst davon wußte.

Und wieder hob damit eine Bewegung an, die sie zueinander neigte und auseinander hielt. Jede starke Erregung, die zwei Menschen gemeinsam bis ans Ende erlebt haben, hinterläßt in ihnen die nackte Vertraulichkeit der Erschöpfung; selbst der Streit tut das, und umwieviel mehr nicht die Zärtlichkeit von Gefühlen, die das Mark schier zu einer Flöte aushöhlen! So hätte nun auch Ulrich, als er sie wortlos klagen hörte, Agathe beinahe doch gerührt umarmt, und entzückt wie ein Liebhaber am Morgen nach den ersten Stürmen. Seine Hand berührte schon ihre Schulter, die noch immer entblößt war, und sie zuckte bei dieser Berührung lächelnd zusammen; aber in ihren Augen zeigte sich auch gleich wieder die ungewollte Abmahnung. Sonderbare Bilder entstanden nun in seinem Kopf: Agathe hinter Gittern. Oder sie, aus wachsender Entfernung ihm ängstlich winkend, von der trennenden Gewalt fremder Fäuste fortgerissen.

Dann wieder war er selbst nicht nur der ohnmächtig Verabschiedete, sondern ähnlich auch der Trennende…

Vielleicht waren das ewige Bilder des Liebeszweifels, bloß im Durchschnittsleben verbraucht, vielleicht auch nicht. Er hätte gerne davon zu ihr gesprochen, doch blickte Agathe jetzt von ihm weg und zu dem offenen Fenster hin und stand zögernd auf. Das Fieber der Liebe war in ihren Körpern, aber diese wagten keine Wiederholung, und jenseits des Fensters, dessen Vorhänge fast offenstanden, befand sich das, was ihnen die Einbildungkraft entführt hatte, ohne die das Fleisch nur roh oder mutlos ist. Als Agathe die ersten Schritte in diese Richtung tat, löschte Ulrich, ihr Einverständnis erratend, das Licht aus, um den Blick in die Nacht freizumachen. Der Mond war hinter den Fichtenwipfeln emporgekommen, deren grün glimmendes Schwarz sich schwerblütig von der goldblauen Höhe und der blaß glitzernden Weite abhob. Unwillig musterte Agathe das tiefe, kleine Stück Welt.

«Also doch nicht mehr als Mondscheinromantik?!» fragte sie.

Ulrich sah sie ohne Antwort an. Ihr blondes Haar wurde im Halbdunkel neben der weißlichen Nacht feurig, ihre Lippen waren von Schatten geöffnet, ihre Schönheit war schmerzlich und unwiderstehlich.

Wahrscheinlich stand aber auch er ähnlich vor ihrem Blick, mit blauen Augenhöhlen in weißem Gesicht, denn sie fuhr fort: «Weißt du, wie du jetzt aussiehst? Wie der <Pierrot Lunaire>! Es mahnt zur Vorsicht!»

Sie wollte ihm ein wenig Unrecht antun, in ihrer Erregung, die sie beinahe weinen machte. In der bleichen Maske des mondlich-einsamen Pierrots waren sich vor Zeiten doch alle jungen unnützen Leute schmerzvoll-launisch vorgekommen, kreidebleich gepudert bis auf die blutstropfenroten Lippen und von 594

einer Kolombine verlassen, die sie niemals besessen hatten; es drückte also die Vorliebe für Mondnächte beträchtlich ins Lächerliche hinab. Aber Ulrich pflichtete, zu seiner Schwester anfangs größer werdendem Weh, bereitwillig bei. «Auch das <Lache Bajazzo !> hat schon tausenden Spießbürgern den Rücken kalt vor innerster Zustimmung gemacht, wenn sie es singen hörten» versicherte er bitter. Dann aber fügte er leise und einflüsternd hinzu: «Dieser ganze Gefühlskreis ist eben verdächtig! Und doch siehst du in diesem Augenblick so aus, daß ich alle Erinnerungen meines Lebens dafür hingeben möchte!» Agathes Hand hatte die Ulrichs gefunden. Ulrich fuhr leise und leidenschaftlich fort: «Unsere Zeit versteht unter der Seligkeit des Gefühls bloß das Gefühlsselige und hat den Mondrausch zu einer sentimentalen Ausschweifung entwürdigt. Ihr ahnt nicht recht, daß er entweder eine unverständliche geistige Störung sein müßte oder das Fragment eines anderen Lebens ist!»

Diese Worte - gerade weil sie vielleicht übertrieben — hatten den Glauben und damit die Flügel des Abenteuers. «Gute Nacht!» sagte Agathe unerwartet und nahm sie mit sich. Sie hatte sich losgemacht und zog den Vorhang so hastig zu, daß das Bild der beiden im Mondschein Stehenden wie auf einen Schlag verschwand; und ehe Ulrich Licht machte, gelang es ihr, aus dem Zimmer zu finden.

Ulrich ließ ihr überdies Zeit. «Du wirst in dieser Nacht so ungeduldig schlafen wie vor dem Aufbruch zu einem großen Ausflug» rief er ihr nach.

«Ich will es auch tun!» klang als Antwort in das Schließen der Tür.

46 Mondstrahlen bei Tage

Als sie sich am Morgen wiedersahen, war es von weitem zuerst so, wie man in einer gewöhnlichen Wohnung auf ein ungewöhnliches Bild stößt, ja wie man in der frei zerstreuten Natur ein bedeutendes Bildwerk sichtet; da erhebt sich unvermutet in sinnlicher Verwirklichung eine Insel der Bedeutung, eine Erhöhung und Verdichtung des Geistes aus der flüssigen Niederung des Daseins! Als sie dann aber aufeinander zutraten, waren sie befangen, und von der vergangenen Nacht war in ihren Blicken nur die Ermattung zu spüren, die sie mit zärtlicher Wärme beschattete.

Wer weiß, ob die Liebe übrigens ebenso bewundert würde, wenn sie nicht müde machte. Als sie die Nachwehen der gestrigen Aufregung gewahrten, beglückte es sie von neuem, wie Liebesleute stolz darauf sind, daß sie vor Lust fast gestorben wären. Trotzdem war die Freude, die sie aneinander fanden, nicht nur ein solches Gefühl, sondern war auch eine Erregung des Auges: Die Farben und Formen, die sie sich darboten, waren aufgelöst und grundlos, und doch scharf hervorgehoben wie ein Strauß von Blumen, der auf einem dunklen Wasser treibt. Sie waren nachdrücklicher begrenzt als sonst, aber auf eine Weise, daß sich nicht sagen ließ, ob es an der Deutlichkeit der Erscheinung liege oder an deren tieferer Bewegtheit. Der Eindruck gehörte sowohl dem bündigen Bereich der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit an als auch dem ungenauen des Gefühls; und gerade das machte ihn zwischen Innen und Außen schweben, wie der angehaltene Atem zwischen Einatmen und Ausatmen schwebt, und ließ, in einem eigentümlichen Gegensatz zu seiner Stärke, nicht leicht unterscheiden, ob er der Welt des Körperlichen angehöre oder bloß der erhöhten inneren Anteilnahme sein Entstehen verdanke. Die beiden wollten das auch nicht unterscheiden, denn eine Art von Scham der Vernunft hielt sie zurück; und auch durch lange folgende Zeit zwang sie diese dazu, voneinander Abstand zu halten, obschon ihre Empfindlichkeit von Dauer war und wohl den Glauben erregen konnte, es hätte sich miteinmal der Verlauf der Grenzen sowohl zwischen ihnen als auch gegen die Welt ein wenig verändert.

Es. war wieder Sommerwetter geworden, und sie hielten sich viel im Freien auf: im Garten blühten Blumen und Sträucher. Wenn Ulrich eine Blüte betrachtete — was nicht gerade eine alte Gewohnheit des einstmals Ungeduldigen war -, so fand er jetzt manchmal des Ansehens kein Ende und, um alles zu sagen, auch keinen Anfang. Wußte er zufällig den Namen zu nennen, so war es Rettung aus dem Meere der Unendlichkeit. Dann bedeuteten die goldenen Sternchen auf einer nackten Gerte «Goldbecher», und jene frühreifen Blätter und Dolden waren «Flieder». Kannte er den Namen aber nicht, so rief er wohl auch den Gärtner herbei, denn dann nannte dieser alte Mann einen unbekannten Namen, und alles kam wieder in Ordnung, und der uralte Zauber, daß der Besitz des richtigen Wortes Schutz vor der ungezähmten Wildheit der Dinge gewährt, erwies seine beruhigende Macht wie vor zehntausenden Jahren. Doch konnte es auch anders kommen und geschehn, daß sich Ulrich einem solchen Zweiglein und Blütlein verlassen und ohne 595

Helfer gegenüber fand und nicht einmal Agathe da war, mit der man die Unwissenheit teilen konnte: dann schien es ihm mit einemmal ganz unmöglich zu sein, das helle Grün eines jungen Blattes zu verstehen, und die geheimnisvoll begrenzte Formenfülle eines kleinen Blütenbechers wurde zu einem von nichts unterbrochenen Kreis unendlicher Abwechslung. Zudem hatte ein Mann wie er, wenn er sich nicht belog, was schon um Agathes willen nicht geschehen durfte, kaum die Möglichkeit, an ein verschämtes Stelldichein mit der Natur zu glauben, dessen Raunen und Augenauf schlagen, Gottseligkeit und stummes Musizieren vielmehr das Vorrecht einer besonderen Einfalt ist, sie sich einbildet, wenn sie kaum den Kopf ins Gras lege, kitzle sie Gott schon am Hals, obzwar sie an Wochentagen nichts dawider hat, daß die Natur auch an der Fruchtbörse gehandelt wird. Ulrich verabscheute diese Schleudermystik zu billigstem Preis und Lob, die im Grunde ihrer beständigen Gottergriffenheit über die Maßen liederlich ist, und überließ sich da eher noch der Ohnmacht, eine zum Greifen deutliche Farbe mit Worten zu bezeichnen oder eine der Formen zu beschreiben, die auf so gedankenlos eindringliche Art für sich selbst sprachen. Denn das Wort schneidet nicht in solchem Zustand, und die Frucht bleibt am Ast, ob man sie gleich schon im Mund meint: das ist wohl das erste Geheimnis der taghellen Mystik. Und Ulrich bemühte sich, es seiner Schwester zu erklären, wenn auch in der verhohlenen Absicht, daß es nicht eines Tages wie eine Täuschung verschwinden möge.

Dadurch griff aber nach dem leidenschaftlichen Zustand einer des ruhigeren, ja manchmal fast zerstreuten Gespräches ziemlich um sich, der ihnen zum Schirm voreinander diente, obzwar sie ihn ganz durchschauten. Sie lagen gewöhnlich im Garten auf zwei großen Liegestühlen, die sie immer der Sonne nachschleppten; diese Frühsommersonne schien zum millionstenmal auf den Zauber, den sie alljährlich anrichtet; und Ulrich sagte da manches, das ihm gerade durch den Kopf ging und sich behutsam rundete wie der Mond, der jetzt ganz blaß und ein wenig schmutzig war, oder auch wie eine Seifenblase: Und so geschah es denn, und zwar recht bald, daß er auf den vertrackten und oft verwünschten Widersinn zu sprechen kam, daß alles Verstehen eine Art von Oberflächlichkeit voraussetzte, einen Hang zur Oberfläche, was sich in dem Wort «Begreifen» überdies ausspreche und damit zusammenhänge, daß die ursprünglichen Erlebnisse ja nicht einzeln, sondern eines am ändern verstanden und dadurch unvermeidlich mehr in die Fläche als in die Tiefe verbunden würden. Er fuhr dann fort: «Wenn ich also behaupte, dieser Rasen hier vor uns sei grün, so klingt das sehr bestimmt, aber ich habe nicht eben viel gesagt. In Wahrheit nicht mehr, als wenn ich dir von einem vorbeigehenden Mann erzählt hätte, er gehöre der Familie Grün an. Und, du lieber Himmel, wie viele Grün gibt es! Da ist es gleich besser, ich begnüge mich mit der Erkenntnis, dieser grüne Rasen sei eben rasengrün, oder gar er sei grün wie ein Rasen, auf den es vor kurzem ein wenig geregnet hat -» Er blinzelte träg über die junge sonnenbeschienene Grasfläche und meinte: «So möchtest du es doch wahrscheinlich wirklich beschreiben, denn du bist von Kleiderstoffen im Anschaulichen geübt. Ich dagegen könnte die Farbe vielleicht auch messen: Sie dürfte schätzungsweise eine Wellenlänge von fünfhundertvierzig Millionstelmillimetern besitzen; und da wäre dieses Grün nun doch scheinbar gefangen und auf einen bestimmten Punkt angenagelt! Da entspringt es mir aber auch schon, denn sieh: an dieser Bodenfarbe ist doch auch etwas Stoffliches, das sich mit Farbworten überhaupt nicht bezeichnen läßt, weil es anders ist als das gleiche Grün in Seide oder Wolle. Und nun sind wir wieder bei der tiefen Erleuchtung, daß grünes Gras eben grasgrün ist!»

Agathe fand es, zum Zeugen angerufen, sehr verständlich, daß man nichts verstehen könne, und entgegnete:

«Ich rate dir, sieh einmal einen Spiegel in der Nacht an: er ist dunkel, er ist schwarz, du siehst beinahe überhaupt nichts; und doch ist dieses Nichts ganz deutlich etwas anderes als das Nichts der übrigen Finsternis. Du ahnst das Glas, die Verdopplung der Tiefe, irgendeine noch zurückgebliebene Fähigkeit zu schimmern - und doch gewahrst du gar nichts!»

Ulrich lachte über die Bereitwilligkeit seiner Schwester, dem Wissen gleich die Ehre ganz abzuschneiden; er meinte beiweitem nicht, daß Begriffe keinen Wert hätten, und wußte wohl, was sie leisten, auch wenn er nicht gerade so tat. Was er ausheben wollte, war das Unfaßbare der Einzelerlebnisse, der Erlebnisse, die man aus einem naheliegenden Grund allein und einsam bestehen muß, auch wenn man zu zweien ist. Er wiederholte: «Das Ich erfaßt ja seine Eindrücke und Hervorbringungen niemals einzeln, sondern immer in Zusammenhängen, in wirklich er oder gedachter, ähnlicher oder unähnlicher Übereinstimmung mit anderem; so lehnt alles, was Namen hat, aneinander in Hinsichten, in Fluchten, als Glied von großen und unüberblickbaren Gesamtheiten, eins auf das andere gestützt und von gemeinsamen Spannungen 596

durchzogen. Aber darum steht man auch, » fuhr er plötzlich anders fort «wenn aus irgendeinem Anlaß diese Zusammenhänge versagen und keine der inneren Ordnungsreihen anspricht, allsogleich wieder vor der unbeschreiblichen und unmenschlichen, ja vor der widerrufenen und formlosen Schöpfung!» Damit waren sie denn wieder an den Punkt zurückgekehrt, von wo sie ausgegangen; aber Agathe fühlte darüber die dunkle Schöpfung, den Abgrund Welt, den Gott, der ihr helfen sollte!

Ihr Bruder sagte: «Das Verstehen macht einem unstillbaren Staunen Platz, und das geringste Erlebnis -

dieses Fähnchen Gras oder die sanften Laute, wenn deine Lippen da drüben ein Wort aussprechen - wird unvergleichbar, welteinsam, hat eine unergründliche Selbstischkeit und strömt eine tiefe Betäubung aus… !»

Er schwieg, drehte einen Grashalm unschlüssig in der Hand und horchte erfreut zu, wie Agathe, scheinbar so unzergrübelt wie ungründlich, die Leiblichkeit des Gesprächs wiederherstellte. Denn sie erwiderte jetzt:

«Wenn es trokkener wäre, möchte ich mich auf den Rasen legen! Laß uns fortreisen! Ich wollte so gern auf einer Wiese liegen, bescheiden zur Natur zurückgekehrt wie ein weggeworfener Schuh!»

«Aber das heißt auch nur, aus allen Gefühlen entlassen sein» wandte Ulrich ein. «Und Gott allein mag wissen, was aus uns werden sollte, wenn nicht auch sie in Scharen aufträten, diese Lieben und Hasse und Leiden und Güten, die scheinbar jedem allein gehören. Wir wären wohl aller Fähigkeiten des Handelns und Denkens beraubt, denn unsere Seele ist für das geschaffen, was sich wiederholt, und nicht für das, was ganz aus der Reihe tritt - » Er war bedrückt, glaubte ins Nichts vorgestoßen zu sein, und sah mit unruhiger und gekrauster Stirn prüfend das Gesicht seiner Schwester an.

Aber Agathes Gesicht war noch klarer als die Luft, die es umgab und mit ihrem Haar spielte, als sie nun aus dem Gedächtnis etwas zur Antwort gab. «Ich weiß nicht, wo ich bin, noch suche ich mich, noch will ich davon wissen, noch Kunde haben. Ich bin so eingetaucht in der Quelle seiner Liebe, als wäre ich im Meere unter Wasser und könnte von keiner Seite irgendein Ding sehen oder fühlen als Wasser. »

«Woraus ist das?» fragte Ulrich neugierig und entdeckte da erst, daß sie ein Buch in Händen hielt, das sie seiner eigenen Bibliothek entnommen hatte.

Agathe entzog es ihm und las vor, ohne Antwort zu geben: «Ich habe alle meine Vermögen überstiegen bis an die dunkle Kraft. Da hörte ich ohne Laut, da sah ich ohne Licht. Dann wurde mein Herz grundlos, meine Seele lieblos, mein Geist formlos und meine Natur wesenlos».

Nun erkannte auch Ulrich den Band und lächelte, und da erst sagte Agathe: «Aus deinen Büchern. » Und beendete aus dem Gedächtnis, das Buch schließend, ihre Wiedergabe mit der Anrufung: «Bist du du selbst, oder bist du es nicht? Ich weiß nichts davon, ich bin dessen unkundig, und ich bin meiner unkundig. Ich bin verliebt, aber ich weiß nicht in wen; ich bin weder treu noch ungetreu. Was bin ich doch? Ich bin selbst meiner Liebe unkundig; ich habe das Herz von Liebe voll und von Liebe leer zugleich!»

Ihr gutes Gedächtnis arbeitete auch sonst nicht gern seine Erinnerungen zu Begriffen um, sondern bewahrte sie sinnlich-einzeln auf, wie man sich Gedichte merkt; weshalb eine schwer beschreibliche Mitbeteiligung des Körpers und der Seele immer an ihren Worten war, wenn sie selbst noch so unauffällig sprach. Ulrich entsann sich des Auftritts vor dem Begräbnis seines Vaters, wo sie die wildschönen Verse Shakespeares zu ihm gesprochen hatte. «Wie wild ist ihr Wesen doch im Vergleich mit meinem!» dachte er. «Wenig habe ich mir heute zu sagen erlaubt!» Er überprüfte die Erklärung der «taghellen Mystik», die er ihr gegeben hatte: Alles in allem war das nicht mehr, als daß er die Möglichkeit vorübergehender Abweichungen von der gewohnten und bewährten Ordnung des Erlebens zugegeben hatte; und wenn man es so auffaßte, folgten ihre Erlebnisse bloß einem etwas gefühlvolleren Grundgesetz als dem der gewöhnlichen Erfahrung und glichen kleinen Bürgerskindern, die in eine wandernde Schauspielertruppe geraten sind. Mehr hatte er also nicht zu sagen gewagt, obschon jedes Stück Raum zwischen ihm und seiner Schwester seit Tagen voll unvollendeter Geschehnisse war! Und allmählich begann er sich mit der Frage zu beschäftigen, ob sich nicht doch mehr glauben ließe, als er sich zugestanden habe.

Nach der lebhaften Gipfelung der Wechselrede hatten sich Agathe und er wieder in ihre Stühle zurückfallen lassen, und die Stille des Gartens deckte die verklungenen Worte zu. Insofern als gesagt worden, daß sich Ulrich mit einer Frage zu beschäftigen begonnen hätte, muß freilich berichtigt werden, daß viele Antworten ihren Fragen vorangehen wie ein Eiliger seinem geöffnet flatternden Mantel. Es war ein überraschender Einfall, was Ulrich beschäftigte, und forderte eigentlich auch nicht Glauben, sondern rief durch sein Auftreten Erstaunen hervor und den Eindruck, daß solche Eingebung wohl nie wieder vergessen werden 597

dürfte, was in Ansehung ihrer Ansprüche etwas unbehaglich war, Ulrich war es gewohnt, nicht sowohl gottlos als vielmehr gottfrei zu denken, was nach Art der Wissenschaft heißt, jede mögliche Wendung zu Gott dem Gefühl zu überlassen, weil sie das Erkennen doch nicht zu fördern, sondern bloß ins Unwegsame zu verführen vermag. Und er zweifelte auch in dieser Minute nicht im mindesten daran, daß dies das einzig Richtige sei; sind doch die handgreiflichsten Erfolge des Menschengeistes schier erst entstanden, seit er Gott aus dem Weg geht. Aber der Einfall, der ihn heimsuchte, sagte: «Wie, wenn nun gerade dieses Ungöttliche nichts wäre als der zeitgemäße Weg zu Gott?! Jede Zeit hat noch einen anderen ihren stärksten Geisteskräften entsprechenden Gedankenweg dahin gehabt; wäre es also nicht unser Schicksal, das Schicksal eines Zeitalters der klugen und unternehmenden Erfahrung, alle Träume, Legenden und ausgeklügelten Begriffe nur deshalb zu leugnen, weil wir uns auf der Höhe der Welterforschung und

-entdeckung wieder ihm zuwenden und zu ihm ein Verhältnis der beginnenden Erfahrung gewinnen werden?!»

Dieser Schluß hatte gar keine Beweiskraft, das wußte Ulrich; ja, er sollte den meisten sogar als Verkehrtheit erscheinen, und das focht ihn nicht an. Auch er selbst hätte ihn eigentlich nicht denken dürfen: Das wissenschaftliche Verfahren - so hatte er es doch erst kurz zuvor als rechtmäßig erläutert - besteht, außer aus Logik, daraus, daß es die an der Oberfläche, an der «Erfahrung» gewonnenen Begriffe in die Tiefe der Erscheinungen senkt und diese aus jenen erklärt; man verödet und verflacht das Irdische, um es beherrschen zu können, und der Einwand lag nahe, daß man das nicht auch auf das Überirdische ausdehnen dürfe. Aber diesen Einwand bestritt jetzt Ulrich: die Wüste ist kein Einwand, sie ist seit je eine Geburtsstätte himmlischer Gesichte gewesen; und überdies, Aussichten, die noch nicht erreicht sind, lassen sich auch nicht vorhersehen! Es entging ihm dabei, daß er sich vielleicht noch in einem zweiten Gegensatz zu sich selbst befand oder in eine Richtung geraten war, die von der seinen abbog: Paulus nennt den Glauben die zuversichtliche Erwartung von Dingen, die man erhofft, und die Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht; und der Gegensatz zu dieser aufs Greifen bedachten Bestimmung, die zur Überzeugung der Gebildeten geworden ist, gehörte zum stärksten, was Ulrich im Herzen trug. Der Glaube als eine Verkleinerungsform des Wissens war seinem Wesen zuwider, er ist immer «wider besseres Wissen»; dagegen war es ihm gegeben, in der «Ahnung <nach> bestem Wissen» einen besonderen Zustand und ein Fahrtengebiet für unternehmende Geister zu erkennen. Es sollte ihn später noch manche Mühe kosten, daß sich dieser Gegensatz jetzt abgeschwächt hatte, aber vorläufig bemerkte er nichts davon, denn es gab in dieser Minute einen Schwärm von Neben-einfällen, der ihn beschäftigte und vergnügte.

Er griff Beispiele heraus. Das Leben wurde immer gleich förmiger und unpersönlicher. In alle Vergnügungen, Erregungen, Erholungen, ja selbst in die Leidenschaften drang etwas Typenhaftes, Mechanisches, Statistisches, Reihenweises ein. Der Lebenswille wurde breit und flach wie ein vor der Mündung zögernder Strom. Der Kunstwille war sich schon selbst beinahe verdächtig geworden. Es hatte den Anschein, daß die Zeit das Einzelwesen zu entwerten beginne, ohne doch den Verlust durch neue gemeinschaftliche Leistungen ersetzen zu können. Das war ihr Gesicht, das so schwer zu verstehen war; das er einmal geliebt und in den Schlammkrater eines tief dröhnenden Vulkans umzudichten versucht hatte, weil er sich jung fühlte wie tausend andere; und von dem er sich, wie diese Tausende, abgewandt hatte, weil er des entsetzlich mißgestalten Anblicks nicht Herr wurde: dieses Gesicht verklärte sich, wurde ruhig, listigschön, und leuchtend von innen durch einen einzigen Gedanken! Denn wie, wenn Gott selbst es wäre, der die Welt entwertet? Gewänne sie damit nicht auf einmal wieder Sinn und Lust? Und müßte er sie nicht schon entwerten, wenn er ihr auch nur um den kleinsten Schritt näher käme? Und wäre es nicht schon das einzige wirkliche Abenteuer, auch nur den Vorschatten davon wahrzunehmen?! Diese Überlegungen hatten die unvernünftige Folgerichtigkeit einer Reihe von Abenteuern und waren so fremd in Ulrichs Kopf, daß er zu träumen meinte. Er spähte zuweilen vorsichtig zu seiner Schwester hinüber, als müßte er fürchten, daß sie wahrnähme, was er treibe, und einige Male erblickte er dabei ihren blonden Kopf wie Licht im Licht vor dem Himmel, und die Luft, die in ihrem Haar spielte, sah er auch mit den Wolken spielen.

Wenn das geschah, hob nämlich auch sie sich ein wenig in die Höhe und blickte sich staunend um. Sie versuchte sich dann vorzustellen, wie es wäre, aus allen Gefühlen des Lebens entlassen zu sein. Selbst der Raum, dieser sich immer gleichbleibende, gehaltlose Würfel, sei nun wohl verändert, dachte sie. Wenn sie die Augen eine Weile geschlossen hielt und dann wieder öffnete, so daß der Garten unberührt in ihren Blick trat, als wäre er eben erst erschaffen worden, bemerkte sie so deutlich und unkörperlich wie eine Vision, 598

daß die Richtung, die sie mit ihrem Bruder verbinde, unter allen anderen ausgezeichnet sei: Der Garten

«stand» um diese Linie, und ohne daß sich an den Bäumen, Wegen und anderen Stücken der wirklichen Umgebung etwas geändert hätte, wovon sie sich leicht überzeugen konnte, war alles auf diese Verbindung als Achse bezogen und dadurch in einer sichtbaren Weise unsichtbar verändert. Es mochte widerspruchsvoll klingen; sie hätte aber ebensogut auch sagen können, daß die Welt dort süßer sei, vielleicht auch leidvoller: das Merkwürdige war, daß man es mit den Augen zu sehen meinte. Überdies lag etwas Auffälliges darin, daß alle die umgebenden Gestalten auf das unheimlichste verlassen dastanden, aber auch, auf das unheimlichste entzückend, belebt waren, in dem Anschein eines zarten Todes oder einer leidenschaftlichen Ohnmacht, als wären sie soeben von etwas Unnennbarem verlassen worden, was ihnen eine geradezu menschliche Sinnlichkeit und Empfindlichkeit verlieh. Und etwas Ähnliches wie am Eindruck des Raums hatte sich überdies am Gefühl der Zeit ereignet; dieses fließende Band, die rollende Treppe mit ihrer unheimlichen Nebenbeziehung zum Tod schien in manchen Augenblicken stillzustehn, und in manchen floß sie ohne Verbindung dahin. Während eines einzigen äußeren Augenblicks konnte sie innen verschwunden sein, ohne eine Spur davon, ob sie eine Stunde oder eine Minute ausgesetzt habe.

Einmal überraschte Ulrich seine Schwester bei diesen Versuchen und erriet wohl etwas von ihnen, denn er sagte leise und lächelnd: «Es gibt eine Weissagung, daß für die Götter ein Jahrtausend nicht mehr als ein öffnen und Schließen ihres Auges sei!» Dann lehnten sie sich beide wieder zurück und hörten weiter den Traumreden der Stille zu.

Agathe dachte: «Alles das hat bloß er zustande gebracht; und doch zweifelt er jedesmal, wenn er lächelt!»

Aber die Sonne fiel mit ihrer beständig niederkommenden Wärme zart wie ein Schlafmittel auf seine geöffneten Lippen, das fühlte Agathe an den ihren und wußte sich eins mit ihm. Sie versuchte sich in ihn hineinzuversetzen und seine Gedanken zu erraten, was zwischen ihnen eigentlich als unerlaubt galt, weil es von außen kam und nicht aus der schöpferischen Teilnahme; als eine Abweichung aber umso heimlicher war. «Er will nicht, daß es bloß eine Liebesgeschichte werden soll!» dachte sie; und fügte hinzu: «Das ist auch mein Geschmack. » Und gleich darauf dachte sie: «Er wird keine andre Frau nach mir lieben, denn dies ist keine Liebesgeschichte mehr; das ist überhaupt die letzte Liebesgeschichte, die es geben kann!»

Und sie fügte hinzu: «Wir werden wohl eine Art Letzte Mohikaner der Liebe sein!» Sie war auch dieses Tons gegen sich selbst im Augenblick fähig, denn wenn sie sich ganz ehrlich Rechenschaft ablegte, so war natürlich auch dieser verzauberte Garten, worin sie sich mit Ulrich befand, mehr Wunsch als Wirklichkeit.

Sie glaubte nicht wirklich, daß schon das Tausendjährige Reich begonnen haben könnte, trotz dieses nach festem Boden klingenden Namens, den Ulrich einmal angegeben hatte. Sie fühlte sich sogar sehr verlassen von ihren Wunschkräften, und wo sonst ihre Träume entstanden, sie wußte nicht wo, bitter nüchtern. Sie entsann sich, daß sie vor der Zeit Ulrichs eigentlich leichter imstande gewesen war, sich einzubilden, ein wacher Schlaf, wie der, worin ihre Seele jetzt schaukelte, vermöchte sie hinter das Leben zu geleiten, in ein Wachsein nach dem Tode, in Gottes Nähe, zu Mächten, die sie holen kämen, oder bloß neben das Leben zu einem Aufhören der Begriffe und einem Übergang in Wälder und Wiesen von Vorstellungen: es war ja nie klar geworden, was das sei! So gab sie sich nun Mühe, sich dieser alten Vorstellungen zu entsinnen. Aber es kam ihr nur noch eine Hängematte in Erinnerung, zwischen zwei ungeheure Finger gespannt und von einer unendlichen Geduld geschaukelt; dann ein stilles Überragtwerden, wie von hohen Bäumen, zwischen denen man sich emporgehoben und verschwunden fühlt; und schließlich ein Nichts, das einen auf unbegreifliche Weise greifbaren Inhalt hatte -: Das waren wohl alle die Zwischengebilde von Eingebung und Einbildung, an denen ihr Verlangen einst Trost gefunden hatte. Aber waren es denn wirklich bloß Zwischen-und Halbgebilde gewesen? Zu ihrem Erstaunen begann Agathe etwas sehr Merkwürdiges allmählich aufzufallen. «Wahrhaftig, » dachte sie «es ist so, wie man sagt: es geht einem ein Licht auf! Und es verbreitet sich, je länger es dauert!» Denn was sie sich einst eingebildet hatte, war doch wohl fast in allem das, was jetzt ruhig und ausharrend dastand, sooft sie den Blick auf Ausschau schickte! Lautlos war es in die Welt getreten. Freilich war -anders, als es vielleicht ein buchstabengläubiger Mensch erlebt hätte -

Gott ihrem Abenteuer fern geblieben, aber dafür war sie auch nicht mehr in diesem Abenteuer allein: das waren die zwei einzigen Änderungen, durch die sich die Erfüllung von der Vorankündigung unterschied, und zwar zugunsten irdischer Natürlichkeit.

47 Wandel unter Menschen

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In der Zeit, die nun folgte, zogen sie sich von ihren Bekannten zurück und setzten sie dadurch in Verwunderung, daß sie eine Reise vorschützten und sich auf keine Weise erreichen ließen.

Sie waren meist heimlich zu Hause, und wenn sie ausgingen, mieden sie Orte, wo sie Menschen antreffen konnten, die demselben Gesellschaftskreis angehörten wie sie; doch besuchten sie Vergnügungsstätten und kleine Theater, wo sie davor sicher zu sein glaubten, und im allgemeinen folgten sie einfach, sobald sie das Haus verließen, den Großstadtströmungen, die ein Bild der Bedürfnisse sind und mit gezeitenmäßiger Genauigkeit die Massen, je nach der Stunde, irgendwo zusammenpressen und anderswo absaugen. Sie überließen sich dem ohne bestimmte Absicht. Es vergnügte sie, zu tun, was viele taten, und an einer Lebensführung teilzunehmen, die ihnen die seelische Verantwortung für die eigene zeitweilig abnahm. Und noch nie war ihnen die Stadt, worin sie lebten, so schön und fremd zugleich vorgekommen. Die Häuser boten in ihrer Gesamtheit ein großes Bild dar, auch wenn sie im einzelnen, oder einzeln, nicht schön waren; der Lärm strömte durch die hitzeverdünnte Luft wie ein an die Dächer reichender Fluß dahin; in dem starken, von der Straßentiefe gedämpften Licht sahen die Menschen leidenschaftlicher und geheimnisvoller aus, als sie es wahrscheinlich verdienten. Alles klang, sah aus, roch - so unersetzlich und unvergeßlich, als gäbe es zu verstehen, wie es sich in seiner Augenblicklichkeit selbst vorkomme; und die Geschwister nahmen diese Einladung, sich der Welt zuzuwenden, nicht ungern an.

Trotzdem geschah das nicht ohne Zurückhaltung, denn sie spürten den hindurchgehenden Zwiespalt. Das Geheime und Unbestimmte, das sie selbst verband, obwohl sie nicht frei davon sprechen konnten, sonderte sie von den anderen Menschen ab; aber die gleiche Leidenschaft, die sie dauernd fühlten, weil sie sich nicht sowohl an einem Verbot gebrochen hatte als vielmehr an einer Verheißung, hatte sie auch in einem Zustand zurückgelassen, der Ähnlichkeit mit den schwülen Unterbrechungen einer körperlichen Vereinigung besaß.

Die Lust ohne Ausweg sank wieder in den Körper zurück und erfüllte ihn mit einer Zärtlichkeit, die so unbestimmt war wie ein später Herbsttag oder ein früher Frühlingstag. Und wenn sie auch gewiß nicht für jeden Menschen und alle Welt ebenso empfanden wie für einander, so spürten sie doch den schönen Schatten des «Wie es wäre» davon auf ihr Herz fallen, und dieses konnte der sanften Täuschung weder völlig glauben, noch konnte es sich ihr völlig entziehen, was ihm auch immer begegnete.

Das machte auf die freiwilligen Zwillingsgeschwister den Eindruck, daß sie durch ihre Erwartung und ihre Aszese empfindlich geworden seien für alle unausgeträumten Zuneigungen der Welt, aber auch für die Schranken, die jedem Gefühl von der Wirklichkeit und Wachheit gesetzt werden; und es wurde ihnen die eigentümlich zweiseitige Beschaffenheit des Lebens sehr sichtbar, die jede große Bestrebung durch eine niedrige dämpft. Sie bindet an jeden Fortschritt einen Rückschritt und an jede Kraft eine Schwäche; sie gibt keinem ein Recht, das sie nicht einem anderen nähme, ordnet keine Verwicklung, ohne neue Unordnung zu stiften, und sie scheint sogar das Erhabene nur darum hervorzurufen, daß sie mit den Ehren, die ihm gebühren, bei der nächsten Gelegenheit das Platte überhäufen könne. So verknüpft ein schier unlöslicher und vielleicht tief notwendiger Zusammenhang alle hochgemuten menschlichen Bemühungen mit dem Zustandekommen ihres Gegenteils und läßt das Leben - über alle anderen Gegensätze und Partei-ungen hinweg - für geistvolle, oder derart selbst nur halbvolle, Menschen ziemlich schwer erträglich sein, treibt sie aber auch an, eine Erklärung dafür zu suchen.

Dieses Aneinanderhaften der Ehr-und Kehrseite des Lebens ist denn auch sehr verschieden beurteilt worden. Fromme Menschenverächter haben darin einen Ausfluß der irdischen Hinfälligkeit gesehen; Donnerkerle das saftigste Lendenstück des Lebens; Durchschnittlinge fühlen sich in diesem Widerspruch so wohl wie zwischen ihrer rechten und linken Hand; und wer vorsichtig denkt, sagt einfach, die Welt sei nicht geschaffen, um menschlichen Begriffen zu entsprechen. Man hat es also als Unvollkommenheit der Welt oder der menschlichen Vorstellungen angesehn, hat es ebensowohl kindlich-traulich wie schwermütig oder trotziggleichgültig hingenommen, und alles in allem kann es mehr als Temperamentssache denn als nüchtern ehrbare Aufgabe der Vernunft gelten, darüber zu entscheiden. Nun aber, so gewiß die Welt nicht geschaffen ist, um menschlichen Forderungen zu entsprechen, so gewiß sind die menschlichen Begriffe geschaffen, um der Welt zu entsprechen, denn das ist ihre Aufgabe; und warum sie es gerade im Bereich des Rechten und Schönen nie zuwege bringen, bleibt damit schließlich doch eine seltsam offene Frage. Die planlosen Wege schienen es wie ein Bilderbuch darzubieten und ließen Gespräche entstehn, die von des Blätterns lose wechselnder Erregung begleitet waren.

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Keines von diesen Gesprächen handelte seinen Gegenstand handgreiflich und vollständig ab, jedes wandte sich unter der Zeit nach den verschiedensten Zusammenhängen; dabei wurde der gedankliche Zusammenhang im ganzen immer breiter, die Gliederung nach lebendigen Anlässen, die aufeinander folgten, versagte einmal ums andere vor der übertretenden Flut angeregter Betrachtungen; und verlierend wie gewinnend, ging das lange weiter, ehe das Ergebnis unverkennbar zu sehen war.

So bekannte sich Ulrich auch - zufällig oder nicht, überzeugt oder aufs Geratewohl - als erstes zu der Möglichkeit, daß sowohl die Schranke, die dem Gefühl gesetzt ist, als daß auch das Vor und Zurück, oder zumindest Hin und Her, des Lebens, in einem gesagt, daß seine geistige Unzuverläßlichkeit, vielleicht eine nicht unnützliche Aufgabe zu erfüllen habe, und zwar die der Erzeugung und Erhaltung eines mittleren Lebenszustands.

Er wollte nicht von der Welt verlangen, daß sie ein Lustgarten des Genies sei. Ihre Geschichte ist nur in den Spitzen, wenn nicht Auswüchsen, eine des Genies und seiner Werke; in der Hauptsache ist sie die des Durchschnittsmenschen. Er ist der Stoff, mit dem sie arbeitet und der stets von neuem aus ihr wiederersteht.

Vielleicht gab das ein Augenblick der Ermüdung ein. Vielleicht dachte Ulrich bloß überhauf, daß alles Mittelhohe und Durchschnittliche stämmig sei und beste Aussicht auf Erhaltung seiner Art darbiete; man hätte annehmen müssen, daß es das erste Gesetz des Lebens sei, sich selbst zu erhalten, und das möchte wohl stimmen. Sicherlich sprach bei diesem Beginn aber auch eine andere Aussicht mit. Denn mag es sogar gewiß sein, daß die menschliche Geschichte nicht gerade ihre Aufschwünge vom Durchschnittsmenschen empfängt; alles in allem genommen, Genie und Dummheit, Heldentum und Willenlosigkeit, ist sie eben doch eine Geschichte der Millionen Antriebe und Widerstände, Eigenschaften, Entschlüsse, Einrichtungen, Leidenschaften, Erkenntnisse und Irrtümer, die er von allen Seiten empfängt und nach jeder verteilt. In ihm und ihr mischen sich die gleichen Elemente; und auf diese Art ist sie jedenfalls eine Geschichte des Durchschnitts oder, je nachdem man es nehmen mag, der Durchschnitt von Millionen Geschichten, und wenn sie denn auch ewig um das Mittelmäßige schwanken müßte, was könnte am Ende unsinniger sein, als einem Durchschnitt seine Durchschnittlichkeit zu verübeln!

In diesen Gedanken schob sich aber auch die Erinnerung an die Berechnung von Durchschnitten ein, wie sie die Zufallsrechnung versteht: - Die Regeln der Wahrscheinlichkeit beginnen schon in einer kalten, beinahe schamlosen Gelassenheit damit, daß die Ereignisse bald so, bald anders, ja daß sie auch ins Gegenteil von dem ausschlagen könnten, was sie sind. Zur Bildung und Festigung eines Durchschnitts gehört es sodann, daß der höheren und besonderen Werte viel weniger als der mittleren sind, ja daß sie fast niemals auftreten, und daß es auch von den unverhältnismäßig geringen gilt. Die einen wie die ändern bleiben besten-oder schlimmstenfalls Randwerte, und zwar nicht nur nach Anleitung der Rechnung, sondern auch in der Erfahrung überall dort, wo zufallsähnliche Bedingungen herrschen. Diese Erfahrung mag an Hagelversicherungen und Sterblichkeitsübersichten gewonnen sein; aber der geringen Wahrscheinlichkeit der Randwerte entspricht es deutlich, daß auch im Geschichtlichen einseitige Gestaltungen und die ungemischte Verwirklichung überstiegener Forderungen selten von Dauer gewesen sind. Und sollte das in einer Hinsicht halbschlächtig erscheinen, so ist es doch in anderer der Errettung der Menschheit vor dem unternehmungssüchtigen Genie nicht minder wie vor der zu Taten aufgeregten Dummheit oft genug zugute gekommen! Unwillkürlich übertrug Ulrich die Anschauung der Wahrscheinlichkeit immer weiter auf geistige und geschichtliche Ereignisse und den mechanischen Begriff der Durchschnittlichkeit auf den sittlichen; und kam so auf die Zweiseitigkeit des Lebens zurück, bei der er angefangen hatte. Denn die Schranken und der Wechsel der Ideen und Gefühle, ihre Vergeblichkeit, die rätselhafte und trügerische Verbindung zwischen ihrem Sinn und der Verwirklichung seines Gegenteils, alles und ähnliches ist als innewohnende Folge auch schon mit der Annahme gegeben, daß eins so möglich sei wie das andere. Diese Annahme bedeutet aber den Grundbegriff, woraus die

Wahrscheinlichkeitsrechnung ihren Inhalt schöpft, und ist deren Begriffsbestimmung des Zufalls; daß sie auch den Gang der Welt kennzeichnet, erlaubt also den Schluß, daß dieser nicht viel anders ausfiele, als er ist, wenn alles gleich nur dem Zufall überlassen bliebe. Agathe fragte, ob es nicht die Wahrheit in launischer Absicht verdüstere und ein romantischer Pessimismus sei, wenn man den Weltlauf dem Zufall gleichstelle.

«Nichts weniger als das!» entgegnete dem Ulrich. «Wir haben bei der Vergeblichkeit aller hochgemuten Erwartungen begonnen, und es hat uns gedeucht, daß sie ein tückisches Geheimnis sei. Aber wenn wir sie 601

jetzt mit den Regeln der Wahrscheinlichkeit vergleichen, so erklären wir dieses Geheimnis, das man mit einem Wort, das spöttisch mit seinem berühmten Gegenwort spielt, die <prästabilierte Disharmonie> der Schöpfung nennen könnte, überaus anspruchslos dadurch, daß einfach nichts dawider geschieht! Die Entwicklung bleibt sich selbst überlassen, kein geistig ordnendes Gesetz wird ihr auferlegt; sie folgt scheinbar dem Zufall; und wenn dabei auch nicht das Wahre entstehen kann, so begründet dieselbe Voraussetzung doch wenigstens das Wahrscheinliche! Zugleich erklären wir, aus dem Wahrscheinlichen, aber auch die sich als einziges stabilisierende Durchschnittlichkeit, die allerenden ihre doch höchst unerwünschte Zunahme fühlen läßt. Daran ist also nichts Romantisches, und vielleicht nicht einmal etwas Verdüstertes; es wäre wohl, gern oder ungern, eher ein unternehmungslustiger Versuch!»

Trotzdem wollte er darüber nicht mehr sagen und ließ das scheinbar geistreiche Unternehmen auf sich beruhen, ohne über die Einleitung hinausgekommen zu sein. - Er hatte das Gefühl, etwas Großes ungeschickt und umständlich berührt zu haben. Das Große war die tiefe Zweideutigkeit der Welt, daß sie so zurück wie vorwärts zu gehen scheint und bestürzend neben erhebend ist; und daß sie auf einen geistigen Menschen einen anderen Eindruck schon deshalb nicht machen kann, weil ihre Geschichte eben nicht die des bedeutenden, sondern doch offenbar die des Durchschnittsmenschen ist, dessen verworrenes und zweideutiges Antlitz sich in ihr abprägt. Von Umständlichkeit beschwert war hingegen, was dieser einfallsschnelle Beschluß berührte, durch den Versuch worden, dem bekannten Wesen des Durchschnittsmenschen durch einen Vergleich mit dem der Wahrscheinlichkeit einen Hintergrund von nicht ganz erforschter Neuigkeit zu geben. Der Grundgedanke war wohl auch bei diesem Vergleich scheinbar einfach: denn das Durchschnittliche ist immer auch etwas Wahrscheinliches, und der Durchschnittsmensch der Bodensatz aller Wahrscheinlichkeit. Verglich Ulrich aber, was er gesagt hatte, mit dem, was davon noch zu sagen wäre, so verzagte er fast an der Fortsetzung dessen, was er mit seiner Gegenüberstellung von Wahrscheinlichkeit und Geschichte angefangen hatte.

Agathe sagte mit mutwilligem Zögern: «Die Hausmeisterin träumt vom Lotto und erhofft sich einen Gewinn! Wenn ich also würdig gewesen sein sollte, dich zu verstehen, wäre es die Aufgabe der Geschichte, einen immer durchschnittlicheren Menschenschlag zu hinterlassen und sein Leben zu begründen, wofür vielleicht manches spricht, oder doch raunt; und dazu sollte sie nichts Einfacheres und Verläßlicheres tun können, als einfach dem Zufall zu folgen und seinem Gesetz die Verteilung und Mischung der Ereignisse zu überlassen?» Ulrich nickte. «Es ist ein Wenn - so. Wenn die menschliche Geschichte überhaupt eine Aufgabe hätte, und es diese wäre, dann könnte sie nicht besser sein, als sie ist, und erreichte auf die seltsame Art dadurch ein Ziel, daß sie keines hat!» Agathe lachte. «Und deswegen erzählst du, daß die niedrige Decke, unter der man lebt, eine <nicht unnützliche> Aufgabe zu erfüllen habe?» «Eine tief notwendige Aufgabe, die Begünstigung des Durchschnitts!» bestätigte Ulrich. «Zu diesem Zweck sorgt sie dafür, daß ein für allemal kein Gefühl und Wille in den Himmel wächst!» «Geschähe doch lieber das Gegenteil!»

meinte Agathe. «Dann sollte mir nicht das Ohr von Aufmerksamkeit rauh werden, ehe ich alles weiß!»

Ein Gespräch wie dieses über Genie, Durchschnitt und Wahrscheinlichkeit dünkte Agathe, weil es bloß den Verstand beschäftigte, ohne das Gemüt zu berühren, verlorene Zeit zu sein. Nicht ganz so erging es Ulrich, obgleich er mit dem, was er gesagt hatte, herzlich unzufrieden war. Nichts war daran fest als der Satz: wenn etwas ein Zufallsspiel wäre, so zeigte das Ergebnis die gleiche Verteilung von Treffern und Nieten wie das Leben. Aber daraus, daß der zweite Teil eines solchen Bedingungssatzes die Wahrheit ist, läßt sich mitnichten auf die Wahrheit des ersten schließen! Die Umkehrbarkeit des Verhältnisses bedürfte eines genaueren Vergleichs, um glaubhaft zu werden, der es auch erst ermöglichen müßte, Begriffe der Wahrscheinlichkeit auf geschichtliche und geistige Ereignisse zu übertragen und zwei so verschiedene Gesichtskreise einander gegenüberzustellen. Dazu hatte Ulrich nun keine Lust; aber je mehr er die Unterlassung fühlte, desto sicherer wurde ihm die Wichtigkeit der berührten Aufgabe bewußt. Nicht nur hat der zunehmende Einfluß geistig lockerer Massen, der die Menschheit immer durchschnittlicher macht, jede Frage nach dem Aufbau des Durchschnittlichen Bedeutung gewinnen lassen; sondern die Grundfrage, welchen Wesens das Wahrscheinliche ist, scheint auch aus anderen Gründen, und darunter solchen, die allgemein und geistiger Herkunft sind, immer mehr an die Stelle der Frage nach dem Wesen der Wahrheit treten zu wollen, obgleich sie ursprünglich bloß ein Handwerksmittel für die Lösung einzelner Aufgaben gewesen ist.

Es hätte sich alles auch mit den Worten ausdrücken lassen, daß nach und nach der «wahrscheinliche 602

Mensch» und das «wahrscheinliche Leben» anstelle des «wahren» Menschen und Lebens emporzukommen begännen, die eitel Einbildung und Vortäuschung gewesen seien; wie denn Ulrich etwas Ähnliches auch schon zuvor angedeutet, und gesagt hatte, daß die ganze Frage nichts als die Folge einer fahrlässigen Entwicklung wäre. Offenbar leuchtete ihm selbst der Sinn aller solchen Bemerkungen noch nicht völlig ein, doch verlieh ihnen gerade diese Schwäche die Eigenschaft, in weitem Umfang zu leuchten wie Wetterlicht, und er kannte noch so viele Beispiele des gegenwärtigen Lebens und Denkens, worauf sie paßten, daß er sich lebhaft aufgefordert sah, den gefühlhaften Begriff von ihnen in einen klareren zu verwandeln. So fehlte es auch nicht an der Notwendigkeit einer Fortsetzung, und er beschloß nun doch, sie bei schicklicherer Gelegenheit nicht zu verabsäumen.

Er mußte über seine Überraschung lächeln, als er sich bei diesem Vorsatz schon auf bestem Wege erkannte, ohne es gewollt zu haben, Agathe von etwas Altem zu unterrichten, das er früher in bedenklicher Laune oft die «Welt des Seinesgleichen geschieht» genannt hatte. Es war die Welt der Unruhe ohne Sinn, die wie ein Bach durch Sand ohne Grün fließt; er nannte sie jetzt die des «wahrscheinlichen Menschen». Mit aufgefrischter Neugierde betrachtete er die Menschenströme, deren Ufern sie folgten und von deren Leidenschaften, Gewohnheiten und fremden Genüssen sie von sich selbst abgezogen wurden: es war die Welt dieser Leidenschaften und Genüsse, und nicht die einer unausgeträumten Möglichkeit! So war es denn auch um deswillen die der Schranken, die selbst das ausschweifendste Gefühl in Grenzen setzen, und die des mittleren Lebenszustands. Zum erstenmal dachte er nicht bloß gefühlvoll, sondern in der Art, wie etwas Wirkliches erwartet wird, daran, daß sich der Unterschied, der es in einem Fall dem weltlichen Gefühl unmöglich mache, zu Ruhe und bleibender Erfüllung zu kommen, im ändern eine fortschreitende und weltliche Bewegung zu finden, vielleicht auf zwei grundverschiedene Zustände oder Arten des Gefühls zurückführen ließe.

Abbrechend sagte er: «Sieh an!» und beide wurden sich des Augenscheins bewußt. Es geschah, während sie einen bekannten und, wenn man so sagen darf, allgemein geachteten Platz überquerten. Da stand die neue Universität, ein nachgeahmter Barockbau, der von kleinlichen Einzelheiten überladen war; nicht weit davon stand, kostspielig und zweitürmig, eine «neugotische» Kirche, die wie ein gut gelungener Fastnachtsscherz aussah; und den Hintergrund bildete, neben zwei ausdruckslosen, zu der Hochschule gehörenden Anstalten und einem Bankpalast, ein großes düster-dürftiges Gerichts-und Gefangenenhaus, das mehrere Jahrzehnte älter war. Flinkes und massiges Fuhrwerk durchkreuzte dieses Bild, und ein einziger Blick vermochte sowohl die Gediegenheit des Gewordenen als auch die Vorbereitungen des weiteren Gedeihens zu umfassen, und nicht minder zur Bewunderung der menschlichen Tätigkeit aufzuregen als den Geist durch einen unmerklichen Bodensatz von Nichtssagenheit zu vergiften. Und ohne eigentlich den Gesprächsgegenstand zu wechseln, fuhr Ulrich fort: «Nimm an, daß sich eine Räuberbande der Weltherrschaft bemächtigt hätte, mit nichts ausgestattet als den gröbsten Instinkten und Grundsätzen!

Nach einiger Zeit erwüchsen auch auf diesem wilden Boden geistige Schöpfungen! Und wieder über eine Zeit, wenn der Geist sich ausgebildet hätte, stünde er sich schon selbst im Wege! Die Ernte wächst, und ihr Gehalt vermindert sich; als ob die Früchte nach Schatten schmeckten, wenn alle Äste voll sind!» - Er fragte nicht, warum. Er hatte das Gleichnis einfach gewählt, um auszudrücken, er meine, daß sich das meiste von dem, was sich Kultur nenne, zwischen dem Zustand einer Räuberbande und dem müßiger Reife befinde; denn war es so, dann mochte es doch auch eine Entschuldigung für all das Gespräch sein, in das er abgelenkt worden war, obwohl ein zärtlicher erster Anhauch den Anfang gebildet hatte.

48 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber Spricht einer von der zweiseitigen und unordentlichen Beschaffenheit des menschlichen Wesens, setzt es voraus, daß er meint, sich eine bessere vorstellen zu können.

Ein gläubiger Mensch kann das tun, und Ulrich war keiner. Im Gegenteil: Glaube stand bei ihm im Verdacht einer Neigung zum Vorschnellen, und ob der Inhalt dieses geistigen Verhaltens ein irdischer Einfall, ob er eine überirdische Idee war, schon als seelische Fortbewegungsart erinnerte es ihn an die ohnmächtigen Flugversuche eines Haushuhns. Nur Agathe bewirkte darin eine Ausnahme; an ihr behauptete er zu beneiden, daß sie voreilig und mit Eifer glauben konnte, und empfand die Weiblichkeit ihres Mangels manchmal fast so körperlich wie einen der anderen Geschlechtsunterschiede, von denen zu 603

wissen eine selige Verblendung erregt. Er verzieh ihr diese Unberechenbarkeit selbst dann, wenn sie ihm eigentlich unverzeihlich erschien, so in der Verbindung mit der lächerlichen Person des Professors Lindner, von der ihm seine Schwester vieles verschwieg. Er spürte neben sich die Verschwiegenheit ihrer Körperwärme und erinnerte sich an eine leidenschaftliche Behauptung, die ungefähr den Sinn hatte, daß kein Mensch sich selbst schön oder häßlich, gut oder schlecht, bedeutend oder geisttötend sei, sondern daß sein Wert immer davon abhänge, daß man an ihn glaube oder an ihm zweifle. Das war eine maßlose Bemerkung, voll Großmütigkeit, aber auch von Ungenauigkeit zersetzt, die allerhand Rückschlüsse zuließ; und die versteckte Frage, ob sie am Ende nicht gar auf diesen Ziegenbock der Gläubigkeit, diesen Mann Lindner, zurückzuführen sei, von dem er so gut wie nichts als den Schatten kannte, ließ in dem schnellen unterirdischen Fluß seiner Gedanken eifersüchtig eine Welle aufschäumen. Als Ulrich aber darüber nachdachte, wußte er sich nicht zu entsinnen, ob überhaupt Agathe diese Bemerkung getan hätte oder nicht gar er selbst, und eines erschien ihm ebenso möglich wie das andere. Da zerfloß die Eifersuchtswelle in zärtlichen Schaum, wegen dieser Verwechselbarkeit über allen seelischen und körperlichen Unterschieden, und er hätte nun aussprechen mögen, was sein eigentlicher Vorbehalt gegen jede Glaubensbereitschaft war.

Etwas zu glauben und an etwas zu glauben, sind seelische Zustände, die ihre Kraft einem anderen Zustand entnehmen und für sich verwenden oder auch verschwenden; aber dieser andere Zustand war nicht nur, wie es am nächsten lag, der feste des Wissens, sondern konnte, im Gegenteil, auch ein noch weniger stofflicher Zustand als das Glauben selbst sein: Und daß gerade in diese Richtung alles führe, was ihn und seine Schwester bewege, drängte Ulrich zur Aussprache; aber seine Gedanken waren noch weit von der Aussicht entfernt, sich dahin zu verbinden, und darum sprach er sich nicht aus, sondern wechselte lieber den Gegenstand, ehe er es tat.

Auch ein genialer Mensch trüge ja ein Maß in sich, das ihn zu dem Urteil ermächtigen könnte, es gehe in der Welt auf schier unerklärliche Weise alles so zurück wie vorwärts; aber wer ist ein solcher? Ulrich hatte ursprünglich nicht das mindeste Verlangen, darüber nachzudenken; aber die Frage hielt ihn fest, er wußte nicht warum.

«Man muß zwischen Genie als Art und als persönlichem Superlativ trennen» begann er und hatte noch nicht den rechten Ausdruck gefunden. «Manchmal habe ich früher gedacht, daß es, als die einzigen wichtigen Menschenrassen, überhaupt nur die des Genies und die des Dummkopfs gebe, die sich nicht gut vermischen.

Die Menschen der Genieart oder die Genialen müssen aber nicht schon ein Genie sein. Dieses, das bestaunte Genie, entsteht so recht erst an der Börse der Eitelkeiten; in seinen Glanz strahlen die Spiegel der umgebenden Dummheit; es ist immer mit etwas verbunden, das ihm noch ein Ansehen dazu gibt, wie Geld oder Auszeichnungen: mag sein Verdienst also wie immer groß sein, ist seine Erscheinung doch eigentlich die ausgestopfte Genialität - »

Agathe unterbrach ihn, neugierig auf das andere: «Gut, aber die Genialität selbst?»

«Wenn du aus dem ausgestopften Popanz herausziehst, was bloß Stroh ist, müßte sie wohl überbleiben»

sagte Ulrich, besann sich aber und fügte mißtrauisch hinzu: «Ich werde nie recht wissen, was genial ist, und weiß auch nicht, wer das entscheiden sollte!»

«Ein Senat der Wissenden!» sagte Agathe lächelnd. Sie kannte ihres Bruders oft recht ideokratische Gesinnung, mit der er sie in manchem Gespräch geplagt hatte, und erinnerte ihn durch ihre Worte etwas scheinheilig an die berühmte, aber in zweitausend Jahren nicht befolgte Forderung der Philosophie, daß die Leitung der Welt einer Akademie der Weisesten anvertraut werden sollte.

Ulrich nickte. «Das schreibt sich schon von Platon her. Und hätte es verwirklicht werden können, so wäre auf ihn an der Spitze des regierenden Geistes wahrscheinlich ein Platoniker gefolgt, und das so lange, bis eines Tages - Gott weiß warum - die Plotiniker für die wahren Philosophen gegolten hätten. So verhält es sich auch mit dem, was für genial gilt. Und was hätten die Plotiniker mit den Platonikern angefangen, und vorher diese mit ihnen, wenn nicht das, was jede Wahrheit mit dem Irrtum tut: ihn unerbittlich ausmerzen?

Gott hat vorsichtig gehandelt, als er anordnete, daß aus einem Elefanten wieder nur ein Elefant hervorgeht, und aus einer Katze eine Katze: aus einem Philosophen geht aber ein Nachbeter und ein Gegenphilosoph hervor!»

«Also müßte Gott selbst entscheiden, was genial ist!» rief Agatne ungeduldig aus, nicht ohne einen leicnten stolzen Graus bei dieser Vorstellung zu empfinden und sich deren voreiliger Heftigkeit bewußt zu sein.

«Ich fürchte, daß es ihn langweilt!» sagte Ulrich. «Wenigstens den christlichen Gott. Er ist erpicht auf die 604

Herzen, ohne zu achten, ob viel oder wenig Verstand bei ihnen ist. Übrigens glaube ich, daß die kirchliche Geringschätzung der bürgerlichen Genialität manches für sich hat!»

Agathe wartete etwas; dann erwiderte sie einfach: «Du hast früher anders gesprochen!»

«Ich könnte dir antworten, daß der heidnische Glaube, alle den Menschen bewegenden Ideen hätten zuvor im göttlichen Geiste geruht, sehr schön gewesen sein muß; aber daß es schwer ist, an göttliche Ausströmungen zu denken, seit sich unter dem, was uns viel bedeutet, Ideen befinden, die Schießbaumwolle oder Pneumatik heißen» entgegnete Ulrich auf der Stelle. Dann schien er aber zu zaudern und des scherzenden Tons zu viel zu haben; und plötzlich gestand er seiner Schwester zu, was sie wissen wollte. Er sagte: «Ich habe immer, und fast von Natur, daran geglaubt, daß der Geist, weil man seine Macht in sich fühle, auch dazu verpflichte, ihm in der Welt Geltung zu verschaffen. Ich habe geglaubt, daß es sich nur lohne, bedeutend zu leben, und habe mir gewünscht, niemals etwas Gleichgültiges zu tun. Und was für die allgemeine Gesittung daraus folgt, mag hochmütig verzerrt aussehen, aber es ist unvermeidlich dies: Nur das Geniale ist erträglich, und die Durchschnittsmenschen müssen gepreßt werden, damit sie es hervorbringen oder gelten lassen! Mit tausend anderem vermischt, gehört etwas davon sogar zur allgemeinen Überzeugung: Es ist also wirklich beschämend für mich, dir die Antwort geben zu müssen, daß ich nie zu sagen gewußt hätte, was genial ist, und es auch jetzt nicht weiß, obgleich ich vor einigen Augenblicken erst unbefangen angedeutet habe, daß ich diese Eigenschaft weniger einem besonderen Menschen als einer menschlichen Artung zuschreiben möchte. »

Er schien es nicht so schlimm zu meinen, und Agathe hielt sorgsam das Gespräch im Gang, als er schwieg.

«Kommt es dir nicht selbst leicht über die Lippen, von einem genialen Akrobaten zu sprechen?» fragte sie.

«Es scheint also, daß heute gewöhnlich das Schwierige, Ungewöhnliche und besonders Gelungene zu dem Begriff gehört. »

«Bei den Sängern hat es angefangen; und wenn einer, der höher singt als die übrigen, genial heißt, warum soll es nicht einer tun, der höher springt! Schließlich kommt man aber so auch zu der Genialität eines Vorstehhunds; und Männer, die sich von nichts einschüchtern lassen, halten sie sogar für gediegener als die des Mannes, der sich die Stimmbänder aus dem Hals ziehen kann. Offenbar ist da ein zweifacher Sprachgebrauch im unklaren; außer der Genialität des Gelingens, die sich auf alles zu erstrecken vermag, so daß auch der dümmste Witz <in seiner Art> genial sein kann, gibt es auch noch die Höhe, Würde oder Bedeutung dessen, was gelingt, also irgendeinen Genialitätsrang. » - Ein heiterer Ausdruck hatte den Ernst in Ulrichs Augen verdrängt, so daß Agathe nach der Fortsetzung fragte, die er zu verschweigen scheine.

«Mir fällt ein, daß ich die Frage Genie einmal mit unserem Freund Stumm erörtert habe» erzählte Ulrich.

«Und er hat auf der Nützlichkeit bestanden, daß man einen militärischen und einen zivilen Begriff Genie unterscheide. Damit du ihn aber verstehst, muß ich dir vielleicht etwas aus der Kaiserlich und Königlichen Militärwelt erklären. Die Genietruppe -allein als Wortverbindung schon wunderbar - » fuhr er fort «dient zu Befestigungs-und ähnlichen Arbeiten und besteht aus Soldaten und Unteroffizieren und aus Offizieren, die keine besondere Zukunft haben, es sei denn, daß sie einen <Höheren Genie-Kurs> bestehen, wonach sie in den <Genie-Stab> gelangen. <Über dem Genie steht beim Militär also der Geniestäblen sagt Stumm von Bordwehr. <Und ganz darüber natürlich noch der Generalstab, weil der überhaupt das Gescheiteste ist, was Gott getan hat. > So hat er mich, wenngleich er sich noch immer mit Genuß als Antimilitaristen bezeichnet, darauf zu bringen gesucht, daß der rechte Gebrauch von Genie schließlich noch beim Militär zu finden sein wird und gestaffelt ist, während allem Zivilgerede davon gerade eine solche Ordnung bedauerlicherweise mangle. Und wie er alles so verdreht, daß man der Wahrheit ordentlich auf den Grund sieht, täten wir gar nicht schlecht daran, uns an seinen Leitfaden zu halten. »

Was Ulrich über die ungleichen Begriffe der Genialität dem folgen ließ, hatte es aber weniger auf die Höchststufe Genie abgesehen als auf die Grundform der Genialität oder des Bedeutenden, deren Zweifelhaftigkeit ihm verwirrender und schmerzlicher vorkam. Es schien ihm leichter zu sein, ein Urteil über das zu gewinnen, was überaus bedeutend sei, als über das Bedeutende schlechthin. Jenes ist bloß ein Schritt über etwas hinaus, dessen Wert schon unbestritten ist, also etwas, das immer in einer mehr oder weniger herkömmlichen Ordnung geistiger Werte begründet ist, dieses hingegen verlangt, den ersten Schritt in einen unbestimmten und unendlichen Raum zu tun, und das bietet fast keine Aussicht, daß sich triftig unterscheiden lasse, was bedeutend ist und was nicht. So ist es natürlich, daß sich der Sprachgebrauch lieber an die Genialität des Grades und Gelingens gehalten hat als an den Genialitätswert 605

dessen, was gelingt; doch ist es auch verständlich, daß die entstandene Gewohnheit, jede schwer nachahmliche Geschicklichkeit genial zu nennen, mit einem schlechten Gewissen verbunden ist, und natürlich keinem änderen als dem einer eingegangenen Aufgabe und einer vergessenen Pflicht. Die Geschwister hatten scherzhaft-zufällig daran Anstoß genommen, sprachen aber ernst weiter.

«Am deutlichsten wird das, » sagte Ulrich zu seiner Schwester «wenn man, was fast nur durch Zufall geschieht, eines wenig beachteten äußeren Zeichens inne wird, nämlich der Gepflogenheit, daß wir die Worte Genie und genial verschieden aussprechen, und nicht so, als ob das zweite vom ersten käme. »

Wie es jedem ergeht, der auf eine unbeachtete Gewohnheit aufmerksam gemacht wird, verwunderte sich Agathe ein wenig.

«Ich habe damals, nach dem Gespräch mit Stumm, im Grimmschen Wörterbuch nachgelesen»

entschuldigte sich Ulrich. «Das Militärwort Genie, der Geniesoldat also, ist natürlich, wie es viele militärischen Ausdrücke getan haben, aus dem Französischen zu uns gekommen. Die Ingenieurkunst heißt dort Le génie; und damit hängt zusammen Geniecorps, Arme du génie, Ecole du génie, aber auch das englische Engine, das französische Engin und das italienische Ingegno macchina, das kunstvolle Werkzeug; die ganze Sippschaft aber geht auf das spätlateinische Genium und Ingenium zurück, Wörter, deren hartes G auf der Wanderung zu einem weichen Seh wird, und deren Grundbedeutung die Geschicklichkeit und das Können ist —: eine Zusammenfassung ähnlich der etwas alterssteifen Redensart <die Handwerke und Künste>, mit der uns amtliche Inschriften und Schriften heute noch zuweilen beglücken. Von da ginge ein verrotteter Weg also auch zum genialen Fußballspieler, ja sogar zum genialen Stöberhund oder Sprungpferd, aber es wäre folgerichtig, dieses Genial so wie jenes Genie auszusprechen. Denn es gibt ein zweites Genie und Genial, deren Bedeutung ebenfalls in allen Sprachen anzutreffen ist und nicht auf Genium zurückgeht, sondern auf Genius, auf das Mehr-als-Menschliche, oder wenigstens in Ehrfurcht auf Geist und Gemüt als das menschlich Höchste. Ich brauche wohl kaum noch zu sagen, daß diese beiden Bedeutungen allenthalben heillos verwechselt und vermischt worden sind, schon seit Jahrhunderten, und in der Sprache wie im Leben, und nicht nur im Deutschen; aber bezeichnendermaßen da am meisten, so daß es besonders eine deutsche Angelegenheit zu nennen ist, das Geniale und das Ingeniöse nicht auseinanderzuhalten. Überdies hat sie im Deutschen eine Geschichte, die mir an einer Stelle sehr nahegeht. »

Agathe war dieser ausgedehnten Erklärung gefolgt, wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, ein wenig mißtrauisch und bereit, sich zu langweilen, aber auf eine Wendung wartend, die von dieser Unsicherheit befreit. «Möchtest du mich für einen Sprachnörgler halten, wenn ich dir vorschlüge, daß wir zwei fortab das Wort <genialisch> wieder in Gebrauch nehmen sollten?» fragte Ulrich.

Unwillkürlich deuteten ein Lächeln und eine Kopfbewegung seiner Schwester ihr Widerstreben gegen das veraltete Wort an, das ein Zeitgenosse von theatralisch, infernalisch, physikalisch und moralisch ist, aber mit sen-timentalisch, idealisch, kolossalisch, kollegialisch und anderen aus dem Gebrauch gekommen ist und dem nun ein Geruch von alten Truhen und Trachten anhaftet.

«Es ist ein veraltetes Wort, » gab Ulrich zu «aber es war ein guter Augenblick, da es gebraucht wurde! Und wie gesagt, habe ich doch darüber nachgelesen; und wenn es dich nicht stört, daß wir auf der Gasse sind, will ich noch einmal nachsehn, was ich dir darüber zu sagen vermag!» Er zog lächelnd einen Zettel aus der Tasche und entzifferte einzelne mit Bleistift beschriebene Stellen. «Goethe» verkündete er: «Hier sah ich Reue und Buße bis zur Karrikatur getrieben, und wie alle Leidenschaft das Genie ersetzt <wirklich genialisch, >; an einem anderen Ort: <Ihre genialische Ruhe war mir oft in glänzender Begeisterung entgegengekommen. -Wieland: <Die Frucht genialischer Stunden>; Hölderlin: <Die Griechen sind immer noch ein schönes, genialisches und frohes Volk>. Und ein ähnliches Genialisch findest du noch bei Schleiermacher in seinen jüngeren Jahren. Aber schon bei Immermann hast du die Worte: <Geniale Wirtschaft> und <Geniale Lüderlichkeit>. Da hast du also diese beschämende Wendung des Begriffs zum Kesselflickerhaft-Schlampigen, als was genialisch heute noch meist mit Spott verstanden wird. » Er drehte den Zettel hin und her, steckte ihn wieder ein und nahm ihn nochmals zu Hilfe. «Aber die Vorgeschichte und Vorursache findet sich schon früher» trug er nach. «Bereits Kant tadelt <den Modeton einer geniemäßigen Freiheit im Denkern und spricht ärgerlich von <Ge-niemännern> und <Genieaffen>. Es ist ein ansehnliches Stück deutscher Geistesgeschichte, das ihn so ärgert: denn sowohl vor ihm als auch bezeichnendermaßen nicht minder nach ihm ist in Deutschland teils mit Schwärmerei, teils mit Mißbilligung von <Geniedrang>, <Geniefieber>, <Geniesturm>, <Geniesprüngen>, <Genierufen> und 606

<Geniegeschrei> gesprochen worden, und sogar die Philosophie hatte nicht immer saubere Fingernägel, und am wenigsten dann, wenn sie glaubte, sich die unabhängige Wahrheit aus den Fingern saugen zu können. »

«Und wie bestimmt Kant, was ein Genie ist?» fragte Agathe, die mit seinem berühmten Namen bloß die Erinnerung verband, gehört zu haben, daß er alles übersteige.

«Er hat am Wesen des Genies das Schöpferische und die Originalität, den <Originalgeist> hervorgehoben, womit er denn bis auf den heutigen Tag vom größten Einfluß verblieben ist» erwiderte Ulrich. «Goethe lehnte sich später wohl an ihn an, als er sogar das Genialische mit den Worten <viele Gegenstände gegenwärtig haben und die entferntesten leicht aufeinander beziehen. Dies frei von Selbstischkeit und Selbstgefälligkeit> beschrieb. Aber das ist eine Auffassung, die es sehr auf die Verstandesleistung abgesehen hat und zu der etwas turnerhaften Vorstellung vom Genialen führt, der wir erlegen sind. »

Agathe fragte ungläubig lachend: «Weißt du also jetzt, was Genie und genial und genialisch ist?»

Ulrich nahm den Spott achselzuckend hin. «Immerhin haben wir erfahren, daß unter Deutschen, wenn sich schon nicht der strenge Kantische <Originalgeist> zeigt, auch ein verstiegenes und auffallendes Benehmen als genial empfunden wird» meinte er.

49 General von Stumm über die Genialität

Das von Ulrich erwähnte Gespräch mit Stumm hatte bei einer zufälligen Begegnung stattgefunden und nicht lange gedauert. Der General schien Sorgen zu haben, sprach sich aber nicht darüber aus, sondern begann über den Unfug zu schimpfen, daß es im Zivil so viele Genies gebe. «Was ist das eigentlich, ein Genie?» fragte er. «Einen General hat noch niemand ein Genie genannt!»

«Napoleon ausgenommen» warf Ulrich ein.

«Ihn vielleicht» gab Stumm zu. «Aber das geschieht wahrscheinlich mehr deshalb, weil sein ganzer Werdegang paradox ist!»

Darauf hatte Ulrich keine Antwort zu geben gewußt.

«Bei deiner Kusine habe ich viel Gelegenheit gehabt, solche Leute kennen zu lernen, die man als Genies bezeichnet» erklärte Stumm nachdenklich und fuhr fort: «Ich glaube, daß ich dir sagen kann, was ein Genie ist: Das ist nicht nur einer, der großen Erfolg hat, sondern er muß seine Sache gewissermaßen auch verkehrt anfangen!» Und Stumm führte es sogleich an den großen Beispielen der Psychoanalyse und der Relativitätstheorie aus:

«Daß man etwas nicht gewußt hat, hat es auch früher oft gegeben, » begann er in seiner Art «aber man hat sich eben demzufolge auch nichts dabei gedacht, und wenn das nicht gerade bei einer Prüfung geschehen ist, hat es auch niemand geschadet. Mit einemmal hat man aber das sogenannte Unbewußte daraus gemacht, und jetzt hat jeder so viel Unbewußtes, wie er nicht weiß, und es gilt als viel wichtiger, zu wissen, warum man etwas nicht weiß, als was man nicht weiß! Das hat, wie man sagt, menschlich das Unterste zu oberst gekehrt; und ist wahrscheinlich auch viel einfacher. »

Da Ulrich die Wirkung noch vermissen ließ, fuhr Stumm fort:

«Der Mann, der das erfunden hat, hat aber auch das folgende Gesetz aufgestellt: Du erinnerst dich, daß man früher beim Regiment den jüngeren Herren, wenn sie untereinander zuviel Saubarteleien geredet haben, mit den Worten abgewinkt hat: <Das sagt man nicht, das tut man bloß!> Und was ist das Gegenteil davon?

Irgendwie doch die Aufforderung: Wenn du, weil du ein zivilisierter Mensch bist, nicht tun kannst, was du möchtest, so sprich wenigstens mit einem gelehrten Mann darüber; der überzeugt dich nämlich, daß alles, was es gibt, auf etwas beruht, das es nicht geben soll! Ich mag das natürlich nicht wissenschaftlich beurteilen, aber jedenfalls sieht man auch an diesem Beispiel, daß die neuen Regeln senkrecht die Umkehrung von denen sind, die vor ihnen gegolten haben, und der Mann, der sie eingeführt hat, gilt heute für ein ganz großes Genie!»

Da Ulrich anscheinend noch immer nicht überzeugt war, und Stumm sich selbst noch nicht am Ziele fühlte, wiederholte er seine Beweisführung an der «Relativitätstheorie» so, wie diese sich ihm darstellte: «Du hast doch gleich mir auf der Schule gelernt, daß alles, was sich bewegt, in <Raum und Zeit> geschieht» war der Ausgangspunkt seines Denkens.

«Aber wie steht es damit in der Praxis ? Erlaube, daß ich etwas ganz Gewöhnliches sage: Du sollst mit der 607

Tete deiner Eskadron um so und soviel Uhr an einem auf der Karte bestimmten Punkt gestellt sein. Oder du sollst deine Reiter aus einer Aufstellung auf Kommando in eine neue Front bringen, die schief zu allem steht, was es an geraden Linien auf dem Exerzierplatz gibt: Es geschieht in Raum und Zeit; aber es gelingt nie ohne Zwischenfall und stimmt nie so, wie du es haben willst. Ich wenigstens habe hundert Rüffel dafür bekommen, solange ich bei der Truppe war, ich sage es aufrichtig. Auch hat es mir schon in der Schule sozusagen immer widerstanden, wenn ich an der Tafel die Aufgabe gehabt habe, eine mechanische Bewegung in Raum und Zeit auszurechnen. Darum habe ich es sofort als einen wirklich genialen Einfall begriffen, als ich davon gehört habe, daß einer endlich herausgefunden hat, daß Raum und Zeit sehr relative Begriffe sind, die sich augenblicklich mitverändern, wenn ernsthaft Gebrauch von ihnen gemacht wird, obwohl sie seit Erschaffung der Welt für das Festeste vom Festen gegolten haben. Deshalb ist dieser Mann, auch meiner Ansicht nach mit Recht, mindestens ebenso berühmt wie der andere; aber auch von ihm kann man sagen, daß er das Pferd beim Schwanz aufgezäumt hat, was also, wenigstens heute, fast so etwas wie die fixe erste Idee eines Genies zu sein scheint! Und das ist es, was ich dir zu erkennen geben möchte, wenn du auf meine Erfahrung Wert legen solltest» schloß Stumm.

Ulrich, in seiner Schwäche für ihn, hatte zugegeben, daß die wesentlichsten wissenschaftlichen Lehren der Gegenwart einen Zug ins Grelle erkennen ließen, oder zumindest keine Scheu davor zeigten. Es mochte nicht viel bedeuten; aber wenn man mag, läßt sich darin auch ein Zeichen sehen. Ungescheute Auffälligkeit, eine Vorneigung für das Paradoxe, Ehrgeiz auf eigene Faust, Überraschung und Umstimmung des Ganzen auf widerspruchsvolle, vorher kaum beachtete Einzelheiten gehörten unzweifelhaft seit einiger Zeit zum guten Ton des Denkens, denn sie hatten sich mit großen Erfolgen gerade auf solchen Gebieten zu krönen begonnen, wo man es nicht erwartet hätte und an die sichere Verwaltung und Vermehrung eines großen geistigen Besitzes gewohnt war.

«Aber warum denn?» fragte Stumm. «Wie ist denn das gekommen?»

Ulrich zuckte die Achseln. Er entsann sich der verlassenen eigenen Wissenschaft, der Aufrollung ihrer Grundfragen, ihrer Aufspeilung in eine Überprüfung der Logik. Anderen Wissenschaften erging es nicht viel anders; sie fühlten ihr Gebäude durch Entdeckungen erschüttert, die sich schwer darin unterbringen ließen. Das war Schickung und Gewalt der Wahrheit. Trotzdem schien sich aber auch von einem Überdruß an dem alltäglichen, nie stillstehenden Fortschritt sprechen zu lassen, dem bisher durch die längste Zeit, im Lärm aller Gesinnungen, der stille eigentliche Glaube gegolten hatte. Ein leichter Zweifel an der Richtigkeit des baren, genauen Schritt vor Schritt Setzens war wohl auf keinem Gebiet zu leugnen. Auch das mochte eine Ursache sein. Schließlich gab Ulrich die Antwort: «Es ist vielleicht einfach das gleiche, wie wenn man müde wird; man braucht einen Ausblick, der erfrischt, oder einen Stoß, der in die Beine fährt.

»

«Warum setzt man sich denn nicht lieber nieder?» fragte Stumm.

«Ich weiß es nicht. Jedenfalls zieht man es nach längerem ruhigen Gedeihen des Geistes vor, mit dem Umsturz zu liebäugeln. So etwas scheint sich vorzubereiten. Erinnere dich zum Vergleich vielleicht an die überhandnehmende Sprung-haftigkeit in den Künsten. Vom Politischen verstehe ich wenig: Aber vielleicht wird man einmal sagen können, daß sich in dieser Ungeduld des Geistes schon eine Revolution angedeutet hat. »

«Pfui Teufel!» rief Stumm aus, der sich bei Künsten und revolutionärer Unruhe an die Eindrücke in Diotimas Haus erinnerte.

«Vielleicht nur als Übergang zu einer späteren neuen Stetigkeit!» beschwichtigte ihn Ulrich.

Das war Stumm gleichgültig. «Ich habe Diotimas Gesellschaften seit der taktlosen Geschichte gemieden, die in Anwesenheit des Kriegsministers vorgefallen ist» erzählte er. 92

«Versteh mich recht, gegen die schon fixierten Genies, von denen wir bis jetzt gesprochen haben, möchte ich ja gar nichts einwenden; höchstens, daß es mir übertrieben erscheint, wie man sie verehrt. Aber auf all dieses andere Gesindel habe ich es scharf!» Und nach einem kurzen, aber anscheinend bitteren Augenblick überwand er sich zu der Frage: «Sag mir aufrichtig, ist Genialität denn wirklich ein solcher Wert?»

Ulrich mußte lächeln, und unerachtet dessen, was er zuvor gesagt hatte, hob er jetzt die ungeheure - er nannte sie sogar die feenglatte - Erlösung hervor, als die man die Lösung einer jeden Aufgabe empfange, an der sich schon die begabtesten, ja bedeutendsten Fachleute vergeblich abgemüht hätten. Genie sei der einzige unbedingte menschliche Wert, es sei der menschliche Wert schlechthin, sagte er. Ohne 608

Einmischung der Genialität gäbe es nicht einmal die Tiergruppe der höheren Affen. In seinem Eifer rühmte er also heftig sogar die Genialität, die er später bloß die des Grades und der Geschicklichkeit nennen sollte, insofern als sie es nicht auch im Grundwesen sei.

Stumm nickte gesättigt: «Ich weiß: die Erfindung des Feuers und des Rades, des Pulvers und der Buchdruckerkunst, und so weiter! Kurz gesagt: vom Einbaum zum Einstein!» Doch nachdem er sein Verständnis bezeugt hatte, fuhr er fort: «Jetzt werde ich dir aber auch etwas sagen, und zwar ist es aus den Gesprächen bei Diotima: <Vom Sophokles zum Feuermaul!> Denn das hat dort einmal ganz im Ernst so ein junger Aff ausgerufen!»

«Was ist dir denn an Sophokles nicht recht?»

«Ah!! Von dem weiß ich doch nichts. Aber Feuermaul! Und da sagst du, Genie wäre ein unbedingter Wert!»

«Die Berührung des Genies ist der einzige Augenblick, <wo der häßliche und verstockte Götterschüler Mensch schön und aufrichtig ist>» steigerte sich Ulrich. «Ich habe aber nicht gesagt, daß sich leicht entscheiden läßt, was Genie sei, und was bloß Einbildung. Ich sage bloß, wo immer wirklich ein neuer Wert ins menschliche Spiel kommt, steht Genialität dahinter!»

«Wie kann man denn wissen, ob etwas <wirklich ein neuer Wert> ist?»

Ulrich zögerte lächelnd.

«Und dann überhaupt, ob der Wert auch wirklich etwas wert ist!» fügte Stumm mit bekümmerter Neugierde hinzu.

«Man spürt es oft auf den ersten Blick» meinte Ulrich.

«Ich habe mir sagen lassen, daß man sich auch schon auf den ersten Blick geirrt haben soll!» —

Der Wortwechsel stockte. Stumm bereitete vielleicht eine gründliche neue Frage vor.

Ulrich sagte: «Du hörst die ersten Takte von Bach oder Mozart; du liest eine Seite von Goethe oder Corneille; und weißt, daß du die Genialität berührt hast!»

«Bei Mozart und Goethe vielleicht, weil ich es da schon weiß; aber nicht bei einem Unbekannten!»

verwahrte sich der General.

«Glaubst du, daß es dich auch als jungen Menschen nicht elektrisiert hätte? Der Enthusiasmus der Jugend ist doch an sich selbst mit dem Genialen verwandt!»

«Warum <an sich selbst>? Aber, wenn ich durchaus antworten muß: Eine Operndiva hat mich wahrscheinlich begeistern können. Und auch für Alexander den Großen, Cäsar und Napoleon habe ich einmal geschwärmt. Hingegen an sich selbst ist mir irgendein Schriftsteller oder Tonmaler immer ganz gleichgültig gewesen!»

Ulrich trat den Rückzug an, wiewohl er fühlte, eine rechte Sache bloß schief angefaßt zu haben. «Ich habe sagen wollen, daß der sich geistig entwickelnde junge Mensch das Geniale errät wie ein Zugvogel die Richtung. Aber wahrscheinlich wäre das eine Verwechslung. Denn er ist dem Bedeutenden nur in beschränktestem Umfang zugänglich. Er hat keinen besonderen Sinn für das Bedeutende, sondern nur einen für das, was ihn aufrührt. Er sucht nicht einmal das Geniale, sondern sucht sich selbst und das, was geeignet ist, den Umrissen seiner Vorurteile Gehalt zu geben. Was ihn anspricht, » erklärte er «ist seinesgleichen, in aller Undeutlichkeit, die dem genügt. Es ist ungefähr das, was er selbst sein zu können glaubt, und bedeutet für seine Erziehung das gleiche wie der Spiegel, worin er sich gerne, aber durchaus nicht bloß aus Eitelkeit betrachtet. Darum ist auch nichts weniger zu erwarten, als daß gerade geniale Werke diese Wirkung auf ihn ausübten; gewöhnlich sind es die zeitgemäßen, und unter ihnen mehr die an Stimmungen rührenden als die geistig klar geformten, wie er doch auch lieber als die getreuen die Spiegel hat, die sein Gesicht verschmälern oder seine Schultern breit machen… »

«So kann es wohl sein» pflichtete Stumm nachdenklich bei. «Glaubst du aber, daß der Mensch später gescheiter wird?»

«Ohne Zweifel ist der gereifte Mensch fähig und geübt, das Bedeutende in größerem Ausmaß zu erkennen; aber seine gereiften eigenen Zwecke und Kräfte zwingen ihn auch, vieles von sich auszuschließen. Er lehnt nicht aus Unverständnis ab, aber er läßt mehr beiseite!»

«So ist es!» rief Stumm erleichtert aus. «Er ist nicht so beschränkt wie ein junger Mensch; aber ich möchte sagen, er ist bornierter! Und das ist auch notwendig. Wenn unsereiner mit unreifen jungen Leuten verkehrt, wie sie deine Kusine begünstigt, muß er, weiß Gott, abgehärtet sein und die Überlegenheit haben, die Hälfte 609

von dem, was sie sagen, gar nicht zu verstehn!»

«Man könnte wohl auch Kritik üben!»

«Aber deine Kusine sagt: das sind Genies! Wie beweist man das Gegenteil?»

Ulrich wäre nicht abgeneigt gewesen, auch auf diese Frage einzugehen. «Ein Genie ist einer, der dort, wo viele vergeblich eine Lösung suchen, diese findet, indem er etwas tut, worauf keiner vor ihm verfallen ist»

definierte er, um aus eigener Neugierde endlich weiterzukommen.

Aber Stumm bedankte sich: «Ich kann mich ja an die Tatsachen selbst halten» bemerkte er. «Bei Frau von Tuzzi habe ich genug Kritiker und Professoren in Person kennen gelernt, und jedesmal, wenn eines von den Genies, die das Leben oder die Kunst verbessern, gar zu sonderbare Behauptungen aufgestellt hat, habe ich sie vorsichtig um Rat gebeten. »

Ulrich ließ sich ablenken. «Und welche Erfahrung hast du gemacht?»

«Oh, sie sind immer sehr respektvoll zu mir gewesen und haben gesagt: <Das wäre nichts für Sie, Herr General !>

Natürlich ist das vielleicht auch eine Art Arroganz von ihnen; denn obzwar sie alle neuen Künstler geradezu ängstlich loben, scheinen sie nichtsdestoweniger darauf eingebildet zu sein, daß die, in ihren eigenen Behauptungen, einander gefährlich widersprechen, ja selbst so etwas wie eine blinde Wut aufeinander haben und summa summarum vielleicht nicht wissen, was sie tun!»

«Und hast du auch erfahren, wie die Geister, die den Sonnenstich haben und von Diotima mit Lorbeer gekühlt werden, über die Kritiker und Professoren denken, sofern diese sie nicht loben?» fragte Ulrich.

«Als ob sie es wären, die diese Verstandesbestien mit ihrem Fleisch fütterten; und die es wären, so von der ganzen Menschlichkeit bloß einen Streit um Knochen übrig lassen!»

«Du hast sie gut beobachtet!» pflichtete Stumm als vergnügter Kenner bei.

«Aber wie erkennst du schließlich, wo so viel Widerspruch ist, ob du dich wirklich nach einem <Genie> erkundigt hast, oder nicht?» fragte Ulrich folgerichtig.

Stumm gab darauf keine zwingende, aber wohl eine aufrichtige Antwort: «Es wird einem am Ende Wurst!»

meinte er.

Ulrich sah ihn schweigend an. Wollte er bloß ein Rückzugsgefecht führen und sich den Fragen entziehen, die schwieriger waren, als es den Umständen entsprach, so war es ein Fehler, daß er diesen Augenblick nicht dazu benutzte, «sich vom Gegner zu lösen», wie es die richtige Taktik wäre. Aber er wußte selbst nicht, was seine Laune war. So sagte er schließlich: «Durch nichts haben die falschen Genies soviel Glück bei der Masse gewonnen wie durch das Unverständnis, das gewöhnlich die echten, und nach ihrem Beispiel gar die halb echten, für einander haben; erst recht können aber nicht die Lampenputzer den Prometheus bürsten!»

Stumm sah bei dieser Schlußziehung ebenso verständnislos wie verständnisinnig zu ihm auf. «Du mußt mich recht verstehen» trug er vorsichtig nach. «Erinnere dich an den Eifer, womit ich für Diotima eine große Idee gesucht habe. Ich weiß, was Geistesadel ist. Ich bin auch nicht der Graf Leinsdorf, für den das schließlich doch immer eine Art 96

Kleinadel bleibt. Vorhin hast du zum Beispiel ganz hervorragend definiert, was ein Genie ist. Wie war das?

Es findet eine Lösung, indem es etwas tut, worauf noch keiner verfallen ist! Eigentlich sagt das sogar das gleiche, wie ich auch gesagt habe: das erste ist, daß ein Genie seine Sache verkehrt anfangt. Aber Geistesadel ist das noch nicht! Und warum ist es nicht Geistesadel? Weil der übliche Leitstern des Zeitalters ohnehin der ist, daß unter allen Umständen etwas Bedeutendes geschehen muß; aber ob man das Genialität heißt, oder Geistesadel, Fortschritt oder, wie man jetzt auch oft sagen hört, Rekord, ist dem Zeitalter eben weniger wichtig!»

«Aber warum hast du dann von Geistesadel gesprochen?» half Ulrich ungeduldig nach.

«Das kann ich eben darum nicht so genau wissen!» verteidigte sich Stumm. «Übrigens, » fuhr er, angeregt nachdenkend, fort «vielleicht könnte man ja quasi sagen, daß ein Geistesadel besonders auch den Charakter nicht in Ruh lassen darf. Da hab ich doch recht?»

«So ist es!» munterte ihn Ulrich auf, der übrigens ganz nebenbei in diesem Augenblick zum erstenmal daran gemahnt worden, auf einen Unterschied wie den zwischen Genius und Genium achtzuhaben.

«Ja» wiederholte Stumm nachdenklich. Und dann fragte er: «Aber was ist der Charakter? Ist es das, was einem Mann zu den Ideen verhilft, die ihn auszeichnen; oder ist es das, was ihm solche Ideen verbietet?

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Denn ein charaktervoller Mann, der schwalbelt nicht viel herum!»

Ulrich zog es vor, die Achseln zu zucken und zu lächeln.

«Wahrscheinlich hängt das mit dem zusammen, was man große Ideen zu nennen pflegt. Und dann wäre Geistesadel nichts anderes als der Besitz großer Ideen» fuhr Stumm zweifelnd fort. «Aber woran erkennt man, ob eine Idee groß ist? Es gibt so viele Genies, in jeder Branche zumindest ein paar; es gehört sogar entschieden zu unserer Zeit, daß sie zu viele Genies hat: wie soll man da ein jedes verstehn und keines übersehen!» Die schmerzliche Vertrautheit mit der Frage nach einer ganz großen Idee hatte ihn wieder auf die Anteilnahme am Genie zurückgeführt.

Ulrich zuckte noch einmal die Achseln.

«Es gibt allerdings Leute, und ich habe solche kennen gelernt, » meinte Stumm «die sich nicht die kleinste Genialität entgehen lassen, von der irgendwo zu hören ist!»

Ulrich erwiderte: «Das sind Snobs und geistige Vornehmtuer. »

Der General: «Aber auch Diotima ist einer von diesen Menschen. »

Ulrich: «Trotzdem. Ein Mensch, in den sich alles stopfen läßt, was er findet, muß ohne eigene Form gebaut sein wie ein Sack. »

«Es ist richtig, » erwiderte der General etwas vorwurfsvoll «daß du von Diotima schon oft gesagt hast, daß sie ein Snob ist. Und auch von Arnheim hast du es manchmal gesagt. Ich habe mir darum unter einem Snob eigentlich etwas sehr Anregendes vorgestellt! Ich habe mir sogar ehrlich Mühe gegeben, einer zu sein und mir nichts entgehen zu lassen. Und es fällt mir schwer zu hören, daß du plötzlich sagst, nicht einmal auf einen Snob ist Verlaß, daß er das Geniale begreift. Du hast nämlich schon vorher gesagt, die Jugend verbürgt es nicht und das Alter auch nicht. Und dann haben wir erhoben, daß es die Genies nicht tun und die Kritischen erst recht nicht. Ja, da müßte es ja von selbst kommen, daß sich am Ende die Genialität allen zu erkennen gibt!»

«Mit der Zeit kommt es!» beschwichtigte ihn Ulrich lachend. «Die meisten Menschen glauben, daß die Zeit ganz natürlich das Bedeutende hervorkehrt. »

«Ja, auch das hört man. Aber erklär es mir, wenn du kannst!» bat Stumm ungeduldig. «Ich kann verstehen, daß man mit fünfzig Jahren gescheiter ist als mit zwanzig. Aber um acht Uhr abends bin ich nicht gescheiter als um acht Uhr morgens; und daß man mit neunzehnhundertvierzehn Jahren gescheiter sein soll als mit achtzehnhundertvierzehn, vermag ich auch nicht einzusehen!»

Dadurch kam es, daß sie noch ein wenig das schwierige Kapitel der Genialität abhandelten, das einzige nach Ulrichs Meinung, das die Menschheit rechtfertigt; aber zugleich das aufregendste und beschämendste, weil man nie weiß, ob man Genialität vor sich hat oder eine ihrer halb entgeisteten Nachahmungen. Woran ist sie zu unterscheiden? Wie erbt sie sich fort? Könnte sie sich höher entwickeln, wenn sie nicht beständig gehindert würde? Ist sie überhaupt, wie Stumm gefragt hatte, so sehr zu wünschen? Das waren Fragen, die für Stumm zur Schönheit des Zivilen und zu deren schändlicher Unordnung gehörten, dagegen von Ulrich nun mit einer Wetterkunde verglichen wurden, die nicht bloß nicht wüßte, ob es morgen schön sein werde, sondern auch nicht, ob es gestern schön gewesen sei. Denn das Urteil darüber, was genial gewesen sei, wechselt mit dem Geist der Zeiten, gesetzt, daß überhaupt danach gefragt werde, was durchaus nicht schlechthin das Zeichen der Größe der Seele und des Geistes sein muß.

Solche Rätsel wären es wohl wert gelöst zu werden, und darum geschah es in diesem Teil des Gesprächs, daß Stumm schließlich nach einigem Kopfschütteln seine Betrachtung über den Geniestab zum besten gab, von der Ulrich später seiner Schwester erzählte. Diese Behauptung, daß das Genie noch eines Geniestabs bedürfe, erinnerte übrigens ein wenig peinlich an das, was Ulrich selbst halb mit Ironie als das Generalsekretariat der Genauigkeit und der Seele bezeichnete, und Stumm verabsäumte auch nicht, ihn daran zu mahnen, daß er zuletzt in seiner eigenen und Graf Leinsdorfs Gegenwart während der unglücklichen Gesellschaft bei Diotima davon gesprochen habe. «Du hast damals etwas sehr Ähnliches gefordert, » hielt er ihm vor Augen «und wenn ich mich nicht irre, ist es ein Büro für die Genialitäten und den Geistesadel gewesen. » — Ulrich nickte schweigsam - «Denn der Geistesadel» fuhr Stumm fort «wäre ja schließlich doch das, was den gewöhnlichen Genies fehlt. Ganz gleich, was man unter ihm versteht: Unsere Genies sind Genies, nichts darüber hinaus, lauter Spezialisten! Habe ich recht? Ich kann sehr gut verstehen, daß viele Leute sagen: es gibt heute überhaupt kein Genie!»

Ulrich nickte wieder. Es trat eine Pause ein.

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«Aber eins möchte ich wissen» fragte Stumm mit dem Anflug von Eigensinn, der einem ratlos zurückkehrenden Gedanken anhaftet: «Ist es dann ein Vorwurf oder eine Auszeichnung, daß die Menschen von keinem General sagen: er ist ein Genie?»

«Beides. »

«Beides? Warum gleich beides!»

«Ich weiß es wirklich nicht. »

Stumm stutzte, aber nachdem er es sich überlegt hatte, meinte er: «Das sagst du ausgezeichnet! Ein Offizier ist nämlich beim Volk beliebt, sofern es nicht verhetzt ist; und er lernt das Volk kennen: dieses macht sich nichts aus Genies! Bis er aber General wird, muß er ein Spezialist sein, und wenn er selbst ein Spezialgenie ist, fällt er dann unter die Kategorie, daß es kein Genie gibt. Er kommt also, wie ich ausführlicher sagen möchte, gar nicht an den Punkt, wo es angebracht wäre, dieses fadiose Wort zu gebrauchen. Weißt du übrigens, daß ich neulich etwas wirklich Gescheites gehört habe? Ich war bei deiner Kusine, ganz im intimen Kreis, obwohl der Arnheim verreist ist, und wir sprechen von geistigen Fragen. Da stoßt mich einer an und klärt mich leise über ihn auf: <Das ist ein Genie> sagt er. <Mehr als alle ändern. Ein universaler Spezialist!> Warum schweigst du?» - Ulrich fand nichts zu sagen. - «Die Möglichkeit, die in dieser Auffassung liegt, hat mich überrascht. Übrigens bist doch gerade du auch so eine Art universaler Spezialist.

Du solltest deshalb den Arnheim nicht so vernachlässigen; denn am Ende empfängt dann die Parallelaktion noch von ihm eine rettende Idee, und das könnte gefährlich sein! Ich möchte es immer noch viel lieber sehen, wenn sie von dir käme!»

Und obwohl Stumm zuletzt beiweitem mehr als Ulrich gesprochen hatte, verabschiedete er sich mit den Worten: «Es ist mir wie immer ein Genuß gewesen, mit dir zu reden, denn du verstehst das alles de facto viel besser als andere!»

50 Genialität als Frage

[Fragment]

Ulrich hatte also dieses Gespräch seiner Schwester erzählt.

Und schon zuvor hatte er von Schwierigkeiten gesprochen, mit denen der Begriff der Genialität verknüpft ist. Was verleitete ihn dazu? Er wollte sich weder für ein Genie ausgeben noch sich höflich nach den Bedingungen erkundigen, unter denen man es werden könne. Im Gegenteil, er war eher davon überzeugt, daß der gewaltige zu seiner Zeit für den Ruf der Genialität verbrauchte Ehrgeiz kein Ausdruck der Geistesund Seelengröße sei, sondern bloß der eines Mißverhältnisses. Aber wie sich alle Lebensfragen der Gegenwart schier in ein undurchdringliches Dickicht ver-strüppen, so tun es auch die um das Geniale bestehenden; was teils die Gedanken einzudringen verlockte, teils an den Schwierigkeiten hängen bleiben ließ.

Ulrich war nach Beendigung seiner Erzählung sogleich wieder darauf zurückgekommen. Sicherlich muß, was genial ist, zumal bedeutend sein; denn genial ist die unter besonders auszeichnenden Umständen entstehende bedeutende Leistung; aber bedeutend ist nicht nur das Geringere, sondern auch das Allgemeinere. So war zuerst wieder nach diesem Begriff zu fragen. Schon die Worte Bedeutung und Bedeutend sind, wie alle, die viel benutzt werden, mehrsinnig. Einesteils sind sie mit den Begriffen des Denkens und Erkennens verbunden. Etwas bedeute etwas oder habe diese Bedeutung, besagt, daß es darauf hinweise, es zu verstehen gebe, anzeige, in bestimmten Fällen oder gar schlechthin zu vertreten vermöge, daß es das gleiche sei wie etwas anderes oder unter den gleichen Begriff falle und als dieses andere zu erkennen und aufzufassen sei. Allemal ist das eine vom Verstand erfaßbare und sein Wesen angehende Beziehung; und natürlich kann auf diese Art alles und jedes etwas bedeuten, wie es denn auch bedeutet werden kann. Andernteils gibt es das Wort Etwas bedeuten aber auch in dem Gebrauch, daß etwas Bedeutung habe oder von Bedeutung sei. Auch in diesem Sinn ist nichts davon ausgeschlossen. Nicht nur ein Gedanke kann bedeutend sein, sondern auch eine Tat, ein Werk, eine Persönlichkeit, eine Stellung, eine Tugend, und selbst eine einzelne Gemütseigenschaft. Der Unterschied gegen das andere Bedeuten ist dann der, daß dem Bedeutenden noch besonders ein Rang und Wert zugeschrieben wird.

Etwas sei bedeutend, heißt in diesem Sinn, es sei bedeutender als anderes, oder schlechthin, es sei ungewöhnlich bedeutend. Wonach wird das entschieden? Die Zuschreibung gibt zu verstehen, daß es einer 612

Hierarchie angehört, einer angestrebten Ordnung geistiger Gewalten; möge auch das erreichbare Maß der Ordnung in vielem so unzuverlässig sein, wie es in manchem streng ist. Gibt es diese Hierarchie?

Sie ist der menschliche Geist selbst; und zwar nicht als Naturbegriff, sondern als das, was objektiver Geist genannt wird.

Agathe fragte, was man darunter verstehe; es sei ein Begriff, womit Menschen, die wissenschaftlicher gebildet seien als sie, so herumwürfen, daß sie jedesmal den Kopf in die Schultern stecke.

Ulrich tat es ihr beinahe nach. Das Wort war ihm übermäßig geläufig. Es wurde in wissenschaftlichen und halbwissenschaftlichen Auseinandersetzungen damals so viel verwendet, daß es sich schier um sich selbst drehte. «Du lieber Himmel! du fängst an, gründlich zu werden!» erwiderte er. Ihm selbst war der Ausdruck eigentlich unbedacht über die Lippen geschlüpft.

Gewöhnlich versteht man unter objektivem Geist die Werke des Geistes, seinen durch die verschiedensten Zeichen verhältnismäßig beständig niedergelegten Anteil an der Welt, im Gegensatz zum subjektiven Geist als persönlicher Eigenschaft und persönlichem Erlebnis; oder man verstand, was nicht ganz vom ersten zu trennen war, den gültigen Geist darunter, den bewährbaren und wertbeständigen, im Gegensatz zu den Eingebungen der Laune und des Irrtums. Das berührte zwei Gegensätze, deren Bedeutung für Ulrichs Leben durchaus nicht bloß lehrhaft geblieben, sondern - was er wohl wußte und auch oft genug ausgesprochen hatte -höchst reizvoll-sorgenvoll geworden war. Was er gemeint hatte, hatte darum von beidem etwas.

Vielleicht hätte er seiner Schwester auch sagen können, daß man unter objektivem Geist alles verstehe, was der Mensch gedacht, geträumt und gewollt hat; es dabei aber nicht als Teile eines seelischen, geschichtlichen oder anderen zeitlich-wirklichen Ablaufs ansehe, und gewiß auch nicht als etwas Geistig-Übersinnliches, sondern lediglich an sich selbst, nach seinem eigensten Gehalt und Zusammenhang.

Auch was scheinbar dem widerspräche, am Ende aber das gleiche ist, hätte er sagen können, daß man es unter Vorbehalt aller Zusammenhänge und Ordnungen betrachte, deren es überhaupt fähig sei. Denn was etwas an und für sich bedeute oder sei, setzte er gleich dem Ergebnis, das aus den Bedeutungen zusammenwächst, die ihm unter allen möglichen Umständen zukommen können.

Man hat das aber bloß anders auszudrücken und hat bloß zu sagen, an und für sich wäre dann etwas gerade das, was es nie an und für sich, vielmehr je in Bezug auf seine Umstände sei, und ebenso auch, daß seine Bedeutung alles sei, was es bedeuten könne; man hat den Ausdruck also bloß auf die Spitze zu stellen, damit sogleich der Zweifel deutlich werde, der daran hängt. Denn natürlich ist es üblich, im Gegenteil vorauszusetzen, und wenn selbst nur aus sprachlicher Gepflogenheit, was etwas an und für sich sei, oder denn auch bedeute, bilde den Ursprung und Kern alles dessen, was sich in wechselnden Beziehungen von ihm aussagen läßt. Es war darum eine besondere Auffassung vom Wesen des Begriffs und des Bedeutens, von der sich Ulrich hatte führen lassen; und sie könnte denn auch, zumal weil sie nicht unbekannt ist, ungefähr so angegeben werden: Was immer unter dem Wesen des Begriffs von einer logischen Theorie verstanden werde, als Begriff von etwas ist er im Gebrauch nichts als der Gegenwert und die aufgespeicherte Bereitschaft zu allen wahren Aussagen von diesem Etwas, die möglich sind. Dieser Grundsatz, der das Verfahren der Logik umkehrt, ist «empiristisch», das heißt, er gemahnt, wenn man einen abgestempelten Namen für ihn verwenden soll, an diese bekannte Richtung des philosophischen Denkens, ohne jedoch ganz ebenso gemeint zu sein. Hätte nun Ulrich seiner Gefährtin erklären sollen, was Empirismus in seiner älteren Gestaltung sei, und was in seiner bescheideneren neuen, vielleicht verbesserten Fassung? Wie es oft geschieht, wenn ein Gedanke an Richtigkeit gewinnt, hat das schärfer werdende Denken auf falsche Antworten verzichtet, und auf einige tiefere Fragen auch.