Die Lage, in der sich Diotima damals befand, war aber die zwischen Arnheim und Tuzzi: eine wagrechte Lage, ließe sich bildhaft sagen, auf die der eine zuviel, der andere zuwenig Gewicht legte. Bei seiner Rückkunft hatte ja selbst Ulrich seine Kusine noch mit einer Kopfbinde und gewärmten Tüchern angetroffen; aber diese weiblichen Plagen, deren Stärke sie ahnend als den Einspruch ihres Körpers gegen die widerspruchsvollen Anleitungen begriff, die er von der Seele erhielte, halten in Diotima auch jene edle Entschlossenheit wachgerufen, die ihr eigen war, sobald sie nicht so sein wollte, wie jede andere Frau. Es war anfangs freilich fraglich, ob diese Aufgabe von der Seele oder vom Körper her in Angriff zu nehmen, ob sie besser durch eine Veränderung des Verhaltens gegen Arnheim oder gegen Tuzzi zu beantworten sei; aber das entschied sich mit Hilfe der Welt, denn während ihr die Seele und deren Liebesrätsel wie ein Fisch entschlüpften, den man in der bloßen Hand halten will, fand die suchende Leidende zu ihrer Überraschung 482

reichlichen Rat in den Büchern des Zeitgeistes, als sie sich zum erstenmal entschlossen hatte, ihr Schicksal am körperlichen anderen Ende anzupacken, das durch ihren Gatten dargestellt wurde. Sie hatte nicht gewußt, daß unsere Zeit, der sich vermutlich der Begriff der Liebesleidenschaft entrückt hat, weil er eher ein religiöser als ein sexueller ist, es als kindisch verschmäht, sich noch mit der Liebe zu beschäftigen, dafür aber ihre Anstrengungen an die Ehe wendet, deren natürliche Vorgänge sie in allen Abwandlungen mit frischer Ausführlichkeit untersucht. Schon damals waren viele jener Bücher entstanden, die mit dem reinen Sinn eines Turnlehrers von den «Umwälzungen im Geschlechtsleben» sprechen und den Menschen dazu verhelfen wollen, verheiratet und dennoch vergnügt zu sein. In diesen Büchern hießen Mann und Frau nur noch «der männliche und der weibliche Keimträger» oder auch «die Geschlechtspartner», und die Langweile, die zwischen ihnen durch allerhand geistigkörperliche Abwechslung vertrieben werden sollte, taufte man «das sexuelle Problem». Als Diotima in diese Literatur eindrang, krauste sich ihr erst die Stirn, dann aber glättete sich diese; denn es war ein Stoß in den Ehrgeiz, daß ihr eine beginnende große Bewegung des Zeitgeistes bisher entgangen sei, und endlich faßte sich die Hingerissene an die Stirn vor Staunen darüber, daß sie es wohl verstanden habe, der Welt ein Ziel zu schenken (wenn auch noch immer nicht entschieden war, welches), aber noch nie darauf gekommen sei, daß man auch die entnervenden Unannehmlichkeiten der Ehe mit geistiger Überlegenheit behandeln könne. Diese Möglichkeit entsprach sehr ihren Neigungen und gab ihr plötzlich die Aussicht, das Verhältnis zu ihrem Gatten, das sie bisher nur als ein Leiden empfunden hatte, als eine Wissenschaft und Kunst zu behandeln.

«Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nahe liegt» meinte Bonadea und bekräftigte es mit der ihr eigenen Vorliebe für Gemeinplätze und für Zitate. Denn es war dann so gekommen, daß sie bald von der schutzbereiten Diotima als deren Schülerin in solchen Fragen angenommen und behandelt wurde. Das geschah nach dem pädagogischen Grundsatz, zu lernen, indem man lehrt, und verhalf einesteils Diotima andauernd dazu, aus den vorläufig noch recht ungeordneten und ihr selbst unklaren Eindrücken ihrer neuen Belesenheit etwas herauszufinden, wovon sie felsenfest überzeugt war, - geleitet von dem glücklichen Geheimnis der «Intuition», daß man ins Schwarze trifft, wenn man ins Blaue redet; andernteils geriet aber auch Bonadea dabei in einen Vorteil, der ihr jene Rückwirkung ermöglichte, ohne die der Schüler selbst für den besten Lehrer unfruchtbar bleibt: ihr reiches praktisches Wissen bedeutete, wenn sie auch vorsichtig damit zurückhielt, für die Theoretikerin Diotima eine ängstlich beobachtete Erfahrungsquelle, seit die Gattin des Sektionschefs Tuzzi daran gegangen war, an Hand der Bücher die Entwicklung ihrer Ehe zu berichtigen. «Schau, ich bin ja sicher viel weniger gescheit als sie, » erläuterte es Bonadea «aber oft stehen in ihren Büchern Sachen, von denen selbst ich keine Ahnung gehabt hab, und das macht sie manchmal so verzagt, daß sie mit Bedauern sagt: <Das läßt sich eben nicht am grünen Tisch des Ehebetts entscheiden, sondern dazu gehört leider eine große, am lebenden Material geschulte Sexualerfahrung und Sexualpraxis!>»

«Aber, um Himmelswillen, » rief Ulrich aus, den das Lachen schon bei der Vorstellung überwältigte, daß sich seine keusche Kusine in die «Sexualwissenschaft» verirrt habe «was will sie denn eigentlich?»

Bonadea sammelte ihre Erinnerungen an die glückliche Verbindung der wissenschaftlichen Interessen der Zeit mit einer gedankenlosen Ausdrucksweise. «Es handelt sich um die beste Ausbildung und Verwaltung ihres Sexualtriebes» entgegnete sie dann im Geist ihrer Lehrerin. «Und sie vertritt die Überzeugung, daß der Weg zu einer beschwingten und harmonischen Erotik durch härteste Selbsterziehung führen muß. »

«Ihr erzieht euch mit Bedacht? Und noch dazu aufs härteste!? Du sprichst ja großartig!» rief Ulrich abermals aus. «Aber sei so freundlich, mir zu erklären, wozu sich Diotima erzieht?»

«In erster Linie erzieht sie natürlich ihren Mann!» verbesserte ihn Bonadea.

«Der Arme!» dachte Ulrich unwillkürlich und bat: «Also möchte ich dann wissen, wie sie das macht: Sei doch nicht auf einmal zurückhaltend!»

Wirklich fühlte sich Bonadea bei diesen Fragen durch Ehrgeiz gehemmt wie ein Vorzugsschüler im Examen. «Ihre Sexualatmosphäre ist vergiftet» erklärte sie vorsichtig. «Und wenn sie diese Atmosphäre retten soll, so geht das nur noch so, daß Tuzzi und sie ihr Handeln auf das sorgfältigste überprüfen. Es gibt da keine allgemeinen Regeln. Man muß sich bemühen, den anderen in seinen Lebensreaktionen zu beobachten. Und um richtig beobachten zu können, muß man eine gewisse Einsicht in das Geschlechtsleben haben. Man muß die praktisch erworbene Erfahrung mit dem Niederschlag theoretischer Forschung vergleichen können, sagt Diotima. Es gibt eben heute eine neue, veränderte Einstellung der Frau 483

zum sexuellen Problem: sie verlangt vom Mann nicht nur ein Tun, sondern ein Tun aus richtiger Erkenntnis des Weiblichen verlangt sie!» Und um Ulrich abzulenken oder weil es ihr selbst Spaß machte, fügte sie erheitert hinzu: «Stell dir bloß vor, wie das auf ihren Mann wirken muß, der von diesen neuen Sachen nicht die leiseste Ahnung hat und das meiste darüber beim Auskleiden im Schlafzimmer erfährt, wenn Diotima, sagen wir, im halb aufgelösten Haar die Nadeln sucht und die Röcke zwischen die Beine geklemmt hat und plötzlich davon zu sprechen anfängt. Ich habe das an meinem Mann nachgeprüft, und er ist beinahe erstickt daran: das eine kann man also zugeben, wenn schon <Dauerehe> sein soll, dann hat sie wenigstens den Vorzug, daß sie aus dem Lebenspartner den ganzen erotischen Gehalt herausholt; und das ist es, worum sich Diotima bei Tuzzi bemüht, der ein bisserl unfein ist. »

«Eine harte Zeit ist für eure Männer angebrochen!» neckte sie Ulrich.

Bonadea lachte, und er merkte daran, wie froh sie wäre, gelegentlich dem drückenden Ernst ihrer Liebesschule entwischen zu können.

Aber Ulrichs Forscherwille ließ noch nicht locker; erfühlte heraus, daß seine veränderte Freundin über etwas schweige, worüber sie im Grunde viel lieber gesprochen hätte. Er machte den vertraulichen Einwand, daß dem Vernehmen nach der Fehler der beiden in Mitleidenschaft gezogenen Ehemänner bisher doch eher in einem zu großen «erotischen Gehalt» bestanden haben solle.

«Ja, du denkst eben auch immer nur das!» belehrte ihn Bonadea und begleitete es mit einem Blick, dessen lange Spitze am Ende ein Häkchen hatte, was man ganz gut als Bedauern über ihre gewonnene Unschuld auslegen konnte. «Du mißbrauchst ja auch den physiologischen Schwachsinn des Weibes!»

«Was mißbrauche ich? Da hast du ja ein prächtiges Wort für die Geschichte unserer Liebe gefunden!»

Bonadea gab ihm eine kleine Ohrfeige und ordnete mit nervösen Fingern vor dem Spiegel ihr Haar. Aus dem Glas ihn anblickend, sagte sie: «Das ist aus einem Buch!»

«Natürlich. Aus einem sehr bekannten. »

«Aber Diotima bestreitet das. Sie hat in einem anderen Buch etwas gefunden; das heißt: <Die physiologische Minder-Wertigkeit des Mannes». Dieses Buch ist von einer Frau geschrieben. Glaubst du, daß es wirklich eine so große Rolle spielt?»

«Ich ahne nicht, was, und kann keinen Ton antworten!»

«Also gib acht! Diotima geht von einer Entdeckung aus, die sie <die ständige Lustbereitschaft der Frau> nennt. Du kannst dir darunter etwas vorstellen?»

«Bei Diotima nicht!»

«Sei nicht so unfein!» tadelte ihn seine Freundin. «Diese Theorie ist sehr delikat, und ich muß mich bemühen, sie dir so zu erklären, daß du keine falschen Schlüsse aus dem Umstand ziehst, daß ich dabei mit dir allein in deiner Wohnung bin. Also diese Theorie beruht darauf, daß eine Frau auch dann geliebt werden kann, wenn sie nicht will. Verstehst du jetzt?»

«Ja. »

«Das läßt sich leider auch nicht leugnen. Hingegen soll der Mann sehr oft, auch wenn er lieben will, nicht können. Diotima sagt, daß das wissenschaftlich bewiesen sei. Glaubst du das?»

«Es soll vorkommen. »

«Ich weiß nicht?» zweifelte Bonadea. «Aber Diotima sagt, wenn man das im Licht der Wissenschaft betrachtet, so versteht es sich von selbst. Denn im Gegensatz zur beständigen Lustbereitschaft der Frau ist der Mann, also kurz gesagt, des Mannes männlichster Teil, sehr leicht einzuschüchtern. » Ihr Gesicht war bronzefarben, als sie es jetzt vom Spiegel abwandte.

«Mich wundert das von Tuzzi» meinte Ulrich ablenkend.

«Ich glaube auch nicht, daß das früher so war, » sagte Bonadea «sondern das kommt als eine nachträgliche Bestätigung von der Theorie, weil sie ihm die alle Tage vorhält. Sie nennt das die Theorie des <Fiasko>.

Denn weil der männliche Keimträger so leicht dem Fiasko verfällt, fühlt er sich nur dort sexuell sicher, wo er keine wie immer geartete seelische Überlegenheit der Frau zu befürchten hat, und darum haben Männer fast nie den Mut, es mit einer menschlich gleichwertigen Frau aufzunehmen. Zumindest versuchen sie gleich, sie niederzudrücken. Diotima sagt, daß das Leitmotiv aller männlichen Liebeshandlungen, und besonders das der männlichen Überheblichkeit, die Angst ist. Große Männer zeigen sie; damit meint sie den Arnheim. Kleinere verschleiern sie hinter brutaler körperlicher Anmaßung und mißbrauchen das Seelenleben der Frau: damit meine ich dich! Und sie den Tuzzi. Dieses gewisse < Augenblicklich - oder 484

nie !> womit ihr uns so oft zu Fall bringt, ist nur eine Art Überkomp —» Kompresse wollte sie sagen,

«Kompensation» half Ulrich aus.

«Ja. Damit entzieht ihr euch dem Eindruck eurer körperlichen Minderwertigkeit!»

«Und was habt ihr zu tun beschlossen?» fragte Ulrich ergeben.

«Man muß sich bemühen, nett zu den Männern zu sein! Und darum bin ich ja auch zu dir gekommen. Wir werden sehen, wie du das aufnimmst!?»

«Aber Diotima?»

«Gott, was geht dich denn Diotima an! Der Arnheim macht Augen wie ein Schneck, wenn sie ihm sagt, daß die geistig höchststehenden Männer leider nur bei minderwertigen Frauen ihre volle Befriedigung zu finden scheinen, während sie bei seelisch gleichgestellten Frauen versagen, was durch die Frau von Stein und die Vulpius wissenschaftlich bewiesen ist. (Siehst du, jetzt macht mir der Name keine Schwierigkeiten mehr.

Aber daß sie die bekannte Sexualpartnerin des alternden Olympiers gewesen ist, habe ich natürlich immer gewußt!)»

Ulrich suchte das Gespräch noch einmal auf Tuzzi zu lenken, um es von sich zu entfernen. Bonadea begann zu lachen; sie war nicht ohne Verständnis für die jammervolle Lage dieses Diplomaten, der ihr als Mann ganz gut gefiel, und empfand Schadenfreude und Spießgesellenschaft darüber, daß er unter der Zuchtrute der Seele zu leiden hatte. Sie erzählte, daß Diotima in der Behandlung ihres Gatten von der Voraussetzung ausgehe, daß sie ihn von der Angst vor ihr befreien müsse, und daß sie sich dadurch auch ein wenig mit seiner <sexuellen Brutalität> ausgesöhnt habe. Sie gebe zu, den Fehler ihres Lebens darin erkannt zu haben, daß ihre Bedeutung zu groß für das naive Überlegenheitsbedürfnis ihres männlichen Eheteils sei, und sei daran gegangen, das zu mildern, indem sie ihre seelische Überlegenheit jetzt hinter anpassungsfähiger erotischer Koketterie verberge.

Ulrich fragte lebhaft dazwischen, was sie darunter verstehe.

Bonadeas Blick grub sich ernst in sein Gesicht. «Zum Beispiel sagt sie ihm: <Unser Leben ist bisher durch den Wettstreit um unsere persönliche Geltung verdorben worden. > Und dann gibt sie ihm zu, daß die vergiftende Wirkung des männlichen Geltungsstrebens auch das ganze öffentliche Leben beherrscht—»

«Aber das ist doch weder kokett noch erotisch?!» wandte Ulrich ein.

«Doch! Denn du mußt bedenken, daß sich ein Mann, wenn er wirklich leidenschaftlich ist, gegen eine Frau wie ein Henker gegen sein Opfer beträgt. Das gehört zum Geltungsstreben, wie man das jetzt nennt. Und anderseits wirst du nicht leugnen, daß der Sexualtrieb auch für die Frau wichtig ist?!»

«Natürlich nicht!»

«Schön. Aber die sexuelle Beziehung verlangt zu ihrem beglückenden Verlauf ein Gleich und Gleich. Man muß den Liebespartner, wenn man eine glückhafte Umarmung aus ihm herausholen will, als gleichberechtigt gelten lassen, und nicht nur als eine willenlose Ergänzung für sich selbst» fuhr sie fort, in die Ausdrucksweise ihrer Meisterin geraten, wie sich ein Mensch auf einer glatten Fläche von seiner eigenen Bewegung unwillkürlich und geängstigt fortgeführt sieht. «Denn wenn schon keine andere menschliche Beziehung ein ständiges Drücken und Gedrücktwerden verträgt, um wieviel weniger verträgt das erst die sexuelle —!»

«Oho!» widersprach Ulrich.

Bonadea preßte seinen Arm, und ihr Auge funkelte wie ein stürzender Stern. «Schweig still!» stieß sie hervor. «Es fehlt euch allen die selbsterlebte Kenntnis der weiblichen Psyche! Und wenn du willst, daß ich dir weiter von deiner Kusine erzähle —»: aber da war sie auch am Ende ihrer Kraft, und jetzt funkelten ihre Augen wie die einer Tigerin, an deren Käfig man Fleisch vorbeiträgt. «Nein, ich kann das selbst nicht mehr hören!» rief sie aus.

«Spricht sie wirklich so?» fragte Ulrich. «Hat sie das wirklich gesagt?»

«Aber jeden Tag höre ich ja nichts als Sexualpraxis, geglückte Umarmung, springende Punkte der Liebe, Drüsen, Sekrete, verdrängte Wünsche, erotisches Training und Regulierung des Sexualtriebs!

Wahrscheinlich hat jeder die Sexualität, die er verdient, wenigstens behauptet das deine Kusine, aber muß ich denn durchaus eine so hohe verdienen?!»

Ihr Blick hielt den ihres Freundes fest. «Ich glaube, du mußt nicht» behauptete Ulrich langsam.

«Schließlich könnte man doch auch sagen, daß meine starke Erlebnisfähigkeit einen physiologischen Überwert darstellt?» fragte Bonadea mit einem glücklich-zweideutigen Auflachen.

485

Zu einer Antwort kam es nicht mehr. Als sich in Ulrich längere Zeit danach ein Widerstand fühlen machte, sprühte durch die Ritzen an den Fenstern der lebendige Tag, und wenn man dorthin blickte, glich das verdunkelte Zimmer der Grabkammer eines Gefühls, das bis zur Unkenntlichkeit verschrumpft war.

Bonadea lag mit geschlossenen Augen da und gab kein Lebenszeichen mehr. Die Empfindungen, die sie jetzt von ihrem Körper hatte, waren nicht unähnlich denen eines Kindes, dessen Trotz durch Prügel gebrochen worden ist. Jeder Zoll ihres Leibes, der völlig satt und zerschlagen war, verlangte nach der Zärtlichkeit einer moralischen Vergebung. Von wem? Bestimmt nicht von dem Mann, in dessen Bett sie lag und den sie angefleht hatte, sie zu töten, weil ihre Lust durch keine Wiederholung und Steigerung zu brechen war. Sie hielt die Augen geschlossen, um ihn nicht sehen zu müssen. Bloß versuchsweise dachte sie: «Ich liege in seinem Bett!» Das und: «Ich lasse mich nie wieder daraus vertreiben!» hatte sie vor kurzem innerlich geschrien; jetzt drückte es bloß eine Lage aus, aus der nicht ohne peinliche Vorgänge herauszukommen war, die ihr noch bevorstanden. Bonadea knüpfte träge und langsam ihre Gedanken dort an, wo sie abgerissen waren.

Sie dachte an Diotima. Allmählich kamen ihr Worte in den Sinn, ganze Sätze und Bruchstücke von Sätzen, meist aber nur das Gefühl der Genugtuung über ihr Dasein, wenn solche unverständliche und unerinnerbare Worte wie Hormone, Glandeln, Chromosome, Zygoten oder innere Sekretion an ihrem Ohr in ganzen Gesprächen vorbeirauschten. Denn die Keuschheit ihrer Lehrerin kannte keine Grenzen, sobald diese durch wissenschaftliche Beleuchtung verwischt wurden. Diotima war imstande, vor ihren Zuhörern zu sagen:

«Das Geschlechtsleben ist kein zu erlernendes Handwerk, es soll uns immer die höchste Kunst bleiben, die zu erlernen uns im Leben gegeben ist!», aber dabei ebensowenig Unwissenschaftliches zu fühlen, wie wenn sie im Eifer von einem «heranzuziehenden» oder einem «schweren Punkt» sprach. Und an solche Ausdrücke erinnerte sich ihre Schülerin nun mit Genauigkeit. Kritische Beleuchtung der Umarmung, körperliche Klärung der Lage, reizbare Zonen, Weg zur Höchstbeglückung der Frau, gut disziplinierte, auf ihre Partnerin achtsame Männer…: Bonadea war sich vor ungefähr einer Stunde von diesem wissenschaftlichen, geistigen und hochvornehmen Ausdrücken, die sie sonst bewunderte, auf das gemeinste betrogen vorgekommen. Sie hatte zu ihrer Überraschung erst mit Bewußtsein bemerkt, daß diese Worte nicht für die Wissenschaft, sondern auch für das Gefühl eine Bedeutung haben, als aus deren unbeaufsichtigter Gefühlsseite schon die Flammen züngelten. Sie hatte da Diotima gehaßt. «Über so etwas zu reden, daß man alle Lust daran verlieren muß!» hatte sie gedacht, und unter gräßlichen Rachgefühlen war es ihr nicht anders erschienen, als daß Diotima, die selbst vier Männer habe, ihr gar nichts gönne und sie auf diese Weise hinters Licht führe. Ja, Bonadea hatte die Aufklärung, durch deren Hilfe die Sexualwissenschaft mit den dunklen Geschlechtsvorgängen aufräumt, wahrhaftig für ein Ränkespiel Diotimas gehalten. Sie konnte das jetzt ebensowenig verstehen wie das leidenschaftliche Verlangen nach Ulrich. Sie suchte sich die Augenblicke zu vergegenwärtigen, wo alle ihre Gedanken und Empfindungen ins Rasen geraten waren: ähnlich unverständlich mag sich ein Verblutender vorkommen, wenn er an die Ungeduld zurückdenkt, die ihn verleitet hat, den schützenden Verband abzureißen! Bonadea dachte an Graf Leinsdorf, der die Ehe ein hohes Amt genannt und Diotimas von ihr handelnde Bücher mit einer Rationalisierung des Dienstweges verglichen hatte; sie dachte an Arnheim, der ein Multimillionär war und die Wiederbelebung der ehelichen Treue aus der Idee des Körpers eine echte Zeitnotwendigkeit genannt hatte; und sie dachte an die vielen anderen berühmten Männer, die sie in dieser Zeit kennengelernt hatte, ohne sich auch nur zu erinnern, ob sie kurze oder lange Beine hatten oder fett oder hager waren: denn sie sah nur den strahlenden Begriff der Berühmtheit an ihnen, der von einer Ungewissen körperlichen Masse ähnlich ergänzt wurde, wie man den zarten Wänden einer gebratenen jungen Taube durch eine dicke, von Krautern geäderte Fülle Inhalt gibt. Bei solchen Erinnerungen schwur sich Bonadea, daß sie nie wieder die Beute eines dieser jäh auftretenden Stürme sein wolle, die Oben und Unten zusammenschlügen, und sie schwor sich das so lebhaft zu, daß sie sich schon, sofern sie nur streng bei ihren Vorsätzen bliebe, im Geist und ohne körperliche Bestimmtheit als die Geliebte des feinsten aller Männer sah, den sie sich aus den Verehrern ihrer großen Freundin heraussuchen wollte. Da es aber vorläufig nicht zu leugnen war, daß sie noch in wenig bekleidetem Zustand im Bette Ulrichs lag, ohne die Augen öffnen zu wollen, ging dieses reichhaltige Gefühl einer willigen Zerknirschung, statt sich weiter ins Tröstliche zu entwickeln, in einen jämmerlichen und aufreizenden Ärger über.

Die Leidenschaft, durch deren Wirken Bonadeas Leben in solche Gegensätze aufgeteilt wurde, entsprang 486

zutiefst nicht der Sinnlichkeit, sondern dem Ehrgeiz. Darüber dachte Ulrich nach, der seine Freundin gut kannte, und schwieg, um nicht ihre Vorwürfe zu wecken, während er ihr Gesicht betrachtete, das seinen Blick vor ihm verbarg. Die Urform aller ihrer Begierden erschien ihm als eine Ehrbegierde, die sich in falsche Bahnen, ja sogar wortlich in falsche Nervenbahnen verirrt habe. Und warum sollte sich nicht wirklich ein sozialer Rekordehrgeiz, der sonst Triumphe darin feiern darf, die größte Menge Bier zu trinken oder sich die größten Edelsteine an den Hals zu hängen, einmal auch wie bei Bonadea als Nymphomanie äußern können?! Diese Äußer-rungsform hatte sie nun, nachdem es geschehen war, mit Bedauern zurückgenommen, das sah er ein, und er verstand auch recht gut, daß gerade Diotimas umständliche Unnatur ihr, die der Teufel immer auf ungesatteltem Fleisch geritten hatte, paradiesisch imponieren mußte.

Er betrachtete ihre Augäpfel, die ausgetobt und schwer in ihren Säcken lagen; er sah die bräunliche Nase vor sich, die sich mit Entschiedenheit aufschwang, und die roten, zugespitzten Löcher darin; er gewahrte etwas verwirrt die verschiedenen Linien dieses Leibes: die, wo auf dem geraden Korsett der Rippen der runde, große Busen lag; die, wo aus der Zwiebel der Hüften der gehöhlte Rücken wuchs; die der spitzen, steifen Na-gelbrettchen über den sanften Kuppen der Finger. Und während er schließlich mit Abscheu lange Zeit einige kleine Haare betrachtete, die aus den vor seinen Augen liegenden Nasenlöchern seiner Geliebten sproßten, beschäftigte auch ihn die Erinnerung, wie verführerisch der gleiche Mensch vor kurzem auf seine Begierde gewirkt habe. Das lebendigzweideutige Lächeln, mit dem Bonadea zu der

«Aussprache» erschienen war, die natürliche Art, in der sie alle Vorwürfe abwehrte oder eine Neuigkeit von Arnheim zum besten gab, ja die diesmal beinahe witzige Genauigkeit ihrer Beobachtungen: sie hatte sich wirklich zu ihrem Vorteil verändert, sie schien unabhängiger geworden zu sein, die in die Höhe und die in die Tiefe ziehenden Kräfte hielten sich an ihr in einem freieren Gleichgewicht, und dieser Mangel an moralischer Schwere hatte Ulrich, der in letzter Zeit unter seinem eigenen Ernst sehr gelitten hatte, wohltuend erfrischt; er konnte selbst jetzt noch fühlen, wie gern er ihr zugehört und das Spiel des Ausdrucks auf ihrem Gesicht betrachtet hatte, das wie Sonne und Wellen war. Und plötzlich fiel ihm ein, während sein Blick das nun grämlich gewordene Gesicht Bonadeas betrachtete, daß eigentlich bloß ernste Menschen böse sein können. «Heitere Menschen» dachte er «könnte man schlechtweg davor gesichert nennen. So wie der Intrigant immer Baß singt!» Irgendwie bedeutete das auf eine nicht ganz geheuerliche Weise auch für ihn selbst, daß tief und finster zusammenhingen; denn es ist sicher, daß jede Schuld erleichtert wird, wenn sie ein heiterer Mensch «von der leichten Seite» begeht, andererseits mochte es aber auch sein, daß dies nur in der Liebe gelte, wo die schwerblütigen Verführer viel zerstörender und unverzeihlicher wirken als die leichtsinnigen, auch wenn sie bloß das gleiche tun. So dachte er hin und her und war nicht nur enttäuscht davon, daß die leicht begonnene Stunde der Liebe in Trübnis endete, sondern auch unerwartet belebt.

Darüber vergaß er die gegenwärtige Bonadea, ohne daß er recht wußte wie, und hatte ihr, den Kopf auf den Arm gestützt und den Blick durch die Wände auf ferne Dinge gerichtet, nachdenklich den Rücken zugekehrt, als sie sich durch sein vollkommenes Schweigen bewogen fühlte, die Augen zu öffnen. In diesem Augenblick dachte er ahnungslos daran, daß er einmal auf einer Reise ausgestiegen sei, ohne an sein Ziel zu kommen, denn ein durchsichtiger Tag, der die Umgebung kupplerisch geheimnisvoll entschleierte, hatte ihn vom Bahnhof fort zu einem Spaziergang verlockt, um ihn mit beginnender Nacht zu verlassen, wo er sich ohne Gepäck in einem stundenweit entfernten Ort vorfand. Überhaupt glaubte er sich zu erinnern, daß er immer die Eigenschaft gehabt habe, unberechenbar lange auszubleiben und nie auf dem gleichen Weg zurückzukehren; und dabei fiel plötzlich von einer ganz fernen Erinnerung, die auf einer Stufe der Kindheit lag, an die er sonst niemals gelangte, Licht in sein Leben. Im Spalt einer unermeßlich kleinen Zeit meinte er das geheimnisvolle Verlangen wieder zu fühlen, von dem ein Kind auf einen Gegenstand zugeführt wird, den es sieht, um ihn zu berühren oder gar in den Mund zu stecken, womit dann der Zauber wie in einer Sackgasse endet; ebensolange kam es ihm wahrscheinlich vor, daß auch das Verlangen der Erwachsenen nichts Besseres und nichts Schlechteres sei, das sie auf jede Ferne zutreibt, um sie in Nähe zu verwandeln, wie es ihn selbst beherrschte und sich durch eine gewisse, von Neugierde bloß maskierte, Inhaltlosigkeit eigentlich deutlich als einen Zwang kennzeichnete; und dieses Grundbild wandelte sich endlich zum dritten Mal in dem ungeduldigen und enttäuschenden Geschehen ab, auf das, von ihnen beiden ungewollt, das Wiedersehen mit Bonadea hinausgelaufen war. Dieses Nebeneinander in einem Bett Liegen kam ihm jetzt höchst kindisch vor. «Aber was bedeutet dann der Gegensatz dazu, die reglose, die luftstille 487

Fernliebe, die so unkörperlich ist wie ein Frühherbsttag?» fragte er sich. «Wahrscheinlich auch nur ein verändertes Kinderspiel» dachte er zweifelnd, und erinnerte sich an die buntgedruckten Tiere, die er als Kind seliger geliebt hatte als heute seine Freundin. Aber da hatte nun Bonadea gerade genug von seinem Rücken gesehn, um ihr Unglück daran zu ermessen, und sprach ihn mit den Worten an: «Du bist schuld gewesen !»

Ulrich wandte sich lächelnd zu ihr und erwiderte ohne Überlegen: «In einigen Tagen wird meine Schwester kommen und bei mir wohnen bleiben: habe ich dir das schon mitgeteilt? Wir werden uns dann kaum sehen können. »

«Wie lange?» fragte Bonadea.

«Dauernd» antwortete Ulrich und lächelte wieder.

«Und?» meinte Bonadea. «Was soll das denn hindern? Vielleicht wirst du mir einreden, daß dir deine Schwester nicht erlaubt, eine Geliebte zu haben!»

«Gerade das will ich dir einreden» sagte Ulrich.

Bonadea lachte. «Ich bin heute harmlos zu dir gekommen, und du hast mich nicht einmal zu Ende erzählen lassen!!» hielt sie ihm vor.

«Meine Natur ist als eine Maschine angelegt, die unaufhörlich Leben entwertet! Ich will einmal anders sein!» entgegnete Ulrich. Sie konnte das unmöglich verstehn, doch erinnerte sie sich jetzt trotzig, daß sie Ulrich liebe. Mit einemmal war sie nicht mehr das schwankende Phantom ihrer Nerven, sondern fand eine überzeugende Natürlichkeit und sagte schlicht: «Du hast ein Verhältnis mit ihr angefangen!»

Ulrich verwies es ihr; ernster, als er wollte. «Ich habe mir vorgenommen, lange. Zeit keine Frau anders zu lieben, als wäre sie meine Schwester» erklärte er und schwieg.

Dieses Schweigen machte durch seine Dauer auf Bonadea einen Eindruck größerer Entschlossenheit, als ihm vielleicht durch seinen Inhalt zukam.

«Aber du bist ja pervers!» rief sie plötzlich im Ton einer warnenden Prophezeiung aus und sprang aus dem Bett, in Diotimas Weisheitsschule der Liebe zurückzueilen, deren Pforten der reuig Erfrischten ahnungslos offenstanden.

24

Agathe ist wirklich da

Am Abend dieses Tags traf ein Telegramm ein, und am nächsten Nachmittag Agathe.

Ulrichs Schwester kam nur mit wenigen Koffern an, so wie sie es sich ausgemalt hatte, alles hinter sich zu lassen; immerhin entsprach die Anzahl der Koffer nicht ganz dem Vorsatz: Wirf alles, was du hast, ins Feuer bis zu den Schuhen. Als Ulrich von diesem Vorsatz erfuhr, lachte er darüber: sogar zwei Hutschachteln waren dem Feuer entronnen.

Agathes Stirn bekam den lieblichen Ausdruck einer Kränkung und vergeblichen Nachdenkens über sie.

Ob Ulrich recht hatte, als er den unvollkommenen Ausdruck eines Gefühls bemängelte, das groß und hinreißend gewesen war, blieb dabei ungewiß, denn Agathe verschwieg diese Frage; Fröhlichkeit und Unordnung, wie sie durch ihre Ankunft unwillkürlich erregt wurden, rauschten ihr in Ohren und Augen, wie ein Tanz um eine Blechmusik schwankt: sie war sehr heiter und fühlte sich leicht enttäuscht, obwohl sie nichts Bestimmtes erwartet und sich während der Reise sogar mit Absicht aller Erwartungen enthalten hatte.

Sie wurde nur plötzlich sehr müde, als sie sich an die vergangene Nacht erinnerte, die sie durchwacht hatte.

Es war ihr recht, daß ihr Ulrich nach einiger Zeit gestehen mußte, er habe, als die Nachricht von ihr eingetroffen sei, eine auf den heutigen Nachmittag gelegte Verabredung nicht mehr abändern können; er versprach, in einer Stunde wieder zurück zu sein, und bettete seine Schwester mit einer zum Lachen reizenden Umständlichkeit auf den Diwan, der in seinem Arbeitszimmer stand.

Als Agathe erwachte, war die Stunde längst schon um, und Ulrich fehlte. Das Zimmer war in tiefe Dämmerung getaucht und erschien ihr so fremd, daß sie über den Gedanken erschrak, sie befände sich doch mitten in dem von ihr erwarteten neuen Leben. Soviel sie wahrnehmen konnte, waren die. Wände von Büchern bedeckt wie früher die ihres Vaters und die Tische mit Schriften. Sie schloß neugierig eine Tür auf und betrat den benachbarten Raum: Sie traf dort auf Kleiderschränke, Stiefelkasten, den Boxball, Hanteln, 488

eine schwedische Leiter. Sie ging weiter und kam wieder zu Büchern. Sie gelangte zu den Wassern, Essenzen, Bürsten und Kämmen des Badezimmers, zu ihres Bruders Bett, zu dem jagdlichen Schmuck im Hausflur. Ihre Spur war durch aufflammendes und verlöschendes Licht gekennzeichnet, aber der Zufall wollte es, daß Ulrich nichts davon bemerkte, obwohl er schon im Hause war; er hatte den Vorsatz, sie zu wecken, aufgeschoben, um ihr länger Ruhe zu gönnen, und stieß nun mit ihr in der Treppenhalle zusammen, zu der er aus der wenig benutzten, unter der Erde gelegenen Küche emporkam. Er hatte sich dort nach einer Erfrischung für sie umgesehen, da es an diesem Tag kraft fehlender Voraussicht selbst an der notwendigsten Bedienung im Hause gebrach. Als sie nebeneinander standen, fühlte Agathe erst die bisher ohne Ordnung empfangenen Eindrücke sich zusammenfassen, und es geschah mit einem Unbehagen, das sie verzagt machte, als wäre es das beste, sogleich Fersengeld zu geben. Es war etwas teilnahmslos, in gleichgültigen Launen Angehäuftes in diesem Haus, das sie erschreckte.

Ulrich, der es bemerkte, entschuldigte sich dafür und gab scherzhafte Erklärungen. Er erzählte, wie er zu seiner Wohnung gekommen sei, und erläuterte deren Geschichte im einzelnen, mit den Hirschgeweihen beginnend, die er besaß, ohne auf die Jagd zu gehen, bis zum Boxball, den er vor Agathe tanzen ließ.

Agathe sah sich alles mit beunruhigendem Ernst noch einmal an und wandte sogar jedesmal, wenn sie einen Raum verließen, prüfend den Kopf zurück: Ulrich wollte dieses Examen ergötzlich finden, aber mit der Wiederholung wurde ihm seine Wohnung dadurch peinlich. Es zeigte sich, was sonst von Gewohnheit verdeckt war, daß er nur die nötigsten Räume bewohnte und die übrigen wie ein nachlässiger Aufputz an diesen hingen. Als sie nach dem Rundgang beisammen saßen, fragte Agathe: «Warum hast du es aber getan, wenn es dir nicht gefällt?»

Ihr Bruder versorgte sie mit Tee und allem, was das Haus bot, und ließ es sich nicht nehmen, sie wenigstens nachträglich wirtlich zu empfangen, damit diese zweite Begegnung an leiblicher Aufmerksamkeit nicht hinter der ersten zurückstehe. Hin und her laufend, beteuerte er: «Ich habe alles leichtfertig, falsch und so eingerichtet, daß es in keiner Weise mit mir zusammenhängt. »

«Aber es ist ja doch alles sehr hübsch» tröstete ihn jetzt Agathe.

Nun meinte Ulrich, daß es anders wahrscheinlich noch schlechter ausgefallen wäre. «Ich mag Wohnungen nicht leiden, die seelisch nach Maß gemacht sind» erklärte er. «Ich käme mir darin vor, als ob ich auch mich selbst bei einem Innenarchitekten bestellt hätte!»

Und Agathe sagte: «Ich habe auch vor solchen Wohnungen Angst. »

«Trotzdem kann es ja nicht so bleiben» berichtigte Ulrich. Er saß jetzt bei ihr am Tisch, und schon damit, daß sie nun immer gemeinsam essen sollten, waren eine Menge Fragen verbunden. Er war eigentlich erstaunt über die Erkenntnis, daß nun wirklich vieles anders werden müsse; er empfand es als eine ganz ungewohnte Leistung, die ihm abverlangt wurde, und hatte anfangs den Eifer des Neulings. «Ein Mensch allein» entgegnete er auf die nachsichtige Bereitwilligkeit seiner Schwester, alles zu lassen, wie es sei

«kann eine Schwäche haben: sie geht zwischen seine übrigen Eigenschaften ein und in ihnen unter. Aber wenn zwei eine Schwäche teilen, so bekommt sie im Vergleich mit den nicht gemeinsamen Eigenschaften das doppelte Gewicht und nähert sich einem gewollten Bekenntnis. »

Agathe konnte das nicht finden.

«Mit einem ändern Wort, wir dürfen doch als Geschwister manches nicht tun, was wir uns als Einzelne gestattet haben; gerade darum sind wir ja zusammengekommen. »

Das gefiel Agathe. Dennoch tat ihr die verneinende Fassung, daß man bloß beisammen wäre, um etwas nicht zu tun, nicht genug, und nach einer Weile fragte sie, auf seine von vornehmen Lieferanten zusammengetragene Einrichtung zurückkommend: «Ich verstehe es doch noch nicht ganz. Warum hast du dich eigentlich so eingerichtet, wenn du es nicht richtig gefunden hast?»

Ulrich empfing ihren heiteren Blick und betrachtete dabei 294

ihr Gesicht, das ihm über dem etwas zerknitterten Reisekleid, das sie noch anhatte, plötzlich silberglatt vorkam und so wunderlich gegenwärtig, daß es ebenso nahe wie weit von ihm war oder daß sich Nähe und Ferne in dieser Gegenwart aufhoben, so wie der Mond aus Himmelsweiten plötzlich hinter dem Dach des Nachbarn erscheint. «Warum ich es getan habe?» erwiderte er lächelnd. «Ich weiß es nicht mehr.

Wahrscheinlich, weil man es ebensogut anders hätte machen können. Ich habe keine Verantwortung gefühlt. Weniger sicher wäre es, wenn ich dir erklären wollte, daß die Unverantwortlichkeit, in der wir heute unser Leben führen, schon die Stufe zu einer neuen Verantwortung sein könnte. »

489

«Auf welche Art?»

«Ach, auf vielerlei Art. Du weißt doch: das Leben einer einzelnen Person ist vielleicht nur eine kleine Schwankung um den wahrscheinlichsten Durchschnittswert einer Serie. Und ähnliches. »

Agathe hörte nur das, was ihr daran klar war. Sie sagte: «Dabei kommt <Recht hübsch> und <Sehr hübsch> heraus. Man spürt es bald nicht mehr, wie abscheulich man lebt. Aber manchmal ist es gruselig, als ob man scheintot in einer Leichenhalle aufwachte!»

«Wie warst denn du eingerichtet?» fragte Ulrich.

«Spießerisch. Hagauerisch. <Ganz hübsch. > Ebenso unecht wie du!»

Ulrich hatte indes einen Bleistift genommen und entwarf damit auf dem Tischtuch den Grundriß des Hauses und eine Neueinteilung der Räume. Das ging leicht und war so rasch getan, daß Agathes hausmütterliche Bewegung, das Tuch zu schützen, zu spät kam und zwecklos auf seiner Hand endete. Die Schwierigkeiten stellten sich erst wieder bei den Grundsätzen der Einrichtung ein. «Wir haben nun einmal ein Haus» verwahrte sich Ulrich «und müssen es für uns beide anders einrichten; aber im ganzen ist diese Frage heute überholt und müßig. <Ein Haus machen> täuscht eine Schauseite vor, hinter der sich nichts mehr befindet; die sozialen und persönlichen Verhältnisse sind nicht mehr fest genug für Häuser, es bereitet keinem Menschen mehr ein ehrliches Vergnügen, Dauer und Beharrung nach außen darzustellen. Früher einmal hat man das getan und durch die Zahl der Zimmer und Diener und Gäste gezeigt, wer man sei. Heute fühlt fast jeder, daß ein formloses Leben die einzige Form ist, die den vielfältigen Willen und Möglichkeiten entspricht, von denen das Leben erfüllt ist, und die jungen Leute lieben entweder die nackte Einfachheit, die wie ein unmöbliertes Theater ist, oder sie träumen von Schrankkoffern und Bobmeisterschaft, vom Tennischampionat und vom Luxushotel an der Autokarawanenstraße mit Golflandschaft und fließender Musik zum Auf-und Zudrehen in den Zimmern. » So sprach er, und tat es ziemlich unterhaltungsmäßig, als hätte er eine Fremde vor sich; er redete sich eigentlich an die Oberfläche empor, weil ihn die Verbindung von Endgültigkeit und Anfänglichkeit in diesem Beisammensein verlegen machte.

Aber nachdem sie ihn hatte zu Ende reden lassen, fragte seine Schwester: «Schlägst du also vor, daß wir im Hotel leben sollen?»

«Ganz gewiß nicht!» beeilte sich Ulrich zu versichern. «Höchstens hie und da auf Reisen. »

«Und für die übrige Zeit wollen wir uns eine Laubhütte auf einer Insel oder eine Blockhütte im Gebirge baun?»

«Wir werden uns natürlich hier einrichten» antwortete Ulrich ernster, als es diesem Gespräch zukam. Die Unterhaltung verstummte eine kleine Weile, er war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. Agathe tat, als hätte sie etwas an dem Saum ihres Kleides zu schaffen, und bog den Kopf aus der Linie, auf der sich ihrer beider Blicke bisher vereinigt hatten. Plötzlich blieb Ulrich stehn und sagte mit einer Stimme, die schwer hervorkam, aber aufrichtig war: «Liebe Agathe, es gibt einen Kreis von Fragen, der einen großen Umfang und keinen Mittelpunkt hat: und diese Fragen heißen alle <wie soll ich leben?> »

Auch Agathe hatte sich erhoben, sah ihn aber noch immer nicht an. Sie zuckte die Achseln. «Man muß es versuchen!» sagte sie. Das Blut war ihr in die Stirn gestiegen; als sie den Kopf hob, waren ihre Augen aber blank und übermütig, und nur auf den Wangen zögerte die Röte als davonziehende Wolke. «Wenn wir beisammen bleiben wollen, » erklärte sie «wirst du mir vor allem auspacken, einräumen und umkleiden helfen müssen, denn ich habe nirgends ein Hausmädchen gesehn!»

Das schlechte Gewissen fuhr ihrem Bruder nun wieder in Arme und Beine und machte sie galvanisch beweglich, unter Agathes Anleitung und Mithilfe seine Unachtsamkeit gutzumachen. Er räumte Schränke aus, wie ein Jäger ein Tier ausweidet, und verließ sein Schlafzimmer mit dem Schwur, daß es Agathe gehöre und er selbst irgendwo einen Diwan finden werde. Lebhaft trug er die Gegenstände des täglichen Bedarfs hin und her, die bisher still wie die Blumen eines Ziergartens auf ihren Plätzen gelebt hatten, der wählenden Hand als einziger Veränderung ihres Schicksals gewärtig. Anzüge häuften sich auf Stühlen, auf den Glasborden des Badezimmers wurde durch sorgfältiges Zusammenschieben aller der Körperpflege dienenden Geräte eine Herren-und eine Damenabteilung geschaffen; als alle Ordnung einigermaßen in Unordnung gebracht war, standen schließlich nur noch die leuchtenden Lederpantoffeln Ulrichs verlassen auf der Erde und sahen aus wie ein gekränkter Schoßhund, der aus seinem Körbchen geworfen worden ist, ein Jammerbild der zerstörten Bequemlichkeit in ihrer so angenehmen wie nichtigen Natur. Es fand sich 490

aber nicht Zeit, davon berührt zu werden, denn schon kamen nun Agathens Koffer an die Reihe, und so wenig ihrer gewesen zu sein schienen, so unerschöpflich waren sie an fein zusammengefalteten Dingen, die sich im Hervorgehn ausbreiteten und an der Luft nichts anders aufblühten als die Hunderte Rosen, die ein Zauberer aus seinem Hut zieht. Sie mußten aufgehängt und gelegt, geschüttelt und geschichtet werden, und weil Ulrich auch mithalf, geschah es mit Zwischenfällen und Lachen.

Bei allen diesen Beschäftigungen konnte er aber eigentlich nichts anderes denken als ununterbrochen das eine, daß er sein Leben lang und noch vor wenigen Stunden allein gewesen sei. Und nun war Agathe da.

Dieser kleine Satz: «Agathe ist jetzt da» wiederholte sich in Wellen, erinnerte an das Staunen eines Knaben, dem ein Spielzeug geschenkt worden ist, hatte etwas den Geist Hemmendes an sich, aber anderseits auch eine schier unbegreifliche Fülle an Gegenwart, und führte, alles in allem, immer wieder auf den kleinen Satz zurück: «Agathe ist jetzt da. » «Sie ist also groß und schlank?» dachte Ulrich und beobachtete sie heimlich. Aber das war sie gar nicht: sie war kleiner als er und in den Schultern von einer gesunden Breite.

«Ist sie anmutig?» fragte er sich. Das ließ sich nun auch nicht sagen: ihre stolze Nase zum Beispiel war, von der einen Seite gesehn, ein wenig aufgebogen; davon ging ein weit kräftigerer Reiz aus als Anmut. «Ob sie am Ende schön ist?» fragte sich Ulrich in einer etwas wunderlichen Weise. Denn diese Frage fiel ihm nicht leicht, obwohl Agathe, wenn man alles Konventionelle beiseite ließ, eine fremde Frau für ihn war. Ein inneres Verbot, eine Blutsverwandte nicht mit männlicher Liebe anzusehn, gibt es ja nicht, das ist nur Sitte oder auf Umwegen der Moral und Hygiene begründbar; auch hatte der Umstand, daß sie nicht gemeinsam erzogen worden waren, zwischen Ulrich und Agathe das sterilisierte Geschwisterempfinden, wie es in der europäischen Familie herrscht, am Entstehen verhindert: trotzdem genügte schon das Herkommen, ihre Empfindungen für einander, auch die arglose der nur gedachten Schönheit, anfangs einer äußersten Spitze zu berauben, deren Fehlen Ulrich in diesem Augenblick an seiner deutlichen Verblüffung spürte. Etwas schönfinden, heißt ja wahrscheinlich vor allem, es finden: mag es eine Landschaft oder eine Geliebte sein, da liegt es, blickt dem geschmeichelten Finder entgegen und scheint einzig und allein nur auf ihn gewartet zu haben; und so, mit diesem Entzücken darüber, daß sie nun ihm gehöre und von ihm entdeckt sein wollte, gefiel ihm seine Schwester wohl über alle Maßen, aber er dachte doch: «Wahrhaft schön finden kann man seine eigene Schwester nicht, es kann höchstens schmeicheln, daß sie anderen gefällt. » Aber dann hörte er, wo früher Stille war, minutenlang ihre Stimme, und wie war ihre Stimme? Wellen von Duft begleiteten die Bewegung ihrer Kleider, und wie war dieser Geruch? Ihre Bewegungen waren bald Knie, bald zarter Finger, bald Widerspenstigkeit einer Locke. Das einzige, was man davon sagen konnte, war: es sei da. Es war da, wo zuvor nichts gewesen war. Der Unterschied an Eindringlichkeit zwischen dem lebhaftesten Augenblick, wo Ulrich an seine zurückgelassene Schwester gedacht hatte, und dem leersten der gegenwärtigen Augenblicke bedeutete noch eine so große und deutliche Annehmlichkeit, wie wenn ein schattiger Platz von der Sonne mit Wärme und dem Duft sich öffnender Krauter erfüllt wird!

Auch Agathe gewahrte, daß ihr Bruder sie beobachtete, aber sie ließ es ihn nicht wissen. In den Augenblicken des Verstummens, wo sie fühlte, wie sein Blick ihren Bewegungen folgte, während Rede und Antwort nicht so sehr aussetzten, als es schien, sie glitten wie ein Fahrzeug mit abgestopptem Motor über eine tiefe und unsichere Stelle, genoß auch sie die Übergegenwart und ruhige Heftigkeit, die mit der Wiedervereinigung verbunden war. Und als Auspacken und Einräumen beendet und Agathe im Bad allein war, entwik-kelte sich daraus ein Abenteuer, das wie der Wolf in diese friedliche Augenweide einbrechen wollte, denn sie hatte sich bis auf die Wäsche in einem Zimmer entkleidet, wo nun Ulrich, Zigaretten rauchend, über ihre Verlassenschaft wachte. Vom Wasser umspült, überlegte sie, was sie tun solle.

Bedienung gab es keine, Läuten war voraussichtlich ebenso vergeblich wie Rufen, und es blieb scheinbar nichts übrig, als in Ulrichs an der Wand hängenden Bademantel gehüllt an die Tür zu klopfen und ihn aus dem Zimmer zu schicken. Aber Agathe zweifelte fröhlich, ob es bei der ernsten Vertraulichkeit, die zwischen ihnen zwar noch nicht lebte, aber doch soeben geboren würde, erlaubt sei, sich so wie eine junge Dame zu betragen und Ulrichs Rückzug zu erflehen, und sie beschloß, keine zweideutige Weiblichkeit anzuerkennen und als das natürliche Duwesen, das sie ihm auch in spärlicher Bekleidung zu bedeuten hatte, vor ihm zu erscheinen.

Als sie aber entschlossen bei ihm eintrat, fühlten doch beide eine unerwartete Bewegung des Herzens. Sie trachteten beide nicht verlegen zu werden. Sie konnten die natürliche Folgewidrigkeit, die an der See fast die Nacktheit gestattet, im Zimmer aber den Saumweg am Rand von Hemd oder Höschen zum 491

Schmuggelpfad der Romantik macht, beide einen Augenblick lang nicht von sich abstreifen. Ulrich lächelte unbeholfen, als Agathe, mit dem Licht des Vorraumes hinter sich, in der geöffneten Tür wie eine von battistenem Rauch leicht umhüllte Silberstatue anzusehen war; und sie verlangte mit einer Stimme, deren Unbefangenheit sie viel zu stark ansetzte, nach Strümpfen und Kleid, die sich aber erst im nächsten Zimmer vorfanden. Ulrich führte seine Schwester dahin, und sie schritt zu seinem heimlichen Entzücken ein wenig zu knabenhaft aus, mit einer Art Trotz selbst davon kostend, so wie es Frauen leicht tun, wenn sie sich nicht von ihren Röcken geschützt fühlen. Dann ergab sich etwas Neues, als Agathe ein wenig später halb in ihrem Kleid stak und halb darin stecken geblieben war, denn nun wurde Ulrich zu Hilfe gerufen. Sie empfand, während er in ihrem Rücken hantierte, ohne schwesterliche Eifersucht, ja mit einer Art Annehmlichkeit, daß er sich vorzüglich in Frauenkleidern zurechtfinde, und sie selbst rührte sich mit lebhaften, von der Natur des Vorgangs geforderten Gebärden.

Ulrich fühlte sich dabei, nahe an die bewegte zarte und doch satte Haut ihrer Schultern gebeugt und aufmerksam dem ungewohnten Geschäft ergeben, bei dem sich ihm die Stirn rötete, von einer Empfindung umschmeichelt, die sich nicht recht in Worte fassen ließ, man hätte denn sagen müssen, daß sein Körper ebenso davon angegriffen wurde, daß er eine Frau, wie daß er keine Frau in nächster Nähe vor sich habe; aber man hätte ebensogut auch sagen können, daß er zwar ohne zu zweifeln in seinen eigenen Schuhen stand, sich aber dennoch aus sich hinübergezogen fühlte, als sei ihm da selbst ein zweiter, weit schönerer Körper zu eigen gegeben worden.

Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, war darum das erste, was er seiner Schwester sagte: «Ich weiß jetzt, was du bist: Du bist meine Eigenliebe!» Es klang wohl wunderlich, aber er beschrieb damit wirklich das, was ihn bewegte. «Mir hat eine richtige Eigenliebe, wie sie andere Menschen so stark besitzen, in gewissem Sinn immer gefehlt» erläuterte er. «Und nun ist sie offenbar, durch Irrtum oder Schicksal, in dir verkörpert gewesen, statt in mir selbst!» fügte er ohneweiters hinzu.

Es war sein erster Versuch an diesem Abend, die Ankunft seiner Schwester in einem Urteil festzuhalten.

25

Die Siamesischen Zwillinge

Später am Abend kam er noch einmal darauf zurück.

«Du mußt wissen, » begann er seiner Schwester zu erzählen «daß ich eine Art von Eigenliebe nicht kenne, ein gewisses zärtliches Verhältnis zu mir selbst, das scheinbar den meisten anderen Menschen natürlich ist.

Ich weiß nicht, wie ich das am besten beschreibe. Ich könnte zum Beispiel sagen, daß ich immer Geliebte gehabt habe, zu denen ich in einem Mißverhältnis stand. Sie sind Illustrationen zu plötzlichen Einfallen gewesen, Karikaturen meiner Laune: also eigentlich nur Beispiele meines Unvermögens, in natürliche Beziehungen zu anderen Menschen zu treten. Schon das hängt damit zusammen, wie man sich zu sich selbst verhält. Im Grunde genommen, habe ich mir immer Geliebte ausgesucht, die ich nicht mochte - »

«Aber damit hast du doch nur recht!» unterbrach ihn Agathe. «Wenn ich ein Mann wäre, ich würde mir gar kein Gewissen daraus machen, mit den Frauen aufs unzuverlässigste umzugehn. Ich würde sie auch nur aus Zerstreutheit und Staunen begehren!»

«Ja? Würdest du? Das ist nett von dir!»

«Sie sind lächerliche Schmarotzer. Gemeinsam mit dem Hund teilen sie das Leben des Mannes!» Agathe gab diese Versicherung nicht etwa mit sittlicher Entrüstung ab. Sie war angenehm müde, hielt die Augen geschlossen, hatte sich zeitig zur Ruhe begeben, und Ulrich, der gekommen war, sich von ihr zu verabschieden, sah sie an seiner Stelle im Bett liegen.

Es war aber auch das Bett, in dem sechsunddreißig Stunden früher Bonadea gelegen hatte. Wahrscheinlich kam Ulrich darum wieder auf seine Geliebten zurück. «Ich wollte damit aber nur auf das Unvermögen zu einem sanft begründeten Verhältnis mir selbst gegenüber hinauskommen» wiederholte er lächelnd: «Wenn ich etwas mit Anteil erleben soll, muß es als Teil eines Zusammenhangs geschehn, es muß unter einer Idee stehn. Das Erlebnis selbst möchte ich eigentlich lieber schon hinter mir, in der Erinnerung haben; der aktuelle Gefühlsaufwand dafür kommt mir unangenehm und lächerlich unangebracht vor. So ist es, wenn ich mich rücksichtslos dir zu beschreiben versuche. Und die ursprünglichste und einfachste Idee, 492

wenigstens in jüngeren Jahren, ist schon die, daß man ein verfluchter und neuer Kerl sei, auf den die Welt gewartet habe. Aber über das dreißigste Jahr hält das nicht vor!» Er überlegte einen Augenblick und sagte dann: «Nein! Es ist so schwer von sich selbst zu reden: eigentlich müßte ich ja gerade sagen, daß ich nie unter einer dauernden Idee gestanden habe. Es fand sich keine. Eine Idee müßte man lieben wie eine Frau.

Selig sein, wenn man zu ihr zurückkehrt. Und man hat sie immer in sich! Und sucht sie in allem außer sich!

Solche Ideen habe ich nie gefunden. Ich bin immer in einem Mann-Mannesverhältnis zu den sogenannten großen Ideen gestanden; vielleicht auch zu den mit Recht so genannten: Ich glaubte mich nicht zur Unterordnung geboren, sie haben mich gereizt, sie zu stürzen und andere an ihre Stelle zu setzen. Ja, vielleicht bin ich gerade von dieser Eifersucht zur Wissenschaft geführt worden, deren Gesetze man in Gemeinschaft sucht und auch nicht für unverbrüchlich ansieht!» Wieder hielt er ein und lachte über sich oder seine Schilderung. «Aber sei das wie immer, » fuhr er ernst fort «jedenfalls habe ich es auf diese Weise, daß ich keine oder jede Idee mit mir verbinde, verlernt, das Leben wichtig zu nehmen. Es erregt mich eigentlich weit mehr, wenn ich es in einem Roman lese, wo es von einer Auffassung geschürzt ist; aber wenn ich es in seiner vollen Ausführlichkeit erleben soll, finde ich es immer schon veraltet und altmodisch-ausführlich und im Gedankengehalt überholt. Ich glaube auch nicht, daß das an mir liegt. Denn die meisten Menschen sind heute ähnlich. Zwar täuschen sich viele eine dringliche Lebensfreude vor, nach der Art, wie man die Volksschulkinder lehrt, munter durh die Blümelein zu springen, aber es ist immer eine gewisse Absichtlichkeit dabei, und sie fühlen das. In Wahrheit können sie einander ebenso kaltblütig morden, wie herzlich miteinander auskommen. Unsere Zeit nimmt die Geschehnisse und Abenteuer, von denen sie voll ist, ja sicher nicht ernst. Geschehen sie, so erregen sie. Sie stiften dann auch sogleich neue Geschehnisse, ja eine Art Blutrache von sol chen, ein Zwangsalphabet des B-bis Z-Sagens, weil man A gesagt hat. Aber diese Geschehnisse unseres Lebens haben weniger Leben als ein Buch, weil sie keinen zusammenhängenden Sinn haben. »

So sprach Ulrich. Locker. Wechselnd in der Stimmung. Agathe gab keine Antwort; sie hielt noch immer die Augen geschlossen, lächelte aber.

Ulrich sagte: «Ich weiß nicht mehr, was ich dir erzähle. Ich glaube, ich finde nicht mehr zum Anfang zurück.

»

Sie schwiegen eine Weile. Er konnte ausführlich das Gesicht seiner Schwester betrachten, das nicht vom Blick ihrer Augen verteidigt war. Es lag als ein Stück nackten Körpers da, wie Frauen, wenn sie im Frauenbad beisammen sind. Der weibliche unbewachte, natürliche Zynismus dieses nicht für den Mann berechneten Anblicks übte noch immer eine ungewohnte Wirkung auf Ulrich aus, wenn es auch längst nicht mehr jene heftige war wie in den ersten Tagen ihres ersten Beisammenseins, als Agathe gleich ihr Schwesterrecht forderte, möglichst ohne jede seelische Verblümung mit ihm zu sprechen, da er für sie nicht ein Mann wie andere sei. Er erinnerte sich an die mit Schreck vermischte Überraschung, die es ihm als Knaben bereitet hatte, wenn er auf der Straße eine Schwangere oder eine Frau sah, die ihr Kind an der Brust saugen ließ: sorgsam dem Knaben entzogene Geheimnisse wölbten sich dann plötzlich prall und unbefangen in der Sonne. Und vielleicht hatte er lange Zeit Reste solcher Eindrücke mit sich getragen, denn plötzlich war ihm zumute, als fühlte er jetzt ganz frei von ihnen. Daß Agathe Frau war und schon manches hinter sich haben mußte, schien ihm eine angenehme und bequeme Vorstellung zu sein; man mußte sich nicht so in acht nehmen wie bei einem jungen Mädchen, wenn man mit ihr sprach, ja es kam ihm rührend natürlich vor, daß bei einer Frau alles schon moralisch schlaffer sei. Er hatte auch das Bedürfnis, sie in Schutz zu nehmen und durch irgendeine Güte für irgendetwas zu entschädigen. Er nahm sich vor, alles für sie zu tun, was er nur könne. Er nahm sich sogar vor, wieder einen Mann für sie zu suchen. Und dieses Bedürfnis nach Güte gab ihm, kaum daß er es merkte, den verlorenen Faden des Gesprächs zurück.

«Wahrscheinlich verändert sich in den Jahren der Geschlechtsreifung unsere Eigenliebe» sagte er ohne Übergang. «Denn da wird eine Wiese von Zärtlichkeit, in der man bis dahin gespielt hat, abgemäht, um Futter für einen bestimmten Trieb zu gewinnen. »

«Damit die Kuh Milch gibt!» ergänzte Agathe nach einer kleinsten Zeit ungezogen und würdevoll, aber ohne die Augen zu öffnen.

«Ja, das hängt wohl alles zusammen» meinte Ulrich und fuhr fort: «Es gibt also einen Augenblick, wo unser Leben fast alle seine Zärtlichkeit verliert, und diese zieht sich auf jene einzige Ausübung zusammen, die dann damit überladen bleibt: Kommt dir das nicht auch so vor, als ob überall auf der Erde eine entsetzliche 493

Dürre herrschte, während es an einem einzigen Ort unaufhörlich regnete?!»

Agathe sagte: «Mir kommt es vor, daß ich meine Kinderpuppen mit einer Heftigkeit geliebt habe wie nie einen Mann. Als du abgereist warst, habe ich am Dachboden eine Kiste mit meinen alten Puppen gefunden.

»

«Was hast du damit getan?» fragte Ulrich. «Hast du sie verschenkt?»

/

«Wem hätte ich sie schenken sollen? Ich habe sie im Herdfeuer bestattet» erzählte sie.

Ulrich entgegnete lebhaft: «Wenn ich mich an meine früheste Zeit erinnere, so möchte ich sagen, daß damals Innen und Außen kaum noch getrennt waren. Wenn ich auf etwas zu kroch, kam es auf Flügeln zu mir her; und wenn sich etwas ereignete, das uns wichtig war, so wurden davon nicht etwa bloß wir erregt, sondern die Dinge selbst begannen zu kochen. Ich will nicht behaupten, daß wir dabei glücklicher gewesen sind als später. Wir besaßen uns ja noch nicht selbst; eigentlich waren wir überhaupt noch nicht, unsere persönlichen Zustände waren noch nicht deutlich von denen der Welt abgeschieden. Es klingt sonderbar, und ist doch wahr, wenn ich sage, unsere Gefühle, unsere Willnisse, ja wir selbst waren noch nicht ganz in uns darin. Noch sonderbarer ist, daß ich ebenso gut sagen konnte: waren noch nicht ganz von uns entfernt. Denn wenn du dich heute, wo du ganz im Besitz deiner selbst zu sein glaubst, ausnahmsweise einmal fragen 304

solltest, wer du eigentlich seist, wirst du diese Entdeckung machen. Du wirst dich immer von außen sehn wie ein Ding. Du wirst gewahren, daß du bei einer Gelegenheit zornig wirst und bei einer anderen traurig, so wie dein Mantel das eine Mal naß und das andere Mal heiß ist. Mit aller Beobachtung wird es dir höchstens gelingen, hinter dich zu kommen, aber niemals in dich. Du bleibst außer dir, was immer du unternimmst, und es sind davon gerade nur jene wenigen Augenblicke ausgenommen, wo man von dir sagen würde, du seist außer dir. Zur Entschädigung haben wir es allerdings als Erwachsene dahin gebracht, bei jeder Gelegenheit denken zu können <Ich bim, falls uns das Spaß macht. Du siehst einen Wagen, und irgendwie siehst du schattenhaft dabei auch: <ich sehe einen Wagen>. Du liebst oder bist traurig und siehst, daß du es bist. In vollem Sinn ist aber weder der Wagen, noch ist deine Trauer oder deine Liebe, noch bist du selbst ganz da. Nichts ist mehr ganz so da, wie es in der Kindheit einmal gewesen ist. Sondern es ist alles, was du berührst, bis an dein Innerstes verhältnismäßig erstarrt, sobald du es erreicht hast eine

<Persönlichkeit> zu sein, und übriggeblieben ist, umhüllt von einem durch und durch äußerlichen Sein, ein gespenstiger Nebelfaden der Selbstgewißheit und trüber Selbstliebe. Was ist da nicht in Ordnung? Man hat das Gefühl, irgendetwas wäre noch rückgängig zu machen! Man kann doch nicht behaupten, daß ein Kind ganz anders erlebe als ein Mann! Ich weiß keine entscheidende Antwort darauf, wenn es auch diesen und jenen Gedanken darüber geben mag. Aber seit langem habe ich es in der Weise beantwortet, daß ich die Liebe zu dieser Art Ichsein und dieser Art Welt verloren habe. »

Es war Ulrich angenehm, daß ihm Agathe zugehört hatte, ohne ihn zu unterbrechen, denn er erwartete ebensowenig eine Antwort von ihr wie von sich selbst und war überzeugt, daß eine Antwort, wie er sie meine, gegenwärtig niemand geben könne. Trotzdem befürchtete er nicht einen Augenblick, wovon er rede, könnte etwa für sie zu schwierig sein. Er betrachtete es nicht als ein Philosophieren und glaubte nicht einmal einen ungewöhnlichen Gesprächsstoff zu behandeln, so wenig wie sich ein junger Mensch, dem er in dieser Lage glich, durch die Schwierigkeit des Ausdrucks davon abhalten läßt, alles einfach zu finden, wenn er, von einem anderen angeregt, die ewigen Fragen «Wer bist du? So bin ich» mit ihm tauscht. Er entnahm die Sicherheit, daß ihm seihe Schwester Wort für Wort zu folgen vermöge, ihrem Dasein und nicht einem Denken. Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, und darin war etwas, das ihn glücklich machte. Dieses Gesicht mit geschlossenen Augen war ganz ohne Rückstoß. Es übte eine grundlose Anziehung auf ihn aus; auch in jener Weise, als zöge es in eine nirgends endende Tiefe. Er fand, in den Anblick dieses Gesichts versinkend, nirgends den Bodenschlamm der aufgelösten Widerstände, an dem sich ein in die Liebe Getauchter abstößt, um wieder empor zur Trockenheit zu kommen. Aber da er es gewohnt war, die Neigung zur Frau als eine gewaltsam umgekehrte Abneigung gegen den Menschen zu erleben, was - wenn er es auch mißbilligte - eine gewisse Sicherheit verbürgt, sich nicht in ihr zu verlieren, erschreckte ihn die reine Geneigtheit, in der er sich neugierig immer tiefer neigte, fast wie eine Gleichgewichtsstörung, so daß er bald diesem Zustand auswich und vor Glück zu einem etwas jungenhaften Scherz seine Zuflucht nahm, um Agathe ins alltägliche Leben zurückzurufen: mit dem vorsichtigsten Griff, dessen er fähig war, versuchte er, ihr die Augen zu öffnen. Agathe schlug sie lachend auf und rief aus: «Dafür, daß ich deine Eigenliebe sein soll, gehst du recht grob mit mir um!»

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Diese Antwort war ebenso jungenhaft wie sein Angriff, und ihre Blicke stemmten sich übertrieben gegeneinander wie zwei Knaben, die balgen möchten, aber vor Heiterkeit nicht können. Plötzlich ließ das Agathe jedoch und fragte ernst:

«Kennst du den Mythos, den Platon irgendwelchen älteren Vorbildern nacherzählt, daß der ursprüngliche ganze Mensch von den Göttern in zwei Teile geteilt worden sei, in Mann und Weib?» Sie hatte sich auf den Ellbogen aufgerichtet und wurde unerwartet rot, denn sie kam sich nachträglich mit der Frage, ob Ulrich diese wahrscheinlich allgemein bekannte Geschichte kenne, etwas unklug vor. Kurz entschlossen fügte sie darum hinzu: «Nun stellen die unseligen Hälften allerhand Dummheiten an, um wieder ineinander zu fahren: Das steht in allen Schulbüchern für den höheren Unterricht; leider steht nicht darin, warum es nicht gelingt!»

«Das kann ich dir sagen» fiel Ulrich ein, glücklich zu erkennen, wie genau sie verstanden habe. «Kein Mensch weiß doch, welche von den vielen umherlaufenden Hälften die ihm fehlende ist. Er ergreift eine, die ihm so vorkommt, und macht die vergeblichsten Anstrengungen, mit ihr eins zu werden, bis sich endgültig zeigt, daß es nichts damit ist. Entsteht ein Kind daraus, so glauben beide Hälften durch einige Jugendjahre, sie hätten sich wenigstens im Kind vereint; aber das ist bloß eine dritte Hälfte, die bald das Bestreben merken läßt, sich von den beiden! anderen möglichst weit zu entfernen und eine vierte zu suchen.

So <hälftet> sich die Menschheit physiologisch weiter, und die wesenhafte Einung steht wie der Mond vor dem Schlafzimmerfenster. »

«Man sollte denken, daß Geschwister doch den halben Weg schon zurückgelegt haben müßten!» warf Agathe mit einer rauh gewordenen Stimme ein.

«Zwillinge vielleicht. »

«Sind wir nicht Zwillinge?»

«Sicher!» Ulrich wich plötzlich aus. «Zwillinge sind selten; Zwillinge verschiedenen Geschlechts sind eine ganz große Seltenheit; wenn sie aber noch dazu verschieden alt sind und sich die längste Zeit kaum gekannt haben, so bildet das eine Sehenswürdigkeit, die unser wirklich würdig ist!» erklärte er und strebte in eine seichtere Heiterkeit zurück.

«Wir sind aber als Zwillinge zusammengetroffen!» forderte Agathe unbeeinflußt.

«Weil wir unerwartet ähnlich angezogen waren?»

«Vielleicht. Und überhaupt! Du kannst ja sagen, daß es Zufall gewesen sei; aber was ist Zufall? Ich glaube, gerade er ist Schicksal oder Schickung oder wie du das nennen magst. Ist es dir nie zufällig vorgekommen, daß du gerade als du geboren worden bist? Doppelt so viel ist es, daß wir Geschwister sind!» So führte es Agathe aus, und Ulrich unterwarf sich dieser Weisheit. «Wir erklären uns also als Zwillinge!» stimmte er bei. «Symmetrische Geschöpfe der Naturlaune, werden wir fortab gleich alt, gleich groß, gleichen Haares, in gleich gestreiften Kleidern und mit der gleichen Schleife unter dem Kinn durch die Gasse der Menschen wandeln; ich mache dich aber aufmerksam, daß sie uns halb gerührt und halb spöttisch nachblicken werden, wie es immer geschieht, wenn sie etwas an die Geheimnisse ihres Werdens erinnert. »

«Wir können uns ja auch gerade entgegengesetzt kleiden» entgegnete Agathe belustigt. « Gelb der eine, wenn der andere blau ist, oder rot neben grün, und das Haar können wir violett oder purpurn färben, und ich mache mir einen Buckel und du dir einen Bauch: und trotzdem sind wir Zwillinge!»

Aber der Scherz war ausgeschöpft, der Vorwand verbraucht, sie verstummten eine Weile. «Weißt du, »

sagte Ulrich dann plötzlich «daß es eine sehr ernste Angelegenheit ist, von der wir sprechen?!» - Kaum hatte er das gesagt, als seine Schwester wieder den Fächer der Wimpern über die Augen senkte und mit dahinter versteckter Bereitschaft ihn allein sprechen ließ. Vielleicht sah es auch nur so aus, als ob sie die Augen schlösse. Das Zimmer war dunkel, das Licht, das brannte, verdeutlichte weniger, als daß es sich in hellen Flächen über alle Umrisse ergoß. Ulrich hatte gesagt: «So wie an den Mythos vom Menschen, der geteilt worden ist, könnten wir auch an Pygmalion, an den Hermaphroditen oder an Isis und Osiris denken: es bleibt doch immer in verschiedener Weise das gleiche. Dieses Verlangen nach einem Doppelgänger im anderen Geschlecht ist uralt. Es will Liebe eines Wesens, das uns völlig gleichen, aber doch ein anderes als wir sein soll, eine Zaubergestalt, die wir sind, die aber doch eben auch eine Zaubergestalt bleibt und vor allem, was wir uns bloß ausdenken, den Atem der Selbständigkeit und Unabhängigkeit voraushat.

Unzählige Male ist dieser Traum vom Fluidum der Liebe, das sich, unabhängig von den Beschränkungen der Körperwelt, in zwei gleichverschiedenen Gestalten begegnet, schon in einsamer Alchimie den Retorten 495

der menschlichen Köpfe entstiegen - »

Dann hatte er gestockt; ersichtlich war ihm etwas eingefallen, das ihn störte, und er hatte mit den beinahe unfreundlichen Worten geschlossen: «Selbst unter den alltäglichsten Verhältnissen der Liebe finden sich ja noch Spuren davon: in dem Reiz, der mit jeder Veränderung und Verkleidung verbunden ist, wie in der Bedeutung der Übereinstimmung und Ichwiederholung im anderen. Der kleine Zauber bleibt sich gleich, ob man eine Dame zum erstenmal nackt sieht oder ein nacktes Mädel zum erstenmal im hochgeschlossenen Kleid, und die großen, rücksichtslosen Liebesleidenschaften sind alle damit verbunden, daß sich ein Mensch einbildet, sein geheimstes Ich spähe ihn hinter den Vorhängen fremder Augen an. »

Es klang, als bäte er sie damit, was sie sprächen, nicht zu überschätzen. Agathe aber dachte noch einmal an das blitzhafte Gefühl der Überraschung, das sie empfunden hatte, als sie einander, in ihren Hausanzügen gleichsam verkleidet, zum erstenmal begegnet waren. Und sie erwiderte: «Das gibt es nun also seit tausenden Jahren; ist es denn leichter zu verstehn, wenn man es aus zwei Täuschungen erklärt?!»

Ulrich schwieg.

Und nach einer Weile sagte Agathe erfreut: «Aber im Schlaf ist es trotzdem so! Da sieht man sich doch manchmal auch in etwas anderes verwandelt. Oder begegnet sich als ein Mann. Und dann ist man so gut zu ihm wie nie zu sich selbst. Du wirst wahrscheinlich sagen, daß das sexuelle Träume seien; aber mir kommt eher vor, daß es viel ältere sind. »

«Hast du oft solche Träume?» fragte Ulrich.

«Manchmal; selten. »

«Ich beinahe nie» gestand er. «Es ist ewig lange her, daß ich so geträumt habe. »

«Und doch hast du mir einmal erklärt, » sagte nun Agathe «ich meine recht zu Anfang muß es gewesen sein, noch dort im alten Haus -, daß der Mensch vor Jahrtausenden wirklich andre Erlebnisse gekannt hat!»

«Ach, du meinst das <gebende> und das <nehmende> Sehen?» erwiderte Ulrich und lächelte, obgleich es ja Agathe nicht sah. «Das <Umfangen werden> und <Umfangen> des Geistes? Ja, von dieser geheimnisvollen Doppelgeschlechtlichkeit der Seele hätte ich natürlich auch sprechen müssen! Wovon übrigens nicht?! In allem spukt etwas davon. Selbst in jeder Analogie steckt ja ein Rest des Zaubers, gleich und nicht gleich zu sein. Aber hast du nicht bemerkt: in allen diesen Verhaltensweisen, von denen wir gesprochen haben, im Traum, in Mythos, Gedicht, Kindheit und selbst in der Liebe, ist der größere Anteil des Gefühls doch durch einen Mangel an Verständigkeit erkauft, und das heißt: durch einen Mangel an Wirklichkeit?»

«Du glaubst also nicht wirklich daran?» fragte Agathe.

Darauf antwortete Ulrich nicht. Aber nach einer Weile sagte er: «Wenn man es in die heillose heutige Ausdrucksweise übersetzt, so kann man das, was heute für jeden erschreckend gering ist, die perzentuelle Beteiligung des Menschen an seinen Erlebnissen und Taten nennen. Im Traum scheinen es hundert Prozent zu sein, im Wachen ist es kein halbes! Du hast es ja heute gleich an meiner Wohnung bemerkt; aber meine Beziehungen zu den Menschen, die du kennen lernen wirst, sind keine anderen. Ich habe das einmal - und wahrhaftig, wenn ich nicht irre, muß ich hinzufügen, daß es im Gespräch mit einer Frau geschehen ist, wo es sehr am Platz war - auch die Akustik der Leere genannt. Wenn eine Nadel in einem leer ausgeräumten Zimmer zu Boden fällt, hat der davon entstehende Lärm etwas Unverhältnismäßiges, ja Maßloses; aber ebenso ist es, wenn zwischen den Menschen Leere liegt. Man weiß dann nicht: schreit man, oder ist es totenstill? Denn alles Unrechte und Schiefe gewinnt die Anziehungskraft einer ungeheuren Versuchung, sobald man ihm im letzten nichts entgegensetzen kann. Findest du nicht auch? Aber verzeih, » unterbrach er sich «du wirst müde sein, und ich lasse dich nicht ruhn. Es scheint, ich fürchte, daß dir manches an meiner Umgebung und meinem Umgang mißfallen wird. »

Agathe hatte die Augen geöffnet. Nach der langen Verborgenheit drückte ihr Blick etwas ungemein schwer zu Bestimmendes aus, das Ulrich über seinen ganzen Körper sich mit Teilnahme ausbreiten fühlte. Er erzählte plötzlich wieder weiter: «Als ich jünger war, habe ich versucht, gerade darin eine Stärke zu sehn.

Man hat dem Leben nichts entgegenzusetzen? Gut, so flieht das Leben vom Menschen weg in seine Werke!

So ungefähr habe ich gedacht. Und es hat ja auch wohl etwas Gewaltiges auf sich mit der Lieblosigkeit und Verantwortungslosigkeit der heutigen Welt. Zumindest liegt darin etwas von einem Flegeljahrhundert, wie es schließlich in den Jahrhunderten ebenso wie in den Jahren des Wachstums vorkommen mag. Und wie jeder junge Mensch habe ich mich anfangs in Arbeit, in Abenteuer und Vergnügen gestürzt; es schien mir 496

gleich zu sein, was man unternehme, sofern es nur mit vollem Einsatz geschehe. Erinnerst du dich, daß wir einmal über die <Moral der Leistung> gesprochen haben? Sie ist das uns eingeborene Bild, nach dem wir uns richten. Aber je älter man wird, desto deutlicher erfährt man, daß dieses scheinbare Übermaß, diese Unabhängigkeit und Beweglichkeit in allem, diese Souveränität der treibenden Teile und der Teilantriebe -

sowohl die deiner eigenen gegen dich wie die deine gegen die Welt - kurz, daß alles, was wir als

<Gegenwartsmenschen> für eine Kraft und uns auszeichnende Arteigentümlichkeit gehalten haben, im Grunde nichts ist als eine Schwäche des Ganzen gegenüber seinen Teilen. Mit Leidenschaft und Wille ist dagegen nichts auszurichten. Kaum willst du ganz und mitten in etwas sein, siehst du dich schon wieder an den Rand gespült: das ist heute das Erlebnis in allen Erlebnissen!»

Agathe mit den nun offenen Augen wartete darauf, daß sich in seiner Stimme etwas ereignen werde; als es nicht geschah und die Rede ihres Bruders abbrach wie ein Pfad, der von einer Straße abgezweigt ist und nicht mehr zurückkehrt, sagte sie: «Nach deiner Erfahrung kann man also nie wirklich aus Überzeugung handeln und wird es nie können. Ich meine» verbesserte sie sich «mit Überzeugung nicht irgendeine Wissenschaft, auch nicht die moralische Dressur, die man uns beigebracht hat, sondern, daß man sich ganz bei sich sein fühlt und daß man sich auch bei allem ändern sein fühlt, daß irgend etwas gesättigt ist, was jetzt leer bleibt, ich meine etwas, wovon man ausgeht und wohin man zurückkehrt. Ach, ich weiß ja selbst nicht, was ich meine, » unterbrach sie sich heftig «ich hatte gehofft, daß du es mir erklären wirst!»

«Da meinst du gerade das, wovon wir gesprochen haben» antwortete Ulrich sanft. «Und du bist auch der einzige Mensch, mit dem ich so darüber sprechen kann. Aber es hätte keinen Zweck, wenn ich nochmals anfinge, um ein paar verlockende Worte mehr hinzuzufügen. Eher muß ich wohl sagen, daß ein

<Mitten-inne-Sein>, ein Zustand der unzerstörten <Innigkeit> des Lebens — wenn man das Wort nicht sentimental versteht, sondern in der Bedeutung, die wir ihm soeben gegeben haben, - wahrscheinlich mit vernünftigen Sinnen nicht zu fordern ist. » Er hatte sich vorgebeugt, berührte ihren Arm und sah ihr lange in die Augen. «Es ist vielleicht eine Menschenwidrigkeit» sagte er leise. «Wirklich ist nur, daß wir sie schmerzlich entbehren! Denn damit hängt wohl das Verlangen nach Geschwisterlichkeit zusammen, das eine Zutat zur gewöhnlichen Liebe ist, in der imaginären Richtung auf eine Liebe ohne alle Vermengung mit Fremdheit und Nichtliebe. » Und nach einer Weile fügte er hinzu: «Du weißt doch, wie beliebt alles im Bett ist, was mit Brüderlein und Schwesterlein zusammenhängt: Leute, die ihre wirklichen Geschwister ermorden könnten, albern sich dort als Geschwisterlein an, die unter einer Decke stecken. »

Sein Gesicht zitterte im Halbdunkel in Selbstverspottung. Aber Agathes Glaube hielt sich an dieses Gesicht und nicht an die Verwirrung der Worte. Sie hatte ähnlich zuckende Gesichter gesehn, die im nächsten Augenblick herabstürzten: dieses kam nicht näher; es schien mit einer unendlich großen Geschwindigkeit auf einem unendlich weiten Weg zu sein. Sie antwortete aufs kürzeste: «Geschwister ist eben nicht genug!»

«Wir haben ja auch schon <Zwillingsgeschwister> gesagt» entgegnete Ulrich, der sich nun geräuschlos erhob, weil er zu bemerken glaubte, daß die große Müdigkeit sich am Ende doch ihrer bemächtigt habe.

«Man müßte ein Siamesisches Zwillingspaar sein» sagte Agathe noch.

«Also Siamesische Zwillinge!» wiederholte ihr Bruder. Er war bemüht, ihre Hand aus der seinen zu lösen und sie vorsichtig auf die Decke zu legen, und seine Worte klangen schwerlos: ohne Gewicht und in ihrer Leichtigkeit sich noch ausbreitend, nachdem er schon das Zimmer verlassen hatte.

Agathe lächelte und sank allmählich in eine einsame Traurigkeit, deren Dunkel bald in das des Schlafs überging, ohne daß sie es in ihrer Übernächtigkeit merkte. Ulrich schlich sich aber in sein Arbeitszimmer und lernte dort, ohne daß er arbeiten konnte, zwei Stunden lang, bis auch er müde wurde, den Zustand kennen, von Rücksicht eingeengt zu sein. Er staunte darüber, wieviel er in dieser Zeit gern getan hätte, das Lärm machte und unterdrückt werden mußte. Das war ihm neu. Und beinahe reizte es ihn ein wenig, obwohl er sich mit großer Teilnahme auszumalen suchte, wie es wäre, mit einem ändern Menschen wirklich zusammengewachsen zu sein. Er war wenig davon unterrichtet, wie solche zwei Nervensysteme arbeiten, die wie zwei Blätter an einem Stiel sitzen und nicht nur durch ihr Blut, sondern mehr noch durch die Wirkung der völligen Abhängigkeit miteinander verbunden sind. Er nahm an, daß jede Erregung der einen Seele von der ändern mitgefühlt werde, während sich der hervorrufende Vorgang an einem Körper vollziehe, der in der Hauptsache nicht der eigene sei. «Eine Umarmung zum Beispiel: du wirst im ändern umarmt» dachte er. «Du bist vielleicht nicht einmal einverstanden, aber dein anderes Ich wirft eine übermächtige Welle des Einverständnisses in dich! Was geht dich an, wer deine Schwester küßt? Aber ihre 497

Erregung, die mußt du mit ihr lieben! Oder du bist es, der liebt, und nun mußt du sie irgendwie daran beteiligen, du kannst doch nicht bloß sinnlose physiologische Vorgänge in sie werfen… !?» Ulrich fühlte einen starken Reiz und ein großes Unbehagen von diesen Gedanken; es kam ihm schwer vor, hier die Grenze zwischen neuen Ansichten und Verzerrung der gewöhnlichen richtig zu ziehen.

26

Frühling im Gemüsegarten

Das Lob, das ihr von Meingast zuteil wurde, und die neuen Gedanken, die sie von ihm empfing, hatten auf Ciarisse tiefen Eindruck gemacht. Ihre geistige Unruhe und Erregbarkeit, die sie manchmal selbst beunruhigte, hatte nachgelassen, war diesmal aber nicht, wie es andere Male geschehen, von Mißmut, Bedrückung und Aussichtslosigkeit abgelöst worden, sondern von einer außergewöhnlich gespannten Klarheit und durchsichtigen inneren Atmosphäre. Wieder einmal überblickte sie sich selbst und begriff sich kritisch.

Ohne zu zweifeln, ja mit einer gewissen Genugtuung nahm sie zur Kenntnis, daß sie nicht besonders klug sei; sie hatte eben zuwenig gelernt. Ulrich dagegen, wenn sie bei solcher vergleichenden Prüfung gerade an ihn dachte, Ulrich war wie ein Eisläufer, der sich auf einer geistigen Spiegelfläche nach Willkür näherte und entfernte. Nie war zu verstehen, woher es kam, wenn er etwas sagte; oder wenn er lachte, wenn er ärgerlich war, wenn seine Augen blitzten, wenn er da war und mit seinen breiten Schultern Walter den Raum im Zimmer wegnahm. Wenn er auch nur neugierig den Kopf umwandte, spannten sich seine Halssehnen wie Taue eines Seglers, der in windheller Fahrt auf und davon zieht. So war immer etwas an ihm, das über das ihr Zugängliche hinausreichte und das Verlangen wachhielt, sich mit dem ganzen Körper auf ihn zu werfen, um es zu fassen. Aber der Wirbel, in dem das manchmal geschah, so daß einmal schon nichts auf der Welt festgestanden war als der Wunsch, von Ulrich ein Kind zu haben, war jetzt weit fortgezogen und hatte nicht einmal jene Bruchstücke zurückgelassen, von denen die Erinnerung nach dem Abflauen von Leidenschaften unverständlich übersät ist. Ciarisse wurde höchstens ärgerlich, wenn sie ihres Mißerfolgs in Ulrichs Wohnung gedachte, und soweit dies überhaupt noch geschah, doch war ihr Selbstgefühl heil und frisch bereitet. Diese Wirkung hatten eben die neuen Vorstellungen, mit denen sie von ihrem philosophischen Gast ausgestattet wurde; abgesehen von den unmittelbaren Erregungen, in die sie durch das Wiedersehen mit diesem ins Großartige veränderten Freund versetzt wurde. So vergingen viele Tage in einer mannigfaltigen Spannung, während alle in dem kleinen, jetzt schon in der Frühlingssonne liegenden Haus darauf warteten, ob Ulrich die Erlaubnis bringen werde oder nicht, Moosbrugger an seinem unheimlichen Aufenthaltsort zu besuchen. Und vornehmlich war es ein Gedanke, der Ciarisse in diesem Zusammenhang wichtig vorkam: der Meister hatte die Welt «in einem Maße wahnfrei» genannt, daß sie von nichts mehr wisse, ob sie es lieben oder hassen solle, und Ciarisse war seither überzeugt, daß man sich einem Wahn überlassen müsse, wenn man der Gnade teilhaftig geworden sei, ihn zu fühlen. Denn ein Wahn ist eine Gnade. Wer wußte denn damals noch, ob er rechts oder links gehen solle, wenn er aus dem Hause trat, außer er hatte einen Beruf wie Walter, der ihn hinwieder beengte, oder eine Verabredung wie sie mit den Eltern oder Geschwistern, die sie langweilte! Das ist in einem Wahn anders! Da ist das Leben so praktisch eingerichtet wie eine moderne Küche: man sitzt in der Mitte, braucht sich kaum zu rühren und kann von seinem Platz aus alle Einrichtungen in Gang setzen. Für so etwas hatte Ciarisse immer Sinn gehabt. Und überdies verstand sie unter Wahn nichts anderes als man Willen nennt, nur besonders gesteigert. Ciarisse hatte sich bisher davon eingeschüchtert gefühlt, daß sie sich nur weniges von dem, was in der Welt vorgehe, richtig zu erklären vermöge, aber seit der Wiederbegegnung mit Meingast sah sie sich gerade dadurch begünstigt, nach eigenem Ermessen zu lieben, zu hassen und zu handeln. Denn nach des Meisters Wort tat der Menschheit nichts so not wie Wille, und dieses Gut, heftig wollen zu können, befand sich seit je in ihrem Besitz! Wenn Ciarisse das bedachte, wurde ihr kalt vor Glück und heiß vor Verantwortung. Natürlich war Wille dabei nicht etwa das düstere Bemühen, ein Klavierstück zu erlernen oder in einem Streit recht zu behalten, sondern ein mächtiges Gesteuertwerden vom Leben, ein Ergriffensein von sich selbst, ein Dahinschießen im Glück.

Und sie konnte nicht umhin, schließlich etwas davon Walter mitzuteilen. Sie teilte ihm mit, daß ihr Gewissen von Tag zu Tag stärker werde. Doch erwiderte Walter aufgebracht und unerachtet seiner 498

Bewunderung für Meingast, den vermuteten Urheber dieser. Tatsache: «Es ist wohl wahrhaftig ein Glück, daß es Ulrich nicht zu gelingen scheint, die Erlaubnis zu besorgen!»

Bloß ein Grimmen lief über Clarissens Lippen, aber es verriet Mitleid mit seiner Ahnungslosigkeit und Widerstand.

«Was willst du denn eigentlich von diesem Verbrecher, der uns alle zusammen nicht das geringste angeht!?» fragte Walter erregt.

«Es wird mir einfallen, wenn ich dort bin» gab Ciarisse zur Antwort.

«Ich meine, das müßtest du jetzt schon wissen!» bemerkte Walter männlich.

Seine kleine Frau lächelte, wie sie es immer tat, ehe sie ihn tief verletzte. Dann sagte sie aber bloß: «Ich werde etwas tun. »

«Clarisse!» erwiderte Walter fest «du darfst nichts tun ohne meine Erlaubnis; ich bin rechtlich dein Mann und Vormund!»

Das war ihr ein neuer Ton. Sie wandte sich von ihm ab, tat verwirrt ein paar Schritte.

«Ciarisse!» rief ihr Walter nach und erhob sich, ihr zu folgen. «Ich werde etwas gegen den Wahnsinn tun, der hier im Haus kreist!»

Da begriff sie, daß sich die Heilkraft ihres Entschlusses auch schon an Walters zunehmender Kraft fühlen mache. Sie wandte sich auf der Ferse um: «Was wirst du tun?!» fragte sie ihn, und ein Blitz aus dem Spalt ihrer Augen schlug in das feuchte, aufgerissene Braun der seinen.

« Sieh doch, » begütigte er und wich zurück, weil er sich von solcher Genauigkeit der erheischten Antwort überrascht sah «das haben wir ja alle in uns, diese intellektuelle Neigung für das Ungesunde, Schauerliche und Problematische, wir geistigen Menschen; aber — »

«Aber wir lassen die Philister gewähren!» unterbrach ihn Ciarisse siegprangend. Nun ging sie ihm nach, ließ ihn nicht aus den Augen. Fühlte, wie ihn ihre Heilkraft umschlang und kräftig zwang. Ihr Herz wurde plötzlich von einer unsäglichen und seltsamen Freude erfüllt.

«Aber wir machen nicht so viel Wesens davon» murmelte Walter seinen Satz verdrossen zu Ende. Hinter sich, am Saum seines Rockes, fühlte er einen Widerstand; hingreifend, erriet er die Kante eines der dünnbeinigen, leichten Tischchen, die es in seiner Wohnung gab und die ihm plötzlich gespenstisch vorkamen: wiche er noch weiter zurück, müßte er den Tisch lächerlicherweise ins Rutschen bringen, begriff er. Also widerstand er dem plötzlich erwachten Wunsch, weit fort von diesem Kampf zu sein, auf einer Wiese von tiefem Grün, unter blühenden Obstbäumen und zwischen Menschen, deren gesunde Fröhlichkeit seine Wunden wusch und reinigte. Es war ein ruhiger, dicker Wunsch, verschönt von Frauen, die seinem Wort lauschten und es mit Bewunderung bedankten. Und in dem Augenblick, wo sich ihm Ciarisse näherte, empfand er sie eigentlich als eine wüste traumartige Belästigung. Zu seiner Überraschung sagte Ciarisse aber nicht: du bist ein Feigling! Sondern sie sagte: «Walter? Warum sind wir unglücklich?!»

Bei dieser lockenden, hellsichtigen Stimme fühlte er, daß sein Unglück mit Ciarisse durch kein Glück mit einer anderen Frau ersetzt werden könnte. «Wir müssen es sein!» erwiderte er in einer ebenbürtigen Aufwallung.

«Nein, wir müßten es nicht sein!» versicherte Ciarisse nachgiebig. Sie ließ den Kopf zur Seite hängen und suchte nach etwas, das ihn überzeugen sollte. Im Grunde durfte es nicht einmal einen Unterschied ausmachen, was es sei: sie standen vor einander wie ein Tag ohne Abend, der das Feuer von Stunde zu Stunde weitergibt, ohne daß es weniger wird. «Du wirst mir zugeben, » begann sie schließlich in einem ebenso schüchternen wie eigensinnigen Tonfall «daß die wirklich großen Verbrechen nicht dadurch entstehn, daß man sie tut, sondern daraus, daß man sie gewähren läßt!»

Nun wußte Walter freilich, was kommen sollte, und es bedeutete eine heftige Enttäuschung. «O Gott!» rief er ungeduldig aus. «Ich weiß doch auch, daß durch Gleichgültigkeit und durch die Leichtigkeit, mit der man sich heute ein gutes Gewissen beschaffen kann, weit mehr Menschenleben zugrunde gerichtet werden als durch den bösen Willen einzelner! Und es ist bewundernswert, daß du jetzt sagen wirst, jeder muß darum sein Gewissen schärfen und muß jeden Schritt aufs genaueste prüfen, ehe er ihn tut. »

Ciarisse unterbrach ihn, indem sie den Mund öffnete, aber sie überlegte es sich anders und gab keine Antwort.

«Auch ich denke ja an die Armut, den Hunger, die Verkommenheit jeder Art, die unter Menschen zugelassen werden, oder an die Einstürze von Bergwerken, deren Verwaltungsräte an den 499

Sicherheitseinrichtungen gespart haben, » fuhr Walter kleinlaut fort «und habe dir ja alles schon zugegeben.

»

«Aber zwei Liebende dürfen dann einander auch nicht lieben, solange ihr Zustand nicht <reines Glück> ist»

sagte Ciarisse. «Und die Welt wird sich nicht eher bessern, als es solche Liebende gibt!»

Walter schlug die Hände zusammen. «Begreifst du nicht, wie lebensungerecht solche großen, blendenden, ungemischten Forderungen sind!» rief er aus. «So verhältes sich doch auch mit diesem Moosbrugger, der von Zeit zu Zeit in deinem Kopf wie auf einer Drehscheibe auftaucht! Eigentlich hast du ja recht, wenn du behauptest, daß man nicht ruhen darf, solange solche unglücklichen Menschentiere einfach getötet werden, weil die Gesellschaft nichts mit ihnen anzufangen weiß; aber sozusagen noch eigentlicher hat natürlich das gesunde gewöhnliche Gewissen recht, wenn es sich einfach weigert, auf solche überfeinerte Zweifel einzugehn. Es gibt eben gewisse letzte Kennmale des gesunden Denkens, die man nicht beweisen kann, sondern im Blut haben muß!»

Clarisse erwiderte: «Nach deinem Blut ist natürlich Eigentlich immer Eigentlich nicht!»

Walter schüttelte beleidigt den Kopf und zeigte ihr, daß er darauf nicht antworten werde. Er war es schon müde, immer den Warner davor zu spielen, daß einseitige Gedankenkost verderblich sei, und vielleicht machte es ihn auf die Dauer sogar selbst unsicher.

Aber Ciarisse las durch eine nervöse Feinfühligkeit, die ihn immer wieder in Erstaunen setzte, seine Gedanken, und indem sie ihren Kopf aufrichtete, übersprang sie alle Zwischenstufen und landete bei ihm auf dem Höhepunkt mit der dringlich leise vorgebrachten Frage: «Kannst du dir Jesus als Bergwerksdirektor vorstellen?» Ihr Gesicht verriet, daß sie unter Jesus eigentlich ihn meine, in einer jener Übertreibungen, worin sich die Liebe nicht vom Irrsinn unterscheidet. Er wehrte es mit einer ebenso entrüsteten wie ‘verzagten Bewegung der Hand ab. «Nicht so direkt, Ciarisse!» beschwor er sie. «Man darf nicht so direkt sprechen!»

«Doch!» versetzte Ciarisse. «Gerade direkt muß man sein! Wenn wir nicht die Kraft haben, ihn zu retten, werden wir auch nicht die Kraft haben, uns zu retten!»

«Und was ist schließlich dabei, wenn er verreckt!» rief Walter heftig aus. Er glaubte im Genuß dieser rohen Antwort den befreienden Geschmack des Lebens selbst auf der Zunge zu fühlen, der herrlich gemischt war mit dem Geschmack des Todes und des verstrickten Zugrundegehens, den Ciarisse andeutend heraufbeschwor.

Ciarisse sah ihn wartend an. Aber Walter schien an seinem Ausbruch genug zu haben oder verstummte aus Unentschlossenheit. Und wie einer, der also gezwungen ist, den unwiderstehlichen letzten Trumpf auszuspielen, sagte sie: «Mir ist ein Zeichen gesandt worden!»

«Das bildest du dir doch nur ein!» schrie Walter zur Zimmerdecke empor, die den Himmel vertrat; aber Ciarisse verließ mit ihren letzten schwerlosen Worten das Beisammensein und wollte ihn nichts mehr sagen lassen.

Dagegen sah er sie ein wenig später eifrig mit Meingast sprechen. Das Gefühl, sie würden beobachtet, das diesen belästigte, weil er selbst nicht so weit sah, beruhte auf Richtigkeit. Tatsächlich beteiligte sich Walter nicht an der eifrigen Gartenarbeit seines inzwischen zu Besuch gekommenen Schwagers Siegmund, der mit aufgeschlagenen Ärmeln in einer Erdfurche kniete und irgend etwas tat, wovon Walter behauptet hatte, daß man es im Garten zur Frühjahrszeit tun müsse, wenn man Mensch sein wolle und nicht bloß ein flaches Lesezeichen in den Bänden der Fachliteratur.

Sondern Walter blickte verstohlen zu dem Paar hinüber, das sich in der anderen Ecke des offen daliegenden Nutzgartens befand.

Er glaubte nicht, daß in der von ihm beobachteten Gartenecke etwas Unerlaubtes vor sich gehe. Trotzdem fühlte er eine unnatürliche Kälte in den Händen, die der Frühlingsluft ausgesetzt waren, und in den Beinen, die nasse Flecken davon hatten, daß er zeitweilig niederkniete, um Siegmund anzuweisen. Er sprach hochfahrend mit ihm, wie es schwache und gedemütigte Menschen tun, wenn sie an jemand ihre Laune auslassen dürfen. Er wußte, daß Siegmund, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihn zu verehren, nicht so leicht davon abzubringen wäre. Trotzdem war es geradezu eine Nach-Sonnenuntergang-Einsamkeit und Grabeskälte, die er zu fühlen glaubte, während er beobachtete, daß Ciarisse niemals zu ihm herübersehe, sondern mit dauernden Zeichen der Teilnahme Meingast anblicke. Und überdies war er auch noch stolz darauf. Seit sich Meingast in seinem Hause befand, war er ebenso stolz auf die Abgründe, die darin 500

aufsprangen, wie vorsorglich bemüht, sie zu verstopfen. Aus der Höhe des Stehenden hatte er zu dem auf den Knien liegenden Siegmund nun die Worte gelangen lassen: «Das empfinden und kennen wir natürlich alle, eine gewisse Neigung für das Problematische und Ungesunde!» Er war kein Duckmäuser. Er hatte sich in der kurzen Zeit, seit ihn Ciarisse auf Grund dieses Satzes einen Philister genannt hatte, das Wort von der

«kleinen Ehrlosigkeit des Lebens» zurechtgemacht. «Eine kleine Ehrlosigkeit ist gut wie süß oder sauer, »

belehrte er jetzt seinen Schwager «aber wir sind verpflichtet, sie solange in uns zu verarbeiten, bis sie dem gesunden Leben zur Ehre gereicht! Und ich verstehe unter einer solchen kleinen Ehrlosigkeit» fuhr er fort

«ebensowohl das sehnsüchtige Paktieren mit dem Tod, das uns ergreift, wenn wir die Tristan-musik hören, wie die heimliche Anziehung, die den meisten Sexualverbrechen zu eigen ist, obwohl wir ihr nicht nachgeben! Denn ich nenne ehrlos und menschlich-widersacherisch, siehst du, ebensowohl das Elementare des Lebens, wenn es in Not und Krankheit über uns Herr wird, wie das übertrieben Geistige und Gewissenhafte, das dem Leben Gewalt antun möchte. Alles, was die Grenzen überschreiten möchte, die uns gezogen sind, ist ehrlos! Mystik ist ebenso ehrlos wie die Einbildung, daß man die Natur auf eine mathematische Formel bringen könne! Und die Absicht, Moosbrugger aufzusuchen, ist ebenso ehrlos wie -» Hier unterbrach sich Walter einen Augenblick, um den Nagel auf den Kopf zu treffen, und schloß mit den Worten: «wenn du am Krankenbett Gott anrufen wolltest!» Gewiß war damit nun etwas gesagt und sogar überraschend die berufsmäßige und unwillkürliche Humanität des Arztes dafür angerufen worden, daß Clarissens Vorhaben und seine überspannten Begründungen die Grenzen des Erlaubten überschritten. Aber im Verhältnis zu Siegmund war Walter ein Genie, und das hatte sich darin geäußert, daß Walter von seinem gesunden Denken zu solchen Gedankenbekenntnissen geführt worden war, während sich die noch gesündere Gesundheit seines Schwagers darin ausdrückte, daß er zu dieser fragwürdigen Stoffwelt entschlossen schwieg. Siegmund häufelte die Erde mit seinen Fingern und neigte dabei, ohne die Lippen zu öffnen, manchmal den Kopf von der einen auf die andere Seite, so als ob er ein Probierglas umschütten wollte, oder auch nur so, als ob er dann in dem einen Ohr genug hätte. Und nachdem sich Walter ausgesprochen hatte, trat eine furchtbar tiefe Stille ein, und in dieser hörte nun Walter einen Satz, den ihm wohl auch Ciarisse einmal zugerufen haben mußte; denn er hörte zwar nicht in halluzinatorischer Lebendigkeit, aber doch gleichsam in der Stille ausgespart die Worte: «Nietzsche und Christus sind an ihrer Halbheit zugrunde gegangen!» Und auf eine nicht ganz geheuerliche, an den «Bergwerksdirektor» erinnernde Weise schmeichelte ihm das. So war es eine eigentümliche Lage, wie er, die Gesundheit selbst, hier im kühlen Garten stand zwischen einem Mann, auf den er hochmütig hinabblickte, und zwei unnatürlich Erhitzten, zu deren stummen Gebärdenspiel er überlegen und dennoch sehnsüchtig hinübersah. Denn Ciarisse war nun einmal die kleine Ehrlosigkeit, die seine Gesundheit brauchte, um nicht zu verflauen, und eine heimliche Stimme sagte ihm, daß Meingast soeben im Begriff sei, die zulässige Kleinheit dieser Ehrlosigkeit maßlos zu vergrößern. Er bewunderte ihn mit der Empfindung, die ein unberühmter Verwandter für einen berühmten hat, und es erregte mehr seinen Neid als seine Eifersucht, also ein Gefühl, das noch heftiger als diese nach innen schlug, Ciarisse mit ihm verschwörerisch wispern zu sehn; aber doch erhob es ihn auch irgendwie, er wollte, im Bewußtsein seiner eigenen Würde, nicht böse werden, er verbot sich, hinüber zu gehn und die beiden zu stören, er fühlte sich angesichts ihrer Erhitzung als den Überlegenen, und aus alledem entstand, er wußte selbst nicht wie, ein zwittrig unklarer, abseits aller Logik geborener Gedanke: daß die beiden dort drüben in einer ungehemmten und zu mißbilligenden Weise Gott anriefen.

Das war, wenn man einen solchen wunderlich gemischten Zustand schon ein Denken nennen muß, doch ein solches, das sich in keiner Weise aussprechen läßt, weil die Chemie seines Dunkels durch den lichten Einfluß der Sprache augenblicklich verdorben wird. Walter verband auch, wie er vor Siegmund gezeigt hatte, durchaus keinen Glauben mit dem Wort Gott, und nachdem es ihm eingefallen war, entstand eine scheue Leere rings darum: so kam es, daß nach langem Schweigen das erste, was Walter wieder zu seinem Schwager sagte, sehr weit davon entfernt war. «Du bist ein Esel, » warf er ihm vor «wenn du dich nicht befugt glaubst, ihr von diesem Besuch ganz energisch abzuraten; wozu bist du denn Arzt?!»

Siegmund nahm auch das ganz und gar nicht übel. «Das mußt du schon allein mit ihr ausmachen» gab er, ruhig aufblickend, zur Antwort und wandte sich wieder seiner Beschäftigung zu.

Walter seufzte. «Ciarisse ist natürlich ein ungewöhnlicher Mensch!» begann er abermals. «Ich kann sie sehr gut verstehn. Ich gebe sogar zu, daß sie mit der Strenge ihrer Auffassung nicht unrecht hat. Denk bloß an die Armut, den Hunger, die Verkommenheit jeder Art, wovon die Welt voll ist, an die Einstürze von 501

Bergwerken zum Beispiel, deren Verwaltungsräte an den Stützbauten gespart haben —!»

Siegmund ließ kein Zeichen davon, daß er daran denke, erkennen.

«Nun, sie tut es!» fuhr Walter mit Strenge fort. «Und ich finde das wunderschön von ihr. Wir ändern beschaffen uns viel zu leicht ein gutes Gewissen. Und sie ist besser als wir, wenn sie verlangt, daß wir alle uns ändern und uns ein tätigeres Gewissen, gleichsam eines ohne Ende, ein unendliches, aneignen sollen.

Aber was ich dich frage, ist: muß das denn nicht zu moralischem Skrupelwahn führen, wenn es nicht überhaupt schon etwas Ähnliches ist? Das mußt du doch entscheiden können?!»

Siegmund setzte sich bei dieser dringenden Aufforderung auf ein Bein und blickte seinen Schwager prüfend an. «Verrückt!» erklärte er. «Aber man kann nicht sagen im medizinischen Sinn. »

«Und was sagst du dazu, » fragte Walter weiter, ohne seiner Überlegenheit zu gedenken «daß sie behauptet, ihr würden Zeichen geschickt?»

«Sie sagt, daß ihr Zeichen geschickt werden?» fragte Siegmund bedenklich.

«Ja doch! Dieser verrückte Mörder zum Beispiel! Und neulich jenes verrückte Schwein unter unseren Fenstern!»

«Ein Schwein?»

«Nein, eine Art Exhibitionist. »

«So?» sagte Siegmund und überlegte es. «Dir werden auch Zeichen geschickt, wenn du etwas zum Malen findest. Sie drückt sich bloß aufgeregter aus als du» entschied er schließlich.

«Und daß sie behauptet, sie müsse die Sünden dieser Menschen, und auch meine und deine und ich weiß nicht wessen Sünden noch, auf sich nehmen?!» rief Walter dringend.

Siegmund war aufgestanden und stäubte die Erde von seinen Händen. «Sie fühlt sich von Sünden bedrückt?» fragte er überflüssigerweise noch einmal und stimmte höflich zu, als freute er sich, seinem Schwager endlich beipflichten zu können: «Das ist ein Symptom!»

«Das ist ein Symptom?» fragte Walter zerknirscht.

«Sündenwahn ist ein Symptom» bestätigte Siegmund mit der Unparteilichkeit des Fachmanns.

«Es ist aber so» fügte Walter hinzu und legte gegen das Urteil, das er selbst heraufbeschworen hatte, augenblicklich Berufung ein: «Du mußt dich doch zuerst selbst fragen: gibt es Sünde? Natürlich gibt es Sünde. Aber dann gibt es auch einen Sündenwahn, der kein Wahn ist. Das verstehst du vielleicht nicht, denn es ist ja überempirisch! Es ist die gekränkte Verantwortung des Menschen für ein höheres Leben!»

«Aber sie behauptet doch, es würden ihr Zeichen geschickt!» wandte nun der beharrliche Siegmund ein.

« Aber mir werden doch auch Zeichen geschickt, sagst du!» rief Walter heftig aus. «Und ich sage dir, ich möchte manchmal mein Schicksal auf den Knien bitten, daß es mich zufrieden lassen möge: aber jedesmal schickt es wieder, und die großartigsten Zeichen schickt es durch Ciarisse!» Dann fuhr er ruhiger fort: «Sie behauptet zum Beispiel jetzt, dieser Moosbrugger bedeute sie und mich in unserer <Sündengestalt> und sei uns als Mahnung geschickt worden; aber das läßt sich so verstehn: es ist ein Symbol dafür, daß wir die höheren Möglichkeiten unseres Lebens, sozusagen seine Lichtgestalt, vernachlässigen. Vor vielen Jahren, als sich Meingast von uns trennte -»

«Aber Sündenwahn ist ein Symptom für gewisse Störungen!» erinnerte ihn Siegmund mit dem verzweifelten Gleichmut des Fachmanns.

«Du kennst natürlich nur Symptome!» verteidigte Walter lebhaft seine Ciarisse. «Denn das andere ginge über deine Erfahrung hinaus. Aber vielleicht ist gerade dieser Aberglaube, der alles, was nicht zur gemeinsten Erfahrung stimmt, als eine Störung behandelt, die Sünde und Sündengestalt unseres Lebens!

Und Ciarisse verlangt eine innere Aktion dagegen. Schon vor vielen Jahren, damals, als sich Meingast von uns trennte, haben wir - » Er dachte an die Geschichte, wie Ciarisse und er Meingasts «Sünden auf sich nahmen», aber es war aussichtslos, Siegmund den Vorgang einer geistigen Erweckung zu erklären, und so schloß er unbestimmt mit den Worten: «Und schließlich, daß es immer Menschen gegeben hat, die die Sünden aller gleichsam auf sich lenkten oder auch in sich verdichteten, wirst du vielleicht selbst nicht leugnen?!»

Sein Schwager sah ihn zufrieden an. «Nun also!» gab er freundlich zur Antwort. «Da beweist du jetzt selbst, was ich schon zu Anfang behauptet habe. Daß sie sich von Sünden bedrückt glaubt, ist ein typisches Verhalten bei gewissen Störungen. Aber es gibt im Leben auch untypische Verhaltensweisen: Mehr habe ich nicht behauptet. »

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«Und diese übertriebene Strenge, mit der sie alles durchführt?» fragte Walter nach einer Weile seufzend.

«Ein solcher Rigorismus ist doch kaum noch normal zu nennen?»

Indessen hatte Ciarisse eine wichtige Unterredung mit Meingast. «Du hast gesagt, » erinnerte sie ihn «daß die Menschen, die sich darauf etwas zugute tun, daß sie die Welt erklären und verstehen, niemals etwas an ihr ändern werden?»

«Ja» erwiderte der Meister. «<Wahr> und <Falsch>, das sind die Ausreden derer, die nie zu einer Entscheidung kommen wollen. Denn die Wahrheit ist ein Ding ohne Ende. »

«Darum hast du gesagt, daß man den Mut haben muß, sich zwischen <Wert> und <Unwert> zu entscheiden?!» forschte Ciarisse.

«Ja» sagte der Meister etwas gelangweilt.

«Wunderbar verächtlich ist auch die von dir geprägte Formel, » rief Ciarisse aus «daß im heutigen Leben die Menschen bloß das tun, was geschieht!»

Meingast blieb stehn und blickte zu Boden; man hätte ebensogut meinen können, daß er sein Ohr neige wie daß er ein Steinchen betrachte, das rechts vor ihm am Wege liege. Aber Ciarisse fuhr nicht fort, ihm den Honig des Lobs darzureichen; auch sie hatte jetzt den Kopf gebeugt, so daß ihr Kinn beinahe in der Halsgrube ruhte, und ihr Blick bohrte sich zwischen Meingasts Stiefelspitzen in die Erde; eine leichte Röte zog in ihrem fahlen Antlitz auf, als sie, vorsichtig die Stimme dämpfend, mit den Worten fortfuhr: «Du hast gesagt, alle Sexualität ist nur ein Bocksprung!»

«Ja, das habe ich bei einer bestimmten Gelegenheit gesagt. Was unserer Zeit an Willen abgeht, verausgabt sie, abgesehen von ihrer sogenannten wissenschaftlichen Tätigkeit, in Sexualität!»

Ciarisse zögerte eine Weile, dann sagte sie: «Ich selbst habe viel Willen, aber Walter macht Bocksprünge!»

«Was ist eigentlich zwischen euch los?» fragte der Meister, neugierig geworden, fügte aber sogleich beinahe angewidert hinzu: «Ich kann es mir natürlich denken. »

Sie befanden sich in einer Ecke des baumlosen Gartens, der in der vollen Frühlingssonne lag, und ungefähr in der schräg gegenüberliegenden Ecke kauerte Siegmund am Boden, während Walter, neben ihm stehend, lebhaft auf ihn einsprach. Der Garten hatte die Form eines an die Längsmauer des Hauses gelehnten Rechtecks, um dessen Gemüse-und Blumenbeete ein Kiesweg lief, während zwei Mittelwege mit ihrem Kies auf der noch unbewachsenen Erde ein helles Kreuz bildeten. Ciarisse erwiderte, vorsichtig zu den beiden anderen Männern hinüberspähend: «Er kann vielleicht nicht dafür: du mußt wissen, daß ich Walter in einer Weise anziehe, die nicht recht ist. »

«Ich kann es mir vorstellen» erwiderte diesmal der Meister mit einem teilnehmenden Blick. «Du hast etwas Knabenhaftes. »

Ciarisse fühlte bei diesem Lob ein Glück durch ihre Adern springen wie Hagelkörner. «Hast du <damals> gesehn, daß ich mich rascher anzuziehn vermag als ein Mann?!» fragte sie ihn geschwind.

In das wohlwollend gefaltete Gesicht des Philosophen geriet Verständnislosigkeit. Ciarisse kicherte. «Das ist so ein Doppelwort» erklärte sie. «Es gibt auch andere: Lustmord zum Beispiel. »

Nun fand es der Meister wohl gut, sich von nichts überrascht zu zeigen. «Doch, doch, » erwiderte er «ich Weiß. Du hast ja einmal behauptet, daß es Lustmord sei, wenn man die Liebe in der üblichen Umarmung löscht. » Aber was sie mit dem Anziehen meine, wollte er wissen.

«Gewährenlassen ist Mord» erklärte Ciarisse mit der Schnelligkeit eines, der auf glattem Boden seine Kunststücke zeigt und vor Behendigkeit ausrutscht.

«Weißt du, » gestand Meingast «jetzt kenne ich mich wahrhaftig nicht mehr aus. Nun sprichst du doch wieder von dem Kerl, dem Zimmermann. Was willst du von ihm?»

Ciarisse scharrte nachdenklich mit der Fußspitze im Kies. «Das ist das gleiche» antwortete sie. Und plötzlich sah sie zum Meister auf. «Ich glaube, Walter sollte mich verleugnen lernen» sagte sie in einem kurz abgeschnittenen Satz.

«Ich kann das nicht beurteilen» meinte Meingast, nachdem er vergeblich eine Fortsetzung erwartet hatte.

«Aber sicher sind die radikalen Lösungen immer die besseren. »

Er hatte das bloß für alle Fälle gesagt. Aber Ciarisse senkte nun wieder den Kopf, so daß sich ihr Blick irgendwo in Meingasts Anzug vergrub, und nach einer Weile näherte sie ihre Hand langsam seinem Unterarm. Sie hatte plötzlich unbändige Lust, diesen harten, mageren Arm unter dem weiten Ärmel anzufassen und den Meister zu berühren, der sich verstellte, als wüßte er nichts von den erleuchtenden 503

Worten, die er über den Zimmermann gesagt hatte. Es waltete, während es geschah, in ihr die Empfindung, daß sie einen Teil von sich zu ihm hinüberschiebe, und in der Langsamkeit, mit der ihre Hand in seinem Ärmel verschwand, in dieser flutenden Langsamkeit, kreisten Trümmer einer unbegreiflichen Wollust, die von der Wahrnehmung herrührten, daß der Meister stillhalte und sich von ihr berühren lasse.

Meingast aber sah aus irgendeinem Grund entgeistert auf die Hand, die seinen Arm in der Art umklammerte und an ihm hinanstieg, wie sich ein vielbeiniges Tier auf sein Weibchen schiebt; er sah unter den gesenkten Augenlidern der kleinen Frau etwas zucken, das ungewöhnlich war: er begriff einen zweifelhaften Vorgang, der durch die Öffentlichkeit, in der er sich abspielte, ihn rührte. «Komm!» schlug er vor, freundlich ihre Hand entfernend: «Wenn wir hier stehen bleiben, sind wir allen zu sichtbar; wir wollen wieder auf und ab gehen!»

Während sie nun auf und ab wandelten, erzählte Clarisse: «Ich ziehe mich rasch an; rascher als ein Mann, wenn es sein muß. Die Kleider fliegen mir auf den Leib, wenn ich so -wie soll ich das nennen? - wenn ich eben so bin! Das ist vielleicht eine Art Elektrizität; was zu mir gehört, ziehe ich an. Aber es ist gewöhnlich eine unheilvolle Anziehung. »

Meingast lächelte zu diesen Wortspielen, die er noch immer nicht verstand, und suchte aufs Geratewohl nach einer eindrucksvollen Erwiderung. «Du ziehst also deine Kleider sozusagen an wie ein Held das Schicksal?» gab er zur Antwort.

Zu seiner Überraschung blieb Ciarisse stehen und rief aus: «Ja, gerade das ist es! Wer so lebt, fühlt das auch mit Kleid, Schuh, Messer und Gabel!»

«Es ist etwas Wahres daran» bestätigte der Meister diese dunkel überzeugende Behauptung. Dann fragte er geradeswegs: «Wie machst du es eigentlich mit Walter?»

Ciarisse verstand nicht. Sie sah ihn an und gewahrte in seinem Auge plötzlich gelbe Wolken, die in einem wüsten Wind zu treiben schienen. «Du hast gesagt, » fuhr Meingast zögernd fort «daß du ihn in einer Weise anziehst, die <nicht recht> ist. Die also wahrscheinlich nicht die rechte einer Frau ist? Wie ist das? Bist du überhaupt gegen Männer frigid?»

Ciarisse kannte das Wort nicht.

«Frigid ist, » erklärte der Meister «wenn eine Frau an der Umarmung der Männer kein Gefallen findet. »

«Aber ich kenne doch nur Walter» wandte Ciarisse eingeschüchtert ein.

«Nun ja, aber nach allem, was du gesagt hast, müßte man es doch annehmen?»

Ciarisse war verblüfft. Sie mußte nachdenken. Sie wußte es nicht. «Ich? Ich darf doch nicht; ich muß es ja gerade hindern!» sagte sie. «Ich darf es nicht gelten lassen!»

«Was du sagst!» Jetzt lachte der Meister unanständig. «Du mußt verhindern, daß du etwas empfindest?

Oder daß Walter auf seine Kosten kommt?»

Ciarisse wurde rot. Aber damit wurde ihr auch klarer, was sie zu sagen habe. «Wenn man nachgibt, ertrinkt alles in Geschlechtslust» erwiderte sie ernst. «Ich erlaube der Lust der Männer nicht, sich von ihnen zu trennen und meine Lust zu werden. Darum ziehe ich sie schon an, seit ich ein kleines Mädchen war. Es ist etwas mit der Lust der Männer nicht in Ordnung. »

Aus verschiedenen Gründen zog es nun Meingast vor, darauf nicht einzugehen. «Kannst du dich denn so beherrschen?» fragte er.

«Ja, das ist verschieden» gab Ciarisse aufrichtig zu. «Aber ich habe dir ja gesagt: ich wäre ein Lustmörder, wenn ich ihn gewähren ließe!» Eifriger werdend, fuhr sie fort: «Meine Freundinnen sprechen davon, daß man in den Armen eines Mannes <vergeht>. Ich kenne das nicht. Ich bin noch nie in den Armen eines Mannes vergangen. Aber ich kenne das Vergehen außerhalb der Umarmung. Du kennst es sicher auch; denn du hast doch gesagt, daß die Welt viel zu wahnfrei sei -!» Meingast wehrte mit einer Gebärde ab, als hätte sie ihn nicht recht verstanden. Aber nun war es ihr schon allzu klar: «Wenn du zum Beispiel sagst, daß man sich gegen das Minderwertige zugunsten des Höherwertigen entscheiden muß, » rief sie aus «so heißt das doch: es gibt ein Leben in einer Wollust, die ungeheuer und ohne Grenzen ist! Das ist nicht die des Geschlechts, es ist die Wollust des Genies! Und an der übt Walter Verrat, wenn ich ihn nicht hindere!»

Meingast schüttelte den Kopf. Verneinung war in ihm bei dieser veränderten und leidenschaftlichen Wiedergabe seiner Worte, es war eine aufgescheuchte, beinahe ängstliche Verneinung; und von allem, was sie enthielt, erwiderte er das Zufälligste: «Es ist doch fraglich, ob er anders überhaupt könnte!»

Ciarisse blieb stehn, als hätte sie Blitzwurzeln in den Boden geschlagen. «Er muß!» rief sie aus. «Gerade du 504

hast uns doch gelehrt, daß man muß!»

«Das ist richtig» gab der Meister zögernd zu und mahnte durch sein Beispiel vergeblich ans Weitergehn.

«Aber was willst du eigentlich?»

«Siehst du, ich habe noch nichts gewollt, ehe du gekommen bist» sagte Ciarisse leise. «Aber es ist doch so entsetzlich, dieses Leben, das aus dem Ozean der Lebenslüste nur das bißchen Geschlechtslust holt! Und jetzt will ich etwas. »

«Danach frage ich dich doch» half Meingast nach.

«Man muß zu einem Zweck auf der Welt sein. Man muß zu etwas <gut> sein. Sonst bleibt alles schrecklich verworren» gab Ciarisse zur Antwort.

«Hängt es mit Moosbrugger zusammen, was du willst?» forschte Meingast.

«Das kann man nicht erklären. Man muß sehen, was daraus wird!» entgegnete Clarisse. Dann fügte sie nachdenklich hinzu: «Ich werde ihn entführen, ich werde einen Skandal heraufbeschwören!» Ihr Ausdruck veränderte sich dabei zum Geheimnisvollen. «Ich habe dich beobachtet» sagte sie plötzlich. «Es kommen und gehn bei dir geheimnisvolle Leute! Du lädst sie ein, wenn du glaubst, daß wir außer Haus sind. Es sind Knaben und junge Männer! Du sagst nicht, was sie wollen!» Meingast starrte sie fassungslos an. «Du bereitest etwas vor, » fuhr Ciarisse fort «du setzt es in Gang! Aber ich - » stieß sie flüsternd hervor «ich bin auch so stark, daß ich mit mehreren gleichzeitig Freundschaft halten kann! Ich habe den Charakter und die Pflichten eines Mannes erworben! Ich habe im Umgang mit Walter männliche Empfindungen erlernt!… »

Wieder griff ihre Hand nach Meingasts Arm. Man merkte ihr an, daß sie nichts davon wisse. Die Finger kamen in der Haltung von Krallen aus dem Ärmel hervor. «Ich bin ein Doppelwesen, » wisperte sie «das mußt du wissen! Aber es ist nicht leicht. Du hast recht, daß man dabei die Gewalt nicht scheuen darf!»

Meingast sah sie noch immer verlegen an. Er kannte sie nicht in diesen Zuständen. Der Zusammenhang, den ihre Worte hatten, blieb ihm unverständlich. Für Ciarisse war in diesem Augenblick nichts einfacher als der Begriff des Doppelwesens, aber Meingast fragte sich, ob sie etwas von seinem geheimen Umgang erraten habe und darauf anspiele. Es gab noch nicht viel zu erraten; er hatte erst vor kurzem begonnen, in Einklang mit seiner Männer-Philosophie einen Wandel in seinen Empfindungen wahrzunehmen und junge Männer an sich zu ziehn, die etwas mehr bedeuteten als Schüler. Aber vielleicht hatte er deshalb seinen Aufenthalt gewechselt und war hierher gekommen, wo er sich vor Beobachtung sicher fühlte; er hatte noch nie an eine solche Möglichkeit gedacht, und diese kleine, unheimlich gewordene Person zeigte sich anscheinend imstande vorauszuahnen, was sich mit ihm zutrug. Ihr Arm kam auf irgendeine Weise immer länger aus dem Ärmel des Kleids hervor, ohne daß sich die Entfernung zwischen den beiden Körpern, die er verband, geändert hätte, und dieser nackte, magere Unterarm zusammen mit der daran sitzenden Hand, die Meingast berührte, hatte im Augenblick eine so ungewöhnliche Gestalt, daß in der Phantasie des Mannes alles durcheinandergeriet, was vordem noch Grenzen gehabt hatte.

Aber Ciarisse brachte nun nicht mehr hervor, was sie soeben noch hatte sagen wollen, obwohl es in ihr klar zutage lag. Die Doppelworte waren Zeichen dafür, verstreut in der Sprache wie Äste, die man knickt, oder Blätter, die man auf den Boden streut, um einen heimlichen Weg finden zu lassen. Es wiesen «Lustmord»

und «Anziehen», so wies aber auch «schnell», und viele, vielleicht sogar alle anderen Worte wiesen auf zwei Bedeutungen, von denen die eine geheim und persönlich war. Eine doppelte Sprache bedeutet aber ein doppeltes Leben. Die gewöhnliche ist offenbar das der Sünde, die geheime das der Lichtgestalt. So war zum Beispiel «schnell» in seiner Sündengestalt die gewöhnliche aufreibende, alltägliche Eile, in der Lustgestalt schnellte davon aber alles und federte in lustvollen Sprüngen. Dann kann man aber für Lustgestalt auch Kraftgestalt oder Unschuldsgestalt sagen und anderseits die Sündengestalt mit allen Namen nennen, die etwas von Niedergedrücktheit, Flauheit und der Unentschiedenheit des gemeinen Lebens haben. Das waren merkwürdige Beziehungen zwischen den Dingen und dem Ich, so daß etwas, das man tat, seine Wirkung hatte, wo man sie nie vermutet hätte; und je weniger sich Ciarisse darüber aussprechen konnte, desto lebhafter entfalteten sich innen die Worte und gingen rascher, als sie einzusammeln waren. Aber eine Überzeugung besaß sie nun schon geraume Zeit: die Pflicht, das Vorrecht, die Aufgabe dessen, was man Gewissen, Wahn, Wille nennt, ist es, die starke Gestalt, die Lichtgestalt zu finden. Es ist die, wo nichts zufällig ist, worin kein Raum ist zu schwanken, wo Glück und Zwang zusammenfallen. Andere Leute haben das «wesentlich leben» genannt, sprachen vom «intelligiblen Charakter», bezeichneten den Instinkt als die Unschuld und den Intellekt als die Sünde: Ciarisse konnte so nicht denken, aber sie hatte die 505

Entdeckung gemacht, man könne ejn Geschehen in Gang bringen, und manchmal bänden sich dann von selbst Teile der Lichtgestalt daran und wären auf diese Weise ein-gekörpert. Aus Gründen, die in erster Linie mit Walters empfindungsreichem Nichtstun zusammenhingen, weiter aber aus heldenhafter Ehrsucht, der immer die Mittel gefehlt hatten, war sie bis zu dem Gedanken geführt worden, jeder Mensch könne sich durch etwas, das er gewalttätig unternehme, ein Denkmal voransetzen und werde dann von diesem nachgezogen. Darum war ihr auch ganz unklar, was sie mit Moosbrugger vorhatte, und sie konnte Meingast nichts auf seine Frage antworten.

Sie wollte es überdies nicht. Walter hatte ihr zwar verboten zu sagen, daß sich der Meister wieder verwandle, aber ohne Zweifel ging dessen Geist zur heimlichen Vorbereitung einer Tat über, von der sie nichts wußte und die so herrlich sein konnte, wie es sein Geist war. Er mußte sie also verstehn, wenn er sich auch verstellte. Je weniger sie sagte, desto mehr zeigte sie ihm ihr Wissen. Sie durfte ihn auch anfassen, und er konnte es ihr nicht verwehren. Er anerkannte damit ihr Vorhaben, und sie drang in das seine ein und hatte teil daran. Auch das war irgendeine Art von Doppelwesen, und ein so starkes, daß es ihr gar nicht mehr klar wurde. Durch ihren Arm floß alles, was sie an Kraft hatte und in seinen Maßen gar nicht kannte, in einem schier unerschöpflichen Strom zu dem geheimnisvollen Freund hinüber und hinterließ sie in einer Ohnmacht und Ausgehöhltheit des Marks, die jede Empfindung der Liebe übertraf. Sie konnte nichts tun, als lächelnd ihre Hand anzuschaun, oder abwechselnd ihm ins Gesicht zu blicken. Und auch Meingast tat nichts anderes, als daß er abwechselnd sie und ihre Hand anblickte.

Und plötzlich geschah dabei etwas, das Ciarisse zuerst ganz unvorbereitet traf, dann aber in einen Taumel mä-nadischen Entzückens versetzte: Meingast hatte in seinem Gesicht ein überlegenes Lächeln festzuhalten versucht, das ihn davor schützen sollte, ihr seine Unsicherheit zu verraten; diese wuchs aber von Minute zu Minute und entstand immer von neuem aus etwas scheinbar Unbegreiflichem. Denn es gibt vor jeder unter Zweifeln verantworteten Tat eine Zeitspanne der Schwäche, die den Augenblicken der Reue nach der Tat entspricht, wenngleich sie im natürlichen Verlauf des Geschehens kaum in Erscheinung tritt.

Die Überzeugungen und heftigen Einbildungen, von denen die fertige Handlung geschützt und gutgeheißen wird, haben da noch nicht ihre volle Ausbildung erreicht und schwanken in der zusammenströmenden Leidenschaft ähnlich unsicher und unfest, wie sie vielleicht später in der rückströmenden Leidenschaft der Reue zittern oder zusammenbrechen werden. In diesem Zustand seiner Absichten war Meingast überrascht worden. Es war ihm doppelt peinlich, aus Gründen der Vergangenheit und auch des Ansehens, das er jetzt bei Walter und Ciarisse genoß, und jede heftige Erregung ändert noch dazu das Bild der Wirklichkeit in ihrem Sinn, so daß sie daraus neue Steigerung in sich aufnehmen kann: Die Unheimlichkeit, in der sich Meingast befand, machte ihm Ciarisse unheimlich, die Furcht gab ihr etwas Furchtbares, und die Versuche, sich nüchtern auf die Wahrheit zu besinnen, vermehrten bloß durch ihre Ohnmacht die Bestürzung. So kam es, daß das Lächeln, statt überlegene Ruhe vorzutäuschen, in seinem Gesicht von einem Augenblick zum ändern etwas Steiferes annahm, ja etwas steif Schwebendes und schließlich sogar steif wie auf Stelzen davon zu schweben schien. In diesem Augenblick benahm sich der Meister nicht anders, als es ein großer Hund tut, der ein ungewöhnlich kleines Tier vor sich hat, das er sich nicht anzufallen traut, wie eine Raupe, Kröte oder Schlange: er richtete sich immer höher auf seinen langen Beinen auf, verzog die Lippen und den Rücken und sah sich plötzlich durch die Ströme des Unbehagens von dem Ort fortgezogen, wo sie ihre Quelle hatten, ohne daß er imstande gewesen wäre, seine Flucht durch ein Wort oder eine Gebärde zu verschleiern.