Ciarisse ließ ihn nicht los; bei den ersten, zögernden Schritten mochte das noch einem arglosen Eifer gleichen, aber später zerrte er sie mit sich und fand kaum die nötigsten Worte, ihr zu erklären, daß er auf sein Zimmer eilen und arbeiten wolle. Es gelang ihm erst im Hausflur, sich ganz von ihr zu befrein, und bis dorthin wurde er nur von seinem Fluchtwillen bewegt, ohne auf Clarissens Worte zu achten und erstickt durch die Vorsicht, die er gleichzeitig anwenden mußte, um Walter und Siegmund nicht aufzufallen.

Wirklich hatte Walter diesen Vorgang in seinem allgemeinen Aufbau erraten können. Er gewahrte, daß Ciarisse etwas mit Leidenschaft von Meingast fordere, was dieser verweigerte, und eine doppelschraubige Eifersucht bohrte sich in seine Brust. Denn obwohl er aufs schmerzlichste unter der Annahme litt, daß Ciarisse ihre Gunst dem Freunde anbiete, war er fast noch heftiger beleidigt, als er sie verschmäht zu sehen glaubte. Führe man das zu Ende, so wollte er Meingast zwingen, daß er Ciarisse zu sich nehme, und wäre dann von dem Schwung der gleichen inneren Bewegung in Verzweiflung gestürzt worden. Er war 506

wehmütig und heldisch erregt. Er ertrug es nicht, während Ciarisse auf der Schneide ihres Schicksals stand, von Siegmund gefragt zu werden, ob man die Stecklinge in lockeren Boden setzen oder die Erde rings um sie festklopfen müsse. Er mußte etwas sagen und fühlte sich in dem Zustand eines Klaviers in der Hundertstelsekunde zwischen dem Augenblick, wo der zehnfingerige Schwung eines ungeheuren Anschlags hineinfährt, und dem Aufheulen. Er hatte Licht in der Kehle. Worte, die alles ganz anders darstellen mußten als üblich. Aber unerwarteterweise war das einzige, was er hervorbrachte, etwas völlig davon Verschiedenes: «Ich werde es nicht dulden!» wiederholte er, mehr in den Garten hinaus als zu Siegmund.

Nun zeigte sich aber, daß dieser, scheinbar bloß mit Stecklingen und dem Häufeln von Erde beschäftigt, doch auch die Vorgänge beobachtet und sich sogar darüber Gedanken gemacht hatte. Denn Siegmund stand auf, klopfte sich die Knie sauber und gab seinem Schwager einen Rat. «Wenn du glaubst, daß sie zu weit geht, müßtest du sie eben auf andere Ideen bringen» sagte er in einer Art, als verstünde es sich von selbst, daß er die ganze Zeit über mit ärztlicher Gewissenhaftigkeit erwogen hebe, was ihm von Walter anvertraut worden sei.

«Wie soll ich das denn machen?!» fragte Walter verdutzt.

«Wie es ein Mann eben tut» sagte Siegmund. «Der Weiber Weh und Ach ist immer von dem gleichen Punkt aus zu kurieren, oder wie es schon heißt!» Er ließ sich sehr viel von Walter gefallen, und das Leben ist voll solcher Beziehungen, wo einer den ändern duckt und verdrängt, der sich nicht dagegen auflehnt. Genau genommen und nach Siegmunds eigener Überzeugung: gerade das gesunde Leben ist so. Denn die Welt wäre wahrscheinlich schon zur Zeit der Völkerwanderung zugrunde gegangen, wenn sich jeder bis auf den letzten Blutstropfen gewehrt hätte. Statt dessen haben sich aber immer die Schwächeren nachgiebig verzogen und haben andere Nachbarn gesucht, die von ihnen verdrängt werden konnten; und nach diesem Muster vollziehen sich die menschlichen Beziehungen in ihrer Mehrheit noch bis heute, und alles wird dabei mit der Zeit von selbst gut. Siegmund war in seinem Familienkreis, wo Walter als ein Genie galt, stets ein wenig als Dummkopf behandelt worden, hatte das auch anerkannt und wäre noch heute in jedem Fall der Nachgiebige und Huldigende gewesen, wo der Familienrang auf dem Spiel stand. Denn seit Jahren war diese alte Eingliederung im Verhältnis zu den neu entstandenen Lebensbeziehungen unwichtig geworden und wurde gerade deshalb so gelassen, wie es das Herkommen war. Siegmund hatte nicht nur eine recht gute Praxis als Arzt - und der Arzt herrscht, anders als der Beamte, nicht durch fremde Macht, sondern durch sein persönliches Können, er kommt zu Menschen, die von ihm Hilfe erwarten und sie fügsam entgegennehmen! - sondern besaß auch eine vermögende Frau, die ihm in kurzer Zeit sich und drei Kinder geschenkt hatte und von ihm, wenn auch nicht oft, so doch regelmäßig wenn es ihm paßte, mit anderen Frauen betrogen wurde. Darum war er durchaus in der Lage, wenn er wollte, Walter einen selbstgewissen und verläßlichen Rat zu geben.

In diesem Augenblick kam Ciarisse aus dem Haus ins Freie zurück. Sie erinnerte sich nicht mehr, was während des Hinstürmens gesprochen worden war. Wohl wußte sie, daß der Meister vor ihr die Flucht ergriffen hatte; aber diese Erinnerung hatte die Einzelheiten verloren, hatte sich geschlossen und zusammengefaltet. Es war etwas geschehn!: Mit dieser einzigen Vorstellung in ihrem Gedächtnis, fühlte sich Ciarisse wie ein Mensch, der aus einem Gewitter kommt und noch am ganzen Leib von sinnlicher Kraft geladen ist. Vor sich, wenige Meter vom Fuß der kleinen Steintreppe entfernt, auf die sie hinaustrat, sah sie eine tiefschwarze Amsel mit einem feuerfarbenen Schnabel sitzen, die einen dicken Wurm verspeiste. Es war eine ungeheure Energie in dem Tier oder in den beiden gegensätzlichen Farben. Man hätte nicht sagen können, daß Ciarisse dabei etwas dachte; vielmehr antwortete etwas hinter ihr von allen Seiten. Die schwarze Amsel war eine Sündengestalt im Augenblick der Gewaltanwendung. Der Wurm die Sündengestalt eines Schmetterlings. Die beiden Tiere waren ihr vom Schicksal auf den Weg geschickt, als Zeichen, daß sie handeln müsse. Man sah, wie die Amsel die Sünden des Wurms in sich aufnahm durch ihren brennend-orangeroten Schnabel. War sie nicht das «schwarze Genie?» So wie die Taube der «weiße Geist» ist? Bildeten die Zeichen keine Kette? Der Exhibitionist mit dem Zimmermann, mit der Flucht des Meisters… ? Nicht einer dieser Einfälle war in solcher entwickelten Form in ihr, sie saßen unsichtbar in den Wänden des Hauses, angerufen, doch ihre Antwort noch bei sich behaltend; aber was Ciarisse wirklich fühlte, als sie auf die Treppe hinaustrat und den Vogel sah, der den Wurm fraß, war eine unaussprechliche Übereinstimmung des inneren Geschehens mit dem äußeren. Sie übertrug sich in einer merkwürdigen Art auf Walter. Der Eindruck, den er empfing, entsprach sofort dem, was er «Gott anrufen» genannt hatte; er 507

kam diesmal ohne alle Unsicherheit darauf. Er konnte nicht ausnehmen, was in Ciarisse vor sich gehe, dazu war die Entfernung zu groß; aber etwas Nicht-Zufälliges gewahrte er an ihrer Haltung, wie sie vor der Welt dastand, in die die kleine Treppe hinabführte wie eine Badetreppe ins Wasser. Es war etwas Gehobenes. Es war nicht die Haltung des gewöhnlichen Lebens. Und er begriff plötzlich: Dieses gleiche Nichtzufälligsein meint Ciarisse, wenn sie sagt: «Dieser Mann ist nicht zufällig unter meinem Fenster!» Er selbst fühlte, seine Frau anblickend, wie der Druck fremd dahinströmender Kräfte in die Erscheinungen eintrat und sie füllte.

In der Tatsache, daß er da und Ciarisse dort stand, schräg vor ihm, der sein Auge unwillkürlich nach der Längsachse des Gartens richtete und es drehen mußte, um Ciarisse scharf zu sehn: schon in diesem schlichten Verhältnis überwog plötzlich der stumme Nachdruck des Lebens die natürliche Zufälligkeit. Aus der Fülle der sich vor dem Auge drängenden Bilder tauchte etwas Geometrisch-Linienhaftes und Ungewöhnliches empor. So konnte es zugehen, wenn Ciarisse in fast stofflosen Übereinstimmungen, wie dem Umstand, daß ein Mann unter ihrem Fenster stünde und ein anderer Zimmermann wäre, einen Sinn fand; die Geschehnisse hatten dann wohl eine Art sich aneinander zu lagern, die anders war als die gewöhnliche, gehörten einem fremden Ganzen an, das andere Seiten an ihnen hervorkehrte, und weil es diese aus ihren unaufdringlichen Verstecken hervorholte, Ciarisse zu der Behauptung ermächtigte, sie selbst sei es, die das Geschehen anziehe: Es war schwer, das nüchtern auszudrücken, aber schließlich fiel Walter auf, daß es doch gerade etwas ihm Wohlbekannten aufs nächste verwandt wäre, nämlich dem, was geschehe, wenn man ein Bild male. Auch ein Bild schließt auf eine nicht bekannte Weise jede Farbe und Linie aus, die nicht mit seiner Grundform, seinem Stil, seiner Palette übereinstimmt, und zieht anderseits das aus der Hand, was es braucht, kraft genialer Gesetze, die anders als die gewöhnlichen der Natur sind. In diesem Augenblick war nichts mehr von jenem runden Wohlgefühl der Gesundheit an ihm, das die Auswüchse des Lebens auf das mustert, was sich brauchen ließe, wie er es noch vor kurzem gepriesen hatte; eher das Leid eines Knaben, der sich zu einem Spiel nicht hintraut.

Aber Siegmund war nicht der Mann, wenn er einmal etwas aufgegriffen hatte, es rasch aus der Hand zu legen. «Ciarisse ist übernervös» stellte er fest. «Sie hat immer mit dem Kopf durch die Wand wollen, und in irgend etwas steckt ihr Kopf jetzt fest. Du mußt ordentlich anpacken, auch wenn sie sich wehrt!»

«Ihr Ärzte versteht von seelischen Vorgängen nicht das geringste!» rief Walter aus. Er suchte nach einem zweiten Angriffspunkt und fand ihn. «Du sprichst von <Zeichen>» fuhr er fort, wobei sich über seine Gereiztheit die Freude lagerte, daß er von Ciarisse sprechen konnte «und prüfst besorgt, wann Zeichen eine Störung sind und wann nicht; aber ich sage dir: der wirkliche Zustand des Menschen ist der, wo alles Zeichen ist! Einfach alles! Du kannst vielleicht der Wahrheit ins Auge schaun, aber nie wird dir die Wahrheit ins Auge schaun; dieses göttlich unsichere Gefühl wirst du nie kennen lernen!»

«Ihr seid ja beide verrückt!» bemerkte Siegmund trocken.

«Ja, natürlich sind wir es!» rief Walter aus. «Du bist als Mensch doch unschöpferisch: du hast nie erfahren, was <sich ausdrücken> bedeutet, daß es für den Künstler überhaupt erst <verstehen> bedeutet! Der Ausdruck, den wir den Dingen geben, entwickelt erst den Sinn, sie richtig aufzunehmen. Ich verstehe erst, was ich oder ein anderer will, indem ich es ausführe! Das ist unsere lebendige Erfahrung, zum Unterschied von deiner toten! Du wirst natürlich sagen, das sei paradox, eine Verwechslung von Ursache und Wirkung, du, mit deiner medizinischen Kausalität!»

Aber Siegmund sagte nicht das, sondern wiederholte bloß unbeirrt: «Es ist sicher zu ihrem eigenen Vorteil, wenn du dir nicht zuviel von ihr gefallen läßt. Nervöse Menschen bedürfen einer gewissen Strenge. »

«Und wenn ich am offenen Fenster Klavier spiele» fragte Walter, die Warnung seines Schwagers scheinbar überhörend: «was tue ich? Menschen gehen vorbei, vielleicht sind Mädchen darunter, wer will, bleibt stehn, ich spiele für junge Liebespaare und einsame Alte. Es sind Kluge und Dumme. Ich gebe ihnen ja auch nicht Vernunft. Was ich spiele, ist nicht Vernunft. Ich teile mich ihnen mit. Ich sitze unsichtbar in meinem Zimmer und gebe ihnen Zeichen: ein paar Töne, und es ist ihr Leben, und es ist mein Leben. Du könntest wirklich sagen, daß auch das verrückt ist!… » Plötzlich verstummte er. Das Gefühl: «Ach, ich wüßte euch allen wohl etwas zu sagen!», dieses Grund-Ehrgeiz-Gefühl des sich zur Mitteilung gedrängt fühlenden Erdenbürgers mittleren Schaffensvermögens, klappte zusammen. Jedesmal, wenn Walter in der weichen Leere hinter seinem geöffneten Fenster saß und mit dem hohen Bewußtsein des Künstlers, der tausende Unbekannte beglückt, seine Musik in die Luft hinausließ, war dieses Gefühl wie ein aufgespannter Schirm, und jedesmal war es wie ein schlottrig-eingezogener, sobald er zu spielen aufhörte. Dann war alle 508

Leichtigkeit weg, alles Geschehene war so gut wie nicht geschehen, und er konnte nur noch in der Art sprechen, daß die Kunst den Zusammenhang mit dem Volk verloren habe und alles schlecht sei. Er erinnerte sich daran und wurde mutlos. Er wehrte sich dagegen. Und Ciarisse hatte gesagt: Man muß die Musik «bis zu Ende» spielen. Ciarisse hatte gesagt: Man versteht etwas nur so lange, als man es selbst mitmacht! Ciarisse hatte aber auch gesagt: Darum müssen wir selbst ins Irrenhaus! Der «innere Schirm»

Walters flatterte halbeingezogen in unregelmäßigen Sturmstößen.

Siegmund sagte: «Nervöse Menschen brauchen eine gewisse Führung, es ist zu ihrem eigenen Vorteil. Du hast selbst gesagt, daß du das nicht mehr dulden willst. Ich kann dir als Arzt und Mann auch nur das gleiche raten: zeig ihr, daß du ein Mann bist; ich weiß, daß sie sich dagegen wehrt, aber es wird ihr schon gefallen!»

Siegmund wiederholte wie eine zuverlässige Maschine unermüdlich das, was nun einmal sein «Ergebnis»

geworden war.

Walter, in einem «Sturmstoß», antwortete: «Diese medizinische Überschätzung des geordneten Geschlechtslebens ist überhaupt von gestern! Wenn ich Musik mache, male oder denke, wirke ich auf Nahe und Ferne, ohne den einen zu nehmen, was ich den anderen gebe. Im Gegenteil! Laß dir nur gesagt sein, daß die private Lebensauffassung heute wahrscheinlich nirgends mehr eine Berechtigung hat! Auch in der Ehe nicht!»

Aber der dichtere Druck war auf Seiten Siegmunds, und Walter segelte vor dem Wind zu Ciarisse hinüber, die er während dieses Gesprächs nicht aus den Augen gelassen hatte. Es war ihm unangenehm, daß man von ihm sagen könnte, er sei kein Mann; er kehrte dieser Behauptung den Rücken, indem er sich von ihr zu Ciarisse hintreiben ließ. Und auf halbem Wege fühlte er zwischen den sich ängstlich entblößenden Zähnen, daß er mit der Frage beginnen müsse: «Was soll es heißen, daß du von Zeichen redest!?»

Aber Ciarisse sah ihn kommen. Sie sah ihn schon auf seinem Platz schwanken, als er noch stand. Dann wurden seine Füße aus der Erde gezogen und trugen ihn her. Ciarisse machte das mit einer wilden Lust mit.

Die Amsel flog erschreckt auf und nahm hastig ihren Wurm mit. Die Bahn war nun ganz frei für die Anziehung. Aber plötzlich überlegte es sich Ciarisse anders und wich einer Begegnung diesmal aus, indem sie langsam längs der Hauswand das Freie suchte, ohne sich aber von Walter abzuwenden, aber schneller, als der Zögernde aus dem Bereich der Fernwirkung in den von Rede und Gegenrede gelangte.

27

Agathe wird alsbald durch General Stumm für die Gesellschaft entdeckt

Seit sich Agathe mit ihm vereinigt hatte, stellten die Beziehungen, die Ulrich mit dem großen Bekanntenkreis des Hauses Tuzzi verbanden, zeitraubende gesellschaftliche Aufgaben, denn die lebhaftere Wintergeselligkeit war trotz der vorgerückten Jahreszeit noch nicht zu Ende und die Teilnahme, die man Ulrich nach dem Tod seines Vaters erwiesen hatte, forderte als Gegengabe, daß er Agathe nicht verberge, wenn sie auch beide durch ihre Trauerpflicht davon enthoben waren, an großen Festlichkeiten teilzunehmen. Diese Trauerpflicht würde sogar, wenn Ulrich den Vorteil, den sie ihm darbot, in vollem Umfang ausgenützt hätte, dazu hingereicht haben, jeden geselligen Verkehr auf längere Zeit zu meiden und so aus einem Kreis von Personen auszuscheiden, in den er nur durch einen wunderlichen Zustand geraten war. Allein, seit ihm Agathe ihr Leben anvertraut hatte, handelte Ulrich im Gegensatz zu seinem Gefühl und überantwortete einem Teil von sich, den er in der herkömmlichen Vorstellung «Pflichten eines älteren Bruders» einquartiert hatte, viele Entscheidungen, zu denen er sich in ganzer Person unbestimmt verhielt, wenn er sie nicht gar mißbilligte. Zu diesen Pflichten eines älteren Bruders gehörte vornehmlich der Vorsatz, daß Agathes Flucht aus dem Haus ihres Mannes nicht anders enden solle als im Haus eines besseren Mannes. «Du wirst, » pflegte er zu antworten, sobald sie darauf zu sprechen kamen, daß ihr gemeinsames Leben gewisse Vorkehrungen verlange «wenn es so weiter geht, bald einige Heirats-oder zumindest Liebesanträge bekommen»; und entwarf Agathe Pläne, die über einige Wochen hinausreichten, so erwiderte er: «Bis dahin wird ja doch alles anders sein. » Es würde sie noch mehr verletzt haben, hätte sie nicht den Zwiespalt in ihrem Bruder bemerkt, was sie vorderhand auch davon abhielt, heftigen Widerstand zu leisten, wenn er es für vorteilhaft fand, den geselligen Kreis, den sie durchstreiften, aufs weiteste auszudehnen. Auf diese Weise kam es, daß sich die Geschwister seit Agathes Ankunft weit mehr ins 509

Treiben der Gesellschaft mischten, als es Ulrich für sich allein getan hätte.

Dieses gemeinsame Auftreten, nachdem man durch lange Zeit bloß ihn allein gekannt und von ihm nie ein Wort über seine Schwester vernommen hatte, erregte kein geringes Auf sehn. Eines Tags war General Stumm von Bordwehr mit seiner Ordonnanz, seiner Aktentasche und seinem Laib Brot wieder bei Ulrich erschienen und hatte mißtrauisch witternd die Luft geprüft. In der Luft hing ein unbeschreiblicher Geruch.

Dann entdeckte von Stumm einen Damenstrumpf, der an einer Stuhllehne hing, und sagte mißbilligend:

«Natürlich, die jungen Herrn!» «Meine Schwester» erklärte Ulrich. «Aber geh! Du hast doch gar keine Schwester!» berichtigte ihn der General. «Da plagen uns die hochwichtigsten Sorgen, und du versteckst dich mit einem Mäderl!» Im gleichen Augenblick betrat Agathe das Zimmer, und er verlor die Fassung. Er sah die Verwandtschaft und fühlte an der Arglosigkeit des Auftritts, daß Ulrich die Wahrheit gesprochen habe, ohne doch von dem Gedanken abgeraten zu sein, daß er eine Freundin Ulrichs vor sich habe, die diesem nun freilich unverständlich und irreführend ähnlich sah. «Ich weiß nicht, wie mir in dem Moment geschehen ist, Gnädigste, » erzählte er es später Diotima «aber mir hätte nicht anders zumute sein können, wenn er selbst plötzlich wieder als Fähnrich vor mir gestanden wäre!» Denn Stumm fühlte, da ihm Agathe überaus gefiel, bei ihrem Anblick jenen Stupor, den er als Anzeichen tiefer Ergriffenheit verstehen gelernt hatte. Seine zarte Leibesfülle und empfindsame Natur neigten zu fluchtartigem Rückzug aus so kniffligen Umständen, und Ulrich erfuhr, trotz aller Bemühungen, ihn zum Bleiben zu veranlassen, nicht mehr viel von den wichtigen Sorgen, die den gebildeten General zu ihm geführt hatten.

«Nein!» tadelte sich dieser. «Nichts ist dermaßen wichtig, daß man deswegen so stören dürfte wie ich!»

«Aber du hast uns doch nicht gestört!» versicherte Ulrich lächelnd. «Was solltest du denn stören!?»

«Nein, natürlich nicht!» versicherte nun Stumm, erst recht verwirrt. «Natürlich, in gewissem Sinn nicht.

Aber trotzdem! Schau, ich komm lieber ein anderes Mal wieder!»

«So sag doch wenigstens, warum du da bist, ehe du wieder wegläufst!» forderte Ulrich.

«Aber nichts! Gar nichts! Eine Kleinigkeit!» warf Stumm in seinem Verlangen hin, Fersengeld zu geben.

«Ich glaube, das <Große Ereignis> beginnt jetzt!»

«Ein Pferd! Ein Pferd! Zu Schiff nach Frankreich!» rief Ulrich in heiterer Erregung durcheinander aus.

Agathe sah ihn verwundert an. «Ich bitte um Verzeihung, » wandte sich der General an sie «Gnädige werden ja gar nicht wissen, um was es sich handelt. »

«Die Parallelaktion hat eine krönende Idee gefunden!» ergänzte Ulrich.

«Nein, » schränkte es der General ein «das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur sagen wollen: Das von allen erwartete Ereignis beginnt jetzt zu entstehn!»

«Ach so!» sagte Ulrich. «Das tut es doch schon seit Beginn. »

«Nein» versicherte der General ernst. «Nicht bloß so. Es liegt jetzt derzeit ein ganz entschiedenes Man-weiß-nicht-was in der Luft. Nächstens findet bei deiner Kusine eine ausschlaggebende Zusammenkunft statt. Frau Drangsal —»

«Wer ist das?» unterbrach ihn Ulrich bei diesem neuen Namen.

«Du hast dich eben so zurückgezogen!» warf ihm der General bedauernd vor und wandte sich an Agathe, um das augenblicklich wieder gut zu machen. «Frau Drangsal ist die Dame, die den Dichter Feuermaul protegiert. Den kennst du auch nicht?» fragte er, indem er seinen runden Körper wieder zurück drehte, als aus der Richtung Ulrichs keinerlei Bestätigung kam.

«Doch. Der Lyriker. »

«Halt so Verse» meinte der General, mißtrauisch dem ihm ungewohnten Wort ausweichend.

«Sogar gute. Und allerhand Theaterstücke. »

«Das weiß ich nicht. Ich hab auch meine Aufzeichnungen nicht bei mir. Aber er ist der, der sagt: der Mensch ist gut. Und mit einem Wort, Frau Professor Drangsal protegiert halt die These, daß der Mensch gut ist, und man sagt, das sei eine europäische These, und Feuermaul soll eine große Zukunft haben. Sie aber hat einen Mann gehabt, der als Arzt in der ganzen Welt bekannt war, und wahrscheinlich möchte sie aus dem Feuermaul auch einen berühmten Mann machen: Jedenfalls besteht die Gefahr, daß deine Kusine die Führung verliert und der Salon der Frau Drangsal sie übernimmt, wo ohnehin alle berühmten Leute auch verkehren. »

Der General trocknete sich den Schweiß von der Stirn; Ulrich fand die Aussicht aber gar nicht schlimm.

«Na, weißt du!» tadelte Stumm. «Du verehrst doch auch deine Kusine, wie kannst du so sprechen! Finden 510

Gnädige nicht auch, daß das von ihm hervorragend treulos und undankbar gegen eine begeisternde Frau gehandelt ist?!» wandte er sein Wort an Agathe.

«Ich kenne meine Kusine gar nicht» gestand sie ihm ein.

«Oh!» sagte Stumm, und mit Worten, in denen sich ritterliche Absicht mit unbeabsichtigter Unritterlichkeit zu einem dunklen Zugeständnis an Agathe mischten, fügte er hinzu: «Sie hat freilich in der letzten Zeit etwas nachgelassen!»

Weder Ulrich noch sie antwortete etwas darauf, und der General hatte das Gefühl, daß er seine Worte erklären müsse. «Und du weißt ja auch warum!» sagte er beziehungsvoll zu Ulrich. Er mißbilligte die Beschäftigung mit der Sexualwissenschaft, durch die Diotimas Geist von der Parallelaktion abgezogen wurde, und machte sich Sorgen, weil sich das Verhältnis zu Arnheim nicht besserte; aber er wußte nicht, wieweit er sich getrauen dürfe, vor Agathe von solchen Angelegenheiten zu sprechen, und deren Miene war zuletzt immer kühler geworden. Ulrich dagegen erwiderte ruhig: «Du kommst wohl mit deiner Ölgeschichte nicht vorwärts, wenn unsere Diotima nicht mehr ihren alten Einfluß auf Arnheim hat?»

Stumm machte eine kläglich beschwörende Gebärde, als müßte er Ulrich an einem Witz hindern, der vor einer Dame unpassend sei, sah ihm aber zugleich mit warnender Schärfe ins Auge. Er fand auch die Kraft, seinen unbehilflichen Leib mit jugendlicher Schnelle zu erheben, und zog den Waffenrock glatt. Soviel war ihm von seinem ursprünglichen Mißtrauen gegen Agathes Herkunft noch verblieben, daß er nicht die Geheimnisse des Kriegsministeriums vor ihr preisgeben wollte. Erst im Vorzimmer, wohin ihn Ulrich geleitete, klammerte er sich an dessen Arm fest, flüsterte lächelnd aus heiserem Hals: «Um Gotteswillen, red doch nicht offenen Landesverrat!» und schärfte ihm ein, daß vor einem Dritten, und wenn das selbst die eigene Schwester wäre, kein Wort über die ÖLFEIDERverlauten dürfe. «Schon gut» versicherte Ulrich.

«Aber es ist ja meine Zwillingsschwester. » «Auch vor einer Zwillingsschwester nicht!» beteuerte der General, dem schon die Schwester so unglaubwürdig vorgekommen war, daß ihn die Zwillingsschwester nicht mehr aus dem Konzept brachte: «Versprich es mir!» «Es nützt nichts, » steigerte sich Ulrich «wenn du mir dieses Versprechen abnimmst, wir sind ja Siamesische Zwillinge; verstehst du?» Nun begriff Stumm allerdings, daß ihn Ulrich in seiner Art, die nie zu einem einfachen Ja zu bringen war, zum besten habe. «Du hast manchmal schon bessere Scherze gemacht, als einer so entzückenden Frau, und wenn es zehnmal deine Schwester ist, eine solche Unappetitlichkeit anzudichten, wie daß sie mit dir verwachsen sein soll!» verwies er es ihm. Aber weil seine mißtrauische Erregung gegen die Zurückgezogenheit, in der er Ulrich vorgefunden hatte, neu berührt worden war, schloß er doch noch einige Fragen daran, die dessen Treiben prüfen sollten: War der neue Sekretär schon bei dir? Bist du bei Diotima gewesen? Hast du dein Versprechen erfüllt, zum Leinsdorf zu gehn? Weißt du jetzt, was zwischen deiner Kusine und Arnheim los ist? Da er von alldem natürlich unterrichtet war, überwachte der rundliche Zweifler damit Ulrichs Wahrheitsliebe, und das Ergebnis befriedigte ihn. «Also dann tu mir nur den Gefallen und komm zu der Schicksalssitzung nicht zu spät» bat er ihn, während er, noch etwas atemlos von der bezwungenen Durchfahrt durch die Ärmel, den Mantel zuknöpfte. «Ich werde dich vorher noch einmal anrufen und dann mit meinem Wagen abholen, das wird das beste sein!»

«Wann soll denn diese Langweile stattfinden?» fragte Ulrich nicht gerade bereitwillig.

«Na, ich denke, so in vierzehn Tagen» meinte der General.

«Wir wollen ja die andere Partei zu Diotima bringen, aber der Arnheim soll dabei sein, und der ist noch verreist. » Er klopfte mit einem Finger auf das goldene aus der Manteltasche hängende Portepee. «Ohne den freut es <uns> nicht: das kannst du ja verstehn. Aber ich sag dir, » seufzte er «ich wünsche mir trotzdem nichts, als daß unsere geistige Führung bei deiner Kusine bleiben soll; es wäre mir gräßlich, wenn ich mich in ganz neue Verhältnisse einleben müßte!»

Diesem Besuch schrieb es sich also zu, daß Ulrich mit seiner Schwester in die gesellschaftlichen Beziehungen zurückkehrte, die er allein verlassen hatte, und er hätte seinen Verkehr auch dann wieder aufnehmen müssen, wenn er es gar nicht gewollt hätte, denn er konnte sich nicht einen Tag länger mit Agathe verbergen und voraussetzen, daß von Stumm eine so zum Erzählen anregende Entdeckung für sich behalten werde. Als die «Siamesen» bei Diotima Besuch machten, zeigte sie sich schon von solcher ungewöhnlichen und zweifelhaften Namensgebung unterrichtet, wenn auch noch nicht entzückt. Denn die Göttliche, berühmt wegen der hochgeachteten und merkwürdigen Personen, die man allezeit bei ihr antraf, hatte das unangekündigte Auftreten Agathes anfangs sehr übel genommen, weil eine Verwandte, die nicht 511

gefiele, ihrer eigenen Stellung viel gefährlicher werden konnte als ein Vetter, und sie wußte von dieser neuen Kusine genau so wenig, wie sie früher von Ulrich gewußt hatte, was der Allwissenden schon an und für sich ein Ärgernis bereitete, als sie es dem General einbekennen mußte. Sie hatten darum für Agathe die Bezeichnung «die verwaiste Schwester» bestimmt, teils zur Begütigung ihrer selbst, teils zum vorbeugenden Gebrauch in weiteren Kreisen, und etwa in diesem Sinn empfing sie auch die Geschwister.

Sie wurde angenehm von dem gesellschaftlich vollendeten Eindruck überrascht, den Agathe zu erzeugen vermochte, und diese -eingedenk ihrer guten Erziehung in einem frommen Internat und geleitet von ihrer spöttisch staunenden Bereitschaft, das Leben hinzunehmen, deretwegen sie sich vor Ulrich anklagte - traf es von diesem Augenblick an fast ohne Willen, sich die huldvolle Neigung der gewaltigen jungen Frau zu sichern, deren ins Große wirkender Ehrgeiz ihr völlig unverständlich und gleichgültig war. Sie bestaunte Diotima mit der gleichen Arglosigkeit, wie sie eine riesige Elektrizitätsanlage bestaunt hatte, in deren unverständliches Geschäft, Licht zu verbreiten, man sich nicht einmengt. Und nachdem Diotima erst einmal gewonnen war, zumal aber da sie bald beobachten konnte, daß Agathe allgemein gefalle, ließ sie sich deren gesellschaftlichen Erfolg weiter angelegen sein und gestaltete ihn auch zu ihrer eigenen Ehre immer größer. Die «verwaiste Schwester» erregte ein teilnehmendes Aufsehen, das bei den näher Bekannten als ehrliches Erstaunen darüber begann, daß man nie etwas von ihr gehört hatte, und sich mit der zunehmenden Weite des Personenkreises in jenes unbestimmte Wohlgefallen am Überraschenden und Neuen umwandelte, das Fürsten-und Zeitungshäuser verbindet.

Da nun geschah es auch, daß Diotima, welche die schöngeistige Fähigkeit besaß, unter mehreren Möglichkeiten triebhaft jene schlechteste zu wählen, die öffentlichen Erfolg verbürgt, den Griff tat, durch den Ulrich und Agathe dauernd ihren Platz im Gedächtnis der vornehmen Gesellschaft erhielten, indem ihre Beschützerin plötzlich es selbst entzückend fand, sogleich aber auch als entzückend weitererzählte, was sie anfangs gehört hatte, daß sich nämlich ihr Vetter und ihre Kusine, die unter romantischen Umständen nach fast lebenslanger Trennung wieder vereint worden seien, fortab die Siamesischen Zwillinge nennten, obwohl sie doch nach dem blinden Willen des Schicksals bisher fast das Gegenteil davon gewesen wären. Warum das zuerst Diotima und alsdann auch allen anderen so gut gefiel und wie es den Entschluß der Geschwister, zusammen zu leben, ebensowohl ungewöhnlich wie verständlich erscheinen ließ, wäre schwer zu sagen: das war eben Diotimas Führerbegabung; denn jedenfalls geschah beides und bewies, daß sie trotz aller Manöver der Konkurrenz immer noch ihre sanfte Macht ausübte.

Arnheim, als er bei seiner nächsten Wiederkunft davon erfuhr, hielt einen ausführlichen Vortrag in gewähltem Kreise, der in Ehrfurcht vor den adelig-volkstümlichen Kräften ausklang. Auf irgendeinem Weg kam sogar das Gerücht auf, daß Agathe, die sich zu ihrem Bruder geflüchtet habe, mit einem berühmten ausländischen Gelehrten in unglücklicher Ehe gelebt hätte; und da man damals in den tonangebenden Kreisen nach Grundbesitzerweise der Scheidung nicht günstig gesinnt war und mit dem Ehebruch auskam, erschien Agathes Entschluß manchen älteren Personen geradezu in jenem aus Willenskraft und Erbaulichkeit gemischten Doppelschein des höheren Lebens, den Graf Leinsdorf, der den Geschwistern besonders wohlwollte, einmal mit den Worten analysierte: «Da werden am Theater immer so grauslige Leidenschaften gespielt; aber an so etwas sollte sich das Burgtheater lieber ein Beispiel nehmen!»

Diotima, in deren Gegenwart das geschah, erwiderte: «Manche Leute sagen, einer Mode folgend, der Mensch sei gut; aber wenn man, so wie ich jetzt durch meine Studien, die Irrungen und Wirrungen des Geschlechtslebens kennengelernt hat, weiß man, wie selten solche Beispiele sind!» Wollte sie das von Sr.

Erlaucht gespendete Lob einschränken oder unterstreichen? Sie hatte Ulrich noch nicht verziehen, was sie, seit er ihr nichts von der bevorstehenden Ankunft seiner Schwester verraten hatte, seinen Mangel an Vertrauen nannte; aber sie war stolz auf den Erfolg, an dem sie teilnahm, und das mischte sich in ihrer Antwort.

28

Zu viel Heiterkeit

Agathe nutzte die Vorteile, die sich ihr in der Gesellschaft darboten, mit natürlichem Geschick aus, und ihre sichere Haltung in einem höchst anmaßenden Kreis gefiel ihrem Bruder. Die Jahre, wo sie die Gattin eines 512

Mittelschullehrers in der Provinz gewesen war, schienen von ihr abgefallen zu sein und hatten keine Spur hinterlassen. Das Ergebnis faßte Ulrich aber vorderhand achselzuckend in die Worte zusammen: «Dem hohen Adel gefällt es, daß man uns die zusammengewachsenen Zwillinge nennt: er hat immer mehr Interesse für Menagerien gehabt als beispielsweise für Kunst. »

In stillschweigendem Übereinkommen behandelten sie alles, was geschah, bloß als ein Zwischenspiel. Es wäre notwendig gewesen, im Zustand des Haushalts vieles zu ändern oder neu einzurichten, worüber sie sich gleich am ersten Tage klar gewesen waren; aber sie taten es nicht, denn sie scheuten die Wiederholung einer Aussprache, deren Grenzen nicht abzusehen waren. Ulrich, der sein Schlafzimmer Agathe abgetreten hatte, hatte sich im Schrankzimmer eingerichtet, durch das Bad von seiner Schwester getrennt, und den größten Teil seiner Schränke hatte er noch nachträglich abgetreten. Sich deshalb bemitleiden zu lassen, lehnte er mit dem Hinweis auf den Rost des heiligen Lau-rentius ab; aber Agathe kam gar nicht ernsthaft auf den Einfall, daß sie das Junggesellenleben ihres Bruders gestört haben könnte, weil er ihr versicherte, daß er sehr glücklich sei, und weil sie sich von den Graden des Glücks, in denen er sich davor befunden haben konnte, nur eine sehr ungewisse Vorstellung machte. Ihr gefiel jetzt dieses Haus mit seiner unbürgerlichen Art der Bewohnung, mit seinem nutzlosen Aufwand an Schmuck-und Nebenräumen um die wenigen brauchbaren und nun überfüllten Zimmer; es hatte etwas von der umständlichen Höflichkeit vergangener Zeit, die wehrlos gegen die genußvoll flegelhaft mit ihr umspringende gegenwärtige ist, aber manchmal war der stumme Einspruch der schönen Räume gegen die eingebrochene Unordnung auch traurig, wie es gerissene und verwirrte Saiten über einem schwungvoll geschnitzten Schallkörper sind.

Agathe sah dann, daß ihr Bruder dieses von der Straße abgeschiedene Haus gar nicht ohne Teilnahme und Verständnis gewählt habe, obwohl er das glauben machen wolle, und aus den alten Wandungen kam eine Sprache der Leidenschaft, die weder ganz stumm, noch ganz hörbar war. Aber weder sie noch Ulrich bekannte sich zu etwas anderem als dem Vergnügen am Ungeordneten. Sie lebten unbequem, ließen seit Agathes Einbruch das Essen aus dem Hotel holen und gewannen allem eine etwas übermäßige Heiterkeit ab, wie sie sich bei einem Picknick einstellt, wenn man auf grüner Erde schlechter ißt, als man es bei Tisch nötig hätte.

Auch an der rechten Bedienung fehlte es unter diesen Umständen. Dem wohlerfahrenen Diener, den Ulrich, als er das Haus bezog, nur für kurze Dauer aufgenommen hatte, - denn das war ein alter Mann, der sich schon zur Ruhe setzen wollte und nur irgendetwas abwartete, das noch geregelt werden mußte - durfte nicht zuviel zugemutet werden, und Ulrich nahm ihn so wenig wie möglich in Anspruch; eine Kammerzofe aber mußte er selbst abgeben, denn der Raum, worin ein ordentliches Mädchen untergebracht werden konnte, befand sich noch ebenso bloß im Zustand des Vorhabens wie alles übrige, und einige Versuche, darüber hinwegzukommen, hatten zu keinen guten Erfahrungen geführt. Ulrich machte also große Fortschritte als Knappe bei der Zurüstung seiner Ritterin für ihre gesellschaftlichen Eroberungen. Noch dazu war Agathe inzwischen darangegangen, ihre Ausstattung zu ergänzen, und ihre Einkäufe füllten das Haus. Wie dieses gebaut und nirgends für eine Dame eingerichtet war, so hatte sie die Gewohnheit angenommen, es in seiner Gänze als Ankleideraum zu benutzen, wodurch Ulrich, ob er wollte oder nicht, an den Neuerwerbungen teilnahm. Die Türen zwischen den Zimmern standen offen, seine Turngeräte dienten als Ständer und Galgen, von seinem Schreibtisch wurde er zur Entscheidung geholt wie Cincinnatus vom Pfluge. Diese Durchkreuzung seines in abwartender Weise immer noch vorhandenen Arbeitswillens duldete er nicht bloß in der Voraussetzung, daß sie vorüberginge, sondern sie bereitete ihm auch ein Vergnügen, das ihm neu war wie eine Verjüngung. Die scheinbar beschäftigungslose Lebendigkeit seiner Schwester prasselte in seiner Einsamkeit wie ein Feuerchen im kalt gewesenen Ofen. Helle Wellen anmutiger Heiterkeit, dunkle Wellen menschlichen Vertrauens füllten die Räume aus, in denen er lebte, und nahmen ihnen die Natur eines Raums, worin er sich bisher nur nach seiner Willkür bewegt hatte. Vor allem verblüffte ihn aber an dieser Unerschöpflichkeit einer Gegenwart die Besonderheit, daß die nicht zusammenzuzählenden Nichtigkeiten, aus denen sie bestand, in ihrer Summe eine Unsumme ergaben, die von ganz anderer Art war: die Ungeduld, seine Zeit zu verlieren, diese nie zu stillende Empfindung, die sein Leben lang nicht von ihm gewichen war, was immer er auch von Dingen ergriffen hatte, die für groß und wichtig gelten, war zu seinem Erstaunen völlig verschwunden, und er liebte zum erstenmal sein alltägliches Leben ganz ohne Gedanken.

Ja, er hielt sogar übertrieben gefällig den Atem an, wenn Agathe mit dem Ernst, den Frauen dafür aufbringen, das anmutige Tausenderlei, das sie einkaufte, seiner Bewunderung darbot. Er tat, als zwänge 513

ihn die merkwürdige Drolligkeit, daß die Natur der Frau bei gleicher Einsicht empfindlicher als die des Mannes ist und gerade darum dem Einfall zugänglicher, sich in einer brutalen Weise zu schmücken, die von planvoller Menschlichkeit noch weiter abweicht als die seine, unwiderstehlich zur Teilnahme. Und vielleicht war es auch wirklich so. Denn die vielen, kleinen, zärtlich lächerlichen Einfalle, mit denen er es zu tun bekam: sich mit Glasperlen zu zieren, mit gebrannten Haaren, mit den dummen Linienführungen von Spitzen und Stickereien, mit Lockfarben von geradezu ruchloser Entschlossenheit, -diese den Schießbudensternen verwandten Schönheiten, die von jeder klugen Frau durchschaut werden, ohne dadurch im mindesten an Anziehung auf sie zu verlieren, begannen ihn mit den Fäden ihres leuchtenden Irrsinns zu umstricken. Alles, und sei es das Närrische und Geschmacklose, entfaltet ja, wenn man sich ernst mit ihm abgibt und auf gleichen Fuß stellt, seine eigenäugige Wohlordnung, den berauschenden Duft seiner Eigenliebe, den in ihm wohnenden Willen, zu spielen und zu gefallen. So widerfuhr es Ulrich bei den Hantierungen, die sich an die Ausstattung seiner Schwester knüpften. Er trug hin und her, bewunderte, begutachtete und wurde um Rat gefragt, er half beim Anproben. Er stand mit Agathe vor dem Spiegel.

Gegenwärtig, wo die Erscheinung der Frau an die eines gut abgesengten Huhns erinnert, das nicht viel Umstände bereitet, fällt es schwer, sich ihre frühere Erscheinung in allem Reiz des lange hinausgeschobenen Appetits vorzustellen, der inzwischen der Lächerlichkeit verfallen ist: der lange Rock, vom Schneider scheinbar an den Boden festgenäht und doch durch ein Wunder wandelnd, schloß zuerst geheime leichte Röcke ein, die bunte Blütenblätter aus Seide waren, deren leise schwankende Bewegung dann plötzlich in weiße, noch weichere Gewebe überging und in ihrem zarten Schaum erst den Körper berührte; und wenn diese Kleidung den Wellen darin glich, daß sie etwas ziehend Verlockendes und etwas den Blick Abweisendes vereinte, war sie auch ein kunstvolles System von Zwischenhalten und

-befestigungen rings um geschickt verteidigte Wunderdinge und bei aller ihrer Unnatur ein klug verhangenes Liebestheater, dessen atemraubende Finsternis bloß von dem matten Licht der Phantasie erhellt wurde. Diesen Inbegriff der Vorbereitungen sah Ulrich nun täglich abgebaut, auseinandergenommen und gleichsam an der Innenseite. Und wenn die Geheimnisse einer Frau auch längst keine mehr für ihn waren, ja gerade weil er sie zeit seines Lebens bloß durcheilt hatte wie Vorräume oder Vorgärten, machten sie sich jetzt ganz anders gelten, wo es keinen Durchlaß und kein Ziel gab. Die Spannung, die in allen diesen Dingen lag, schlug zurück. Ulrich hätte schwer zu sagen vermocht, welche Veränderungen sie anrichtete. Er hielt sich mit Recht für einen männlich empfindenden Mann, und es erschien ihm begreiflich, daß es einen solchen locken kann, einmal das so oft Begehrte auch von der anderen Seite zu sehn, aber manchmal wurde das beinahe unheimlich, und er lehnte sich lachend dagegen auf.

«Als ob über Nacht die Mauern eines Mädchenpensionats um mich in die Höhe gewachsen wären und mich durch und durch einschlössen!» wandte er ein. «Ist das schrecklich?» fragte Agathe. «Ich weiß nicht» gab Ulrich zur Antwort. Dann nannte er sie eine fleischfressende Pflanze und sich ein armes Kerbtier, das in ihren leuchtenden Kelch hineingekrochen sei. «Du hast ihn um mich geschlossen, » sagte er «und nun sitze ich inmitten von Farben, Duft und Glanz und warte, wider meine Natur schon ein Stück von dir geworden, auf die Männchen, die wir anlocken werden!»

Und es erging ihm wirklich verwunderlich, wenn er Zeuge des Eindrucks wurde, den seine Schwester auf Männer machte, er, dessen Sorge doch gerade darin bestand, sie «an den Mann zu bringen». Er war nicht eifersüchtig — in welcher Eigenschaft hätte er es auch sein sollen?! - er stellte sein Wohlbefinden hinter das ihre zurück und wünschte ihr, daß sich bald ein würdiger Mann fände, sie aus dem Übergangszustand zu erlösen, in den sie durch die Trennung von Hagauer geraten war: und trotzdem, wenn er sie im Mittelpunkt einer Gruppe von Männern sah, die sich um sie bemühten, oder wenn ihr auf der Straße ein Mann, angezogen von ihrer Schönheit und unbekümmert um den Begleiter, ins Gesicht sah, so wußte er nicht, wie ihm war. Auch da wurde ihm, da ihm der einfache Ausweg der männlichen Eifersucht verboten war, oft zumute, als schlösse sich eine Welt um ihn, die er noch nie betreten habe. Er kannte aus Erfahrung die Kapriolen des Mannes so genau wie die vorsichtigere Liebestechnik der Frau, und wenn er Agathe dem ausgesetzt und das ausüben sah, so litt er; er glaubte den Bewerbungen von Pferden oder Mäusen beizuwohnen, das Schnauben und Zuwiehern, das Mundspitzen und -breitziehen, worin sich fremde Menschen einander selbstgefällig und gefällig darstellen, widerte ihn, der es ohne Mitgefühl betrachtete, wie eine schwere, aus dem Leibes-innern emporstreichende Betäubung an. Und setzte er sich trotzdem mit seiner 514

Schwester in eins, wie es einem tiefen Bedürfnis seines Gefühls entsprach, so fehlte wieder manchmal nicht viel dazu, daß er nachträglich, verwirrt von solcher Duldung, die Scham erlebt hätte, die ein recht beschaffener Mann empfindet, wenn sich ihm unter Vorwänden einer genähert hat, der es nicht ist. Als er das Agathe verriet, lachte sie. «Es gibt ja auch einige Frauen in unserem Kreis, die sich um dich sehr bemühen»

war ihre Antwort.

Was ging da vor sich?

Ulrich sagte: «Im Grunde ist es ein Protest gegen die Welt!» Und es sagte Ulrich: «Du kennst Walter: wir mögen uns längst nicht mehr; aber wenn ich mich auch über ihn ärgere und ebenfalls weiß, daß ich ihn reize, fühle ich doch oft, wenn ich ihn nur sehe, ein liebes Gefühl, als stimmte ich mit ihm so gut überein, wie ich eben nicht übereinstimme. Sieh doch, man versteht im Leben so viel, ohne damit einverstanden zu sein; und mit jemand von vornherein einverstanden zu sein, ehe man ihn erst versteht, ist darum eine so märchenhaft schöne Sinnlosigkeit, wie wenn Wasser im Frühling von allen Seiten zu Tal rinnt!» Und er fühlte: «Jetzt ist es so!» Und er dachte: «Sobald es mir gelingt, gegen Agathe gar keine Selbst-und Ichsucht mehr zu haben und kein einziges häßlich-gleichgültiges Gefühl, dann zieht sie die Eigenschaften aus mir hinaus wie der Magnetberg die Schiffsnägel! Ich werde moralisch in einen Uratomzustand aufgelöst, wo ich weder ich, noch sie bin! Vielleicht ist so die Seligkeit?!»

Aber er sagte bloß: «Es macht soviel Spaß, dir zu-zuschaun!»

Agathe wurde dunkelrot und sagte: «Warum macht es <Spaß>?»

«Ach, ich weiß nicht. Du schämst dich manchmal vor mir» meinte Ulrich. «Aber dann denkst du dir, daß ich ja doch <nur dein Brüden bin. Und ein ander Mal schämst du dich gerade nicht, wenn ich dich unter Umständen erwische, die für einen fremden Herrn sehr anziehend wären, aber plötzlich fällt dir doch ein, daß es nichts für meine Augen ist, die ich nun sofort abwenden soll… »

«Und warum macht das Spaß?» fragte Agathe.

«Vielleicht bereitet es Glück, einem ändern mit den Augen zu folgen, ohne zu wissen warum» sagte Ulrich.

«Es erinnert an die Liebe des Kindes zu seinen Dingen; ohne die geistige Ohnmacht des Kindes… »

«Vielleicht macht es dir nur Spaß, » gab Agathe zur Antwort «Bruder und Schwester zu spielen, weil du vom Mann und Frau Spielen übergenug hast?!»

«Auch» sagte Ulrich und sah ihr zu. «Die Liebe ist ursprünglich ein einfacher Annäherungstrieb und Greifinstinkt. Man hat sie in die zwei Pole Herr und Dame zerlegt, mit irrsinnigen Spannungen, Hemmungen, Zuckungen und Ausartungen, die dazwischen entstanden sind. Wir haben von dieser aufgeschwollenen Ideologie heute genug, die fast schon so lächerlich ist wie eine Gastrosophie. Ich bin überzeugt, die meisten würden es gern sehn, wenn diese Verbindung eines Hautreizes mit dem gesamten Menschentum wieder rückgängig gemacht werden könnte, Agathe! Und bald oder später kommt ein Zeitalter schlichter sexueller Kameradschaft herauf, wo Knabe und Mädchen einträchtigverständnislos vor einem alten Haufen zerbrochener Triebfedern stehen werden, die früher Mann und Frau gebildet haben!»

«Wenn ich dir nun aber sagen wollte, daß Hagauer und ich Pioniere dieses Zeitalters gewesen sind, würdest du es mir wieder verübeln!» entgegnete Agathe mit einem Lächeln, so herb wie guter ungezuckerter Wein.

«Ich verüble nichts mehr» sagte Ulrich. Er lächelte. «Ein Krieger aus dem Harnisch geschnallt! Zum erstenmal seit undenklicher Zeit fühlt er die Luft der Natur statt gehämmerten Eisens auf der Haut und sieht seinen Leib so müd und zart werden, daß ihn die Vögel davontragen könnten!» beteuerte er.

Und so lächelnd, einfach vergessend, damit aufzuhören, betrachtete er seine Schwester, wie sie auf der Kante eines Tisches saß und das in einen schwarzen Seidenstrumpf gekleidete Bein pendeln ließ; sie hatte außer dem Hemd nichts an als ein kurzes Höschen: es waren das aber gleichsam von ihrer Bestimmung losgelöste und bildhaft-einzeln gewordene Eindrücke. «Sie ist mein Freund und stellt mir entzückend eine Frau vor» dachte Ulrich. «Welche realistische Verwicklung, daß sie wirklich eine ist!»

Und Agathe fragte: «Gibt es wirklich keine Liebe?»

«Doch!» sagte Ulrich. «Aber sie ist ein Ausnahmefall. Man muß das trennen: Da ist erstens ein körperliches Erlebnis, das zur Klasse der Hautreize gehört; das läßt sich auch ohne moralisches Zubehör, ja ohne Gefühl, als reine Annehmlichkeit wachrufen. Dann sind, zweitens, gewöhnlich Gemütsbewegungen vorhanden, die sich allerdings mit dem körperlichen Erlebnis heftig verbinden, aber doch nur so, daß sie mit geringen Abweichungen bei allen Menschen die gleichen sind; diese Hauptaugenblicke der Liebe möchte ich in ihrer zwangläufigen Gleichheit immer noch eher zum Körperlich-Mechanischen als zur Seele 515

rechnen. Endlich ist aber da auch das eigentlich seelische Erlebnis des Liebens: bloß hat es mit den beiden anderen Teilen gar nicht notwendig zu tun. Man kann Gott lieben, man kann die Welt lieben; ja vielleicht kann man überhaupt nur Gott oder die Welt lieben. Jedenfalls ist es nicht nötig, daß man einen Menschen liebt. Tut man es aber, reißt das Körperliche die ganze Welt an sich, so daß sie sich gleichsam umstülpt - »

Ulrich unterbrach sich.

Agathe war dunkelrot geworden.

Wenn Ulrich seine Worte mit der Absicht so geregelt und gesetzt hätte, die mit ihnen unvermeidlich verbundenen Vorstellungen des Liebesvorgangs scheinheilig Agathe zu Ohr zu bringen, er würde seinen Willen verwirklicht haben.

Er suchte nach einem Streichholz, nur damit die unbeabsichtigt entstandene Beziehung durch irgendeine Störung wieder unterbrochen werde. «Jedenfalls» sagte er «ist Liebe, wenn das Liebe ist, ein Ausnahmefall, und kann nicht das Muster für das alltägliche Geschehen abgeben. »

Agathe hatte nach den Enden der Tischdecke gegriffen und sie um ihre Beine geschlagen. «Würden fremde Leute, die uns sähen und hörten, nicht von einem widernatürlichen Empfinden reden?» fragte sie plötzlich.

«Unsinn!» behauptete Ulrich. «Was jeder von uns empfindet, ist die schattenhafte Verdopplung seiner selbst in der entgegengesetzten Natur. Ich bin Mann, du bist Frau; man sagt, daß der Mensch zu jeder Eigenschaft auch die schattenhaft angelegte oder unterdrückte Gegeneigenschaft in sich trägt: jedenfalls besitzt er die Sehnsucht nach ihr, wenn er nicht heillos mit sich selbst zufrieden ist. Dann ist also mein ans Licht gekommener Gegenmensch in dich geschlüpft, und der deine in mich, und sie fühlen sich großartig in den vertauschten Körpern, einfach weil sie vor ihrer früheren Umgebung und dem Ausblick aus ihr hinaus nicht allzuviel Achtung haben!»

Agathe dachte: «Von allem hat er schon einmal mehr gesagt; warum schwächt er ab?»

Was Ulrich sprach, paßte wohl zu dem Leben, das sie wie zwei Kameraden führten, die sich zuweilen, wenn ihnen gerade die Gesellschaft anderer Zeit läßt, darüber wundern, daß sie ein Mann und eine Frau, zugleich aber Zwillinge sind. Besteht ein solches Einverständnis zwischen zwei Menschen, so gewinnen ihre getrennten Beziehungen zur Welt den Reiz des unsichtbaren Eins im ändern Verstecktseins, des Kleiderund Körperwechsels und des heiteren, hinter zweierlei Masken der äußeren Erscheinung versteckten Betrugs der Zweieinigen an denen, die ihn nicht ahnen. Aber diese spielerische und allzu betonte Fröhlichkeit

- wie Kinder manchmal Lärm machen, statt Lärm zu sein!

- paßte nicht zu dem Ernst, dessen aus großer Höhe fallender Schatten zuweilen unbeabsichtigt das Herz der Geschwister schweigen machte. So geschah es einmal des Abends, als sie sich vor dem Zubettgehen durch Zufall nochmals sprachen und Ulrich seine Schwester im langen Schlafhemd antraf, daß er einen Scherz machen wollte und zu ihr sagte: «Vor hundert Jahren möchte ich jetzt ausgerufen haben: Mein Engel!

Schade, daß dieses Wort abgekommen ist!» Da verstummte er und dachte betroffen: «Ist es nicht das einzige Wort, das ich für sie gebrauchen sollte?! Nicht Freundin, nicht Frau! Auch: Du Himmlische! hat man gesagt. Wahrscheinlich wäre es etwas lächerlich-schwungvoll, aber doch besser, als daß man überhaupt nicht den Mut hat, sich zu glauben!»

Und Agathe dachte: «Ein Mann im Schlafanzug sieht nicht wie ein Engel aus!» Aber er sah wild und breitschultrig aus, und sie schämte sich plötzlich für den Wunsch, daß dieses von Haaren umhangene mächtige Gesicht ihre Augen verfinstern möge. Sie war in einer körperlich-unschuldigen Weise sinnlich erregt geworden; ihr Blut ging in heftigen Wellen durch den Leib und breitete sich, alle Kraft dem Inneren nehmend, in die Haut aus. Da sie nicht ein so fanatischer Mensch war wie ihr Bruder, fühlte sie, was sie fühlte. Wenn sie zärtlich war, war sie zärtlich; nicht gedankenhell oder moralisch erleuchtet, obwohl sie es an ihm ebenso liebte wie scheute.

Und immer wieder, Tag für Tag, faßte Ulrich alles in den Gedanken zusammen: Im Grunde ist es ein Protest gegen das Leben! Sie gingen Arm in Arm durch die Stadt. In der Größe zu einander passend, im Alter zu einander passend, in der Gesinnung zu einander passend. Sie konnten, Seite an Seite dahinschreitend, nicht viel voneinander sehn. Große, einander angenehme Gestalten, gingen sie nur aus Freude auf die Straße und fühlten bei jedem Schritt den Hauch ihrer Berührung inmitten des sie umgebenden Fremden. Wir gehören zusammen! Diese Empfindung, die nichts weniger als ungewöhnlich ist, machte sie glücklich, und halb in ihr, halb gegen sie, sagte Ulrich: «Es ist komisch, daß wir so zufrieden 516

damit sind, Bruder und Schwester zu sein. Für alle Welt ist das eine Allerweltsbeziehung, und wir legen etwas Besonderes hinein?!»

Vielleicht hatte er sie damit gekränkt. Er fügte hinzu: «Ich habe es mir aber immer gewünscht. Als ich ein Knabe war, habe ich mir vorgenommen, nur eine Frau zu heiraten, die ich schon als kleines Mädchen an Kindesstatt annehmen und aufziehen werde. Ich glaube allerdings, viele Männer haben solche Einfälle, sie sind geradezu banal. Aber ich habe mich einmal als Erwachsener richtig in ein solches Kind verliebt, wenn auch nur für zwei oder drei Stunden!» Und er fuhr fort, es ihr zu erzählen: «Es ist auf der Straßenbahn geschehen. Da stieg ein junges Mädchen zu mir ein, vielleicht zwölf Jahre alt, in Begleitung ihres sehr jungen Vaters oder älteren Bruders. Wie sie eintritt, sich setzt, dem Schaffner nachlässig das Geld für beide reicht, ist sie ganz Dame; aber ohne jede Spur von kindlicher Geschraubtheit. In der gleichen Art sprach sie auch mit ihrem Begleiter oder hörte ihm schweigend zu. Sie war wunderschön; braun, volle Lippen, starke Augenbrauen, eine etwas aufgebogene Nase: vielleicht eine dunkelhaarige Polin oder eine Südslawin. Ich glaube, sie trug auch ein Kleid, das an irgendein nationales Kostüm erinnerte, aber mit langer Jacke, enger Mitte, kleinem Schnurbesatz und Krausen an Hals und Händen in seiner An ebenso vollendet war wie die ganze kleine Person. Vielleicht war sie Albanerin? Ich saß zu weit, um hören zu können, wie sie sprach. Mir fiel auf, daß die Züge ihres ernsten Gesichts ihren Jahren voraus waren und völlig erwachsen wirkten; trotzdem bildeten sie nicht das Antlitz einer zwergkleinen Frau, sondern ohne alle Frage das eines Kindes.

Anderseits war dieses Kindergesicht durchaus nicht die unreife Vorstufe eines Erwachsenen. Es scheint, daß manchmal das Frauengesicht mit zwölf Jahren fertig ist, auch seelisch wie von großen Meisterstrichen im ersten Entwurf geformt, so daß alles, was die Ausführung später hineinbringt, die ursprüngliche Größe nur verdirbt. Man kann sich leidenschaftlich in eine solche Erscheinung verlieben, tödlich, und eigentlich ohne Begehren. Ich weiß, daß ich mich scheu nach den anderen Leuten umgesehen habe, denn es war mir, als wiche alle Ordnung von mir zurück. Ich bin hinter der Kleinen dann ausgestiegen, verlor sie aber im Gedränge der Straße» schloß er seine kleine Erzählung.

Nachdem sie noch eine Weile damit gewartet hatte, fragte Agathe lächelnd: «Und wie stimmt das dazu, daß die Zeit der Liebe vorbei ist und nur noch Sexualität und Kameradschaft bleiben?»

«Gar nicht stimmt es dazu!» rief Ulrich lachend aus.

Seine Schwester überlegte und bemerkte auffallend herb, — es wirkte wie eine absichtliche Wiederholung seiner eigenen am Abend ihres Wiedersehens gebrauchten Worte: «Alle Männer wollen Brüderlein und Schwesterlein spielen. Es muß wirklich etwas Dummes bedeuten. Brüderlein und Schwesterlein sagen Vater und Mütter zueinander, wenn sie einen kleinen Schwips haben. »

Ulrich stutzte. Agathe hatte nicht nur recht, sondern begabte Frauen sind auch unerbittliche Beobachter der Männer, die sie lieben; sie haben bloß keine Theorien und machen darum von ihren Entdeckungen keinen Gebrauch, außer wenn sie gereizt werden. Er fühlte sich etwas beleidigt. «Man hat das natürlich schon psychologisch erklärt» sagte er zögernd. «Nichts liegt auch näher, als daß wir zwei psychologisch verdächtig sind. Inzestuöse Neigung, ebenso früh in der Kindheit nachweisbar wie unsoziale Anlage und Proteststellung zum Leben. Vielleicht sogar nicht genügend gefestigte Eingeschlechtigkeit, obwohl ich - »

«Ich auch nicht!» warf Agathe ein und lachte nun wieder, wenn auch eigentlich nicht mit Willen. «Ich mag Frauen gar nicht!»

«Ist auch alles gleich» meinte Ulrich. «Allenfalls seelisches Eingeweide. Da kannst du auch noch sagen, daß es ein Sultansbedürfnis gibt, ganz allein anzubeten und angebetet zu werden unter Ausschluß der übrigen Welt; im alten Orient hat es den Harem hervorgebracht, und heute hat man dafür die Familie, die Liebe und den Hund. Und ich kann sagen, daß die Sucht, einen Menschen so allein zu besitzen, daß ein anderer gar nicht herankann, ein Zeichen der persönlichen Einsamkeit in der menschlichen Gemeinschaft ist, das selbst Sozialisten selten verleugnen. Wenn du es so ansehen willst, sind wir nichts als eine bürgerliche Ausschreitung. Sieh, wie herrlich! -» unterbrach er sich und zog sie am Arm.

Sie standen am Rand eines kleinen Marktes zwischen alten Häusern. Rings um das klassizistische Standbild irgendeines Geistesgroßen lag das buntfarbige Gemüse, waren die großen sackleinenen Schirme der Marktstände aufgespannt, kollerte Obst, wurden Körbe geschleift und Hunde von den ausgelegten Herrlichkeiten verscheucht, sah man die roten Gesichter derber Menschen. Die Luft polterte und gellte von arbeitsam erregten Stimmen und roch nach Sonne, die auf irdisches Allerlei scheint. «Muß man die Welt nicht lieben, wenn man sie bloß sieht und riecht?!» fragte Ulrich begeistert. «Und wir können sie nicht 517

lieben, weil wir mit dem, was in ihren Köpfen vorgeht, nicht einverstanden sind -» setzte er hinzu.

Das war nun nicht gerade eine Abtrennung nach Agathes Geschmack, und sie antwortete nicht. Aber sie drückte sich an den Arm ihres Bruders, und beide verstanden es so, als legte sie ihm sanft die Hand auf den Mund.

Ulrich sagte lachend: «Ich mag mich ja auch selbst nicht! Das ist die Folge, wenn man an den Menschen immer etwas auszusetzen hat. Aber auch ich muß doch etwas lieben können, und da ist eine Siamesische Schwester, die nicht ich noch sie ist, und geradesogut ich wie sie ist, offenbar der einzige Schnittpunkt von allem!»

Er war wieder fröhlich. Und gewöhnlich riß seine Laune auch Agathe mit sich. Aber so wie in der ersten Nacht ihres Wiedersehns oder früher sprachen sie niemals mehr. Das war verschwunden wie Wolkenburgen: wenn sie statt über dem einsamen Land über den lebenerfüllten Straßen einer Stadt stehen, glaubt man nicht recht an sie. Die Ursache war vielleicht nur darin zu suchen, daß Ulrich nicht wußte, welchen Grad von Festigkeit er den Erlebnissen zuschreiben dürfe, die ihn bewegten; aber Agathe glaubte oft, er sähe nur noch eine phantastische Ausschreitung in ihnen. Und sie konnte ihm nicht beweisen, daß es anders sei: sie sprach ja immer weniger als er, sie traf das nicht und traute sich das nicht zu. Sie fühlte bloß, daß er der Entscheidung ausweiche und es nicht dürfte. So verbargen sie sich eigentlich beide in ihrem spaßhaften Glück ohne Tiefe und Schwere, und Agathe wurde davon von Tag zu Tag trauriger, obwohl sie ebensooft lachte wie ihr Bruder.

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Professor Hagauer greift zur Feder

Das änderte sich aber durch Agathens dabei so wenig berücksichtigten Gatten.

An einem Morgen, der diese Tage der Freude beendete, erhielt sie einen schweren Brief in Kanzleiformat, der mit einer großen, runden, gelben Oblate geschlossen war, die in weißen Buchstaben den Aufdruck Kaiserlichkönigliches Rudolfsgymnasium in… trug. Aus dem Nichts entstanden augenblicklich, noch während sie das Schreiben uneröffnet in der Hand hielt, Häuser, zweistöckig, wieder: mit dem stummen Spiegeln wohlgepflegter Fenster; mit weißen Thermometern außen an den braunen Rahmen, einem in jedem Stockwerk, damit man das Wetter erkenne; mit griechischen Giebeln und barocken Muscheln über den Fenstern, aus den Mauern tretenden Köpfen und ebensolchen mythologischen Schildwachen, die aussehen, als wären sie in der Kunsttischlerei erzeugt und als Steine angestrichen. Braun und naß liefen die Straßen durch die Stadt, so wie sie als Landstraßen hereingelaufen kamen, mit ausgefahrenen Radspuren, und die Geschäfte standen mit ihren ganz neuen Auslagen zu beiden Seiten und sahen trotzdem wie Damen vor dreißig Jahren aus, die ihre langen Röcke gehoben haben und sich nicht entschließen können, vom Gehsteig in den Dreck der Straße zu treten: Provinz in Agathes Kopf! Spuk in Agathes Kopf!

Unverständliches Nicht-ganz-Verschwundensein, obwohl sie sich für immer davon gelöst zu haben glaubte!

Noch unverständlicheres: Je damit verbunden gewesen zu sein?! Sie sah den Weg von ihrer Haustür längs der Wand bekannter Häuser bis zur Schule führen, den ihr Gatte Hagauer viermal des Tags zurücklegte und den sie anfangs auch oft gegangen war, Hagauer aus seinem Heim in die Arbeit begleitend, in der Zeit, wo sie sich sorgfältig keinen Tropfen des bitteren Heiltranks entgehen ließ: «Ob Hagauer jetzt wohl zu Mittag ins Hotel speisen geht?» fragte sie sich. «Ob jetzt er die Blätter vom Kalender reißt, die sonst ich alle Morgen abgenommen habe?» Alles das hatte mit einemmal wieder etwas so unsinnig Übergegenwärtiges angenommen, als ob es nie sterben könnte, und sie sah mit stillem Grauen das wohlbekannte Gefühl der Einschüchterung in sich erwachen, das aus Gleichgültigkeit bestand, aus verlorenem Mut, aus Sättigung am Häßlichen und einem Zustand der eigenen unsicheren Hauchartigkeit. Mit einer Art Begierde öffnete sie das dicke Schreiben, das ihr Gatte an sie gerichtet hatte.

Als Professor Hagauer vom Begräbnis seines Schwiegervaters und einem kurzen Besuch der Kapitale wieder an seine Heim-und Arbeitsstätte zurückgekehrt war, hatte ihn seine Umgebung genau so aufgenommen wie allemal nach seinen kurzen Reisen; mit dem angenehmen Bewußtsein, eine Angelegenheit ordentlich erledigt zu haben und nun die Reiseschuhe mit den Hausschuhen zu vertauschen, in denen es sich doppelt so gut arbeitet, wandte er sich ihr zu. Er begab sich in seine Schule; er wurde vom 518

Hauswart ehrerbietig begrüßt; er fühlte sich willkommen geheißen, wenn er den Lehrern begegnete, die ihm untergeben waren; in der Schulleitung erwarteten ihn die Akten und Angelegenheiten, die niemand während seiner Abwesenheit zu erledigen gewagt hatte; wenn er durch die Gänge eilte, begleitete ihn das Gefühl, daß sein Schritt das Haus beflügele: Gottlieb Hagauer war eine Persönlichkeit und wußte es; Ermutigung und Frohsinn strahlten von seiner Stirn durch das ihm unterstehende Erziehungsgebäude, und wenn er außerhalb der Schule nach Befinden und Aufenthalt seiner Frau Gemahlin befragt wurde, antwortete er mit der Seelenruhe eines Mannes, der sich ehrenvoll verheiratet weiß. Es ist bekannt, daß ein männliches Wesen, solange es noch zeugungsfähig ist, kurze Pausen der Ehe ähnlich empfindet, wie wenn ein leichtes Joch von ihm abgenommen würde, auch wenn es gar keine bösen Ausführungen damit verbindet und nach Ablauf der Erholung erfrischt sein Glück wieder auf sich nimmt.

Dergestalt nahm auch Hagauer Agathes Abwesenheit anfangs arglos hin und bemerkte zunächst gar nicht, wie lange seine Frau ausblieb.

Wirklich lenkte erst jener Wandkalender seine Aufmerksamkeit darauf, der sich in Agathes Gedächtnis mit seinem Tag für Tag abgerissenen Blatt als fürchterliches Sinnbild des Lebens widerspiegelte; er hing im Speisezimmer als ein nicht an die Wand gehörender Fleck, -haftengeblieben als Neujahrsgeschenk eines Papierwarengeschäfts, seit ihn Hagauer aus der Schule nach Hause gebracht hatte, und wegen seiner Trostlosigkeit von Agathe nicht nur geduldet, sondern sogar betreut. Es wäre nun ganz in der Art Hagauers gewesen, wenn er nach der Abreise seiner Frau das Abreißen der Blätter von diesem Kalender selbst übernommen hätte, denn es widersprach seinen Gewohnheiten, diesen Teil der Wand gleichsam verwildern zu lassen. Aber anderseits war er ein Mann, der jederzeit wußte, auf welchem Wochen-und Monatsgrad er sich im Meere der Unendlichkeit befand, ferner besaß er ohnehin einen Kalender in seiner Schulkanzlei, und endlich hatte er, gerade als er trotzdem die Hand heben wollte, um die Zeitmessung in seinem Heim zu ordnen, ein sonderbares, lächelndes Innehalten gespürt, eine jener Regungen, in denen sich, wie sich später auch herausstellen sollte, das Schicksal ankündigt, die er aber zunächst nur für eine zarte, ritterliche Empfindung hielt, die ihn erstaunte und von sich befriedigte: er beschloß, das Blatt mit dem Tag, an dem Agathe das Haus verlassen hatte, im Sinne einer Ehrung und Erinnerung nicht zu berühren vor ihrer Rückkehr.

So wurde der Wandkalender mit der Zeit zu einer eiternden Wunde, die Hagauer bei jedem Blick daran erinnerte, wie lange seine Frau schon die Heimat meide. Sparsam in Gefühl und Haushaltung, schrieb er ihr Postkarten, in denen er Agathe von sich Nachricht gab und sie, allmählich dringender werdend, nach ihrer Rückkunft befragte. Er empfing keine Antwort darauf. Er strahlte nun bald nicht mehr, wenn ihn Bekannte bedauernd fragten, ob seine Gattin noch lange in Erfüllung trauriger Pflichten ausbleiben werde, aber er hatte zu seinem Glück immer viel zu tun, da ihm jeder Tag außer seinen Schulverpflichtungen und den Aufgaben der Vereine, denen er angehörte, auch noch durch die Post eine Fülle von Einladungen, Anfragen, Zustimmungskundgebungen, Angriffen, Korrekturen, Zeitschriften und wichtigen Büchern brachte: Hagauers menschliche Person lebte zwar in der Provinz, als ein Teil der unschönen Eindrücke, die sie auf einen fremden Durchreisenden zu machen imstande war, aber sein Geist war in Europa zu Hause, und das verhinderte durch lange Zeit, daß er Agathes Ausbleiben in seiner ganzen Bedeutung begriff. Da fand sich jedoch eines Tags in der Post ein Brief Ulrichs, der ihm trocken mitteilte, was mitzuteilen war, daß Agathe nicht mehr beabsichtige, zu ihm zurückzukehren, und ihn ersuche, in eine Scheidung zu willigen. Dieses Schreiben war trotz seiner höflichen Form so rücksichtslos und kurz abgefaßt, daß Hagauer empört feststellte, Ulrich kümmere sich um seine, des Empfängers, Gefühle dabei gerade so viel, als wolle er ein Ungeziefer von einem Blatt entfernen. Seine erste Bewegung innerer Abwehr war: Nicht ernstnehmen, eine Laune! Die Nachricht lag wie ein äffender Spuk in der taghellen Fülle unaufschieblicher Arbeiten und ehrenvoll zuströmender Anerkennungen. Erst abends, als Hagauer seine leere Wohnung wiedersah, setzte er sich an den Schreibtisch und teilte nun Ulrich in würdiger Kürze mit, daß es am besten sei, seine Mitteilung als ungeschehen zu betrachten. Aber von Ulrich traf bald darauf ein neuer Brief ein, worin er diese Auffassung ablehnte, Agathens Begehren, ohne daß sie davon wußte, wiederholte, und bloß in etwas höflicherer Ausführlichkeit Hagauer aufforderte, die nötigen Rechtsschritte in jeder ihm möglichen Weise zu erleichtern, wie es sich für einen Mann von seiner moralischen Höhe gehöre und auch aus dem Grunde wünschenswert sei, daß die üblen Begleitumstände einer öffentlichen Auseinandersetzung vermieden würden. Da erfaßte Hagauer den Ernst der Lage und ließ sich drei Tage Zeit, um eine Antwort zu finden, an 519

der nachträglich nichts auszusetzen, noch zu bedauern sein sollte.

Er litt zwei von diesen drei Tagen an einem Gefühl, das so war, als hätte ihn jemand vor das Herz gestoßen.

«Ein böser Traum!» sagte er sich mehrmals empfindsam, und wenn er sich nicht sehr zusammennahm, vergaß er, an die Wirklichkeit der Aufforderung zu glauben. Eine tiefe Unbequemlichkeit wirkte während dieser Tage in seiner Brust ganz ähnlich wie gekränkte Liebe, und zu ihr kam noch eine unbestimmbare Eifersucht, die sich wohl nicht gegen einen Liebhaber richtete, den er als Ursache von Agathens Verhalten vermutete, doch gegen ein unbegreifbares Etwas, hinter das er sich zurückgesetzt fühlte. Es war das eine Art Beschämung, ähnlich der eines sehr ordentlichen Mannes, wenn er etwas zerschlagen oder vergessen hat: etwas, das im Kopf seit undenklichen Zeiten seinen festen Platz besaß, den man nicht mehr bemerkt, von dem aber vieles abhängt, war mit einemmal entzwei. Bleich und verstört, in wirklicher Qual, die nicht deshalb unterschätzt werden darf, weil ihr die Schönheit fehlte, ging Hagauer umher und wich den Menschen aus, zurückschaudernd vor den Erklärungen, die zu geben, und den Beschämungen, die zu ertragen wären. Erst am dritten Tag kam in seinen Zustand endlich Festigkeit: Hagauer besaß ebenso eine große natürliche Abneigung gegen Ulrich, wie dieser sie gegen ihn besaß, und obwohl sich das noch nie recht gezeigt hatte, tat es das jetzt plötzlich, indem er ahnungsvoll seinem Schwager alle Schuld an Agathens Verhalten beimaß, der offenbar von ihrem zigeunerhaft unruhigen Bruder der Kopf ganz verdreht worden sein mußte; er setzte sich an den Schreibtisch und verlangte in wenigen Worten die augenblickliche Rückkehr seiner Frau, ehern erklärend, daß er alles Weitere als ihr Gatte nur mit ihr selbst erörtern werde.

Von Ulrich kam eine Ablehnung, die ebenso kurz und ehern war.

Da entschied sich Hagauer, auf Agathe selbst einzuwirken; er fertigte Abschriften seines Briefwechsels mit Ulrich an, fügte ein langes, wohlüberlegtes Schreiben bei, und alles zusammen war es, was Agathe vor sich sah, als sie den großen, mit der Amtsoblate gesiegelten Umschlag öffnete.

Hagauer selbst war zumute gewesen, als könne das alles gar nicht sein, was sich da ereignen wolle. Von seinen dienstlichen Obliegenheiten zurückgekehrt, war er in der «verödeten Wohnung» am Abend vor einem Bogen Briefpapier gesessen wie seinerzeit Ulrich vor einem anderen und hatte nicht gewußt, wie beginnen. Aber in Hagauers Leben hatte schon wiederholt das bestens bekannte «Verfahren der Knöpfe»

Erfolg gehabt, und er benutzte es auch diesmal. Es besteht darin, daß man auf seine Gedanken methodisch einwirkt, und zwar auch vor erregenden Aufgaben, ähnlich wie ein Mensch an seinen Kleidern Knöpfe annähen läßt, weil er nur Zeitverluste zu beklagen hätte, wenn er vermeinte, jene ohne diese rascher vom Leib zu bringen. Der englische Schriftsteller Surway zum Beispiel, dessen Arbeit darüber Hagauer heranholte, weil es ihm auch im Kummer wichtig blieb, sie mit seiner eigenen Anschauung zu vergleichen, unterscheidet fünf solcher Knöpfe im Vorgang des erfolgreichen Denkens: a) Beobachtungen an einem Ereignis, die eine Schwierigkeit in seiner Deutung unmittelbar empfinden lassen; b) die nähere Umgrenzung und Feststellung dieser Schwierigkeiten; c) die Vermutung einer möglichen Lösung; d) die vernunftgemäße Entwicklung der Folgen dieser Vermutung; e) weitere Beobachtung für ihre Annahme oder Ablehnung und damit Erfolg des Denkens. Hagauer hatte ein ähnliches Verfahren bereits mit Vorteil auf ein so weltmännisches Geschäft wie das Lawn-Tennis angewendet, als er es im Klub der Staatsbeamten erlernte, wodurch dieses Spiel einen beachtsamen geistigen Reiz für ihn gewann, in reinen Gefühlsangelegenheiten hatte er aber noch nie davon Gebrauch gemacht; denn sein alltägliches seelisches Erleben bestand zum größten Teil aus fachlichen Beziehungen und bei persönlicheren Vorkommnissen aus jenem «rechten Gefühl», das eine Mischung aller in der weißen Rasse im gegebenen Fall möglichen und im Umlauf befindlichen Gefühle darstellt, mit einem gewissen Aufschlag an den lokal-, berufs-oder standesmäßig nächstliegenden. Die Knöpfe ließen sich darum auf das ungewöhnliche Begehren seiner Gattin, sich von ihm zu scheiden, nicht ohne Mangel an Übung anwenden, und gar das «rechte Gefühl»

zeigt bei Schwierigkeiten, die einem persönlich nahgehn, die Eigenschaft, daß es sich leicht spaltet: Es sagte Hagauer einerseits, daß ein zeitgemäßer Mensch wie er durch vieles verpflichtet werde, dem Verlangen nach Auflösung eines Vertrauens-Verhältnisses keine Schwierigkeiten entgegenzusetzen; aber andrerseits, wenn man nicht will, sagt es eben auch vieles, was von solcher Verpflichtung freispricht, denn die heutzutage eingerissene Leichtfertigkeit in solchen Dingen ist keineswegs gutzuheißen. In einem solchen Fall, das war Hagauer bekannt, muß sich ein moderner Mensch «entspannen», das heißt seine Aufmerksamkeit zerstreun, eine gelockerte Körperhaltung annehmen und auf das horchen, was dabei aus der größten Tiefe seines Inneren vernehmlich wird. Vorsichtig hielt er seine Überlegungen an, starrte auf 520

den verwaisten Wandkalender und lauschte in sich hinein; nach einer Weile antwortete ihm denn auch eine Stimme, die von innen aus einer unter dem bewußten Denken liegenden Tiefe kam, genau das, was er sich schon gedacht hatte: die Stimme sagte, daß er sich ein derart unbegründetes Ansinnen wie das Agathes schließlich denn doch nicht bieten zu lassen brauche!

Damit war aber Professor Hagauers Geist auch schon unversehens vor Knopf a) bis e) Surways oder einer äquivalenten Knopfreihe niedergesetzt worden und empfand frisch belebt die Schwierigkeiten in der Deutung des von ihm zu beobachtenden Ereignisses. «Bin ich, Gottlieb Hagauer, » fragte sich Hagauer

«etwa an diesem peinlichen Vorfall schuld?» Er prüfte sich und fand keinen einzigen Einwand gegen sein eigenes Verhalten. «Ist ein anderer Mann, den sie liebt, die Ursache?» fuhr er in den Vermutungen einer möglichen Lösung fort. Es bereitete ihm aber Schwierigkeit, das anzunehmen, denn, wenn er sich zu objektiver Überlegung zwang, war nicht recht einzusehen, was ein anderer Mann Agathe Besseres bieten sollte als er. Immerhin, diese Frage konnte so leicht von persönlicher Eitelkeit getrübt werden wie keine andere, er behandelte sie darum auf das genaueste; dabei eröffneten sich ihm Ausblicke, an die er noch nie gedacht hatte, und plötzlich fühlte sich Hagauer nach Punkt c), confer Surway, auf die Spur einer möglichen Lösung gebracht, die über d) und e) weiterführte: Zum erstenmal seit seiner Heirat fiel ihm eine Gruppe von Erscheinungen auf, die seines Wissens nur von Frauen berichtet werden, in denen die Liebe zum anderen Geschlecht ganz und gar keine tiefe oder leidenschaftliche ist. Es war ihm schmerzlich, daß er in seiner Erinnerung keinen einzigen Beweis jener voll geöffneten und traumverlorenen Hingabe fand, die er vorher, in seiner Junggesellenzeit, an weiblichen Personen kennengelernt hatte, deren sinnliche Lebensführung außer Zweifel stand, aber es bot ihm den Vorteil, daß er nun mit voller wissenschaftlicher Ruhe die Zerstörung seines ehelichen Glücks durch einen Dritten ausschloß. Agathes Verhalten setzte sich dadurch von selbst auf eine rein persönliche Auflehnung gegen dieses Glück herab, und zumal da sie ohne das geringste vorandeutende Anzeichen abgereist war, und binnen so kurzer Zeit, wie sonach übrigblieb, unmöglich eine begründete Sinnesänderung vorsichgegangen sein konnte, kam Hagauer zu der Überzeugung, die ihn nun nicht mehr verließ, daß Agathes unbegreifliches Benehmen nur als eine jener sich allmählich ansammelnden Versuchungen zur Lebensverneinung erklärt werden könne, von deren Vorkommen man bei Naturen hört, die nicht wissen, was sie wollen.

War Agathe aber wirklich eine solche Natur? Es blieb noch zu prüfen, und Hagauer kraute nachdenklich mit dem Federstiel seinen Bart. Sie machte wohl gewöhnlich den Eindruck eines «verträglichen Kameraden», wie er das nannte, legte jedoch selbst angesichts der Fragen, die ihn am lebhaftesten beschäftigten, eine große Teilnahmslosigkeit an den Tag, um nicht sagen zu müssen Trägheit! Es war eigentlich etwas an ihr, das nicht zu ihm und nicht zu anderen Menschen und ihren Interessen stimmte; es widerstritt auch nicht; sie lachte ja mit oder wurde ernst, wo es sich gehörte, aber sie hatte, wenn er es recht überlegte, in all den Jahren immer einen etwas zerstreuten Eindruck gemacht. Sie schien dem, was man ihr mitteilte oder auseinandersetzte, Gehör zu schenken und es doch niemals zu glauben. Sie kam ihm, betrachtete man das genau, geradezu ungesund gleichgültig vor. Manchmal empfing man den Eindruck von ihr, daß sie ihre Umgebung überhaupt nicht auffasse…: Und plötzlich hatte seine Feder, ehe er es selbst wußte, begonnen, in charaktervollen Bewegungen über das Papier zu eilen. «Du glaubst, wunder was es sei,

» so schrieb er «wenn du dich für zu gut hältst, das Leben zu lieben, das ich dir zu bieten in der Lage bin und das, bei aller Bescheidenheit, ein reines und volles Leben ist: du hast es gleichsam immer mit der Feuerzange angefaßt, wie mich jetzt dünken will. Du hast dich dem Reichtum des Menschlichen und Sittlichen verweigert, den auch ein bescheidenes Leben zu bieten vermag, und selbst wenn ich annehmen müßte, daß du dich dazu durch irgend etwas berechtigt gefühlt haben könntest, hättest du den sittlichen Änderungswillen vermissen lassen und statt dessen lieber eine künstliche und phantastische Lösung gewählt!»

Er überlegte es noch einmal. Er musterte die Schüler, die durch seine Erzieherhände gegangen waren, um einen Fall zu finden, der ihm Aufschluß geben könnte; aber noch ehe er damit recht begonnen hatte, fiel ihm von selbst das fehlende Stück der Überlegung ein, das er bisher mit einem undeutlichen Unbehagen vermißt hatte. Agathe war in diesem Augenblick kein völlig persönlicher Fall mehr für ihn, zu dem es keinen allgemeinen Zugang gab; denn wenn er bedachte, wieviel sie aufzugeben bereit sei, ohne von einer besonderen Leidenschaft verblendet zu werden, so wurde er zu seiner Freude unausweichlich auf die grundlegende, der modernen Pädagogik bekannte Annahme geführt, daß es ihr an der Fähigkeit 521

übersubjektiver Überlegung und an sicherem geistigen Kontakt mit der Umwelt fehle! Rasch schrieb er:

«Wahrscheinlich bist du dir auch bei dem, was du jetzt unternehmen willst, durchaus nicht deutlich bewußt, was es sei; aber ich warne dich, ehe du einen bleibenden Entschluß fassest! Du bist vielleicht das strikteste Gegenteil einer ins Leben gerichteten und seiner kundigen Menschenart, wie ich sie selbst darstelle, aber gerade darum solltest du dich nicht leichtfertig der Stütze entäußern, die ich dir biete!» - Eigentlich wollte Hagauer ja etwas anderes schreiben. Denn die Intelligenz eines Menschen ist kein abgeschlossenes und beziehungsloses Vermögen, ihre Mängel ziehen sittliche Mängel nach sich, spricht man doch von moralischem Blödsinn, ebenso wie sittliche Mängel, was allerdings seltener beachtet wird, imstande sind, die Verstandeskräfte in der ihnen beliebenden Richtung abzulenken oder zu blenden! Hagauer sah also einen geschlossenen Typus vor seinem geistigen Auge, den er im Anschluß an schon bestehende Bestimmungen am ehesten geneigt war als eine «im ganzen ausreichend intelligente Sonderart des moralischen Blödseins zu bezeichnen, das sich dann bloß in bestimmten Ausfallserscheinungen ausdrückt».

Er brachte es nur nicht über sich, diesen aufschlußreichen Ausdruck zu verwenden, teils weil er es vermeiden wollte, seine entflohene • Gattin noch mehr zu reizen, teils weil ein Laie solche Bezeichnungen gewöhnlich mißversteht, wenn sie auf ihn angewendet werden. Sachlich blieb aber daran festzuhalten, daß die beanstandeten Erscheinungen insgesamt in die große Gattung des Nicht-Vollsinnigen gehörten, und schließlich fiel Hagauer aus diesem Gegensatz zwischen Gewissen und Ritterlichkeit ein Ausweg ein, da sich die an seiner Frau zu beachtenden Ausfallserscheinungen in Anlehnung an eine weit verbreitete weibliche Minderleistung ja auch als sozialer Schwachsinn bezeichnen ließen! In dieser Auffassung beendete er seinen Brief in bewegten Worten. Mit dem prophetischen Ingrimm des verschmähten Liebhabers und Pädagogen schilderte er Agathe die asoziale, des Gemeinschaftsinns entbehrende und gefährdete Anlage ihrer Natur als eine «MinusVariante», die nie und nirgends den Problemen des Lebens tatkräftig und neuschaffend entgegentrete, wie es «heutige Zeit» von «ihren Menschen» verlange, sondern «durch eine Glasscheibe von der Wirklichkeit getrennt» ingewählter Selbstvereinsamung verharre, dauernd am Rande der pathologischen Gefahr. «Wenn dir etwas an mir mißfiele, hättest du ihm entgegenwirken müssen» schrieb er; «aber die Wahrheit ist, daß dein Gemüt den Energien der Gegenwart nicht gewachsen ist und ihren Forderungen ausweicht! Ich habe dich nun vor deinem Charakter gewarnt» schloß er «und wiederhole, daß du eine verläßliche Stütze dringender benötigst als andere Menschen. In deinem eigenen Interesse fordere ich dich auf, unverzüglich zurückzukehren, und erkläre, daß es mir die Verantwortung, die ich als dein Gatte trage, verbietet, deinem Wunsche nachzugeben. »

Diesen Brief las Hagauer, ehe er ihn unterschrieb, noch einmal durch, fand ihn in der Erfassung des fraglichen Typus sehr unvollständig, aber änderte nichts mehr daran, außer daß er am Ende - die ungewohnte, stolz bewältigte Anstrengung, über seine Frau nachzudenken, als kräftige Ausatmung durch den Schnurrbart blasend und erwägend, wieviel eigentlich auch zu der Frage «Neue Zeit» noch gesagt werden müßte - eine ritterliche Wendung vom kostbaren Vermächtnis des verehrten verstorbenen Vaters einfügte, dort, wo das Wort Verantwortung stand.

Als Agathe das alles gelesen hatte, geschah das Wunderliche, daß der Inhalt dieser Ausführungen nicht ohne Eindruck auf sie blieb. Langsam ließ sie das Schreiben, nachdem sie es im Stehen, ohne daß sie sich die Zeit nahm, sich zu setzen, noch einmal Wort für Wort durchgesehen hatte, sinken und reichte es Ulrich, der mit Verwunderung die Erregung seiner Schwester beobachtet hatte.

30

Ulrich und Agathe suchen nachträglich einen Grund

Und während nun Ulrich las, beobachtete Agathe mutlos sein Mienenspiel. Er hatte sein Gesicht über den Brief geneigt, und der Ausdruck darin schien unentschlossen zu sein, wie er sich entscheiden solle, ob für Spott, Ernst, Kummer oder Verachtung. In diesem Augenblick senkte sich ein schweres Gewicht auf sie; es drang von allen Seiten ein, als verdichte sich die Luft zu unerträglicher Dumpfheit, nachdem zuvor eine unnatürlich köstliche Leichtigkeit geherrscht habe: was Agathe mit dem Testament ihres Vaters getan hatte, bedrückte zum erstenmal ihr Gewissen. Aber es würde nicht genügen, sagte man, daß sie mit einemmal ermaß, wessen sie sich in Wirklichkeit schuldig gemacht habe; vielmehr empfand sie ein solches wirkliches 522

Ermessen im Verhältnis zu allem, auch zu ihrem Bruder, und sie fühlte eine unbeschreibliche Nüchternheit.

Alles, was sie getan hatte, erschien ihr unbegreiflich. Sie hatte davon gesprochen, ihren Gatten zu töten, sie hatte ein Testament gefälscht, und sie hatte sich ihrem Bruder angeschlossen, ohne zu fragen, ob sie sein Leben damit störe: in einem einbildungsreichen Rauschzustand hatte sie das getan. Und besonders beschämte es sie in diesem Augenblick, daß ihr der nächste und natürlichste Gedanke dabei völlig gefehlt habe, denn jede andere Frau, die sich von einem Mann freimacht, den sie nicht mag, wird entweder einen besseren suchen oder sich durch Unternehmen anderer, aber ebenso natürlicher Art entschädigen. Oft genug hatte sogar Ulrich selbst darauf hingewiesen, doch hatte sie nie darauf gehört. Nun stand sie da und wußte nicht, was er sagen werde. Ihr Verhalten kam ihr so sehr als das eines wirklich nicht ganz zurechnungsfähigen Wesens vor, daß sie Hagauer recht gab, der ihr in seiner Weise vorhielt, was sie sei; und sein Brief in Ulrichs Hand machte sie ähnlich betroffen, wie es ein Mensch sein mag, der ohnehin unter Anklage steht und nun noch ein Schreiben seines früheren Lehrers erhält, worin ihn dieser seiner Verachtung versichert. Natürlich hatte sie Hagauer niemals einen Einfluß auf sich eingeräumt; trotzdem war die Wirkung so, als dürfte er ihr sagen: «ich habe mich in dir getäuscht!» oder: «ich habe mich leider nie in dir getäuscht und immer das Gefühl gehabt, du wirst ein böses Ende nehmen!» In dem Bedürfnis, diesen lächerlichen und kummervollen Eindruck abzuschütteln, unterbrach sie vor der Zeit Ulrich, der noch immer aufmerksam in dem Brief las und, wie es schien, damit gar nicht fertig werden konnte, mit ungeduldigen Worten:

«Er beschreibt mich eigentlich ganz richtig» ließ sie scheinbar gleichmütig einfließen, aber doch mit dem Nachdruck einer Herausforderung, die deutlich den Wunsch verriet, das Gegenteil zu hören. «Und wenn er es auch nicht ausspricht, so ist es doch wahr: entweder muß ich unzurechnungsfähig gewesen sein, als ich ihn ohne zwingenden Grund heiratete, oder ich bin es jetzt, wo ich ihn mit ebenso wenig Grund verlasse. »

Ulrich, der in diesem Augenblick zum drittenmal die Briefstellen durchlas, die seine Vorstellungsgabe unfreiwillig zum Zeugen des engen Verhältnisses zu Hagauer machten, antwortete zerstreut etwas Unverständliches.

«Aber gib doch nur acht!» bat ihn Agathe. «Bin ich die zeitgemäße, wirtschaftlich oder geistig irgendwie tätige Frau ?

Nein. Bin ich die verliebte Frau? Auch nicht. Bin ich die gute, ausgleichende, vereinfachende, nestbildende Gefährtin und Mutter? Schon gar nicht. Was bleibt da noch übrig? Wozu bin ich also auf der Welt? Die Geselligkeit, in der wir uns bewegen, das muß ich dir doch gleich sagen, ist mir im Grunde völlig gleichgültig. Und ich glaube beinahe, was es an Musik, Dichtung und Kunst gibt, das gebildete Kreise entzückt, könnte ich auch ganz gut entbehren. Hagauer zum Beispiel nicht; Hagauer braucht das allein schon für seine Zitate und Hinweise. Er hat wenigstens das Erfreuliche und Ordentliche einer Sammlung immer für sich: Ist er also nicht im Recht, wenn er mir vorwirft, daß ich nichts leiste, daß ich mich dem

<Reichtum des Schönen und Sittlichem verweigere und daß ich höchstens noch bei Professor Hagauer Verständnis und Nachsicht finden kann?!»

Ulrich gab ihr das Schreiben zurück und erwiderte in Ruhe: «Sehen wir der Sache ins Gesicht: Du bist mit einem Wort doch wirklich sozial schwachsinnig!» Er lächelte, aber in seinem Ton war die Gereiztheit zu spüren, die der Einblick in diesen vertrauten Brief in ihm zurückgelassen hatte.

Agathe aber war es nicht recht, daß ihr Bruder so antworte. Es vergrößerte ihren Kummer. Nun fragte sie mit schüchternem Spott: «Warum hast du denn, wenn es so ist, ohne mir etwas zu sagen, darauf bestanden, daß ich geschieden werde und meinen einzigen Beschützer verliere?»

«Ach, vielleicht deshalb, » meinte Ulrich ausweichend «weil es so herrlich einfach ist, in einem festen männlichen Ton miteinander zu verkehren. Ich habe mit der Faust auf den Tisch geschlagen, er hat mit der Faust auf den Tisch geschlagen; natürlich mußte ich dann doppelt so heftig auf den Tisch schlagen: Ich glaube, deshalb habe ich es getan. »

Bisher hatte sich Agathe, obwohl ihre Verstimmung verhinderte, daß sie es selbst merke, doch sehr, ja wild darüber gefreut, daß ihr Bruder heimlich das Gegenteil von dem getan habe, Was er in der Zeit des scherzhaft tändelnden Geschwisterspiels offen an den Tag legte; denn daß er Hagauer beleidigte, konnte scheinbar nur den Zweck haben, hinter ihr ein Hindernis zu errichten, das jede Umkehr ausschlösse.

Aber jetzt war auch an der Stelle dieser verborgenen Freude nur der hohle Verlust, und Agathe verstummte.

«Wir dürfen nicht übersehn, » fuhr Ulrich fort «wie gut es Hagauer in seiner Art gelingt, dich, wenn ich so 523

sagen darf, beinahe treffend mißzuverstehn. Gib acht, er wird auf seine Weise, ohne Detektivbüro, bloß indem er über die Schwächen deines Verhältnisses zur Menschheit nachzudenken beginnt, noch herausfinden, was du mit Vaters Testament vorgenommen hast. Wie wollen wir dich dann verteidigen?»

Zum erstenmal, seit sie wieder beisammen waren, kam so zwischen den Geschwistern die Rede auf den unselig-seligen Streich, den Agathe gegen Hagauer geführt hatte. Heftig zuckte sie die Achseln und machte eine unbestimmte Abwehrbewegung.

«Hagauer ist natürlich im Recht» gab ihr Ulrich sanft und nachdrücklich zu bedenken.

«Er ist nicht im Recht!» entgegnete sie mit Bewegung. «Er hat teilweise recht» vermittelte Ulrich. «Wir müssen in einer so gefährlichen Lage mit einem völlig klaren Selbstbekenntnis beginnen. Was du getan hast, kann uns beide ins Zuchthaus bringen. »

Agathe sah ihn mit erschreckt geöffneten Augen an. Eigentlich wußte sie das ja, aber es war noch nie so un-bezweifelt ausgesprochen worden.

Ulrich antwortete mit einer freundlichen Gebärde. «Das ist noch nicht das Schlimmste» fuhr er fort. «Aber wie halten wir das, was du getan hast, und auch die Art, wie du es getan hast, von dem Vorwurf frei, daß es

- » Er suchte nach einem Ausdruck, der ihm genügen sollte, und fand keinen: «Also, sagen wir einfach, daß es doch ein wenig so ist, wie Hagauer meint; daß es sich nach der Seite des Schattens neigt, der Ausfallserscheinungen, der Fehler, die aus etwas Fehlendem entstehn? Hagauer vertritt die Stimme der Welt, wenn sie auch lächerlich in seinem Mund klingt. »

«Jetzt kommt die Tabaksdose» rief Agathe kleinlaut aus.

«Jawohl, jetzt kommt sie» antwortete Ulrich beharrlich.

«Ich muß dir etwas sagen, was mich schon lange bedrückt. »

Agathe wollte ihn nicht zu Wort kommen lassen. «Ist es

nicht besser, wir machen es ungeschehn?!» fragte sie. «Vielleicht sollte ich gütlich mit ihm sprechen und ihm irgendeine Entschuldigung anbieten?»

«Dazu ist es schon zu spät. Er könnte es jetzt als Werkzeug gebrauchen, um dich zu zwingen, daß du zu ihm zurückkehrst» erklärte Ulrich.

Agathe schwieg.

Ulrich fing mit der Tabaksdose an, die ein wohlhabender Mann im Hotel stiehlt. Er hatte sich eine Theorie gemacht, daß es nur drei Gründe für ein solches Eigentumsvergehen gebe: Not, Beruf oder, wenn keines von beiden zutrifft, eine beschädigte seelische Anlage. «Du hast mir, als wir einmal davon sprachen, eingewandt, man könne es auch aus Überzeugung tun» fügte er hinzu.

«Ich habe gesagt, man könne es einfach tun!» warf Agathe ein.

«Nun ja: aus Prinzip. »

«Nein, nicht aus Prinzip!»

«Also, das ist es eben!» sagte Ulrich. «Wenn man so etwas tut, so muß man wenigstens eine Überzeugung damit verbinden! Ich komme nicht darüber hinweg! Man tut nichts <einfach>; entweder ist es von außen begründet oder von innen. Das mag sich wohl nicht leicht trennen lassen, aber darüber wollen wir jetzt nicht philosophieren; ich sage bloß: wenn man etwas ganz Unbegründetes für recht hält oder wenn gar ein Entschluß wie aus dem Nichts entsteht, dann verdächtigt man sich einer krankhaften oder schadhaften Anlage. »

Damit war nun freilich weit mehr und Schlimmeres gesagt, als Ulrich wollte; es deckte sich bloß in der Richtung mit seinen Bedenken.

«Ist das alles, was du mir darüber mitzuteilen hast?» fragte Agathe still.

«Nein, es ist nicht alles» erwiderte Ulrich erbittert: «Wenn man keinen Grund hat, so muß man einen suchen!»

Keiner von beiden war darüber in Zweifel, wo sie ihn suchen müßten. Aber Ulrich wollte es anders und sagte nach einer kleinen Weile des Schweigens nachdenklich: «In dem Augenblick, wo du dich aus dem Einklang mit den anderen hinausbegibst, wirst du in alle Ewigkeit nicht mehr wissen, was gut und was böse ist. Willst du gut sein, so mußt du also überzeugt sein, daß die Welt gut ist. Und das sind wir beide nicht.

Wir leben in einer Zeit, wo die Moral entweder in Auflösung oder in Krämpfen ist. Aber um einer Welt willen, die noch kommen kann, soll man sich rein halten!»

«Glaubst du denn, daß das irgendeinen Einfluß darauf hat, ob sie kommt oder nicht?» wandte Agathe ein.

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«Nein, das glaube ich leider nicht. Höchstens so glaube ich es: Wenn auch die Menschen, die das sehen, nicht richtig handeln, so kommt sie gewiß nicht und der Verfall ist nicht aufzuhalten!»

«Was hast du denn davon, ob es in fünfhundert Jahren anders sein wird oder nicht?!»

Ulrich zögerte. «Ich tue meine Pflicht, verstehst du? Vielleicht wie ein Soldat. »

Wahrscheinlich lag es daran, daß Agathe an diesem Unglücksmorgen eines anderen und zärtlicheren Trostes bedürftig war, als ihn Ulrich gab: sie erwiderte: «Am Ende bloß wie dein General?!» Ulrich schwieg.

Agathe mochte nicht einhalten. «Du bist doch gar nicht sicher, ob es deine Pflicht ist» fuhr sie fort. «Du tust es, weil du eben so bist und weil es dir Freude macht. Etwas anderes habe ich auch nicht getan!»

Sie verlor plötzlich die Selbstbeherrschung. Irgend etwas war sehr traurig. Sie hatte mit einemmal Tränen in den Augen, und in der Kehle würgte ein heftiges Schluchzen. Um das zu verbergen und nicht den Augen ihres Bruders darzubieten, schlang sie die Arme um seinen Hals und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter.

Ulrich fühlte, wie sie weinte und ihr Rücken zitterte. Eine lästige Verlegenheit beschlich ihn: er bemerkte sich kalt werden. So viele zärtliche und glückliche Gefühle er auch für seine Schwester zu besitzen glaubte, sie waren in diesem Augenblick, der ihn rühren mußte, nicht da; sein Empfinden war verstört und kam nicht in Tätigkeit. Er streichelte Agathe und flüsterte einige Trostworte, aber es widerstrebte ihm. Und weil die geistige Miterregung fehlte, kam ihm die Berührung der beiden Körper wie die zweier Strohwische vor. Er machte dem ein Ende, indem er Agathe zu einem Stuhl führte und sich selbst einige Schritte von ihr entfernt in einen anderen setzte. Dabei erwiderte er auf das, was sie eingewandt hatte, mit den Worten: «Die Geschichte mit dem Testament macht dir ja gar keine Freude! Und wird dir auch nie eine machen, weil sie etwas Unordentliches gewesen ist!»

«Ordnung?!» rief Agathe unter Tränen aus. «Pflicht?!» Sie war eigentlich ganz fassungslos, weil sich Ulrich so kalt betragen hatte. Aber sie lächelte schon wieder. Sie begriff, daß sie mit sich allein fertig werden müsse. Sie hatte die Empfindung, das Lächeln, das ihr hervorzubringen gelang, schwebe sehr weit vor ihren eisigen Lippen. Ulrich dagegen war jetzt frei von Verlegenheit, es kam ihm sogar schön vor, daß sich die gewöhnliche körperliche Rührung bei ihm nicht eingestellt hatte; es leuchtete ihm ein, daß auch das zwischen ihnen beiden anders sein müsse. Er hatte aber nicht Zeit darüber nachzudenken, denn er sah, daß Agathe sehr in Mitleidenschaft gezogen war, und deshalb fing er zu sprechen an. «Laß dich nicht durch die Worte kränken, die ich benutzt habe, » bat er «und verüble sie mir nicht! Wahrscheinlich habe ich unrecht, wenn ich solche Worte wie Ordnung und Pflicht wähle; sie muten ja auch an wie eine Predigt. Aber warum,

» unterbrach er das gleich wieder «warum, zum Teufel, sind Predigten verächtlich? Sie müßten doch unser höchstes Glück sein?!»

Agathe hatte gar keine Lust, darauf zu antworten.

Ulrich ließ von seiner Frage ab.

«Glaub nicht, daß ich mich vor dir als der Gerechte aufspielen möchte!» bat er. «Ich habe nicht sagen wollen, daß ich nichts Schlechtes täte. Bloß es heimlich tun müssen, das mag ich nicht. Ich liebe die Räuber der Moral, und nicht die Diebe. Ich möchte also einen moralischen Räuber aus dir machen» scherzte er

«und gestatte dir nicht, aus Schwäche zu fehlen!»

«Ich habe da keinen Ehrenstandpunkt!» sagte seine Schwester hinter ihrem sehr weit von ihr entfernten Lächeln.

«Es ist ja furchtbar lustig, daß es Zeiten wie unsere gibt, wo alle jungen Menschen für das Schlechte eingenommen sind!» warf er lachend ein, um das Gespräch vom Persönlichen zu entfernen. «Diese heutige Vorliebe für das moralisch Gruselige ist natürlich eine Schwäche. Wahrscheinlich bürgerliche Übersättigung am Guten; sein Aus-gelutschtsein. Ich selbst habe auch ursprünglich gedacht, daß man zu allem Nein sagen müsse; alle haben so gedacht, die heute zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig sind; aber das war natürlich nur eine Art Mode: ich könnte mir vorstellen, daß jetzt bald der Umschwung und mit ihm eine Jugend kommt, die sich statt der Unmoral wieder die Moral ins Knopfloch stecken wird.

Die ältesten Esel, die nie in ihrem Leben das Erregende der Moral verspürt und bei Gelegenheit bloß moralische Gemeinplätze von sich gegeben haben, werden dann plötzlich Vorläufer und Pioniere eines neuen Charakters sein!»

Ulrich war aufgestanden und ging unruhig hin und her. «Wir können vielleicht so sagen» schlug er vor:

«Das Gute ist beinahe schon seiner Natur nach Gemeinplatz, das Böse bleibt Kritik! Das Unmoralische 525

gewinnt sein himmliches Recht als eine drastische Kritik des Moralischen! Es zeigt uns, daß das Leben auch anders geht. Es straft Lügen. Dafür danken wir ihm mit einer gewissen Nachsicht! Daß es Testamentsfälscher gibt, die über jeden Zweifel reizend sind, sollte beweisen, daß an der Unverbrüchlichkeit des Eigentums etwas nicht stimmt. Vielleicht bedarf das ja keines Beweises; aber da fängt dann die Aufgabe an: denn wir müssen uns zu jeder Art von Verbrechen entschuldigte Verbrecher als möglich denken, selbst zum Kindesmord oder was es sonst Greuliches gibt - »

Er hatte vergeblich einen Blick seiner Schwester zu fangen gesucht, obwohl er sie mit der Erwähnung des Testaments neckte. Jetzt machte sie eine unwillkürliche Bewegung der Abwehr. Sie war keine Theoretikerin, sie konnte nur ihr eigenes Verbrechen entschuldigt finden, sie war durch seinen Vergleich eigentlich von neuem beleidigt.

Ulrich lachte. «Es sieht wie eine Spielerei aus, hat aber Bedeutung, » versicherte er «daß wir so jonglieren können. Es beweist, daß an der Bewertung unseres Tuns etwas nicht stimmt. Und es stimmt ja auch nicht: Du selbst wärest in einer Gesellschaft von Testamentsfälschern ganz gewiß für die Unantastbarkeit der rechtlichen Bestimmungen; bloß in einer Gesellschaft von Gerechten verwischt und verkehrt sich das. Ja, du würdest sogar, wenn Hagauer ein Lump wäre, glühend gerecht sein; es ist geradezu ein Unglück, daß schon er anständig ist! So wird man hin-und hergestoßen!»

Er wartete auf eine Antwort, die nicht kam; so zuckte er die Achseln und wiederholte: «Wir suchen einen Grund für dich. Wir haben festgestellt, daß sich die honetten Menschen gar zu gern, wenn auch natürlich nur in der Phantasie, auf Verbrechen einlassen. Wir dürfen hinzufügen, daß dafür die Verbrecher, wenn man sie selbst hört, fast ohne Ausnahme als honette Menschen gelten möchten. Also könnte man geradezu definieren: Verbrechen sind die in den Herrn Sündern stattfindende Vereinigung alles dessen, was die ändern Menschen in kleinen Unregelmäßigkeiten abströmen lassen. Das heißt in der Phantasie und in tausend alltäglichen Bosheiten und Lumpereien der Gesinnung. Man könnte auch sagen: die Verbrechen liegen in der Luft und suchen sich bloß einen Weg des geringsten Widerstandes, der sie zu bestimmten Menschen hinführt. Man könnte sogar sagen, sie sind zwar auch die Handlungen von Individuen, die der Moral nicht fähig sind, in der Hauptsache sind sie aber der zusammengezogene Ausdruck irgendeines allgemeinen menschlichen Mißverhaltens in der Scheidung zwischen Gut und Böse. Das ist es, was uns schon von Jugend an mit der Kritik erfüllt hat, über die unsere Zeitgenossenschaft nicht hinausgekommen ist!»

«Aber was ist denn Gut und Bös?» warf Agathe hin, ohne daß Ulrich bemerkte, daß er sie mit seiner Unbefangenheit peinige.

«Ja, das weiß ich doch nicht!» antwortete er lachend. «Ich bemerke doch soeben erst und zum erstenmal, daß ich das Böse verabscheue. Ich habe es wirklich bis heute nicht in dem Maße gewußt. Ach, Agathe, du hast ja keine Ahnung, wie das ist» klagte er nachdenklich; «zum Beispiel die Wissenschaft! Für einen Mathematiker ist, um es ganz einfach zu sagen, Minus Fünf nicht schlechter als Plus Fünf. Ein Forscher darf vor nichts Abscheu haben und wird von einem schönen Krebsfall unter Umständen freudiger erregt als von einer schönen Frau. Ein Wissender weiß, daß nichts wahr ist und die ganze Wahrheit erst am Ende aller Tage liegt. Die Wissenschaft ist amoralisch. Dieses ganze herrliche Eindringen ins Unbekannte entwöhnt uns der persönlichen Beschäftigung mit unserem Gewissen, ja es gewährt uns nicht einmal die Genugtuung, sie ganz ernst zu nehmen. Und die Kunst? Bedeutet sie nicht dauernd ein Schaffen von Bildern, die mit dem des Lebens nicht übereinstimmen? Ich rede nicht von dem falschen Idealismus oder von der Üppigkeit des Aktmalens zu Zeiten, wo man bis zur Nasenspitze angezogen lebt» scherzte er nun wieder. «Aber denk an ein wirkliches Kunstwerk: Hast du nie das Gefühl gehabt, daß etwas daran an den brenzlichen Geruch erinnert, der von einem Messer aufsteigt, das du an einem Stein schleifst? Es ist ein kosmischer, meteorischer, gewittriger Geruch, himmlisch unheimlich!?»

Hier war die einzige Stelle, wo ihn Agathe aus eigenem Antrieb unterbrach. «Hast du nicht früher selbst Gedichte gemacht?» fragte sie ihn.

«Das weißt du noch? Wann habe ich dir das einbekannt?» fragte Ulrich. «Ja; wir machen doch alle irgendwann Gedichte. Ich habe es sogar noch als Mathematiker getan» gab er zu. «Aber sie sind, je älter ich wurde, desto schlechter geworden; und ich glaube, nicht so sehr aus Talentlosigkeit wie aus wachsender Abneigung gegen das Unordentliche und zigeunerhaft Romantische dieser Gefühlsabschweifung -»

Seine Schwester schüttelte bloß leise den Kopf, aber Ulrich bemerkte es. «Doch!» beharrte er. «Ein Gedicht 526

soll doch genau so wenig bloß ein Ausnahmezustand sein wie eine Tat der Güte! Aber wo kommt denn, wenn ich so fragen darf, der Augenblick der Erhebung im nächsten Augenblick hin? Du liebst Gedichte, das weiß ich: aber was ich sagen will, ist, daß man nicht bloß den Feuergeruch in der Nase haben darf, bis er sich verflüchtigt. Dieses unvollständige Verhalten ist genau das Seitenstück zu dem in der Moral, das sich in halbfertiger Kritik erschöpft. » Und plötzlich zur Hauptsache zurückkehrend, entgegnete er seiner Schwester: «Wenn ich mich in dieser Hagauer-Sache so verhielte, wie du es heute von mir erwartest, dann müßte ich doch skeptisch, lässig und ironisch sein. Die sicher sehr tugendhaften Kinder, die du oder ich vielleicht noch haben könnten, werden dann wahrhaftig von uns sagen, daß wir in eine bürgerlich sehr geborgene Zeit gehört haben, die sich keine Sorgen gemacht hat oder höchstens überflüssige. Und wir haben uns mit unserer Überzeugung doch schon soviel Mühe gegeben -!»

Ulrich wollte wahrscheinlich noch vieles sagen; er zögerte ja eigentlich nur mit dem Einsatz, den er für seine Schwester bereit hatte, und es wäre gut gewesen, hätte er ihr das verraten. Denn plötzlich stand sie auf und machte sich unter einem flüchtigen Vorwand zum Ausgehen bereit. «Es bleibt also dabei, daß ich moralisch schwachsinnig bin?» fragte sie mit einem erzwungenen Versuch zu scherzen. «Ich komme mit dem allen, was du dagegen sagst, nicht mehr mit!»

«Wir beide sind moralisch schwachsinnig!» versicherte Ulrich höflich. «Wir beide!» Und er war etwas verstimmt durch die Eile, mit der ihn seine Schwester verließ, ohne zu sagen, wann sie wiederkäme.

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Agathe möchte Selbstmord begehn und macht eine Herrenbekanntschaft

In Wahrheit war sie davongeeilt, weil sie nicht nochmals ihrem Bruder den Anblick der Tränen darbieten wollte, die sie kaum zurückzudrängen vermochte. Sie war so traurig, wie es ein Mensch ist, der alles verloren hat. Warum, wußte sie nicht. Es war gekommen, während Ulrich sprach. Warum, wußte sie auch nicht. Er hätte etwas anderes tun sollen als sprechen. Was, wußte sie nicht. Er hatte ja recht, wenn er das

«dumme Zusammentreffen» ihrer Aufregung mit dem Brief nicht wichtig nahm und weiter so redete, wie er es immer tat. Aber Agathe mußte davonlaufen.

Sie hatte zuerst nur das Bedürfnis zu laufen. Sie lief schnurstracks von ihrer Wohnung fort. War sie von Straßenzügen zum Abbiegen gezwungen, hielt sie die Richtung ein. Sie floh; in der gleichen Art, wie Menschen und Tiere aus einem Unglück flüchten. Warum, fragte sie sich nicht.

Erst als sie ermüdete, wurde ihr klar, was sie vorhatte: Nicht mehr zurückkehren!

Sie wollte bis zum Abend gehn. Mit jedem Schritt weiter von Hause fort. Sie setzte voraus, wenn sie an der Schranke des Abends einhielte, würde auch ihr Entschluß fertig sein. Es war der Entschluß, sich zu töten.

Es war eigentlich nicht der Entschluß, sich zu töten, sondern die Erwartung, daß er am Abend fertig sein werde. Ein verzweifeltes Strudeln und Treiben in ihrem Kopf hinter dieser Erwartung. Sie hatte nicht einmal etwas bei sich, sich zu töten. Ihre kleine Giftkapsel lag irgendwo in einer Lade oder in einem Koffer.

Von ihrem Tod war nur das Verlangen fertig, nicht mehr zurückkehren zu müssen. Sie wollte aus dem Leben gehn. Davon war das Gehn da. Sie ging, mit jedem Schritt, gleichsam schon aus dem Leben.

Als sie müde wurde, bekam sie Sehnsucht nach Wiesen und Wald, nach Gehn im Stillen und Freien.

Dorthin mußte man aber fahren. Sie nahm eine Straßenbahn. Sie war dazu erzogen, sich vor fremden Menschen zu beherrschen. Man merkte darum ihrer Stimme, als sie den Fahrschein löste und eine Auskunft erbat, keine Erregung an. Sie saß ruhig und aufgerichtet, kein Finger zuckte an ihr. Und während sie so saß, kamen die Gedanken. Es wäre ihr freilich wohler gewesen, wenn sie hätte toben können; bei gefesselten Gliedern blieben diese Gedanken wie große Packen, die sie sich vergeblich durch eine Öffnung zu zwängen mühte. Sie verübelte Ulrich, was er gesagt hatte. Sie wollte es ihm nicht verübeln. Sie sprach sich das Recht dazu ab. Was hatte er denn von ihr?! Sie nahm ihm seine Zeit und gab ihm nichts dafür; sie störte seine Arbeit und seine Lebensgewohnheiten. Bei dem Gedanken an seine Gewohnheiten empfand sie einen Schmerz. Solange sie im Hause war, hatte dieses anscheinend keine andere Frau betreten. Agathe war überzeugt, daß ihr Bruder immer eine Frau besitzen müsse. Er legte sich also ihretwegen Zwang an. Und da sie ihn durch nichts entschädigen konnte, war sie eigensüchtig und schlecht. In diesem Augenblick wäre sie gern umgekehrt und hätte ihn zärtlich um Verzeihung gebeten. Aber da fiel ihr nun wieder ein, wie kalt er 527

gewesen sei. Offenbar bereute er, sie zu sich genommen zu haben. Was hatte er nicht alles entworfen und gesagt, ehe er ihrer überdrüssig geworden war! Nun sprach er nicht mehr davon. Die große Ernüchterung, die mit dem Brief gekommen war, marterte wieder Agathes Herz. Sie war eifersüchtig. Sinnlos und gemein eifersüchtig. Sie hätte sich ihrem Bruder aufnötigen mögen und fühlte die leidenschaftliche und ohnmächtige Freundschaft des Menschen, der sich seiner Zurückweisung entgegenwirft. «Ich könnte für ihn stehlen oder auf die Straße gehn!» dachte sie und sah ein, daß dies lächerlich war, konnte aber nicht anders.

Ulrichs Gespräche mit ihren Scherzen und ihrer scheinbar unparteiischen Überlegenheit wirkten wie ein Hohn darauf. Sie bewunderte diese Überlegenheit und alle die geistigen Bedürfnisse, die über die ihren hinausgingen. Aber sie sah nicht ein, warum alle Gedanken immer gleich für alle Menschen gelten sollten!

Sie verlangte in ihrer Beschämung persönlichen Trost und nicht allgemeine Belehrung! Sie wollte nicht tapfer sein!! Und nach einer Weile warf sie sich vor, daß sie so sei, und vergrößerte ihren Schmerz durch die Einbildung, daß sie nichts Besseres verdiene als Ulrichs Gleichgültigkeit.

Diese Selbstverkleinerung, zu der weder Ulrichs Benehmen noch auch das peinliche Schreiben Hagauers einen ausreichenden Anlaß gegeben hatte, war ein Temperamentsausbruch. Alles, was Agathe bisher in der nicht sehr langen Zeit, seit sie kein Kind mehr war, als ihr Versagen vor den Forderungen des Gemeinschaftslebens empfunden hatte, war dadurch bewirkt worden, daß sie diese Zeit in dem Gefühl verbrachte, ohne oder sogar gegen ihre innigsten Neigungen zu leben. Es waren Neigungen der Hingabe und des Vertrauens, denn sie war niemals so in der Einsamkeit heimisch geworden wie ihr Bruder; aber wenn es ihr bisher unmöglich gewesen war, sich einem Menschen oder einer Sache mit ganze Seele hinzugeben, so kam es dennoch davon, daß sie die Möglichkeit einer größeren Hingabe in sich trug, mochte diese nun die Arme nach der Welt oder nach Gott ausstrecken! Es ist ja ein bekannter Weg zur Hingabe an die ganze Menschheit, daß man sich mit seinen Nachbarn nicht verträgt, und ebenso kann ein verstecktes und inniges Gottesverlangen daraus entstehn, daß ein unsoziales Exemplar mit einer großen Liebe ausgestattet ist: der religiöse Verbrecher in solcher Bedeutung ist kein ärgerer Widersinn als die religiöse alte Person, die keinen Mann gefunden hat, und Agathes Verhalten gegen Hagauer, das die ganz unsinnige Form eines eigennützigen Vorgehens hatte, war ebenso der Ausbruch eines ungeduldigen Willens wie die Heftigkeit, mit der sie sich anklagte, durch ihren Bruder zum Leben erweckt worden zu sein und in ihrer Schwäche es wieder verlieren zu müssen.

Es duldete sie nicht lange in der gemächlich rollenden Bahn; als die Häuser zu Seiten des Wegs anfingen niedriger und ländlich zu werden, verließ sie den Wagen und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. Die Höfe waren geöffnet, durch Torgänge und über niedere Zäune kam der Blick zu Handwerkern, Tieren und spielenden Kindern. Die Luft war erfüllt von einem Frieden, in dessen Weite Stimmen sprachen und Geräte pochten; mit den unregelmäßigen und sanften Bewegungen eines Schmetterlings regten sich diese Laute in der hellen Luft, während sich Agathe wie einen Schatten daran vorbei zu der nahe ansteigenden Flucht der Weinberge und Wälder gleiten fühlte. Aber einmal blieb sie stehn, vor einem Hof mit Böttchern und dem guten Laut mit Hämmern geklopften Faßholzes. Sie hatte zeitlebens gern einer solchen guten Arbeit zugesehn und Vergnügen an dem bescheiden sinnvollen und überlegten Werk der Hände empfunden. Auch diesmal konnte sie von dem Takt der Schlegel und den rundum schreitenden Bewegungen der Männer nicht genughaben. Es ließ sie für Augenblicke ihren Kummer vergessen und versenkte sie in eine angenehme und gedankenlose Verbundenheit mit der Welt. Sie empfand immer Bewunderung für Menschen, die so etwas konnten, das mannigfaltig und natürlich aus einem Bedarf hervorging, der allgemein anerkannt war. Nur selbst mochte sie nicht tätig sein, obwohl sie mancherlei geistiges und nützliches Geschick hatte. Das Leben war auch ohne sie vollständig. Und mit einemmal, ehe ihr noch der Zusammenhang klar war, hörte sie Glocken läuten und konnte sich nur mit Mühe hindern, wieder zu weinen. Die kleine Kirche des Vororts hatte wohl schon die ganze Zeit ihre zwei Glocken schallen lassen, aber Agathe beachtete es erst jetzt, und im gleichen Augenblick überwältigte es sie unmittelbar, wie sehr diese nutzlosen Klänge, die, ausgeschlossen von der guten, strotzenden Erde, leidenschaftlich durch die Luft flogen, ihrem eigenen Dasein verwandt seien.

Sie nahm hastig ihren Weg wieder auf, und begleitet von dem Geläute, das sie nun nicht mehr aus den Ohren verlor, kam sie rasch zwischen den letzten Häusern auf die Hügel hinaus, deren Hänge unten von Weinrieden und einzelnen die Pfade säumenden Büschen bestanden waren, während oben hellgrün der Wald winkte. Sie wußte nun auch, wohin es sie zog, und es war ein schönes Gefühl, als sänke sie mit jedem 528

Schritt tiefer in die Natur. Ihr Herz klopfte vor Entzücken und Anstrengung, wenn sie manchmal anhielt und sich vergewisserte, daß auch die Glocken sie noch immer begleiteten, obschon hoch in der Luft versteckt und kaum hörbar. Es kam ihr vor, daß sie noch nie so mitten im Alltag Glocken läuten gehört hätte, gleichsam ohne besonderen, festlichen Anlaß und demokratisch eingemengt in die natürlichen und selbstgewissen Geschäfte. Aber von allen Zungen der tausendstimmigen Stadt sprach diese nun als letzte zu ihr, und daran war etwas, das sie packte, als wolle es sie aufheben und den Berg hinanschwingen, aber dann ließ es sie jedesmal doch wieder los und verlor sich in ein kleines metallenes Geräusch, das vor den zirpenden, brummenden oder rauschenden anderen Geräuschen des Landes nichts voraus hatte. So mochte Agathe wohl noch gegen eine Stunde gestiegen und gewandert sein, als sie sich plötzlich vor jener kleinen Buschwildnis fand, die sie im Gedächtnis getragen hatte. Sie umhegte ein vernachlässigtes Grab am Rand des Waldes, wo sich vor fast hundert Jahren ein Dichter getötet hatte und nach seinem letzten Wunsch auch zur Ruhe gebettet worden war. Ulrich hatte gesagt, daß es kein guter, wenn auch ein gerühmter Dichter gewesen sei, und die immerhin etwas kurzsichtige Poesie, die sich in dem Verlangen ausdrückt, auf einem Aussichtspunkt begraben zu sein, hatte an ihm einen scharfen Beurteiler gefunden. Aber Agathe liebte die Inschrift auf der großen Steinplatte, seit sie gemeinsam ihre von Regen verwaschenen schönen Biedermeier-Buchstaben auf einem Spaziergang entziffert hatten, und sie beugte sich über die schwarzen, aus großen kantigen Gliedern bestehenden Ketten, die das Viereck des Todes gegen das Leben umgrenzten.

«Ich war euch nichts» hatte der lebensunzufriedene Dichter auf sein Grab setzen lassen, und Agathe dachte, das könne man auch von ihr sagen. Dieser Gedanke, am Rand einer Waldkanzel, über den grünenden Weinbergen und der fremden, unermeßlichen Stadt, die in der Vormittagssonne langsam ihre Rauchschweife bewegte, rührte sie von neuem. Sie kniete unversehens nieder und lehnte die Stirn gegen einen der als Kettenträger dienenden Steinpfeiler; die ungewohnte Stellung und die kühle Berührung des Steins täuschten ihr den etwas steifen, willenlosen Frieden des Todes vor, der sie erwartete. Sie versuchte sich zu sammeln. Es gelang ihr aber nicht gleich: Vogellaute drangen in ihr Ohr, es gab so viele verschiedene Vogellaute, daß es sie überraschte; Äste bewegten sich, und da sie den Wind nicht wahrnahm, kam ihr vor, daß die Bäume selbst ihre Äste bewegten; in einer plötzlichen Stille war ein leises Trippeln zu hören; der Stein, den sie ruhend berührte, war so glatt, daß sie das Gefühl hatte zwischen ihm und ihrer Stirn liege ein Eisstück, das sie nicht ganz heranlasse. Erst nach einer Weile wußte sie, daß sich in dem, was sie ablenkte, gerade das ausdrückte, was sie sich vergegenwärtigen wollte, jenes Grundgefühl ihrer Überflüssigkeit, das, wenn man es aufs einfachste bezeichnete, nur mit den Worten auszusprechen war, das Leben wäre auch ohne sie so vollständig, daß sie darin nichts zu suchen und zu bestellen hätte. Dieses grausame Gefühl war im Grunde weder verzweifelt noch gekränkt, sondern ein Zuhören und Zusehen, wie es Agathe immer gekannt hatte, und bloß ohne jeden Antrieb, ja ohne die Möglichkeit, sich selbst einzusetzen. Beinahe lag eine Geborgenheit in dieser Ausgeschlossenheit, so wie es ein Staunen gibt, das alles Fragen vergißt. Sie konnte ebensogut weggehen. Wohin? Irgendein Wohin mußte es wohl geben. Agathe gehörte nicht zu den Menschen, in denen auch die überzeugte Vorstellung von der Nichtigkeit aller Einbildungen eine Art Genugtuung zu bewirken vermag, die einer kriegerischen oder hämischen Enthaltsamkeit gleichkommt, mit der man sein unbefriedigendes Los entgegennimmt. Sie war großzügig und unbedenklich in solchen Fragen und nicht so wie Ulrich, der seinen Gefühlen die erdenklichsten Schwierigkeiten bereitete, um sie sich zu verbieten, wenn sie die Probe nicht bestünden. Sie war eben dumm! Ja, das sagte sie sich. Sie wollte nicht nachdenken! Trotzig preßte sie die tiefgesenkte Stirn gegen die eisernen Ketten, die ein wenig nachgaben und dann straff widerstanden. Sie hatte in den letzten Wochen angefangen, irgendwie wieder an Gott zu glauben, aber ohne an ihn zu denken. Gewisse Zustände, in denen ihr immer die Welt anders vorgekommen war, als es den Anschein hat, und so, daß auch sie dann nicht mehr ausgeschlossen lebte, sondern ganz in einer strahlenden Überzeugung, waren durch Ulrich nahe an eine innere Metamorphose und gänzliche Umwandlung gebracht worden. Sie wäre bereit gewesen, sich einen Gott zu denken, der seine Welt öffnet wie ein Versteck. Aber Ulrich sagte, das sei nicht nötig, es schade höchstens, sich mehr einzubilden, als man erfahren könne. Und es war seine Sache, so etwas zu entscheiden. Dann mußte er sie aber auch führen, ohne sie zu verlassen. Er war die Schwelle zwischen zwei Leben, und alle Sehnsucht, die sie nach dem einen der beiden empfand, und alle Flucht aus dem anderen führte zuerst zu ihm. Sie liebte ihn in einer so schamlosen Weise, wie man das Leben liebt. Er erwachte des Morgens in allen ihren Gliedern, wenn sie die Augen aufschlug. Er sah sie auch jetzt aus dem dunklen 529

Spiegel ihres Kummers an: Und da erst erinnerte sich Agathe wieder daran, daß sie sich töten wollte. Sie hatte das Gefühl, daß sie ihm zu Trotz von Hause zu Gott fortgelaufen wäre, als sie es mit dem Vorsatz verließ, sich zu töten. Aber der Vorsatz war wohl nun erschöpft und wieder auf seinen Ursprung zurückgesunken, daß sie von Ulrich gekränkt worden sei. Sie war böse auf ihn, das fühlte sie noch immer, aber die Vögel sangen, und sie hörte es wieder. Sie war genau so verwirrt wie zuvor, aber nun fröhlich verwirrt. Sie wollte irgend etwas tun, aber es sollte Ulrich treffen, und nicht nur sie. Die unendliche Erstarrung, in der sie auf den Knien gelegen hatte, wich der Wärme lebhaft in die Glieder strömenden Blutes, während sie sich aufrichtete.

Als sie aufblickte, stand ein Herr bei ihr. Sie wurde verlegen, denn sie wußte nicht, wie lange er ihr schon zugesehen habe. Als ihr von der Erregung noch dunkler Blick über den seinen glitt, bemerkte sie, daß er sie mit unverhüllter Anteilnahme betrachtete und ihr augenscheinlich herzliches Vertrauen einflößen wollte: Der Herr war groß und mager, trug dunkle Kleidung, und ein kurzer blonder Bart verdeckte Kinn und Wangen. Unter diesem Bart konnte man leicht aufgeworfene, weiche Lippen gewahren, die in so merkwürdig jugendlichem Gegensatz zu den allenthalben sich schon in das Blond mengenden grauen Haaren standen, als hätte sie das Alter unter dem Haarwuchs übersehen. Überhaupt war dieses Gesicht nicht ganz einfach zu entziffern. Der erste Eindruck machte an einen Mittelschullehrer denken; das Strenge in diesem Gesicht war nicht aus hartem Holz geschnitzt, sondern glich eher etwas Weichem, das sich unter täglichem kleinen Ärger verhärtet hatte. Ging man aber von dieser Weichheit aus, auf der der Mannesbart wie eingepflanzt wirkte, um einer Ordnung zu genügen, der sein Besitzer beipflichtete, so bemerkte man doch in dieser ursprünglich wohl weibischen Anlage harte, fast asketische Einzelheiten der Form, die offenbar ein unablässig tätiger Wille aus dem weichen Material geschaffen hatte.

Agathe wurde aus dem Anblick nicht klug, auch Anziehung und Abstoßung hielten sich in ihr die Wage, und sie verstand nur, daß dieser Mann ihr helfen wollte.

«Das Leben bietet ebensoviel Gelegenheit zur Kräftigung des Willens wie zu seiner Schwächung; man soll niemals fliehn vor den Schwierigkeiten, sondern soll sie zu beherrschen suchen!» sagte der Fremde und wischte, um besser zu sehen, die Augengläser ab, die sich beschlagen hatten. Agathe blickte ihn staunend an. Er mußte ihr offenbar doch schon lange zugesehen haben, denn diese Worte kamen ganz aus der Mitte eines inneren Gesprächs. Da erschrak er und lüftete den Hut, um diese Handlung nachzuholen, die man nicht vergessen darf; aber er fand sich rasch wieder und ging von neuem gerade vor. «Verzeihn Sie, wenn ich Sie frage, ob ich Ihnen helfen kann?» - sagte er - «Es kommt mir vor, daß man einen Schmerz, wahrhaftig oft selbst eine tiefe Erschütterung des Ich, wie ich sie hier sehe, leichter einem Fremden anvertraut!»

Es zeigte sich, daß der Fremde nicht ohne Anstrengung sprach; er schien eine charitative Pflicht erfüllt zu haben, indem er sich mit dieser schönen Frau einließ, und jetzt, wo sie nebeneinander dahinschritten, kämpfte er geradezu mit den Worten. Denn Agathe war einfach aufgestanden und hatte angefangen, langsam in seiner Gesellschaft von dem Grab fortzugehn, aus den Bäumen hinaus ins Freie an den Rand der Hügel, ohne daß sie sich entschieden, ob sie nun auch einen der in die Tiefe führenden Wege und welchen dieser Abstiege sie wählen wollten. Sie gingen vielmehr im Gespräch ein großes Stück Wegs die Höhe entlang, dann kehrten sie um und dann gingen sie noch einmal in der ersten Richtung; keiner wußte, wohin der andere gewollt habe, und mochte doch darauf Rücksicht nehmen. «Wollen Sie mir nicht sagen, warum Sie geweint haben?» wiederholte der Fremde mit der milden Stimme des Arztes, der fragt, wo es weh tue.

Agathe schüttelte den Kopf. «Das könnte ich Ihnen nicht leicht erklären» sagte sie und bat ihn plötzlich:

«Aber beantworten Sie mir eine andere Frage: Was gibt Ihnen die Gewißheit, daß Sie mir helfen können, ohne mich zu kennen? Ich sollte eher glauben, man kann niemand helfen!»

Ihr Begleiter antwortete nicht gleich. Er setzte mehrmals zum Sprechen an, aber es schien, daß er sich zwang zu warten. Endlich sagte er: «Man kann wahrscheinlich nur jemand helfen, dessen Leid man selbst einmal durchlebt hat. »

Er schwieg. Agathe lachte über den Einfall, daß dieser Mann ihr Leid durchlebt haben wolle, das ihm Abscheu einflößen müßte, wenn er es kennte. Ihr Begleiter schien dieses Lachen zu überhören oder für eine Ungezogenheit der Nerven zu halten. Er überlegte und sagte ruhig: «Ich meine natürlich nicht, daß man sich einbilden dürfe, jemand zeigen zu können, wie er es zu machen habe. Aber sehen Sie: Angst in einer Katastrophe steckt an, und - Entronnensein steckt auch an! Ich meine das bloße Entronnensein wie bei 530

einem Brand. Alle sind kopflos geworden und rennen in die Flammen: Welche ungeheure Hilfe, wenn ein einziger draußen steht und winkt, nichts tut als winken und ihnen unverständlich zuschrein, daß es einen Ausweg gibt… !»

Agathe hätte über die schrecklichen Vorstellungen, die dieser gütige Mann doch in sich beherberge, beinahe wieder gelacht; aber gerade weil sie nicht mit ihm übereinstimmten, arbeiteten sie sein wachsweiches Gesicht fast unheimlich hervor. - «Sie sprechen ja wie ein Feuerwehrmann!» gab sie zur Antwort und ahmte mit Absicht die Neckerei und Oberflächlichkeit einer Dame nach, um ihre Neugierde zu verbergen. «Aber irgendeine Vorstellung davon, in welcher Katastrophe ich mich befinde, müssen Sie sich wohl doch gemacht haben?!» - Ohne ihren Willen kam dabei der Ernst des Spottes durch, denn die schlichte Vorstellung, daß dieser Mann ihr helfen wolle, empörte sie durch die ebenso schlichte Dankbarkeit dafür, die sich in ihr meldete. Der Fremde sah sie erstaunt an, dann sammelte er sich und entgegnete ihr fast zurechtweisend: «Sie sind wahrscheinlich noch zu jung, um zu wissen, daß unser Leben sehr einfach ist. Es ist unüberwindlich verworren nur dann, wenn man an sich denkt; aber in dem Augenblick, wo man nicht an sich denkt, sondern sich fragt, wie man einem ändern helfen könne, ist es sehr einfach!»

Agathe schwieg und dachte nach. Und machte es ihr Schweigen oder die ermutigende Weite, in die seine Worte hinausflogen, der Fremde sprach weiter, ohne sie anzusehen: «Die Überschätzung des Persönlichen ist ein moderner Aberglaube. Es wird ja heute so viel von Kultur der Persönlichkeit geredet, von Ausleben und Lebensbejahung. Aber durch solche unklaren und vieldeutigen Worte verraten ihre Bekenner nur, daß sie Nebel brauchen, um den eigentlichen Sinn ihrer Auflehnung zu verhüllen! Was soll denn bejaht werden?

Alles miteinander und durcheinander? Entwicklung ist immer an Gegendruck gebunden, hat ein amerikanischer Denker gesagt. Wir können die eine Seite unserer Natur gar nicht entwickeln, ohne die andere im Wachstum zurückzuhalten. Und was soll denn ausgelebt werden? Der Geist oder die Triebe? Die Launen oder der Charakter? Die Selbstsucht oder die Liebe? Soll unsere höhere Natur sich ausleben, so muß die niedere Entsagung und Gehorsam lernen. »

Agathe dachte darüber nach, warum es einfacher sein solle, für andere zu sorgen als für sich. Sie gehörte zu jenen ganz und gar nicht egoistischen Naturen, die wohl stets an sich denken, aber nicht für sich sorgen, und das ist von der gewöhnlichen, um Vorteile besorgten Selbstsucht viel weiter entfernt als die zufriedene Selbstlosigkeit derer, die sich um ihre Mitmenschen sorgen. So blieb ihr das, was ihr Nachbar sagte, schon an der Wurzel fremd, aber irgendwie berührte es sie doch, und die einzelnen Worte, so energisch angepackt, bewegten sich beunruhigend vor ihr, als wäre ihre Bedeutung mehr in der Luft zu sehen denn zu hören. Es kam dazu, daß sie einen Rain entlang gingen, der Agathe einen wundervollen Blick auf das tief gewölbte Tal öffnete, während diese Lage ihren Begleiter offensichtlich wie eine Kirchenkanzel oder ein Katheder anmutete. Sie blieb stehen und zog mit ihrem Hut, den sie all die Zeit nachlässig in der Hand geschwenkt hatte, einen Strich durch die Rede des Unbekannten. «Sie haben sich» sagte sie «also doch ein Bild von mir gemacht: ich sehe es durchleuchten, und es ist nicht schmeichelhaft!»

Der lange Herr erschrak, denn er hatte sie nicht kränken wollen, und Agathe sah ihn freundlich lachend an.

«Sie scheinen mich mit dem Recht der freien Persönlichkeit zu verwechseln. Und noch dazu mit einer etwas nervösen und recht unangenehmen Persönlichkeit!» behauptete sie.

«Ich habe nur von der Grundbedingung des persönlichen Lebens gesprochen, » - entschuldigte er sich -

«und ich hatte allerdings nach der Lage, in der ich Sie antraf, das Gefühl, daß Ihnen vielleicht mit einem Rat gedient sein könnte. Die Grundbedingung des Lebens wird heute vielfach verkannt. Die ganze moderne Nervosität mit allen ihren Ausschreitungen kommt nur von einer schlaffen inneren Atmosphäre, in der der Wille fehlt, denn ohne eine besondere Anstrengung seines Willens gewinnt niemand jene Einheit und Stetigkeit, die ihn über den dunklen Wirrwarr des Organismus hinaushebt!»

Wieder kamen da zwei Worte, Einheit und Stetigkeit, vor, die wie eine Erinnerung an Sehnsucht und Selbstvorwürfe Agathens waren. «Erklären Sie mir, was Sie darunter verstehen» - bat sie. «Einen Willen kann es doch eigentlich nur geben, wenn man schon ein Ziel hat?!»

«Es kommt nicht darauf an, was ich verstehe?» bekam sie in einem Ton zur Antwort, der ebenso mild wie schroff war. «Sagen denn nicht schon die großen Urkunden der Menschheit in unübertrefflicher Klarheit, was wir zu tun und zu lassen haben?» - Agathe war verblüfft. «Zur Aufstellung von grundlegenden Lebensidealen» erläuterte ihr Begleiter «gehört eine so durchdringende Lebensund Menschenkenntnis und zugleich eine so heroische Überwindung der Leidenschaften und der Selbstsucht, wie das im Lauf der 531

Jahrtausende nur ganz wenigen Persönlichkeiten beschieden war. Und diese Lehrer der Menschheit haben zu allen Zeiten die gleiche Wahrheit bekannt. »

Agathe setzte sich unwillkürlich zur Wehr, wie es jeder Mensch tut, der sein junges Fleisch und Blut für besser hält als die Gebeine toter Weiser. «Aber Menschengesetze, die vor tausenden Jahren entstanden sind, können doch unmöglich auf die heutigen Verhältnisse passen!» rief sie aus.

«Nicht entfernt so sehr, wie das von Skeptikern behauptet wird, die von der lebendigen Erfahrung und Selbsterkenntnis losgelöst sind!» erwiderte ihr Zufallsgefährte mit bitterer Befriedigung. «Tiefe Lebenswahrheit wird nicht durch Debattieren vermittelt, - sagt schon Platon; der Mensch vernimmt sie als lebendige Deutung und Erfüllung seiner selbst! Glauben Sie mir, was den Menschen wahrhaft frei macht, und was ihm die Freiheit nimmt, was ihm wahre Seligkeit gibt und was sie vernichtet: das unterliegt nicht dem Fortschritt, das weiß jeder aufrichtig lebende Mensch ganz genau im Herzen, wenn er nur hinhorcht!»

Das Wort «lebendige Deutung» gefiel Agathe, aber es war ihr ein unerwarteter Einfall gekommen: «Sind Sie vielleicht religiös?» fragte sie. Sie sah ihren Begleiter neugierig an. Er antwortete nicht. «Sie sind doch am Ende kein Geisdicher?!» wiederholte sie und beruhigte sich an seinem Bart, weil ihr plötzlich die übrige Erscheinung einer solchen Überraschung fähig zu sein schien. Man muß ihr zugutehalten, daß sie nicht erstaunter gewesen wäre, wenn der Fremde nebenbei im Gespräch gesagt hätte: <Unser erlauchter Herrscher, der Göttliche Augustus>: sie wußte zwar, daß in der Politik die Religion eine große Rolle spiele, aber man ist so gewohnt, die der Öffentlichkeit dienenden Ideen nicht ernst zu nehmen, daß die Vermutung, die Parteien des Glaubens bestünden aus gläubigen Menschen, leicht so übertrieben erscheinen kann wie die Forderung, ein Postsekretär müsse ein Markenliebhaber sein.

Nach einer langen, irgendwie schwankenden Pause entgegnete der Fremde: «Ich möchte Ihre Frage lieber nicht beantworten; Sie sind zu weit von alledem entfernt. »

Aber Agathe war von einer lebhaften Begierde ergriffen worden. «Ich möchte jetzt wissen, wer Sie sind?!»

verlangte sie zu erfahren, und das war nun freilich ein weibliches Vorrecht, dem man sich schlechterdings nicht widersetzen konnte. Wieder war die gleiche, etwas lächerliche Unsicherheit an dem Fremden zu bemerken wie vorhin, als er den Gruß mit dem Hut nachgetragen hatte; es schien ihn im Arm zu jucken, daß er seine Kopfbedeckung abermals förmlich lüpfe, dann aber versteifte sich etwas, eine Gedankenarmee schien einer anderen eine Schlacht zu liefern und schließlich zu siegen, statt daß eine spielleichte Sache spielend geschah. «Ich heiße Lindner und bin Lehrer am Franz-Ferdinand-Gymnasium» gab er zur Antwort und fügte nach einer kleinen Überlegung hinzu: «Auch Dozent an der Universität. »

«Dann kennen Sie ja vielleicht meinen Bruder?» fragte Agathe erfreut und nannte ihm Ulrichs Namen. «Er hat, wenn ich nicht irre, in der Pädagogischen Gesellschaft vor nicht langer Zeit über Mathematik und Humanität oder etwas Ähnliches gesprochen. »

«Nur dem Namen nach. Und ja, dem Vortrag habe ich beigewohnt» gestand Lindner zu. Es schien Agathe, daß in dieser Antwort eine Ablehnung liege, aber sie vergaß es über dem Folgenden:

«Ihr Herr Vater war der bekannte Rechtsgelehrte?» fragte Lindner.

«Ja, er ist vor kurzem gestorben, und ich wohne jetzt bei meinem Bruder» sagte Agathe frei. «Wollen Sie uns nicht einmal besuchen?»

«Ich habe leider keine Zeit für gesellschaftlichen Umgang» erwiderte Lindner mit Schroffheit und unsicher niedergeschlagenen Augen.

«Dann dürfen Sie aber nichts dagegen haben, » fuhr Agathe fort, ohne sich um sein Widerstreben zu kümmern «wenn ich einmal zu Ihnen komme: ich brauche Rat!» - Er sprach sie noch immer als Fräulein an:

«Ich bin Frau» setzte sie hinzu «und heiße Hagauer. »

«Dann sind Sie am Ende» — rief Lindner aus - «die Gattin des verdienstvollen Schulmannes Professor Hagauer?» - Er hatte den Satz mit einem hellen Entzücken begonnen und dämpfte ihn gegen Ende zögernd ab. Denn Hagauer war zweierlei: er war Schulmann, und er war ein fortschrittlicher Schulmann; Lindner war ihm eigentlich feindlich gesinnt, aber wie erquickend ist es, wenn man in den unsicheren Nebeln einer weiblichen Psyche, die soeben den unmöglichen Einfall hatte, in die Wohnung eines Mannes zu kommen, einen solchen vertrauten Feind entdeckt: der Abfall von der zweiten zur ersten Empfindung war es, was sich im Ton seiner Frage wiederholte.

Agathe hatte es bemerkt. Sie wußte nicht, ob sie Lindner mitteilen solle, in welchem Zustand sich ihre Beziehung zu ihrem Gatten befinde. Es konnte zwischen ihr und diesem neuen Freund augenblicklich alles 532

zu Ende sein, wenn sie es ihm sagte: diesen Eindruck hatte sie sehr deutlich. Und es hätte ihr leid getan; denn gerade weil Lindner durch mancherlei ihre Spottlust reizte, flößte er ihr auch Vertrauen ein. Der glaubwürdig durch seine Erscheinung unterstützte Eindruck, daß dieser Mann nichts für sich selbst zu wollen schien, zwang sie eigentümlich zur Aufrichtigkeit: er machte alles Verlangen still, und da kam die Aufrichtigkeit ganz von selbst empor. «Ich bin im Begriff, mich scheiden zu lassen!» gestand sie schließlich zu.

Es folgte ein Schweigen; Lindner machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Agathe fand ihn nun doch allzu jämmerlich. Endlich sagte Lindner gekränkt lächelnd:

«Dachte ich mir doch gleich etwas Ähnliches, als ich Sie antraf!»

«Sie sind also am Ende auch ein Gegner der Scheidung?!» rief Agathe aus und ließ ihren Ärger frei.

«Natürlich, Sie müssen es ja wohl sein! Aber wissen Sie, das ist wirklich etwas rückständig von Ihnen!»

«Ich kann es wenigstens nicht so selbstverständlich finden wie Sie» - verteidigte sich Lindner nachdenklich, nahm seine Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf und betrachtete Agathe. «Ich glaube, Sie haben zu wenig Willen» stellte er fest.

«Willen? Ich habe eben den Willen, mich scheiden zu lassen!» rief Agathe aus und wußte, daß es keine verständige Antwort war.

«Nicht so ist das zu verstehn» verwies es ihr Lindner sanft. «Ich will ja gerne annehmen, daß Sie triftige Gründe haben. Aber ich denke nun einmal anders: Freie Sitten, wie man sie sich heute gewährt, kommen im Gebrauch doch immer nur auf ein Zeichen dafür hinaus, daß ein Individuum unbeweglich angeschmiedet liegt an sein Ich und nicht fähig ist, von größeren Horizonten aus zu leben und zu handeln. Die Herren Dichter, » - fügte er eifersüchtig hinzu, mit einem Versuch, über Agathes inbrünstige Wallfahrt zu scherzen, der in seinem Munde recht säuerlich wurde - «die dem Sinn der jungen Damen schmeicheln und dafür von ihnen überschätzt werden, haben es natürlich leichter als ich, wenn ich Ihnen sage, daß die Ehe eine Einrichtung der Verantwortlichkeit und der Herrschaft des Menschen über die Leidenschaften ist! Aber bevor sich ein einzelner von den äußeren Schutzmitteln losspricht, welche die Menschheit in richtiger Selbsterkenntnis gegen ihre eigene Unzuverlässigkeit aufgerichtet hat, sollte er sich wohl sagen, daß Isolierung und Bruch des Gehorsams gegen das höhere Ganze schlimmere Schäden sind als die Enttäuschungen des Leibes, vor denen wir uns so sehr fürchten!»

«Das klingt wie ein Kriegsreglement für Erzengel, » sagte Agathe «aber ich sehe nicht ein, daß Sie recht haben. Ich werde Sie ein Stück begleiten. Sie müssen mir erklären, wie man so denken kann. Wohin gehen Sie jetzt?»

«Ich muß nach Hause gehn» antwortete Lindner.

«Würde denn Ihre Frau etwas dagegen haben, wenn ich Sie nach Hause begleite? Wir können in der Stadt unten einen Wagen nehmen. Ich habe noch Zeit!»

«Es kommt mein Sohn aus der Schule heim» sagte Lindner mit abwehrender Würde. «Wir essen stets pünktlich; darum muß ich zu Hause sein. Meine Frau ist übrigens schon vor einigen Jahren plötzlich gestorben» verbesserte er Agathes fehlerhafte Annahme, und mit einem Blick auf die Uhr fügte er ängstlich und ärgerlich hinzu: «Ich muß mich beeilen!»

«So müssen Sie mir das ein andermal erklären, es ist mir wichtig!» beteuerte Agathe lebhaft. «Wenn Sie nicht zu uns kommen wollen, so kann ich doch Sie aufsuchen. »

Lindner schnappte nach Luft, aber es wurde nichts daraus. Endlich sagte er: «Aber Sie als Frau können mich doch nicht besuchen!»

«Doch!» versicherte Agathe. «Sie werden sehn, eines Tags bin ich da. Ich weiß noch nicht wann. Und es ist gewiß nichts Schlimmes!» Damit verabschiedete sie ihn und schlug einen Weg ein, der sich von dem seinen trennte.

«Sie haben keinen Willen!» sagte sie halblaut und versuchte Lindner nachzuahmen, aber das Wort Wille war dabei frisch und kühl im Munde. Gefühle wie Stolz, Härte, Zuversicht waren damit verbunden; eine stolze Tonart des Herzens: der Mann hatte ihr wohlgetan.

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Der General bringt Ulrich und Ciarisse inzwischen ins Irrenhaus

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Indes sich Ulrich allein zu Hause befand, fragte das Kriegsministerium an, ob ihn der Herr Leiter des Militär-Erziehungs- und Bildungswesens persönlich sprechen könnte, wenn er in einer halben Stunde zu ihm käme, und fünfunddreißig Minuten später schäumte das Dienstgespann des Generals von Stumm die kleine Rampe herauf.

«Eine schöne Geschichte!» rief der General seinem Freund entgegen, dem es gleich auffiel, daß die Ordonnanz mit dem Brot des Geistes diesmal fehlte. Der General war in Waffenrock und hatte sogar die Orden angelegt. «Du hast mir eine schöne Geschichte eingebrockt!» wiederholte er. «Heute abend ist bei deiner Kusine große Sitzung. Ich habe noch nicht einmal meinem Chef darüber Vortrag halten können. Und da platzt jetzt die Nachricht, daß wir ins Narrenhaus sollen; spätestens in einer Stunde müssen wir dort sein!»

«Aber warum denn?!» fragte Ulrich, wie es nahelag. «Gewöhnlich überläßt man das doch einer Vereinbarung!?»

«Frag nicht so viel!» flehte ihn der General an. «Telefonier lieber augenblicklich deiner Freundin oder Kusine oder was sie ist, daß wir sie abholen müssen!»

Während Ulrich nun den Krämer anrief, bei dem Ciarisse ihre kleinen Einkäufe zu besorgen pflegte, und darauf wartete, daß sie an den Fernsprecher käme, erfuhr er das Unglück, das der General beklagte. Dieser hatte sich, um Clarissens durch Ulrich vermitteltem Wunsch zu willfahren, an den Chef des Militärärztlichen Dienstes gewendet, der sich wieder mit seinem berühmten Zivilkollegen, dem Vorstand der Universitätsklinik, in Verbindung gesetzt hatte, wo Moosbrugger einem Obergutachten entgegenharrte.

Durch ein Mißverständnis der beiden Herren war dabei aber auch gleich Tag und Stunde verabredet worden, und Stumm hatte das mit vielen Entschuldigungen erst im letzten Augenblick erfahren, zugleich mit dem Irrtum, daß er selbst dem berühmten Psychiater angekündigt worden sei, der seinem Besuch mit großem Vergnügen entgegensehe.

«Mir ist übel!» erklärte er. Das war eine alte und eingebürgerte Formel dafür, daß er sich einen Schnaps wünsche.

Als er diesen getrunken hatte, ließ die Spannung seiner Nerven nach. «Was geht mich ein Narrenhaus an?

Nur deinethalben muß ich hin!» klagte er. «Was soll ich überhaupt diesem blöden Professor sagen, wenn er mich fragt, warum ich mitgekommen bin?»

In diesem Augenblick ertönte am anderen Ende der Fernsprechleitung ein jubelnder Kriegsschrei.

«Schön!» sagte der General verdrießlich. «Aber ich muß außerdem dringend mit dir über heute abend reden.

Und ich muß dem Exzellenz noch darüber Vortrag halten. Und um vier geht er weg!» Er sah nach seiner Uhr und rührte sich nicht vom Stuhl vor Hoffnungslosigkeit.

«Also ich bin ja fertig!» erklärte Ulrich.

«Deine Gnädige kommt nicht mit?» fragte Stumm erstaunt.

«Meine Schwester ist nicht zu Hause. »