Die Ursprünglichkeit geistiger Leistungen wird heute noch falsch eingeschätzt. Der überkommene Heldensinn streitet bei jedem neuen Gedanken und jeder Erfindung noch immer um die Priorität, obgleich wir aus der Geschichte dieser Streitigkeiten längst wissen, daß jede neue Idee in mehreren Köpfen zugleich entstanden ist, und er findet es aus irgendeinem Grund richtiger, sich das Genie als eine Quelle vorzustellen statt eines Stromes, in den vieles gemündet ist und der vieles verbindet, obgleich die genialsten Gedanken nicht mehr sind als Veränderungen anderer genialer Gedanken und kleine Beigaben. Darum «haben wir»

auf der einen Seite «keine Genies mehr» - weil wir nämlich den Ursprung allzu deutlich zu sehn glauben und uns durchaus nicht dazu hergeben wollen, an das Genie einer Leistung zu glauben, die sich aus lauter Gedanken, Gefühlen und sonstigen Elementen zusammensetzt, welche wir einzeln unvermeidlich schon da und dann angetroffen haben müssen. Andererseits übertreiben wir die Einbildung vom

Originalitätscharakter des Genies - zumal dort, wo die Prüfung an den Tatsachen und am Erfolg fehlt, also überall, wo es sich um nichts weniger als unsere Seele handelt - in einer so sinnlosen und verkehrten Weise, daß wir sehr viele Genies haben, deren Kopf nicht mehr Inhalt besitzt, als ein Zeitungsblatt, aber dafür eine auffallende und originelle Aufmachung. Diese, verbündet mit dem falschen Glauben an die unvermeidliche Ursprünglichkeit des Genies, verfeindet mit dem dunklen Gefühl, daß nichts hinter ihm steckt, gipfelnd in der völligen Unfähigkeit, aus den unzähligen Elementen einer Zeit jene Gebilde des geistigen Lebens zu schaffen, die nicht mehr sind als Versuche und doch den vollen Ernst der Sachlichkeit haben, gehört zu jener flauen Stimmung voll Zweifel an die Möglichkeit des Genies und Anbetung vieler Ersatzgenies, die heute herrscht.

Clarisse, für welche Genie eine Sache des Willens war, gehörte, trotz vieler Schwächen, die sie besaß, weder zu den grell aufgemachten Menschen, noch zu den entmutigten. (Das heißt: statt original sein zu wollen, sollten die Leute aneignen lernen!) Sie schrieb mit großer Energie nieder, was sie gelesen hatte, und hatte das richtige Gefühl der Originalität dabei, indem sie sich diese Materie an-eignete und wie in 825

einer lebhaft flackernden Verbrennung geheimnisvoll zu ihrem eigenen und innersten Wesen werden fühlte.

«Durch diesen Zufall sind, » schrieb sie hin «während ich schon an die Abreise dachte, die Erinnerungen in meinem Kopf zusammengestoßen. Daß die Sienesen (Perugia?) im Jahre… ein Bild… in die Kirche trugen, daß Dante… sagt, welcher Brunnen heute noch auf der Piazza… steht. Und daß Dante von der Frömmigkeit des bald danach heiliggesprochenen Franz von Assisi sagte: Wie ein strahlendes Gestirn stieg sie unter uns auf. »

Wo sie sich nicht mehr an die Namen erinnerte, setzte sie Punkte. Das hatte später Zeit. Die Worte «wie ein strahlendes Gestirn aufgehen» fühlte sie aber in ihrem Leibe. Daß sie -nebenbei gedacht - der Aufsatz ergriff, den sie gelesen hatte, besaß seinen Grund darin, daß sie sich nach besseren Zeiten sehnte; aber nicht als Flucht, sondern so - das fühlte sie -daß etwas Aktives geschehen müßte.

«Dieser Franz von Assisi» schrieb sie hin «war ein wohlhabender Sieneser Bürgerssohn, ein Tuchhändler und vordem ein flotter Bursche. Menschen von heute wie Ulrich, welche mit der Wissenschaft Kontakt haben, fühlen sich durch sein späteres Gehaben (nach der religiösen Erweckung) an gewisse manische Zustände erinnert, und es soll gar nicht geleugnet werden, daß sie damit recht haben. Aber was 1913 zur Geisteskrankheit wird, kann 13.. (zirkuläres Irresein, Hysterie, natürlich nicht anatomisch umschriebene Krankheiten, sondern nur solche, welche mit Gesundheit durchsetzt sind!!) bloß eine einseitige Belastung mit Gesundheit gewesen sein. Gewisse Krankheitsbilder sind nicht persönliche, sondern auch soziale Erscheinungen» (Wenn der gesunde Mensch eine soziale Erscheinung ist, dann ist es auch der kranke) -

diesen Satz unterstrich sie. In Klammer warf sie einige Worte dazu: «(Hysterie. Freud. Rausch; seine Formen sind je nach der Gesellschaft verschieden. Psychologie der Massen liefert Bilder, die von klinischen nicht sehr verschieden sind. )» Dann kam ein Satz, den sie wieder unterstrich: «Es ist nicht ausgeschlossen, daß das, was heute bloß zur inneren Destruktion wird, einstens wieder konstruktiven Wert haben wird. »

Es fuhr ihr durch den Kopf, daß Dante und Franz von Assisi überhaupt die gleiche Person gewesen seien; es war eine ungeheure Entdeckung, aber sie schrieb sie nicht nieder, sondern nahm sich vor, diese Frage später zu prüfen, und im nächsten Augenblick war auch ihr Glanz erloschen. «Das Entscheidende ist, » schrieb sie hin «daß damals ein Mensch, den wir heute mit gutem Gewissen in ein Sanatorium stecken würden, leben, lehren und seine Zeitgenossen führen konnte! Daß die besten der Zeitgenossen ihn als eine Ehre und Erleuchtung empfanden! Daß Siena damals ein Mittelpunkt der Kultur war. » Aber an den Rand schrieb sie:

«Alle Menschen sind ein Mensch?» — Dann fuhr sie ruhiger fort: «Es fesselt mich, mir vorzustellen, wie es damals aussah? Jene Zeit hatte nicht viel Intelligenz. Sie prüfte nicht; sie glaubte wie ein gutes Kind, ohne sich über das Unwahrscheinliche zu erregen. Die Religion hing mit dem Lokalpatriotismus zusammen; nicht der einzelne Sieneser kam in den Himmel, sondern die Stadt Siena würde einmal als Ganzes dorthin versetzt werden. Denn man liebte den Himmel durch die Stadt durch. (Die Heiterkeit, der Schmucksinn, die weiten Ausblicke kleiner italienischer Städte!) Religiöse Eigenbrötler waren selten; man war stolz auf die Stadt; das Gemeinsame war ein gemeinsames Erlebnis. Der Himmel gehörte dieser Stadt, wie hätte es anders sein sollen?! Die Priester galten nicht als besonders religiöse Menschen, waren bloß eine Art Beamte; denn Gott war in allen Religionen immer etwas weit und unsicher, aber der Glaube, daß Gottes Sohn zu Besuch gekommen war, daß man noch die Aufzeichnungen derer besaß, die ihn mit eigenen Augen gesehen haben, gab eine ungeheure Lebendigkeit, Nähe und Sicherheit des Erlebnisses, als deren Bestätigung eben die Priester da waren. Offizierskorps Gottes.

Wenn in dieser Mitte nun einer von Gott gestreift wird, wie der heilige Franz, so ist das nur eine neue Beruhigung, welche die bürgerliche Heiterkeit des Erlebnisses nicht stört. Weil alle glaubten, konnten es einige in besonderer Weise tun, und so kam zu der einfachen legitimen Sicherheit der geistige Reichtum.

Denn in Summa fließen mehr Kräfte aus der Opposition als aus der Übereinstimmung…

(Gefühl der Einsamkeit im Meer des Geistes, das nach allen Richtungen beweglich ist. )»

Hier bildeten sich auf Clarissens Stirn tiefe Falten. Es fiel ihr Nietzsche ein, der Feind der Religion: es blieb ihr noch Schweres zu vereinen. «Ich maße mir nicht an, die Riesengeschichte dieser Gefühle zu kennen, »

sagte sie sich «aber eines ist sicher: heute ist das religiöse Erlebnis nicht mehr Handlung aller, einer Gemeinde, sondern nur Einzelner. (Memento: Massenerlebnis hängt mit Meingast zusammen. ) Und wahrscheinlich ist es deshalb krank. »

Sie hörte zu schreiben auf und ging lange im Zimmer hin und her, aufgeregt die Hände aneinander oder mit 826

dem Zeigefinger die Stirn reibend. Sie floh nicht aus Mutlosigkeit in vergangene und entfernte Zeiten, sondern es war ihr durchaus klar, daß sie, in diesem Zimmer auf und ab schreitend, mit dem vergangenen Siena zusammenhänge. (Gefühl! Glockenläuten. Prozessionen schreiten mit Marienfahnen und prächtigen Gewändern. Sie schritt in der Mitte. Wenn sie stehenblieb, blieb die Menge aber nicht stehn. Doch das störte nicht… Dieser Zusammenhang mit Vergangenheit, der Ulrich fehlt. ) Gedanken ihrer letzten Tage mengten sich ein, sie war in irgendeiner Weise nicht nur bestimmt, sondern schon in der Tat begriffen, die Aufgabe zu übernehmen, welche sich in den Jahrhunderten wiederholte wie Gott in jeder neuen Hostie. Sie dachte aber nicht an Gott; das war merkwürdigerweise der einzige Gedanke, der ihr nicht einfiel, so als ob er gar nicht dazu gehörte; vielleicht hätte er sie gestört, denn alles andere war so lebendig, als ob sie sich morgen in die Eisenbahn setzen müsse, um hinzufahren. Bei den Fenstern winkten große Massen grüner Blätter herein; Baumkugeln; das ganze Zimmer war davon in wässeriges Grün getaucht; diese Farbe, «mit der damals meine Seele gefüllt worden ist», wie sie später sagte, spielte als Leitfarbe dieser Gedanken noch eine große Rolle in ihr. (Das grüne Licht bedeutet [es ist der Unterschied von damals und heute, das Besondere ihrer Lage in der eingebildeten Vorstellung] ihre Reise. >

113 Auf nach Siena!

[Früher Entwurf]

Als sie am nächsten Tag ihre Aufzeichnungen durchlas, verwarf sie diese. Sie nahm ein neues Blatt Papier und zog durch die Mitte ein Kreuz. Es überraschte sie kaum noch, daß dieses nackte, also zerlegte Stück Papier sogleich zu leben begann. Man brauchte es bloß anzusehen und entdeckte mit seiner Hilfe sogleich eine Fülle merkwürdiger Bestätigungen. Alles Obere strebt hinab, alles Untere hinauf: Grundgesetz des Daseins! Clarisse trug links oben das Wort Mann ein und rechts unten das Wort Frau. Nicht nur streben sie in diese Lage, sondern die Frau vermännlicht sich heute, und der Mann verweiblicht… «Es gibt ja heute keine Männer mehr!» sagte sich Clarisse. Als sich ihr das an dem magischen Kreuz bestätigt hatte, suchte sie nach neuem. Der Regen fällt abwärts, der Rauch steigt auf; sie setzte sofort hinzu, daß Tränen von oben kommen (und Träume von unten), aus einer großen Seele, aber abwärts ziehen: sagte ihr das Kreuz nicht alles, was sie in einem wochenlangen Kampf gegen das Mitleid mit Walter erfahren hatte?! Sie hatte das Gefühl, etwas der modernen Kunst Ähnliches zu tun… Fieberhaft setzte sie diese Untersuchung fort. Es gibt Eckenmenschen, deren Leben, was immer geschehen mag, von oben nach oben zieht oder in der «untern Horizontale» bleibt; es sind Menschen des Niveaus, sie ändern die Welt nicht. Auch Diagonalmenschen gibt es, aber sie hielt sich jetzt nicht bei ihnen auf, denn es lockte sie schon die Entdeckung der Doppelmenschen: sie sinken und steigen; ihr Leib sinkt, ihre Seele steigt! Das sind die Menschen, die den auf-und absteigenden Senkrechten entsprechen. Sie gehen von Leid zu Kraft über. Oder von Helligkeit zu Düsternis. Sie sind in zwei Schichten zuhause. Ohne Zweifel waren das die Menschen, zu denen sie gehörte.

Die Stimmung ihres Eintreffens gestern in diesem Sanatorium mit der sofort einsetzenden «Sehnsucht nach dem Horizontalen» wurde heftig lebendig in ihr, eine unausdrückbare Traurigkeit, «so weich wie der Faden eines Regens», zog sie abwärts. Sie drehte die Zimmerbeleuchtung auf, obgleich es noch Vormittag war, in das grüne Blätterlicht sprengten sich rötliche blasse Lichtkeile ein. Sie schauderte vor Einsamkeit. Es schien ihr, daß die rötlichen Lichtkeile in der Mitte des Zimmers ein Kreuz bildeten, und sie stellte sich darunter. In diesem Augenblick erkannte sie mit Bestimmtheit, daß sie selbst ein «Doppelmensch» sei, und die Entspannung, die jede Bestimmtheit mit sich bringt, verbreitete sich wohltätig in ihr.

Sie begriff sich aber nun in der ungeheuren Gefahr, krank zu werden. Man hatte sie hierher gebracht, wo sie krank werden mußte. Sie verhehlte sich nicht, daß sie in Wahrheit auch bereits ganz nah einer schweren Erkrankung sei. Schuld war die Weichherzigkeit Walters, der sie hierher geschickt hatte. Sie hätte ihm nicht folgen sollen, nun gut, sie war ihm aber gefolgt. Sie sagte sich: ich soll wahnsinnig werden. Sie wiederholte es. Laut flüsternd. Unter dem Kreuz. Das war wohl doch anders, als wenn man nur mit solch einem gefährlichen Wort spielt.

Aber Geisteskrankheit war nicht einfach Sturz in Finsternis. Die Geisteskranken erschienen ihr als am Rande der Gesundheit angesiedelte Wesen; ein Nichts, und sie werden fortgetrieben; mit ungeheurer Anstrengung, mit der sich die Leistungen der Gesunden nicht vergleichen lassen, müssen sie sich emporarbeiten. Ausnahmemenschen — fühlte Clarisse; Erkrankung ist eine falsche Auffassung, gegen die 827

sie sich, im Namen einer höheren Moral, zu verteidigen verpflichtet war.

Sie mußte ohne Verzug fliehen. In diesem Augenblick schwebte ein Leben voll Visionen, Halluzinationen, Engeln und noch stärkeren Gebilden, die sie sich nicht erklären konnte, um sie. «Man muß gesund genug für seine Krankheit sein, » sagte sie sich, listig lächelnd «es gibt Neurosen der Gesundheit. » Italienische Musik erklang und spielte ihr die grausame Heiterkeit des Südens vor. Eine Stimme in ihr rief: «Auf nach Siena!»

In diesem Augenblick überblickte sie ihre Lage ganz klar und ruhig. Sie stand am Kreuzweg.

Doppelmensch. Die beiden feindlichen Könige Christus und Nietzsche begegneten sich in ihr. Sie waren der gekrönte König der Welt und der ungekrönte derer, die an keine Könige glauben. Aber beide waren sie halb. Christus starb am Kreuz und Nietzsche im Irrenhaus. Sie starben an ihrer Halbheit. Aber sie waren eines, diese großen Feinde, zusammen ein Ganzes! Der Doppelmensch! Der Leib eines Weibes bezwang die beiden, indem er sie vereinte. Aber dieser Schauer der Männerfeindschaft und ihrer Bezwingung zersprengte fast den kleinen Körper Clarissens. Schweiß zitterte unter ihren Haaren hervor und die Lippen standen offen. Konnte sie sich da mit Walter abgeben und dem Schmerz, den sie ihm, «in grausamer Unschuld», zufügen mußte!? Sie preßte ihre Lippen heftig zu. Um Gott, ihres Vaters, willen durfte sie in diesem Augenblick nichts halb tun. «Wahnsinn» sagte sie sich abschließend «ist nichts anderes, als daß man ohne Halbheit und Maß das tut, was alle ändern maßvoll und halb tun. » Sie verfügte über Mittel, weil sie die Sanatoriumsrechnung noch nicht beglichen hatte. Sie erfand eine Geschichte, daß sie ihren Mann, der unterwegs in der Nähe sei, überraschen und eine Nacht fortbleiben wolle, und brachte die Bedenken der Pflegerin durch ein hohes Trinkgeld zum Schweigen.

114 Clarisse in Rom

[Früher Entwurf]

Zwischen Florenz und Rom wachte Clarisse auf. Sie bemerkte, daß sie ihren Plan, nach Siena zu reisen, abgeändert hatte. Kleine, wie aus grasgrünem Werg locker gedrehte Bäumchen standen längs der Bahn.

Dann wurde die Ebene von einem runden Hügel mit runden Bäumen unterbrochen. Clarisse sagte befriedigt zu sich, daß die Formen der Landschaft, wenn man sie ohne Vorurteil betrachte, hier häßlicher seien als in der Heimat. Aber sie waren von einem fremden Marsch [?] gespannt, den sie umso deutlicher erkannte. Es dünkte sie, sie müsse, wenn sie sich anstrenge, eine kriegerische Melodie hören können; aber der dahinspringende Zug. machte das zunichte. Dagegen sah sie zwei Bäuerinnen nach, die auf einem Wege gingen, der so schmal und gerade wie eine mit Obstbäumen bepflanzte Pflugfurche zwischen den Feldern lief; ein Hahn und sieben Hennen trippelten vor den Frauen her, wie es anderwärts Hündchen tun. Clarisse stellte das als eine wichtige Tatsache fest, von der sie vielleicht später Gebrauch machen werde. Das sechsunddreißigstün-dige Rütteln des Zuges hatte sie erschüttert und müde gemacht.

Aber nun begannen Städtchen vorbeizufliegen und Clarisse wurde wieder aufmerksam. Solche Städtchen, die lagen auf einem Berg wie ein flacher Haufe alter, abgegriffener, schmutziger Kupferstücke; doch mit dem geheimnisvollen Feuer dieses Metalls. Clarisse machte unbekümmert um die Mitreisenden die große generöse Gebärde nach, mit der sie hingeworfen worden waren.

Oder solche Städtchen waren durch Risse und Spalten aus einem grünbraunen Lehmklotz

herausgeschnitten worden. Es waren Städtchen, die nur aus starken Horizontal-und Vertikalstrichen bestanden. «Erarbeiten muß man es!» — fühlte Clarisse und rieb die Finger aneinander. Es gefiel ihr, daß die friedliche, betriebsame, bepflanzte toskanische Landschaft anfangs zu täuschen versuchte; sie hatte sich von ihr nicht täuschen lassen!

Und plötzlich stand ein rundes, verfallenes Kastell vor Wolken und Himmel, und einige Minuten später begann Clarissens Herz heftig zu schlagen. Dörfer stürzten nun vorbei wie Burgen, wie Basaltgebilde. Die verdammte Gutmütigkeit der nordischen Landschaft hatte endgültig aufgehört. Ein starkes altes Weib, häßlich mit einer roten Wächterfahne in der Hand mit roten Blumen auf einer roten Bluse und mit einem roten Kopftuch hing über einen Bahnschranken, Clarisse beugte sich weit aus dem Fenster hinaus, die häßliche Rote beseligte sie, ihre Finger schrien ihr Worte zu, die der Mund im Sturm des Zuges nicht formen konnte.

In Rom hielt es Clarisse jedoch nicht lange aus. Schon der Bahnhofsplatz mit seinen Palmen, den 828

Geschäften und der Nähe großer Hotels, stieß sie zurück.

Sie ging trotzdem bis in die innerste Stadt und stieg in einem kleinen Albergo ab. Der Eindruck hatte sich inzwischen geändert. Der Abendhimmel war bis hoch hinauf orange; schwarz und gefiedert standen davor die Bäume. Die Luft am Ludovisi-Viertel, dieses einzigartige köstlich leichte starke Gemisch aus Meer-und Gebirgsluft erquickte sie. Sie atmete die Bekanntschaft einer neuen Kraft ein. (Prophetie des Faschismus. ) Sie begann die anspruchsvolle Pracht der hochgelegten Privatgärten zu bemerken, die auf fünf bis acht Meter hohen Mauern über den Köpfen der gemeinen Spaziergänger ruhten, und die riesigen Tore, die hohen Fenster, die in dieser Gegend selbst die Miethäuser besaßen. Hinter einer Parkmauer schrie ein Esel. «Wie selbst die Esel hier schreien!» dachte Clarisse. «Anders als bei uns. Sie schreien nicht i-a, sie schreien ja!» Es war ein metallener, schwebender Posaunenton. Sie glaubte auf den ersten Blick zu erkennen, daß es in dieser Stadt kein Spießbürgertum gäbe. (Oder es gibt es, aber eine wirbelnde Kraft bedroht es. > Alles war, während sie sich der Mitte näherte, voll Kraft, voll Hast und Lärm; Automobile rasten unvorhergesehen um Ecken und querten auf unberechenbaren Wegen über die Plätze; Radfahrer wimmelten lebensgefährdet und fröhlich zwischen ihnen durch; aus den vollen Tramwagen hingen Trauben junger Männer hinaus, die mitfahren wollten und sich in kühnen und unmöglichen Stellungen aneinanderklam-merten. Clarisse fühlte, daß dies eine Stadt ihres eigenen Temperamentes sei, zum erstenmal erlebte sie eine solche. In der Nacht konnte sie nicht schlafen, weil unter ihren Fenstern eine kleine Bar ihre Tische in die enge Gasse gestellt hatte; die Leute sangen bis gegen Morgen Couplets und kreischten nach jeder Strophe einen heiter mißtönigen Refrain dazu. Clarisse wurde ganz elektrisiert davon.

Obgleich es noch verhältnismäßig früh im Jahr war, war es schon sehr heiß, und Clarisse bekam von der Hitze Durchfall; es war ein entzückender Zustand, leicht wie Holundermark, befiedert und matt erregt. Alle Eindrücke, die Clarisse in Rom empfing, ordnete sie der kühnen, brennenden Farbe Rot unter. Wenn sie sich ihrer Erlebnisse im Sanatorium erinnerte, so war sie aus einem wässrigen Grün, einer zur Gegenwart gehörenden Farbe, der Farbe des deutschen Waldes, in dieses Rot gekommen, das das Rot der Prozessionen in ihrer Fantasie gewesen war; aber man muß sagen, daß sich Clarisse dieser Erlebnisse, die sie auf die Reise getrieben hatten, gar nicht recht erinnerte, wohl aber das Gefühl hatte, aus einem grünen Zustand in einen lodernd roten hineinzurennen. Es war Clarisse leider ganz unmöglich, darauf zu kommen, daß sie an Wahnvorstellungen leide. Denn grüne Zustände finden doch sogar ihre Komponisten, die sie vertonen, Töne werden heute gemalt, Gedichte bilden Sinnräume, Gedanken werden getanzt: es ist das ein vages Assoziieren, das im Auftreten ist, weil das Denken sein Ansehen eingebüßt hat; es ist ungefähr zu einem Achtel sinnvoll und zu sieben Achteln sinnlos, und Clarisse durfte sich noch sehr vorsichtig und überlegt vorkommen. Sie befand sich also mit ruhiger, gespannter Aufmerksamkeit auf dem Wege aus einem grünen Zustand in einen roten.

Dabei begegnete es ihr, daß sie bei einem Streifzug durch die Paläste Roms das wundervolle, ganz rote Bildnis In-nozenz’X. von Velasquez sah; der Anblick schlug wie ein Blitz durch sie hindurch. Nun war ihr klar, daß diese lodernde Farbe des Lebens, Rot, zugleich die Farbe jenes Christentums war, das, nach Nietzsches Wort, dem antiken Eros Gift zu trinken gegeben hat. Die Farbe der Askese und der Verdächtigung der Sinne. «Oh, meine Lieben, » dachte Clarisse «ihr werdet mich nicht fangen!» Ihr Herz klopfte, wie wenn sie im letzten Augenblick eine sehr große Gefahr erkannt hätte. Sie hatte das doppelte Gesicht dieser Stadt erblickt. Es war die Stadt des Papstes, und sie erinnerte sich, daß Nietzsche den Versuch gemacht hatte, hier zu leben, und geflohen war. Sie ging zu dem Haus hin, wo er gewohnt hatte.

Sie nahm nichts wahr. Das Haus «war geistig geschlossen». Sie ging lächelnd, bei jedem Schritt die Stadt überlistend, nach Hause. Es war eine Doppelstadt. Der dunkle Pessimismus des Christentums loderte hier zum Kardinalsrot auf, und in das rote Blut Nietzsches war hier das Schwarz des Wahnsinns geflossen. Aber was sie dachte, war Clarisse nicht so wichtig; die Hauptsache war die lächelnde Zweideutigkeit in allem, was sie gewahrte. Sie kam an Palästen, Ausgrabungen und Museen vorbei; sie hatte noch das wenigste davon gesehn, und ihre Eindrücke waren nicht auf das Maß der Wirklichkeit gesunken, sie nahm an, daß nebeneinander die wundervollsten Kostbarkeiten der Welt hier aufgestellt seien; aber das war ausgelegt wie ein Köder; sie mußte diese Schönheit ganz vorsichtig vom Haken nehmen. Und alles Schöne der Jugend beruht darauf, daß die Dinge, um die die Menschen kreisen, eine Seite haben, die man allein kennt.

Auf irgendeine Weise hatte sich in Clarisse der Gedanke befestigt, daß sie Nietzsches Mission, an der er hier gescheitert sei, anders aufnehmen und mit dem Norden beginnen müsse. Es war Abend geworden. Sie 829

blickte noch einmal aus dem Fenster ihres kleinen Zimmers, in der Bar darunter begannen schon die ersten Gäste zu lärmen, und wenn man den Leib weit hinausbog — über ihren Köpfen und wie ein nordischer Wasserspeier - und den Hals wandte, konnte man die rundgezackte Form einer grauen Kirche sehn, die wie eine Tiara vor dem noch dunkleren Grau der Nacht stand.

Sie löste von dem Rest ihres Geldes eine Fahrkarte, die sie nach einer der kleinen Städte zurückbrachte, an denen sie an der Herfahrt vorbeigekommen war. Ein untrügliches Gefühl sagte ihr am Bahnhof, daß es nicht der rechte Ort sei. Sie fuhr mit dem nächsten Zug weiter. So reiste Clarisse drei Tage und vier Nächte. Am vierten Morgen kam sie an einer Meeresküste vorbei und fand einen einzigen Ort, der sie festhielt. Ohne Geld ging sie in die Herberge. Diese Tatsache, daß sie kein Geld hatte, war sehr plötzlich und sehr sonderbar; sie hielt den Leuten des Gasthofes eine ziemlich lange Rede, um sie sich dienstbar zu machen, die diese höflich und ohne Verständnis anhörten, dann kam sie auf den Einfall, weil Walter ihren Aufenthalt nicht erfahren sollte, Ulrich zu rufen. Sie schickte ein langes Telegramm in deutscher Sprache an ihn ab.

115 Im Bereich eines Tatmenschen gibt es auch Selbstmord oder Mord

Hans Sepp hatte sich aus der Kaserne entfernt und war nicht zum Dienst erschienen, obgleich er aus dem Spital wieder zur Truppe zurückversetzt worden war. Er wußte, daß seine Rückkehr mit den unerträglichsten Folgen verbunden sein würde; Bestrafung wie ein Tier und, schlimmer noch, denn die Strafe ist einsam, vorher das stumpfsinnige Gesicht des Hauptmanns und die Nötigung ihm Rede und Antwort zu stehen. Hans wußte, daß er entschlossen war, nicht zurückzukehren. Zum erstenmal brannte wieder das heilige Feuer des Trotzes in ihm, und der starrende Sinn des Reinen blitzte in ihm, der die Vermengung mit dem Unreinen meidet. Desto qualvoller war die Erinnerung, daß er das Recht darauf verloren habe. Er hielt seine Krankheit für unheilbar und war überzeugt, für den Rest seines Lebens verunreinigt zu sein. Er hatte den Vorsatz gefaßt, sich zu töten; er war aus der Kaserne weggegangen, um sich die Rückkehr ins Leben ganz abzuschneiden; der Gedanke, daß er sich in wenigen Stunden getötet haben werde, war das einzige, was ihm seine Achtung vor sich, wenn auch nicht wiedergeben, so doch einigermaßen ersetzen konnte.

Er hatte, um nicht gleich erkannt zu werden, wenn man ihn suchen sollte, Zivilkleider angelegt. Er ging zu Fuß durch die Stadt, denn er fühlte sich unfähig, ein Fuhrwerk zu benutzen; er hatte einen weiten Weg vor sich, denn es war ihm aus irgendwelchen Gründen selbstverständlich erschienen, daß er sich nur in der freien Natur töten werde. Er hätte es ja eigentlich auch unterwegs, mitten in der Stadt, tun können; wahrscheinlich schiebt man mit gewissen Feierlichkeiten die Sache doch bloß etwas hinaus, und dazu gehörte für Hans ein letzter Blick ins Freie; aber Hans zählte überhaupt nicht zu den Menschen, die sich solche Fragen in einem Zustand vorlegen, wie es der seine war. Jener vielberufene dunkle Schleier lag vor seinen Augen, der entsteht, wenn der Feuchtigkeitsgehalt des Gemüts sehr groß wird, ohne daß Tränen hervorkommen, und die Geräusche der Welt klangen weich. Vorbeifahrende Wagen, Menschengewimmel, straßenlang ausgespannte Häuserfronten sahen wie ein versenktes Relief aus. Die Tranen, die Hans Sepp in der Öffentlichkeit oder aus anderen Gründen nicht außen weinen mochte, fielen indes durch sein Inneres wie durch einen ungeheuer tiefen dunklen Schacht auf sein eigenes Grab, in dem er sich schon liegen fühlte, was so viel bedeutet, wie daß er gleichzeitig daneben saß und sich betrauerte. In alledem liegt eine sehr starke aufheiternde Macht, und als Hans an der Stadtgrenze angelangt war, wo die Schienen der Eisenbahn liefen, auf die er sich werfen wollte, sobald ein Zug vorbeikäme, hatte sich seine Trauer schon mit so vielen Dingen verbündet und verschwistert, daß sie sich eigentlich ganz wohl fühlte. Die Strecke, an der er sich befand, wurde scheinbar nicht viel befahren, und Hans mußte sich sagen, daß er, ankommend, vor einen im gleichen Augenblick vorbeifahrenden Zug sich wohl sofort gestürzt hätte, daß er aber in Unkenntnis der Fahrpläne sich nicht einfach auf die Schienen legen und warten könne. Er setzte sich bei einem Einschnitt, worin die Bahn einen Bogen machte, oben auf die Böschung zwischen die spärlichen Blumen und hatte Ausblick nach beiden Seiten. Ein Zug kam vorbei, aber er ließ sich Zeit. Er beobachtete das ungeheure Anwachsen der Geschwindigkeit, das sich abspielt, wenn der Zug gleichsam durch die Nähe schießt, und horchte ins Gepolter der Räder, um sich vorstellen zu können, wie er vom nächsten Zug darin zerstampft werden würde. Dieses Klirren und Grölen schien, im Gegensatz zu dem Eindruck der Augen, außerordentlich lange zu dauern, und Hans wurde es kalt.

830

Die Frage, warum er sein Leben gerade durch einen Eisenbahnzug beenden wollte, war überhaupt nicht geklärt. Aufhängen hat etwas gespenstisch Verzerrtes. Fenstersturz ist ein Weibermittel. Gift besaß er keines. Zum Aufschneiden der Pulsadern fehlte ihm die Badewanne. Auf diese Weise des Ausschlusses der anderen Möglichkeiten legte er methodisch logisch den gleichen Weg zurück, den er im blinden Entschluß mit einem Schritt genommen hatte; es befriedigte ihn, seine Instinkte waren noch nicht angegriffen. Er hatte allerdings den Tod durch Erschießen außeracht gelassen; das fiel ihm jetzt erst ein. Aber Hans besaß weder eine Pistole, noch konnte er damit umgehen und mit seinem Dienstgewehr wollte er nicht den letzten Augenblick teilen. Er mußte frei von kleinem Unglück sein, wenn er aus diesem Leben hinaustrat. Das brachte ihn darauf zurück, daß er sich innerlich vorzubereiten habe. Er hatte gesündigt und sich verunreinigt; das galt es festzuhalten. Ein anderer in seiner Lage würde vielleicht auf die vorhandene Heilaussicht gehofft haben; aber mochte Heilung möglich sein, Heil war unwiederbringlich verloren.

Unwillkürlich zog Hans sein kleines Notizbuch und einen Bleistift aus dem Rock; aber ehe er den Einfall eintragen konnte, erinnerte er sich, daß das ja jetzt ganz sinnlos sei. Er behielt Notizbuch und Stift gedankenlos in den Händen. Sein ganzes Sinnen blieb auf den Satz gerichtet, daß er unrein und heillos geworden sei. Man hätte viel darüber sagen können. Zum Beispiel, daß das jüdisch beeinflußte Christentum die Sünde durch Reue und Buße gutzumachen gestatte, während die reine, germanische Vorstellung des Heil-seins kein Abdingen und Handeln erlaube. Heilheit ist ein für allemal verloren wie Maidenschaft; und natürlich liegt gerade darin die Größe der Auffassung und Forderung. Wo findet man heute noch solche Größe? Nirgends. Hans war überzeugt, daß die Welt einen großen Verlust dadurch erleide, daß er sich ausschalten müsse. Die Größe und Wucht eines Eisenbahnzugs war wirklich fast die einzige Möglichkeit, die Größe und Wucht eines solchen Falles auszudrücken. Wieder kam einer vorbei. Dieses technische Wunder war ja klein und winzig, wenn man es mit der astronomischen Bauweise der Ägypter und Assyrer verglich, aber immerhin war es darin der Gegenwart fast gelungen, sich gotisch, über das materiell Gegebene hinausstrebend, auszudrücken. Hans hob die Hand und winkte den Menschen fast willenlos zu, die widerwinkten und ihre Köpfe aus den Fenstern drängten, zu mehreren, wie die Menschentrauben auf naiven alten Skulpturen. Das tat ihm wohl. Aber Wohlsein, Trauer und alles was ihm einfiel, war bloß wie Rauch, und wenn der sich wieder verzog, lag der Satz, daß Hans Sepp unrein und heillos geworden sei, unberührt da; es verband sich nichts dauernd mit ihm, die Idee wollte nicht mehr wachsen. Wenn Hans daheim vor einem Tisch mit Feder und Papier gesessen wäre, würde es wohl vielleicht noch anders gekommen sein; gerade daran konnte er fühlen, daß er zu keinem anderen Zweck mehr hier war, als um sein Dasein zu beenden.

Er zerbrach seinen Bleistift und zerriß sein Notizbuch in kleine Stückchen. Das war ein großer Schritt. Er stieg nun die Böschung hinab, setzte sich am Rand der Schotterung ins Gras und warf die Fetzen seiner geistigen Welt vor den nächsten Zug. Der Zug verstreute sie. Vom Bleistift war nichts mehr zu finden, die hellen Papierschmetterlinge, gerädert und mitgesaugt, bedeckten den Bahndamm zu beiden Seiten auf hundert Schritte hin. Hans rechnete sich aus, daß er ungefähr zwölfmal größer sei als dieses Notizbuch.

Dann faßte er seinen Kopf zwischen beide Hände und begann mit dem letzten Abschied. Der sollte, alles zusammenfassend, Gerda gelten. Er wollte ihr vergeben und, ohne ein geschriebenes Wort ihr zu hinterlassen, mit dem alles zusammenfassenden Gedanken an sie auf den Lippen sterben. Aber wenn auch in seinem Kopf allerhand Gedanken auftraten und wieder gingen, sein Körper blieb ganz leer. Es schien, er könne hier unten in dem engen Einschnitt nichts fühlen und müsse wieder oben sitzen, um Gerda im Geiste noch einmal umarmen zu können. Aber es kam ihm unsinnig vor, es verdroß ihn, die Böschung wieder hinaufzukriechen. Allmählich nahm die Leere in seinem Leibe zu und wurde Hunger. Das ist die beginnende Zersetzung meines Geistes - sagte er sich. Er hatte, seit er krank war, beständig Furcht davor, wahnsinnig zu werden. Er hatte Zug um Zug vorbeigehn lassen und war hier unten in der engen Idiotenwelt des Bahneinschnitts gesessen, ohne überhaupt an etwas zu denken. Es mochte schon spät am Nachmittag sein. Da wurde Hans Sepp bewußt, so als ob man mit einemmal etwas in ihm umgedreht hätte, daß dies sein letzter Zustand sei, dem nur noch die Ausführung folge. Er fühlte an seinem ganzen Körper das ekelhafte Gefühl eines Ausschlags, den er sich einbildete. Er zog sein Taschenmesser hervor und reinigte damit seine Nägel; das war eine ungezogene Gewohnheit von ihm, die er für sehr vornehm und reinlich hielt; er hätte darüber weinen mögen. Er stand zögernd auf. Sein ganzes Inneres war von ihm zurückgewichen. Er hatte Angst, aber er war nicht mehr Herr über sich selbst, Herr war nur noch der 831

unwiderrufliche Entschluß, der einsam in einer dunklen Leere herrschte. Hans sah links und rechts. Man könnte sagen, daß er schon gestorben war, als er so nach beiden Seiten auf einen Zug spähte, denn es lebte nur dieses Spähen in ihm und einzelne Empfindungen, die so wie Grasschollen in einer Überschwemmung dahintrieben; denn er wußte mit sich nichts mehr anzufangen. Er bemerkte noch, daß sein Kopf den Beinen zu springen befahl, ehe sich der Zug näherte; aber die Beine kümmerten sich nicht mehr darum, sie sprangen irgendwann, im letzten Augenblick und Hans’ Körper wurde in der Luft erfaßt. Er fühlte sich noch stürzen, auf große scharfe Messer fallen. Dann zerbarst seine Welt in Splitter.

116 Die Insel der Gesundheit

[Früher Entwurf]

Daß Clarisse Ulrich [hier wie im folgenden Anders (= Ulrich) in Musils Original] rief, hatte aber nicht nur die Ursache, daß sie Geld brauchte und ihren Aufenthalt vor Walter verbergen wollte. Sondern da gab es noch ein Ich meine dich, ein Fassen mit Gefühlsstrahlen über Gebirge und größte Entfernungen hinweg.

Clarisse war zu der Überzeugung gekommen, daß sie Ulrich liebe. Das war nicht ganz so einfach, wie so etwas sein kann. Den schrecklichen Auftritt zwischen ihnen, der sie in solche Erregung gebracht hatte, und alles, was dem vorangegangen war, erklärte sie sich damit, daß Ulrich damals noch verfrüht gewesen wäre; jetzt erst befand er sich auf dem rechten Platz in dem System ihrer Einbildungen (das aber ist die Liebe, wenn ein Mensch sich auf dem rechten Platz in dem System unserer Einbildungen befindet), und die Kräfte des Ganzen strömten ihm in einer unerhörten Weise zu. Wo sein Name hinfiel, schmolz die Erde. Wenn sie ihn aussprach, war ihre Zunge wie ein Sonnenstreif in einem lauen Regen. Clarisse besichtigte ihren neuen Aufenthaltsort. Er bestand aus einer kleinen, dem Festland nah vorgelagerten Insel, die ein altes, halb aufgelassenes Fort trug, und einer vor dieser Insel weiter ins Meer hinausgeschobenen riesigen Sandbank, die mit Bäumen und Sträuchern eine große leere zweite Insel bildete, die Clarisse allein gehörte, wenn sie sich zu ihr übersetzen ließ. Man schien ihrer Beständigkeit nicht sehr getraut zu haben, denn es stand wohl eine alte Hütte zur Aufnahme von Netzen und anderem Fischergerät darauf, aber auch die war verlassen und verfallen, und andere Anzeichen von Ansiedlung oder Besitzverteilung waren nicht wahrzunehmen.

Ungefesselt lebten Wind, Wellen, weißer Sand, spitze Gräser und allerhand kleine Tiere beisammen; so leer und stark war der Zusammenklang von Wasser, Erde und Himmel, wie wenn Blech auf Blech geschlagen würde.

Dahinter die Wohninsel trug grünbewachsene hohe Festungswälle; Geschütze, die nicht einschüchterten, sondern in Segelleinen eingepackt zum Staunen aussahen wie vorweltliche Tiere; Wassergräben, in deren Nähe es unheimliche große Ratten gab; und zwischen den am hellen Tag herumlaufenden Ratten ein kleines würfelförmiges Wirtshaus, mit einer vierseitigen Pyramide als Dach, unter buschigen Bäumen. Da hatte Clarisse für sich und Ulrich ein Zimmer gemietet. Das Haus war zugleich die Kantine des Forts, und es standen den ganzen Tag dunkelblaue Soldaten mit gelben Tressen auf den Ärmeln in seiner Nähe herum.

Man hatte davon nicht eigentlich das Gefühl des Lebens von Menschen, sondern eher eine das Herz leerende Beklemmung wie von Deportation oder dergleichen. Auch die jungen Männer, die mit einem Gewehr im Arm vor den mit Segelplachen zugedeckten Geschützen spazierengingen, verstärkten diesen Eindruck; wer hatte sie dort hingestellt? wo war, in welcher Weite, das Gehirn dieses Wahnsinns, der sich in einem lustlosen, pedantischen, katatonisch starr festgehaltenen Automatismus äußerte?

Es war die rechte Insel für Ulrich und Clarisse und Ulrich taufte sie «die Insel der Gesundheit», weil jeder Wahnsinnseinfall auf ihr hell erschien, auf ihrem dunklen Untergrund. Er hatte Clarisses Telegramm nachts erhalten, als er nach Hause kam und seinen Garten durchschritt. Beim Schein einer Lampe an der weißen Hauswand hatte er die Depesche aufgebrochen und gelesen, weil er dachte, sie käme von Agathe. Es war schon Ende Mai. Aber die Mainacht war wie eine verspätete Märznacht; die Sterne blickten spitz, in die Höhe gezogen, frostig kraus aus dem unerhellten, unendlich weit entrückten Himmelszelt, Die Sätze des Telegramms waren lang und wirr, aber von dem Rhythmus einer Erregung zusammengehalten. Wenn Clarisse der kleinen militärischen Mitte ihrer Insel den Rücken wandte, lag die Einsamkeit vor ihr wie die Wüste, in die sich der Heilige zurückzieht. Ein überstarker, voll Grauens lüsterner, starrer Gefühlston war mit dieser Vorstellung, sich zurückzuziehn, verknüpft, etwa letzte Läuterung und Probe auf dem Weg des

«Großen». Der Ehebruch, dessen sie sich schuldig gemacht hatte, mußte auf dieser Insel vollendet werden, 832

wie auf einem Kreuz, denn wie ein Kreuz, auf das sie sich legen müsse, kam ihr der leere, von keinem Menschen betretene Sand draußen über den Wellen vor. Von alledem kam etwas in der Depesche vor.

Ulrich erriet, daß nun wirklich über Clarisse die große Unordnung hereingebrochen sei, aber gerade das war ihm recht.

In ihrem kleinen Wirtshaus bewohnten sie ein Zimmer, in dem kaum die unentbehrlichsten Möbel standen, aber von der Mitte der Decke hing ein venetianischer gläserner Lüster hinab, und an den Wänden hingen große Spiegel in breiten Glasrahmen, die mit Blumen bemalt waren. Sie setzten morgens auf die Insel der Gesundheit über, die wie eine Spiegelung in der Luft schwebte, und wenn sie dort waren, blickten sie auf die Wohninsel zurück, die mit ihren Kanonen, Scharten, Bastionskämmen, Häuschen und Bäumen wie ein rundes, volles, ausgestoßenes Wort dalag, das den Zusammenhang mit seiner Rede verloren hat.

Sie hatten bald überall Tafeln entdeckt, auf denen zu lesen war, daß auf diesen Inseln das Zeichnen und Malen verboten sei. Sie stehen im Bereich aller Festungen der Welt, aber Clarisse sagte: «Wie ungeheuerlich würde man es empfinden, wenn es einen Punkt auf der Erde gäbe, auf dem es hieße: hier ist das Beten verboten! Wie lügen sie, wenn sie zu wissen vorgeben, was Kunst ist!» Ulrich antwortete nach einer Weile, während deren ihn seltsame Ideen berührten: «Ein heilig erbitterter Spion wäre denkbar, der alle diese Festungspläne verriete. » Aber daß es ihnen verboten war, zu zeichnen und malen, brachte sie zunächst noch auf einen anderen Einfall, den sie anfangs wie eine Rache ausführten. Clarisse schlief wenig; sie stand beim ersten Morgengrauen auf und setzte auf die Insel über. Als Ulrich erwachte, war sie fort.

Ulrich folgte gemächlich mit dem hellen Tag. Von Clarisse war nichts zu sehen. Sie mochte weit weg in irgendeiner Sandfalte oder hinter einem kleinen Hügel liegen. Aber er war kaum einige Schritte gegangen, so stieß er auf eine Spur. Es waren zwei Steine und eine darüber gelegte Feder; das hieß: ich wünsche dich zu sehn, komm zu mir, so schnell wie der Vogel fliegt, aber du wirst mich nicht finden. Einige Schritte weiter lag ein runder, ausgesuchter Stein im Weg: das hieß, ich bin hart, stark und gesund. War es aber ein Stück Kohle im weißen Sand, so bedeutete es: ich bin heute schwarz, trübe und traurig. Als er Clarisse fand, sagte sie nichts davon. Aber das wiederholte sich oft, und allmählich lernte er diese Sprache verstehn, die sie erfunden hatte. Solcher Zeichen waren noch viele. Eine Pfefferschote bedeutete: ich bin heiß, hitzig und erwarte dich. Zwei große Steine, mit dem Rücken gegeneinander: ich bin böse auf dich. Eine Astgabel, in einem Strauch, an die ein Stück Band gebunden war: wenn uns auch ein weiter Weg trennt, so wende ich dir doch mein Antlitz zu und ziehe dich zu mir. (Ich liege im Sand und ziehe dich zu mir. > Und dann kamen die Zeichnungen im Sand (Siehe später das Modellieren im Irrenhaus. ). Pfeile und Kreise, ein brennendes Herz und ein sprengendes Pferd, alle gewöhnlich nur mit so wenig Linien angedeutet, daß sie nur dem Eingeweihten verständlich waren, und eine zusammengepreßte Sprache darstellend, in der sich die Herzschläge aufeinandertürmten. Diese Zeichen legten sie an im Sand, ritzten sie in die Balken der Hütte oder in die glatte Fläche eines Steins, vergaßen sie, fanden sie nach Tagen wieder und brannten vor Glück.

«Man hat in Pompeji» sagte Ulrich «das Abbild einer Frau gefunden, das die Dämpfe, in die sich ihr Körper einen Bruchteil einer Sekunde auflöste, als ihn der furchtbare Feuerstrom einhüllte, wie eine Statue in die versteinernde Lava eingesiegelt hatten. Diese fast nackte Frau, der das Hemd bis zum Rücken hinauf gerutscht war, als sie, im eiligen Lauf eingeholt, vornüber aufs Gesicht und die vorgehaltenen Arme stürzte, während der kleine Knoten ihrer Haare unordentlich aufgesteckt, aber fest im Nacken saß, war nicht schön, nicht häßlich, nicht üppig von Wohlleben, noch abgezehrt von Armut, nicht verrenkt vom Schreck, noch ohne Angst ahnungslos überwältigt, aber gerade wegen all dessen war diese vor vielen Jahrhunderten aus dem Bett gesprungene und auf den Bauch geworfene Frau so unsagbar lebendig geblieben, daß sie in jeder Sekunde wieder aufstehn und weitereilen könnte. » Clarisse verstand ihn aufs Wort. (Bei Clarisse nicht so kompliziert, naiver, wie Hirtenroman. ) Wenn sie ihre Gefühle und Gedanken in den Sand grub, mit irgendeinem Zeichen, das voll davon war wie ein Boot, das kaum noch die Vielfalt der Lasten tragen kann, und der Wind wehte dann einen Tag lang darauf, Tierspuren liefen darüber hin oder ein Regen zeichnete Pockennarben darein und verwischte die Schärfe der Umrisse wie die Sorgen des Lebens ein Gesicht verwischen, gar aber wenn man alles ganz vergessen hatte und nur durch einen Zufall wieder darauf stieß und plötzlich vor sich stand, vor einer Sekunde gepreßt voll von Gefühl und Gedanke, und eingesunken, verwaschen, klein und kaum kenntlich geworden, aber eingewachsen zwischen rechts und links, nicht vergangen, ohne Scheu von den Gräsern und Tieren umlebt, Welt, Erde geworden: Dann -?: schwer zu 833

sagen, was dann war, die Insel bevölkerte sich mit vielen Clarissen; sie schliefen im Sand, sie fuhren auf dem Licht durch die Luft, riefen aus den Kehlen der Vögel, es war eine Wollust, überall sich selbst zu berühren, überall auf sich selbst zu stoßen, eine unsägliche Empfindsamkeit, es brach ein Taumel aus den Augen dieser Frau und vermochte Ulrich anzustecken wie der Anblick der Wollust eines Menschen die höchste eines anderen entzündet. «Weiß Gott, was es ist, » dachte Ulrich «das Liebende veranlaßt, das Geheimnis ihrer Anfangsbuchstaben in die Rinde von Bäumen zu ritzen, mit denen es wächst; das Siegel und Wappen erfunden hat; die Magie der aus ihrem Rahmen blickenden Bilder; um schließlich bei der Spur auf der photographischen Platte zu enden, die alles Geheimnis verloren hat, weil sie fast schon wieder wie die Wirklichkeit ist. »

Aber es war nicht nur das. Es war auch die Mehrdeutigkeit. Etwas war ein Stein und bedeutete Ulrich; aber Clarisse wußte, daß es mehr war als Ulrich und ein Stein war, nämlich noch alles Steinharte an Ulrich und alles Schwere, das sie bedrückte, und aller Einblick in die Welt, den man gewann, wenn man einmal verstanden hatte, daß die Steine wie Ulrich waren. (Genau so, wie wenn es heißt: das ist Max, aber er ist ein Genie. ) Oder eine Astgabel und ein Loch im Sand hieß: hier ist Clarisse, aber zugleich: sie ist eine Hexe und weitet ihr Herz. Viele Gefühle, die sonst getrennt sind, drängten sich um solch ein Zeichen, man wußte nie recht, welche, aber allmählich beobachtete Ulrich auch an seinen eigenen Empfindungen eine solche Unsicherheit der Welt. Es hoben sich eigenartig erfundene Gedankengänge Clarissens ab, die er beinahe verstehen lernte.

117 Die Insel der Gesundheit. Die Unsicherheit

[Früher Entwurf]

Clarisse sah eine Weile lang Dinge, die man sonst nicht sieht. Ulrich [hier wie im folgenden Anders (=

Ulrich) in Musils Original] konnte das ausgezeichnet erklären. Es war vielleicht Wahnsinn. Aber ein Förster sieht auf einem Spaziergang eine andere Welt als ein Botaniker oder ein Mörder. (Man sieht viele unsichtbare Dinge.) Eine Frau sieht den Stoff eines Kleids, ein Maler einen See flüssiger Farben an seiner Stelle. Ich sehe durchs Fenster, ob ein Hut hart oder weich ist. Wenn ich auf die Straße blicke, sehe ich ebenso, ob es draußen warm oder kalt ist, ob Menschen lustig, traurig, gesund oder kränklich sind; ebenso sitzt der Geschmack einer Frucht manchmal schon in den Fingerspitzen, die sie anfühlen. Ulrich erinnerte sich: wenn man etwas verkehrt ansieht, zum Beispiel in der Kamera des kleinen Photographenapparates, bemerkt man übersehene Dinge. Ein Hin-und Herschwanken von Bäumen und Sträuchern oder Köpfen, die dem freien Auge reglos erscheinen. Oder die hüpfende Eigenart des menschlichen Ganges kommt einem zum Bewußtsein. Man ist erstaunt über die fortwährende Unruhe der Dinge. Ebenso sind unwahrgenommene Doppelbilder im Gesichtsfeld, denn das eine Auge sieht ja etwas anderes als das zweite; Nachbilder lösen sich wie allerfeinste farbige Nebel vor den Augenblicksbildern auf; das Gehirn unterdrückt, ergänzt, formt die vermeinte Wirklichkeit; das Ohr überhört tausend Geräusche des eigenen Körpers, die Haut, die Gelenke, die Muskeln, das innerste Ich senden ein Ineinanderspiel unzähliger Empfindungen, die stumm, blind und taub den unterirdischen Tanz des sogenannten Wachseins aufführen.

Ulrich erinnerte sich, wie er einmal, nicht gar so hoch im Gebirge, nur früh im Jahr in einen Schneesturm geriet; er war damals Freunden entgegengegangen, die einen Weg herabkommen sollten, und er hatte sich schon gewundert, sie noch nicht getroffen zu haben, als das Wetter sich plötzlich änderte, die Klarheit sich verfinsterte, ein heulender Sturm losbrach und Schnee in dichten Wolken spitzer Eisnadeln auf den Einsamen schleuderte, als ob es diesem ans Leben ginge. Obgleich Ulrich schon nach wenigen Minuten den Schutz einer verlassenen Hütte erreichte, hatten ihn Wind und Schneemassen bis an die Knochen erreicht, und die eisige Kälte, wie der anstrengende Kampf gegen den Orkan und die Wucht des Schnees hatten ihn in der kürzesten Zeit ermüdet. Als das Unwetter ebenso rasch vorbeiging wie es gekommen war, setzte er freilich seinen Weg fort und er war nicht der Mann, sich durch ein solches Ereignis einschüchtern zu lassen, wenigstens war sein bewußtes Selbst ganz frei von Aufregung und jeder Art Überschätzung der überstandenen Gefahr, ja er fühlte sich äußerst aufgeräumt. Aber er mußte dennoch erschüttert worden sein, denn mit einemmal hörte er die Partie sich entgegenkommen und rief sie heiter an. Aber niemand antwortete. Er rief nochmals laut — denn im Schnee konnte man leicht vom Weg ab und aneinander vorbeikommen -und lief, so gut er es vermochte, in der wahrgenommenen Richtung, denn der Schnee war 834

tief, er hatte sich nicht darauf gefaßt gemacht und den Aufstieg ohne Skier oder Reifen unternommen. Nach etwa fünfundzwanzig Schritten, bei deren jedem er bis an die Hüften einbrach, mußte er vor Erschöpfung stillhalten, aber in diesem Augenblick hörte er wieder die Stimmen in angeregtem Gespräch und so nah, daß er die Sprechenden, die nichts verdecken konnte, unbedingt hätte sehen müssen. Niemand war jedoch da als der weiche, hellgraue Schnee. Ulrich nahm seine Sinne zusammen und das Gespräch wurde deutlicher. Ich halluziniere - sagte er sich. Dennoch rief er abermals; ohne Erfolg. Er begann sich vor sich selbst zu fürchten und prüfte sich auf jede Weise, die ihm einfallen mochte, sprach laut und zusammenhängend, rechnete im Kopf kleine Aufgaben aus und machte mit Armen und Fingern schwierige Bewegungen, deren Ausführung volle Herrschaft über sich erforderte. Das alles gelang, ohne daß die Erscheinung wich. Er hörte ganze Gespräche, voll überraschenden Sinns und in klangvoller Mehrstimmigkeit. Da lachte er, fand das Erlebnis interessant und begann es zu beobachten. Aber auch das machte die Erscheinung nicht verschwinden; die erst abklang, als er umgekehrt und schon etliche hundert Meter abgestiegen war, während seine Freunde überhaupt nicht diesen Rückweg genommen hatten und keine menschliche Seele in der Nähe war. So unsicher und ausdehnend ist die Grenze zwischen Wahn und Gesundheit. Es überraschte ihn eigentlich nicht, wenn Clarisse mitten in der Nacht ihn zitternd weckte und behauptete, eine Stimme zu hören. Wenn er sie fragte, war es keine Menschenstimme und keine Tierstimme, sondern eine «Stimme von etwas» (Moosbrugger! vielleicht: Ulrich kann denken, sie sei nur hysterisch und spiele das nach, was sie von Moosbrugger erfahren hat), und dann hörte er plötzlich auch ein Geräusch, das in keiner Weise auf ein dingliches Wesen zu beziehen war, und im nächsten Augenblick, während Clarisse immer heftiger zitterte und die Augen wie ein Nachtvogel aufriß, schien etwas Unsichtbares im Zimmer zu gleiten, schleifend an den Spiegel in gläsernem Rahmen zu stoßen, unkörperlich zu drängen, und auch in Ulrich schoß panikartig

- nicht eine Angst, ein Bündel von Ängsten, eine Welt der Angst empor, so daß er alle Vernunft aufbieten mußte, um selbst zu widerstehn und Clarisse zur Ruhe zu bringen.

Aber er bot nicht gern die Vernunft auf. In dieser Unsicherheit, welche die Welt in der Umgebung Clarissens annahm, konnte man sich seltsam glücklich leben fühlen. Die Zeichnungen im Sand und Modelle aus Steinen, Federn und Ästen nahmen nun auch für ihn einen Sinn an, als ob hier, auf der Insel der Gesunden, sich etwas erfüllen wollte, das von seinem Leben schon einige Mal berührt worden war. (Hierher: Rolle der menschlichen Erlebnisse, die sich nicht durch verständige Übertragung, sondern durch Ansteckung verbreiten. Ein soziales (Menschheits) Erlebnis zu zweit. ) Es schien ihm der Grund des menschlichen Lebens eine ungeheure Angst vor irgendetwas, ja geradezu vor dem Unbestimmten zu sein.

Er lag im weißen Sand zwischen dem Blau der Luft und des Wassers, auf der kleinen, heißen Sandplatte der Insel zwischen den kalten Tiefen des Meeres und Himmels. (Er lag wie im Schnee. Wenn er damals verweht worden wäre, hätte es so kommen können. > Hinter den Hügeln mit Disteln tollte Clarisse und spielte wie ein Kind. Er fürchtete sich nicht. Er sah das Leben von oben. Diese Insel war mit ihm davongeflogen. Er begriff seine Geschichte. Hunderte von menschlichen Ordnungen sind gekommen und gegangen; von den Göttern bis zu den Nadeln des Schmucks, und von der Psychologie bis zum Grammophon jede eine dunkle Einheit, jede ein dunkler Glaube, die letzte, die aufsteigende zu sein, und jede nach einigen hundert oder tausend Jahren geheimnisvoll zusammensinkend und zu Schutt und Bauplatz vergehend (Das Gestaltlose!): was ist dies anderes als ein Herausklettern aus dem Nichts, jedesmal nach einer anderen Seite versucht? (Und keine Spur davon, das in Zyklen einfassen zu können!) Als einer jener Sandberge, die der Wind bläst, dann eine Weile lang die eigene Schwere formt, dann wieder der Wind verweht? Was ist alles, was wir tun, anderes als eine nervöse Angst, nichts zu sein: von den Vergnügungen angefangen, die keine sind, sondern nur noch ein Lärm, ein anfeuerndes Geschnatter, um die Zeit totzuschlagen, weil eine dunkle Gewißheit mahnt, daß endlich sie uns totschlagen wird, bis zu den sich übersteigenden Erfindungen, den sinnlosen Geldbergen, die den Geist töten, ob man von ihnen erdrückt oder getragen wird, den angstvoll ungeduldigen Moden des Geistes, den Kleidern, die sich fortwährend verändern, dem Mord, Totschlag, Krieg, in denen sich ein tiefes Mißtrauen gegen das Bestehende und Geschaffene entlädt: was ist alles das anderes als die Unruhe eines Mannes, der sich bis zu den Knien aus einem Grab herausschaufelt, dem er doch niemals entrinnen wird, eines Wesens, das niemals ganz dem Nichts entsteigt, sich angstvoll in Gestalten wirft, aber an irgendeiner geheimen Stelle, die es selbst kaum ahnt, hinfällig und Nichts ist?

Ulrich erinnerte sich an jenen Mann im grünen Kreis der Laterne den er mit Clarisse und Meingast 835

beobachtet hatte. Hier auf der Insel der Gesundheit war sogar dieses verzerrte menschliche Gebilde, dieser Exhibitionist, dieses verzweifelte Geschöpf, das sich aus dem Dunkel, Geschlechtslust stehlend, hervorgekrümmt hatte, wenn eine Frau vorbeiging, nichts Grundverschiedenes von anderen Menschen.

Was waren Walters empfindsame Musik oder Meingasts Staatsgedanken von dem gemeinsamen Wollen vieler Menschen anderes als einsamer Exhibitionismus? (Hier eine Stimmungs-Abrechnung mit Ulrichs Heroismus. ) Was ist selbst der Erfolg eines Staatsmannes, der mitten im menschlichen Betrieb steht, anderes als betäubende Ausübung mit dem Schein einer Befriedigung? In der Liebe, in der Kunst, in der Habsucht, in der Politik, in der Arbeit und im Spiele suchen wir unser schmerzvolles Geheimnis auszusprechen (Dieses Emersonzitat ist vorläufig noch wörtlich!): der Mensch gehört nur halb sich selbst, die andere Hälfte ist Ausdruck. Alle Menschen verlangen nach ihm in ihrer Seelennot. Der Hund bespritzt den Stein mit sich und riecht zu seinem Exkrement: Spuren hinterlassen in der Welt, sich in der Welt ein Denkmal setzen, eine Tat, von der noch nach hunderten Jahren gesungen wird, ist der Sinn alles Heroismus.

Ich habe etwas getan: das ist eine Spur, ein ungleiches, aber unvergängliches Abbild. Ich habe etwas getan: knüpft Teile der Materie an mich. Selbst etwas nur auszusprechen heißt schon, einen Sinn mehr haben zur Aneignung der Welt. Selbst nur wie Walter etwas zu beschwätzen, hat diesen Sinn. Ulrich lachte, weil ihm einfiel, daß Walter verzweifelt mit dem Gedanken herumgehen werde: Ach, ich wüßte wohl etwas dazu zu sagen… ! Es ist das tiefe Grundgefühl des Bürgers, das immer stummer und beruhigter wird. Aber Ulrich kam auf der Insel der Gesundheit dazu, allen Ehrgeiz seines Lebens zu widerrufen. Was sind selbst Theorien anderes als beschwätzen? Besprechen. Und am Ende solcher Stunden dachte Ulrich an nichts anderes als an Agathe, die ferne, die untrennbare Schwester, von der er nicht wußte, was sie tat. Und er erinnerte sich wehmütig ihres Lieblingsausspruchs: «Was kann ich also für meine Seele tun, die wie ein ungelöstes Rätsel in mir wohnt? Die dem sichtbaren Menschen die größte Willkür läßt, weil sie ihn auf keine Weise beherrschen kann?»

Clarisse legte währenddessen ihr Zeichenspiel aus; manchmal sah er sie wie ein flatterndes Tuch über die Düne huschen. «Wir spielen hier unsere Geschichte, » verlangte sie «auf der Lichtbühne dieser Insel. » Es war im Grunde nur die Übertreibung dieses sich in die Unsicherheit einprägen Müssens. Einst, als Clarisse mit Walter noch in der Oper saß, hatten sie oft gesagt: «Was ist alle Kunst! Wenn wir unsere Geschichte spielen könnten!» Auch das tat sie nun. Alle Liebenden sollten es tun. Alle Liebenden haben das Gefühl, was wir erleben, ist etwas Wunderbares, wir sind erwählte Menschen, aber sie sollten es vor einem großen Orchester und einem dunklen Zuschauerraum spielen müssen - wirkliche Liebende auf der Bühne und nicht bezahlte Personen -: nicht nur ein neues Theater entstünde, sondern auch eine ganz neue Art der Liebe, die sich ausbreiten würde, Menschengebärden durchleuchten würde, wie feines Astwerk, statt sich wie heute ins Dunkel des Kinds zu verkriechen. Das sagte Clarisse. Nur kein Kind! Statt etwas zu leisten, bekommen die Menschen Kinder! Zuweilen nannte sie die kleinen Erinnerungen, welche sie für Ulrich in den Sand legte, ihre geheimen Kinder, oder sie nannte jeden Eindruck, den sie überhaupt aufnahm, so, denn er schmolz in sie hinein wie die Frucht. (Frage Clarissens zu Ulrich: du willst kein Kind. Das gefällt mir. Die Verbrecher. ) Zwischen ihr und den Dingen bestand ein fortwährendes Zeichenaustauschen und Verständigen, ein Verschworensein, eine erhöhte Korrespondenz, ein brennend lebhafter Lebensvorgang.

Manchesmal steigerte sich das so stark, daß Clarisse glaubte, aus ihrem schmalen Körper herausgerissen zu werden, und wie ein Schleier über die Insel flog, rastlos, bis ihre Augen an einem kleinen Stein oder einer Muschel hängenblieben und ein gläubiges Erstaunen sie festbannte, weil sie schon einmal und immer hier gewesen war und ruhig als Spur im Sande gelegen hatte, während eine zweite Clarisse wie eine Hexe über die Insel geflogen war.

Zuweilen erschien ihr ihre Person nur noch als ein Hindernis, unnatürlich eingeschoben in den lebhaften Vorgang zwischen der auf sie einwirkenden Welt und der Welt, auf die sie wirkte. In den Augenblicken der höchsten Steigerung schien dieses Ich zu zerreißen und zu verlöschen. (Vergleiche: Klavierszene.

Beethoven - Nietzschezitat. Schon damals war es Clarisse ernst mit dem Zerreißen. ) Mochte sie Walter mit diesem Körper untreu sein und dieser «an der Haut befestigten Seele», es bedeutete nichts: Die frigide, abweisende Clarisse verwandelte sich zu manchen Stunden in einen Vampyr, unersättlich, als ob ein Hindernis fortgefallen wäre und sie sich zum erstenmal diesem bis dahin verbotenen Genuß hingeben dürfe.

Sie schien es manchmal darauf anzulegen Ulrich auszusaugen; «ich muß noch einen Teufel aus dir austreiben!» sagte sie, er besaß eine rote Sportjacke, die mußte er manchmal auf ihr Verlangen sogar in der 836

Nacht anlegen, und sie ließ nicht ab, bis er unter seiner gebräunten Haut blaß wurde. Ihre Leidenschaft für ihn und überhaupt alle Gefühle, die sie äußerte, gingen nicht tief - das spürte Ulrich deutlich — aber manchmal irgendwie an Tiefe vorüber unmittelbar ins Bodenlose.

Und auch sie traute Ulrich durchaus nicht ganz: Er verstand die Größe ihres Erlebnisses nicht völlig. Sie hatte in diesen Tagen natürlich alles durchschaut und erkannt, was ihr vorher noch verschlossen gewesen war. Sie hatte vorher unendlich Schweres erlebt, den Sturz aus der fast schon erreichten größten Höhe des Unternehmungsgeistes in tiefste Beklemmung. Es scheint, daß der Mensch aus der gewöhnlichen wirklichen Welt, wie wir alle sie kennen, durch Vorgänge verdrängt werden kann, die sich nicht in ihr ereignen, sondern überirdisch oder unterirdisch sind, und ebenso kann er durch sie ins Unermeßliche gesteigert werden. Sie beschrieb es auf der Insel Ulrich folgendermaßen: eines Tages war alles rings um Clarisse erhöht gewesen; die Farben, die Gerüche, die geraden und die krummen Linien, die Geräusche, ihre Gefühle oder Gedanken und jene, die sie in anderen Menschen erregte; was sich ereignete, mochte kausal, notwendig, mechanisch, psychologisch sein, aber es war außerdem noch von einem geheimen Antrieb bewegt; es mochte sich genau ebenso am Tag vorher ereignet haben, heute war es in einer unbeschreiblichen und glücklichen Weise anders. (Das Schmerzlichste und Düsterste wirkt nicht als Gegensatz, sondern als bedingt, als herausgefordert, als eine notwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses. - Länge, weitgespannter Rhythmus des Gedankens wird zum Bedürfnis. ) «Ach, » sagte sich Clarisse sofort «ich bin vom Gesetz der Notwendigkeit, wo jedes Ding von einem anderen abhängt, befreit. » Denn die Dinge hingen von ihrem Gefühl ab. Oder vielmehr, es war da eine fortwährende Aktivität des Ich und der Dinge, die aufeinander eindrangen und einander nachgaben, als ob sie sich auf den zwei verschiedenen Seiten der gleichen elastischen Membran befänden. Clarisse entdeckte, daß es ein Schleier von Gefühl war, aus dem sie hervorging, und auf der anderen Seite die Dinge. Sie erhielt wenig später die fürchterlichste Bestätigung: sie nahm dann alles, was um sie vorging, genau so richtig wahr wie früher, aber es war völlig beziehungslos und entfremdet geworden. Ihre eigenen Gefühle kamen ihr fremd vor, als ob sie ein anderer empfände oder [als] ob sie in der Welt umhertrieben. Es war, als ob sie und die Dinge einander schlecht angepaßt wären. Sie fand keinen Halt mehr in der Welt, nicht das notwendige Mindestmaß von Zufriedenheit und Selbstgenügsamkeit, vermochte nicht mehr durch innere Bewegungen das Gleichgewicht gegen die Geschehnisse der Welt aufrechtzuerhalten und fühlte mit unsagbarer Not, wie sie unaufhaltsam aus der Welt hinausgedrängt wurde und dem Selbstmord (oder vielleicht dem Wahnsinn) nicht mehr entrinnen konnte. Wieder war sie von der gewöhnlichen Notwendigkeit ausgenommen und einem geheimen Gesetz unterworfen; aber da entdeckte sie im letzten, gerade zur Rettung noch hinreichenden Augenblick das Gesetz, das niemand vor ihr bemerkt hatte:

Wir - das heißt Menschen, welche nicht Clarissens Einblick haben, - bilden uns ein, daß die Welt eindeutig sei, wie immer sich die Sache mit den Dingen außen und den Vorgängen innen verhalten möge; und was wir ein Gefühl nennen, ist eine persönliche Angelegenheit, die zu unserem eigenen Vergnügen oder Unbehagen dazukommt, aber sonst nichts in der Welt ändert. Clarisse dagegen erkannte, daß die Gefühle die Welt ändern. Nicht etwa nur so, wie es rot vor den Augen wird, wenn wir in Zorn geraten - auch das übrigens; man hält es nur irrtümlich für etwas, das eine gelegentliche Ausnahme ist, ohne zu ahnen, welches tiefe und allgemeine Gesetz man berührt! - vielmehr so: Die Dinge schwimmen in Gefühl, wie die Seerosen auf dem Wasser nicht nur aus Blatt und Blüten und Weiß und Grün bestehen, sondern auch aus

«sanftem Daliegen». Gewöhnlich stehen sie dabei so ruhig, daß man das Ganze nicht bemerkt; das Gefühl muß ruhig sein, damit die Welt ordentlich ist und bloß vernünftige Beziehungen in ihr herrschen. Aber angenommen zum Beispiel, daß ein Mensch eine ganz schwere und vernichtende Demütigung erleidet, an der er zugrundegehen müßte, so kommt es vor, daß sich statt dieser Scham eine überlegene Lust an der Demütigung einstellt, ein heiliges oder lächelndes Gefühl von der Welt, und dieses ist dann nicht bloß ein Gefühl wie jedes andere oder eine Überlegung, gar nicht etwa daß wir uns damit trösten würden, Demut sei tugendhaft, sondern es ist ein Sinken oder Steigen des ganzen Menschen auf einen ändern Plan, ein «in die Höhe Sinken», und alle Dinge verändern sich in Übereinstimmung damit, man könnte sagen, sie bleiben dieselben, aber sie befinden sich jetzt in einem anderen Raum oder es ist alles mit einem anderen Sinn gefärbt. In solchen Augenblicken erkennt man, daß außer der Welt für alle, jener festen, mit dem Verstand erforschbaren und behandelbaren, noch eine zweite, bewegliche, Singuläre, Visionäre, Irrationale vorhanden ist, die sich mit ihr nur scheinbar deckt, die wir aber nicht, wie die Leute glauben, bloß im Herzen 837

tragen oder im Kopf, sondern die genau so wirklich draußen steht wie die geltende. Es ist ein unheimliches Geheimnis, und wie alles Geheimnisvolle wird es, wenn man es auszusprechen sucht, leicht mit dem Allergewöhnlichsten verwechselt. Clarisse selbst hatte erlebt, - als sie Walter betrog, und obgleich das nicht anders hätte sein dürfen, weshalb sie keine Reue anerkannte - wie die Welt schwarz wurde; aber das war keine wirkliche Farbe, sondern eine ganz unbeschreibliche, und später wurde diese «Sinnfarbe» der Welt, wie Clarisse das nannte, hart gebranntes Braun.

Clarisse war sehr glücklich an dem Tag, wo sie begriff, daß ihre neuen Erkenntnisse die Fortsetzung ihrer Bemühungen um Genie seien. Denn was unterscheidet anders das Genie vom gesunden gewöhnlichen Menschen, als daß der geheime Anteil des Gefühls an allem Geschehen bei diesem beständig und unbemerkt, bei jenem dagegen unaufhörlichen Irritationen unterworfen ist. Übrigens sagte auch Ulrich, daß es viele mögliche Welten gibt. Vernünftige verständige Menschen passen sich der Welt an, starke aber passen die Welt sich an. Solange die «Sinnfarbe» der Welt––-fest blieb, hatte auch das Gleichgewicht in der Welt etwas Festes. Seine unbemerkte Festigkeit mochte sogar als etwas Gesundes und gewöhnlich Unentbehrliches gelten, so wie auch der Körper alle die Organe nicht spüren darf, die sein Gleichgewicht erhalten. Ungesund ist auch ein labiles Gleichgewicht, das schon beim ersten Anlaß umkippt und in die untere Lage gerät. Das sind die Geisteskranken, sagte sich Clarisse, vor denen sie Angst hatte. Aber am höchsten, Eroberer im Bereich der Menschlichkeit sind die, deren Gleichgewicht ebenso verletzlich aber voll Kraft ist und, immer wieder gestört, immer wieder neue Gleichgewichtsformen erfindet.

Es ist eine unheimliche Balance, und niemals hatte sich Clarisse so sehr wie diesmal als ein am schmälsten Rand zwischen Vernichtung und Gesundheit angesiedeltes Wesen gefühlt. Aber wer der Entwicklung von Clarissens Gedanken bis hierher gefolgt ist, wird bereits wissen, daß sie damit auch dem «Geheimnis der Erlösung» auf die Spur gekommen war. Dieses war ja als die Aufgabe in ihr Leben getreten, das durch allerhand Beziehungen gehemmte Genie in sich, Walter und ihre Umgebung zu befreien, und es ist leicht einzusehen, daß dies geschieht, indem man der Verdrängung nachgeben muß, welche die Welt gegen jeden genialen Menschen ausübt, ins Dunkel getaucht wird, aber dort auf der anderen Seite die Welt in einer neuen Farbe heraushebt. Es war dies bei ihr die Bedeutung der Seelenfarbe Dunkelrot, einer wunderbaren, unbeschreiblichen und durchsichtigen Tönung, in die Luft, Sand und Gewächse getaucht waren, so daß sie sich überall wie in einer roten Kammer von Licht bewegte.

Die «Entwicklerkammer» nannte sie das einmal, selbst von der Ähnlichkeit mit einem Raum überrascht, in dem man aufgeregt und angestrengt inmitten scharfer Dünste über die zarten, kaum noch erkenntlichen Gebilde gebeugt ist, welche sich auf der Platte zeigen. Ihre Aufgabe war es, die Erlösung vorzuleben, und Ulrich erschien ihr als ihr Apostel, welcher nach einer Weile von ihr in die Welt hinausgehen werde und als erste Walter und Meingast erlösen müsse. Von da an ging es immer rascher mit ihr.

Der Stoß wirrer und regelloser Ideen, den Ulrich täglich empfing, und die Bewegung dieser Gedanken in einer uneinsichtigen, aber doch deutlich durchfühlbaren Richtung hatten ihn in der Tat allmählich mit sich genommen, und was sein Leben von dem der Wahnsinnigen unterschied, war nur noch ein Bewußtsein seiner Lage, die er durch eine Anstrengung unterbrechen konnte. Er tat es aber lange nicht. Denn während er sich unter verständigen Menschen und solchen des wirkenden Lebens eigentlich immer nur wie ein Gast gefühlt hatte, zumindest mit einem Teil seines Wesens, und so fremd und so sinnlos, wie es ein Gedicht wäre, das er inmitten der Generalversammlung einer Aktiengesellschaft plötzlich vorzusagen begänne, fühlte er in diesem Nichts von Gewißheit eine erhöhte Sicherheit und lebte gerade mit diesem Teil seines Wesens zwischen den Gebilden des Abersinns nicht in der Luft, sondern so sicher wie auf festem Boden. Es ist ja in Wahrheit Glück nichts Vernünftiges, das an einem bestimmten Tun oder dem Besitz gewisser Dinge ein für allemal hinge, sondern weit eher eine Stimmung der Nerven, durch die alles zum Glück wird oder nichts: soweit hatte Clarisse schon recht. (Tatsächlich unterliegen wir in gleichgültigen Dingen sehr häufig der Ansteckung zum Beispiel Manieren, Sprechgewohnheiten, Gähnen. - Anziehung gerade schlechter Gewohnheiten? Wahrscheinlich Umweg über Angst wie beim Tic. ) Und die Schönheit, Güte, Genienhaftigkeit einer Frau, das Feuer, das sie entzündet und unterhält, ist durch keinen richterlichen Wahrspruch festzustellen, sondern es ist ein Delirium zu zweien. (Eventuell: Treu und Glauben, überzeugen, überreden, annehmen, für wahr halten und so weiter. - Das Leben ruht auf Akten, die Wahnsinn wären, wenn sie sich nicht bewähren würden. - Wenn aber Clarisse sich bewährt? Solches (funktionale) Denken lag Ulrich nahe. > Man dürfte behaupten, sagte sich Ulrich, daß unser ganzes Sein, 838

-welches wir im Grund nicht begründen können, sondern als Gott wohlgefällig im ganzen hinnehmen, während wir auf dieser Voraussetzung die Einzelheiten sehr wohl abzuleiten vermögen — nichts als ein Delirium vieler sei, aber wenn Ordnung Vernunft ist, so ist überhaupt schon jede einfache Tatsache der Keim eines Wahnsinns, wenn wir sie außer aller Ordnung betrachten. Denn was haben Tatsachen mit unserem Geist zu tun?! (Man vergegenwärtige sich unsere Situation. Äonen von Jahren rasen hier die gleiche Bahn um die Sonne. Über ein Kind, das eine Viertelstunde lang um seinen Sessel herumläuft, schütteln wir schon den Kopf. > Er richtet sich nach ihnen, aber sie, sie stehen da, niemandem verantwortlich wie Berggipfel oder Wolken oder die Nase im Gesicht eines Menschen; die im Gesicht der schönen Diotima hätte man zuweilen mit zwei Fingern quetschen mögen, die Clarissens schnupperte gespannt gleich der eines Hühnerhunds und vermochte die ganze Aufregung des Unsichtbaren mitzuteilen. 626

Er konnte aber der Ordnung Clarissens bald nicht mehr folgen. Man ritzt an der Stelle, wo man sich gerade befindet, ein Zeichen in einen Stein: daß dies ebenso Kunst ist wie die größte, war nachzufühlen. Und Clarisse wollte Ulrich nicht besitzen, sondern - jedesmal in einem neuen Sprung - mit ihm leben. «Ich

<nehme> nicht wahr, » sagte sie «sondern ich nehme fruchtbar. » Ihre Gedanken schillerten, die Dinge schillerten. Man sammelt nicht seine Einfalle, um ein Ich daraus zu bilden wie einen kalten Schneemann, wenn man in immer neuen Katastrophen wächst wie sie, ihre Gedanken wuchsen «im Freien»; man schwächt sich dadurch, daß man alles zerstreut, also man regt sich zu einem unheimlichen Wachstum an.

Clarisse begann ihr Leben in Gedichten auszudrücken; Ulrich fand es auf der Insel der Gesunden ganz natürlich. Aber in unseren Gedichten ist zuviel starre Vernunft, die Worte sind ausgebrannte Begriffe, die Syntax reicht Stock und Seil wie für Blinde, der Sinn kommt vom Boden nicht los, den alle festgetreten haben, die erweckte Seele kann in solchen Eisenkleidern nicht wandeln. Clarisse fand heraus, daß man Worte wählen müsse, welche keine Begriffe sind; da es die aber nicht zu geben schien, wählte sie dafür das Wortpaar. Wenn sie «Ich» sagte: niemals war dieses Wort fähig so lotrecht aufzuschießen, wie sie es fühlte, aber Ichrot ist noch von nichts festgehalten und flog empor. Ebenso vorteilhaft ist es, die Worte aus den grammatikalischen Bindungen zu befreien, die ganz verarmt sind. Clarisse legte zum Beispiel Ulrich drei Worte vor und bat ihn, sie zu lesen, in welcher Reihenfolge er wolle. War es Gott -rot - und fährt, so las er Gott fährt rot oder Gott, rot, fährt, das heißt sein Gehirn griff sie gleich als Satz auf oder trennte sie durch Beistriche, um zu betonen, daß es dies nicht tue. Clarisse nannte es die Chemie der Worte, daß sie sich immer zu Gruppen zusammenschließen, und gab Gegenmaßregeln an. Ihre Lieblingsauskunft war, daß sie mit Ausrufungszeichen oder Unterstreichungen arbeitete. Gott!! rot!!! fährt! Solche Pfähle halten auf und das Wort staut sich an ihnen zu seinem vollen Sinn. Auch unterstrich sie die Worte ein bis zehnmal und solch eine von ihr geschriebene Seite sah bisweilen aus wie eine geheimnisvolle Notenschrift. Ein anderes Mittel, das sie aber weniger geläufig anwandte, war die Wiederholung; durch sie wurde das Gewicht des wiederholten Worts größer als die Kraft der syntaktischen Bindung, und das Wort begann ohne Ende zu sinken. Gott fährt grün grün grün grün. Es war ein unerhört schwieriges Problem, die Zahl der Wiederholungen so richtig zu bemessen, daß sie genau das ausdrückte, was gemeint war.

Eines Tages kam Ulrich mit einem Band von Goethes Gedichten, den er zufällig bei sich führte, und schlug ihr vor, aus jedem einer Anzahl Gedichte mehrere Worte herauszugreifen, zusammenzusetzen und zu sehen, was herauskäme. Es kamen solche Gedichte heraus:

Es kann nicht übersehen werden, daß von diesen Gebilden ein wirrer dunkler Reiz ausgeht, etwas vulkanisch Loderndes, als ob man in den Bauch der Erde blickte. Und wenige Jahre nach Clarisse ist ja in der Tat auch ein ähnliches Spiel mit Worten ahnungsvolle Mode der Gesunden geworden.

Clarisse nahm merkwürdige Folgerungen voraus. Feuerflocken aus dem Vulkan des Wahnsinns wurden von den Dichtern geraubt; irgendwann in Urzeiten und später, so oft ein Genie wiederkehrte; diese lodernden, noch nicht zu bestimmten Bedeutungen eingeengten Wortverbindungen wurden in die Erde der gewöhnlichen Sprache gepflanzt und bilden deren Fruchtbarkeit. «Die ja bekanntlich von ihrem vulkanischen Ursprung kommt». «Aber» so schloß Clarisse «daraus folgt, daß der Geist immer wieder zu Urelementen zerfallen muß, damit das Leben fruchtbar bleibt. » Damit war die Verantwortung einer ungeheuren Verantwortungslosigkeit in die Hände Clarissens gelegt; sie wußte, daß sie eigentlich ungebildet war, aber es erfüllte sie nun eine heroische Respektlosigkeit gegenüber allem, was vor ihr geschaffen worden war.

Soweit vermochte Ulrich den Spielen Clarissens zu folgen, und die Respektlosigkeit der Jugend erleichterte 839

es ihm, in den zertrümmerten Geist die neuen Gebilde hineinzuträumen, die sich daraus formen ließen; ein Vorgang, der sich unter uns mehrmals wiederholt hat, sowohl um 1900 als man das Andeutende und Skizzenhafte liebte, wie nach 1910 wo man in der Kunst dem Reiz der einfachsten konstruktiven Elemente unterlag und die Geheimnisse der sichtbaren Welt anklingen hieß, indem man eine Art optisches Alphabet aufsagte.

Allein der Verfall Clarissens schritt rascher vorwärts, als Ulrich zu folgen vermochte. Eines Tages kam sie mit einer neuen Entdeckung. «Das Leben entzieht der Natur Kräfte auf Nimmerwiederkehr, » begann sie, wobei sie an die Gedichte anknüpfte, welche der Natur Worte entreißen, um sie langsam unfruchtbar werden zu lassen «indem das Leben diese der Natur entzogenen Kräfte in einen neuen Zustand

<Be-wußtsein> verwandelt, aus dem es keine Rückkehr gibt. » (Leo Tolstoi: «Das Bewußtsein ist das größte moralische Unglück, das einen Menschen erreichen kann. » — Fedor Dostojewski: «Jedes Bewußtsein ist eine Krankheit. » Aus dem Tagebuch Gorkis. ) Es lag auf der Hand und Clarisse wunderte sich, daß noch niemand dies vor ihr bemerkt hatte. Dies kam davon, daß ihre Moral die Menschen hinderte, gewisse Dinge zu bemerken. «Alle physikalischen, chemischen und so weiter Reize, die mich treffen, »

erklärte sie «verwandle ich in Bewußtsein; aber niemals ist noch das Umgekehrte gelungen, sonst könnte ich ja mit meinem Willen diesen Stein aufheben. Also stört das Bewußtsein beständig das Kräftesystem der Natur. Es ist die Ursache aller nichtigen, oberflächlichen Bewegung, und die <Erlösung> verlangt, daß man es vernichtet. »

Clarisse machte auch gleich noch eine weitere Entdeckung. Die untergegangenen, brodelnden, riesenwüchsigen, fantastischen Wälder der Carbonzeit sind es, was heute unter dem Einfluß der Sonne als Psychisches wieder frei wird, und durch die Ausbeutung der damals untergegangenen Energie entsteht die große geistige Energie der Jetztzeit. (Sie sagt: bisher war es nur Spiel, nun muß es ernst werden; da wird sie ihm unheimlich. )

Es war Abend, Ulrich und sie gingen zur Kühlung im Dunkel spazieren, in einem kleinen Teich trommelten Hunderte von Fröschen, und die Grillen schrillten, so daß die Nacht aufgeregt war wie ein Negerdorf, das zum Tanz antritt. Clarisse verlangte von Ulrich, daß er mit ihr in den Teich gehe und sich töte, damit ihr Bewußtsein allmählich zu Sumpf, Kohle und reiner Energie

werde.

Dies war ein wenig zuviel. Ulrich lief Gefahr, wenn ihre Ideen in dieser Richtung weiterliefen, daß Clarisse ihm in einer der nächsten Nächte den Hals abschnitt. (Töte ihn! -Noch ein Kapitel: sie versucht es wirklich!)

Er telegraphierte an Walter, sofort zu kommen, da sein Versuch Clarisse zu beruhigen fehlgeschlagen sei und er die Verantwortung nicht länger übernehmen könne.

118 Abrechnung Walters mit Ulrich

[Studien]

[Späterer Plan zu den Kapiteln «Die Insel der Gesundheit»: das Insel-Erlebnis Clarisse-Ulrich folgt danach unmittelbar auf Agathes und Ulrichs «Reise ins Paradies». Schon im Manuskript der «Reise» heißt es zum Schluß: «Fortsetzung: Am Tag nach diesem unseligen Gespräch traf Clarisse ein. » Diese Notiz wurde nachträglich angefügt. Die Skizze, die unter den Stichworten «Insel I» und «Insel II» den neuen Plan umreißt, knüpft daran an. Nach den allgemeinen Clarisse-«Studien» war für die gesamte Folge der Clarisse-Schlußkapitel «eine neue Hierarchie» vorgesehen. Dazu liegen keine Einzelstudien vor. ]

Clarisse umgruppiert — 19. X. 1930: Clarisse vorziehen. Einen Roman Clarisse-Meingast-Moosbrugger machen. Eventuell: aus Ulrich-Agathe und Ulrich-Clarisse-Szenen Ulrich-Agathe-Clarisse-Szenen machen.

Entspricht der Bedeutung, die Clarisse schon in Band I hat. Fordert aber, da Clarisse nun erst recht eine Hauptfigur von II ist, daß das bis jetzt Nur-Pathologische in starke Beziehung zum Normalen gebracht wird.

Überblick… ergab: diese Erzählung der Vorgänge in Clarisse ist ja ganz schön, aber was geht sie uns und das Ganze an!

Antwort: Was in Clarisse durcheinandergeht, sind Zeitinhalte…. muß also ergänzt werden zu einer Paranoesis, einer parasystematischen Vernunft von Clarissens Wahnideen (noch nicht geschehn).

Vielleicht richtiger das Gegenteil: alle diese Ideen sind in ihr, aber keine voll und logisch ausgebildet. Nur 840

fallweise extrem ausgebildet (Schizophrene!). Der Kranke ist ja kein Dichter!

Alle ihre Ideen haben vernünftige Seitenstücke; sie sind also nicht ins Blaue zu steigern, sondern recht vernunftartig zu beschreiben. (Ein Gipfelpunkt: Irrenhaus als quasi normal gesehen. > Das große persönliche Schicksal Clarissens wäre dann: Sie macht heroische Anstrengungen zur Bemeisterung, ihr armer Kopf ist aber zu schwach (wie bei jedem von uns)–-

Beim Durchblättern der ausgeführten Clarisse-Kapitel: Aus inneren und äußeren Zusammenhängen gehört

[«Clarisse besucht Walter im <Atelier>] nach Reise Agathe-Ulrich; das andere kann davor stehen. (Aber

[«Clarisse besucht Walter… »] ist die unmittelbare Fortsetzung von [«Nach dem Besuch bei Moosbrugger»] ?) - Eine Zäsur in der Entwicklung ist Hinrichtung Moosbruggers. (Szene oder Bericht darüber fehlt. > Eine Zäsur in der Entwicklung ist Abreise Meingasts.

21. X.: Die der Reise Agathe-Ulrich entsprechende Zäsur liegt nach [«Clarisse und Dr. Friedenthal»]

(Verlangen, in die Klinik aufgenommen zu werden).

22. X.; Keine Form, kein Ziel: das ist der Mensch von heute. Überhaupt: nicht so sehr Clarisse herausheben wie einbetten!

Studie zu Clarisse, ausgehend vom Schlußteil - 9. L 36 -Ausgangspunkt:… Während und am Ende der Agathe-Ulrich-Reise: Bild einer Manie in ihrer «Großartigkeit». Der Lichtzustand! - Mit anderen Worten ist es die Beschreibung eines ekstatischen Heroismus, Heroismus in Wahnsinnsform. Zum großen Teil dieses Material identisch mit dem für Ulrich und Agathe dienenden, nur ist es hier sthenisch zu erleben und Clarissisch zu interpretieren. Dergestalt ist das wirklich ein Gegenstück zur Reise [ins Paradies] und ihren Vorkapiteln, mit einer gewissen Phasenverschiebung diesen nachlaufend. Da die Vorstellungen nur Interpretationen der Zustände sind, sind sie diesen Affekten anzupassen. Daraus ergibt sich eine neue Hierarchie…

10. I. 36 Clarisse ist streng der gesamten und insbesondere der Ulrich-Agathe-Problematik unterzuordnen, da sie sonst überwuchert. Es ist festzuhalten an dem Bild einer Manie als aktives Gegenstück zu den kontemplativen Erlebnissen Ulrichs und Agathes…

Insel 1

Clarisse trifft ein, während Agathe und Ulrich noch beisammen sind. Bleibt ein bis drei Tage Hotel, in welcher Zeit sie ihre Insel sucht und findet. Erzählt während dieser Zeit die Moosbrugger-Geschichte. Lädt Ulrich auf die Insel ein (oder Agathe und Ulrich) und Ulrich fährt hinüber. Verbringt einen halben Tag mit ihr. Ihre Hütte und so weiter.

Es kommt also wahrscheinlich nicht zu Coit. [us], sondern nur zur Bereitschaft Clarisses. Das Material der alten Coit. [us]-Szene ist aber so zu verwerten.

Insel II

Etwa: Agathe hat nur ein paar Zeilen auf einem Zettel hinterlassen. Inhalt?

Walter trifft kurz danach ein (gegen Abend). Ulrich unwillkürlich: Hast du Agathe getroffen? Das ist nicht geschehen. Aber daß Agathe bis zuletzt da war, beruhigt seine Eifersucht. Walter etwas dicker Bauch.

Ulrich führt ihn zu Clarisse. Clarisse sitzt irgendwo am Strand. Ulrich hat sich nicht um sie gekümmert.

Walter fühlt tiefe Zusammengehörigkeit mit der Kranken und Verlassenen. Sie gehen in die Fischerhütte.

Es sieht so aus, als ob sie zu dritt hier gewohnt hätten. Sie richten sich zu dritt ein. Walter sagt nichts darüber; tut, als verstände es sich «wegen Aufsicht» von selbst.

Wie nimmt Clarisse das hin? - Das hängt auch vom Vorausgegangenen (Insel I) ab, das noch unbestimmt ist.

Einfall: Sie beichtet. Wenn zwischen ihr und Ulrich Coit. [us], so das; aber wahrscheinlicher (wegen Agathes Nähe) ist Coit. [us] nur auf Andeutungen zu reduzieren, eine halbe Verführung Ulrichs durch Clarisse. Es ist also nichts vorgefallen, und es ist auch szenisch stärker, wenn sie Erfindungen beichtet und Ulrich zuhört. Als Gipfel brauchbar: Plötzlich oder stufenweise übergeht die heftige sexuelle Erregung in das mystische Gefühl der verklärten Gottvereinigung, die fast vorstellungslos ist.

Walter glaubt wohl nicht, Ulrich gibt ihm auch ein Zeichen, aber etwas Glaubhaftes ist doch daran, gleichsam eine bloß zufällige Nichtwahrheit.

Um Clarisse beim Auskleiden allein zu lassen, gehn sie vor die Tür, dann gegen den Strand. Walter sagt, weil er eifersüchtig ist: Es ist Wahnsinn, an der Treue eines Menschen zu zweifeln. Es gibt Lagen, wo man mit Recht ungewiß ist. Er sieht im Halblicht Ulrich von der Seite an. Aber man muß den Mut haben, sich 841

täuschen zu lassen. Das ist so, wie eine Kugel manchmal einheilen muß. Es kann aus dieser Täuschung, die man in sich schließt, etwas Großes entstehn. Es kommt nicht nur auf Treue zwischen Mann und Frau an, sondern auch auf andere Werte.

Er sagte nicht: Größe, aber er dachte es wohl. Er kam sich bedeutend, und vor allem männlich, vor, weil er keine Szene machte und nicht in Ulrich, drang, die Wahrheit zu bekennen. Er war irgendwie dem Schicksal dankbar für diese große Prüfung. Übergehend oder zusammengezogen mit:

Am Rand der Melancholie der abendlichen See setzen sie sich. Sie ist der Stern meines Lebens gewesen!

sagte Walter. Ulrich zuckt aber bei der Erwähnung des Namens Treue zusammen. Er ist gar nicht so großartig wie Walter.

Walter knüpft nun an Stern meines Lebens an, führt es fort. Nun geht sie in Nacht unter, was wird folgen (aus mir werden) ? Er hat in diesem Augenblick diese Wichtignehmerei seiner selbst, die sie in der Jugend hatten. Er geht aus sich heraus: Ich bin an einem kritischen Punkt. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich in dem letzten Jahr gekämpft und gelitten habe. Schließlich ist doch mein ganzes Leben ein Kampf gewesen.

Man hat sich geschlagen wie ein Toller (Tag und Nacht mit dem Degen in der Faust geschlagen)! Aber hat es einen Zweck? Ich glaube, daß ich jetzt so weit gekommen wäre, wirklich der sein zu können, der ich sein wollte; aber hat es einen Sinn? Glaubst du denn, daß wir in der heutigen Zeit irgendetwas von dem rein verwirklichen konnten, was wir als junge Leute gewollt haben?

Ulrich saß da, in einem dunkelblauen Fischerwollsweater, er war abgemagert, und die Breite seiner Schultern trat dadurch noch mehr hervor und die sehnige Kraft seiner Arme, die er vorgebeugt auf die Knie gelegt hatte, - und er hätte am liebsten geheult bei dieser abendlichen Kameradschaft. Finster erwiderte er: Erzähl mir nichts von deinen Siegen. Du bist unterlegen und willst dich endlich ohne Scham übergeben. Du bist jetzt Anfang dreißig und mit vierzig Jahren ist jeder erledigt. Und mit fünfzig sieht er sich in einem befriedigenden Leben und wird noch dazu bald alle Plagen hinter sich haben. Es geht nur denen gut, die unterkriechen und sich anpassen! Das ist alle Weisheit des Lebens! Denen, die unterliegen, ist das bessere Teil beschieden! Und nichts ist schlimmer als Alleinsein!

Er war niedergeschlagen. Seine Grobheit behinderte Walter nicht, es zu bemerken.

Die eigentümliche Stimmung: Ein schwacher und ein starker Mensch… Walter erzählt von der Bekanntschaft mit dem in seiner Nähe wohnenden Ministerialrat und seiner Aussicht auf eine Ministerialkarriere (Er hat einen letzten gefunden, dem er Eindruck macht. Der Ministerialrat erzählt ihm, daß er ihn schon lange beobachtet habe und so weiter).

Ulrich ist verzweifelt. Es ist nur eine Schwäche von ihm gewesen, daß er sich mit Clarisse abgegeben hat.

Sie wäre vorbeigegangen, vielleicht schon in einem Tag, und es wäre noch alles möglich gewesen. Aber er fühlt, daß Agathe die richtige Entscheidung gewählt und dem Unvermeidlichen vorgegriffen hat.

Agathes Zettel fängt an: Gel - Sie hat es nicht zu Ende geschrieben. Inhalt vielleicht: Südseeinsel.

Unwillkürlich angeknüpft an Insel.

Ulrich hatte den Impuls, Walter den Hals abzudrehen. Aber es gibt einsamere Inseln, wo man das nicht tun kann, ohne entdeckt zu werden. In die gedehnte Süße der letzten Zeit strömt dieser Hang zur Gewalt und rohen Tat wie die Natur ein.

Walter bittet ihn, ihm behilflich zu sein, Clarisse in ein Sanatorium zu bringen. Ulrich lehnt brüsk ab. Er will noch einen Tag allein an der Stelle zubringen, wo er und Agathe… Läßt Walter an Siegmund telegrafieren, fährt aber nicht selbst mit dem Telegramm ins Hotel; Walter muß es tun, oder sie schicken einen Boten.

Zum Ganzen: Es ist noch zu suchen der Hauptvorwurf Walters gegen Ulrich.

Was Walter über negative Empfindungen sagt, kann Ulrich erinnern und reizen. Dann spricht Walter von Eifersucht. Das knüpft ans Gegebene an, ist aber - retrospektiv - zugleich eine Abrechnung. Warum erlaubst du Clarisse dann nicht, mich zu lieben? Weil du mich nicht magst! Ist eine mögliche Einkleidung zur Abrechnung. Diese aber? Das Dazugehörige: Worauf und warum ist man denn eigentlich eifersüchtig?!

Fällt im Ton aus der hier geplanten Szene heraus. Es ließe aber zwei Anknüpfungen zu: 1) Ulrich macht sich Gedanken wegen Agathes Zukunft. Es wird ihn auch noch weiterhin Eifersucht plagen, und was er sagt, ist höhere Einsicht, die er sich gleichsam vorsagt. Aber dieser Gedanke findet seine Vollendung ja doch im

«anderer Zustand »-Kreis und ist also im Augenblick schmerzlich halbwahr und untersagt. 2) Eifersucht ist auch die Abneigung der Menschen gegeneinander und der Nationen. Dem stellt es eine zur Verträglichkeit 842

führende Überlegung entgegen. Dem Sinn nach ungefähr: Wetteifer statt Eifersucht auf die albernen Zufälle, die uns aufbauen. Mit dem Gipfel: Wir sind alle nichts! - Das wäre ungefähr der Stimmungsschluß, mit dem er ins Leben zurückkehrt.

Ist an den Hauptproblemen zu prüfen.

20. I. 1936. Daraus zwei Fragen gezogen:

1) Worin besteht die Abrechnung Walters mit Ulrich?

2) Soll das Gespräch über Eifersucht eine allgemeine Bedeutung (Bedeutung fürs Ganze) haben?

ad 1) Die Hauptidee der Abrechnung war wohl zuletzt, daß Walter vorhalten soll, was Ulrichs Schwächen sind; also trotz alles Ressentiments nicht unsachlich sprechen soll. Er teilt sich in diese Aufgabe mit General [von Stumm] in dessen letzter Phase. Etwas auch mit Arnheim.

Was kommt da in Frage? Vorausgegangen ist das Experiment mit Agathe, das nicht jedermanns Sache sein wird. Und die Utopien. Also böser Einwand: Du bist zu innerst unfruchtbar! Und darum scheinbar kühn (wie schon irgendwo in Band I gesagt). Im Wahrheitskern heißt das: Du verzichtest auf Verwirklichung deiner Ideen (ich aber will Ideen haben, die sich verwirklichen lassen). Denken um zu tun, tun um zu denken. Du wirst, wenn du in die Lage kommst, ohne Bedenken Menschen zugrunde richten. Du entwertest die Wirklichkeit, damit du dir wie ein großer Mann vorkommst. Ulrich weiß nun auch, daß alles, was ihn zu bewegen vermag, Utopien sind. Die eine seiner Rechtfertigungen ist: Rasse des Genies. Aber dazu muß man aufgelegt sein; und außerdem: ein Genie ohne Werk ist recht problematisch und nahe der Gefahr purer Einbildung. Also käme hier die Frage des Werks, die Frage Selbstmord oder Schreiben. Walter kann sagen: Du bildest dir auf deine paar Abhandlungen etwas ein, aber -! Werk setzt die Zuversicht voraus, daß etwas zu bessern sei. Die hat aber Ulrich (Reise zu Gott!) eigentlich nicht, er müßte sie erst wieder erwerben. Er war ja zuletzt extremer Individualist und überzeugt, daß immer wieder alles verpatzt wird. ––- Eine zweite Rechtfertigung wäre: Theoretiker. (Ein Mann ohne Eigenschaften ist ein Theoretiker. ) Es muß Theoretiker geben. Und Forscher. Experimentatoren. Menschen ohne Bindung. Ohne Bedürfnis nach Ja oder Nein. Menschen der Partiallösung. Man könnte keinem großen Menschen das absolute Regiment in die Hand geben. Er ist Physiker, nicht Techniker. Er blamierte sich. Die Funktion großer Menschen ist eine andere; sie wirken bloß durch vielfache Vermittlung auf das Leben ein. Als große Menschen sind sie wohl auch persönliche Lebensvorbilder, denn es gehört eine große Koordination und Subordination aller Eigenschaften zu ihnen (hier erfährt also das Prinzip Mann ohne Eigenschaften eine entscheidende Einschränkung); aber ihre Lehre ist nicht vorbildlich, sondern richtbildlich und ähnliches. - Hieher gehört also zum Beispiel: Partiallösung auch - in dem Sinn, daß die Zeiten Überzeugungen annehmen, aber solange diese nicht ganz reell sind, bleiben sie nicht. Namentlich: Es gibt Zeiten, die den theoretischen Typus begünstigen, und solche, die handeln, sehr überzeugt sind, neue Bedingungen schaffen und gewöhnlich alles ruinieren. Bevorsteht eine antitheoretische Zeit. Darauf wird natürlich Walter erwidern: Bist du denn ein großer Mensch!? Das führt also auf die erste Frage: Werk zurück. (Erinnerung: Agathe braucht kein Werk. Bei Ulrich war immer eins im Hintergrund. Es wäre aber ganz lächerlich, sich nun hinzusetzen und zu schreiben. Er setzt viel zu wenig Optimismus darein. >

Soweit vorderhand.

ad 2) erledigt sich dann schon durch Raummangel in dem Sinn, daß diese Frage entweder nicht oder nur flüchtig berührt werden kann.

119 Generaldirektor Fischel. Begegnung im Zug

durch den Zug gehend, bemerkte Ulrich ein bekanntes Gesicht, hielt an und kam darauf, daß es Leo Fischel sei, der allein in einem Abteil saß und in einem Stoß dünner Papiere blätterte, den er in der Hand hielt. Er war so bedürftig nach Teilnahme am alltäglichen Leben, daß er fast mit Freude seinen alten Bekannten begrüßte, den er monatelang nicht gesehen hatte.

Fischel fragte ihn, von wo er komme.

«Aus dem Süden» erwiderte Ulrich unbestimmt.

«Man hat Sie lange nicht gesehn» sagte Fischel bekümmert. « Sie haben Unannehmlichkeiten gehabt, nicht ?»

«Inwiefern?»

843

«Ich meine nur so. In Ihrer Stellung bei der Aktion denk ich. »

«Ich bin doch nie zu ihr in einer Beziehung gestanden, die man eine Stellung nennen konnte» wandte Ulrich etwas entrüstet ein.

«Eines Tags sind Sie verschwunden» sagte Fischel. «Niemand hat gewußt, wo Sie sind. Ich habe daraus geschlossen, daß Sie Unannehmlichkeiten hatten. »

«Bis auf diesen Irrtum sind Sie auffallend gut unterrichtet: Wieso?» fragte Ulrich lachend.

«Ich hab Sie doch gesucht wie eine Spennadel. Schwere Zeiten, böse Geschichten, mein Lieber» antwortete Fischel seufzend. «Der General hat nicht gewußt, wo Sie sind, Ihre Kusine hat nicht gewußt, wo Sie sind, und Ihre Post haben Sie sich nicht nachkommen lassen, wie man mir gesagt hat. Haben Sie einen Brief von Gerda bekommen?»

«Empfangen nicht. Vielleicht finde ich ihn zu Hause vor. Ist etwas mit Gerda?»

Direktor Fischel antwortete nicht; der Schaffner war vorbeigegangen, und er winkte ihn herein, um ihm einige Telegramme mit dem Ersuchen zu übergeben, daß er sie in der nächsten Station absende.

Jetzt erst bemerkte Ulrich, daß Fischel erster Klasse fuhr, was er nicht von ihm erwartet hätte.

«Seit wann verkehren Sie mit meiner Kusine und dem General?» fragte er.

Fischel sah ihn nachdenklich an. Er verstand offenbar nicht gleich diese Frage. «Ja, so» sagte er danach.

«Ich glaube, da waren Sie noch gar nicht abgereist. Ihre Kusine hat mich wegen einer Geschäftsangelegenheit konsultiert, und durch sie habe ich dann den General kennen gelernt, den ich damals noch wegen Hans Sepp um etwas ersuchen wollte. Sie wissen doch, daß sich Hans erschossen hat?»

Ulrich fuhr unwillkürlich hoch.

«Ist sogar in einigen Zeitungen gestanden» bekräftigte Fischel. «War eingerückt zum Einjährigendienst beim Militär und hat sich nach einigen Wochen erschossen. »

«Ja, weshalb denn?»

«Weiß Gott! Ehrlich gestanden, er hätte sich ebenso gut auch schon früher erschießen können. Immer hätte er sich erschießen können. Er ist ein Narr gewesen. Aber ich habe ihn zum Schluß ganz gern gehabt. Sie werden es nicht glauben, aber mir hat sogar sein Antisemitismus und sein Schimpfen auf die Bankdirektoren gefallen. »

«Hat es zwischen ihm und Gerda etwas gegeben?»

«Großen Krach» bestätigte Fischel. «Aber das ist es nicht allein gewesen. Hören Sie. Sie haben mir gefehlt.

Ich habe Sie gesucht. Wenn ich mit Ihnen rede, habe ich nicht das Gefühl, es mit einem vernünftigen Menschen zu tun zu haben, sondern mit einem Philosophen. Was Sie sagen -erlauben Sie einem alten Freund, das zu bemerken — hat nie Hand und Fuß, aber es hat Herz und Kopf! Also was sagen Sie dazu, daß sich Hans Sepp erschossen hat?»

«Haben Sie mich darum gesucht?»

«Nein, nicht deswegen. Wegen Geschäften und wegen dem General und Arnheim, mit denen Sie befreundet sind. Wie Sie mich hier sehen, bin ich nicht mehr in der Lloydbank, sondern bin ein eigener Mann geworden. Ein großes Wort, sage ich Ihnen! Ich habe große Unannehmlichkeiten gehabt, aber jetzt geht es mir, Gott sei Dank, glänzend - »

«Unannehmlichkeiten nennen Sie, wenn ich mich nicht irre, daß man seine Stellung verliert?»

«Ja, ich habe meine Stellung bei der Lloydbank Gott sei Dank verloren; sonst wäre ich heute noch Prokurist mit dem Titel eines Direktors und bliebe es, bis man mich in Pension schickte. Als ich das aufgeben habe müssen, hat meine Frau die Scheidung gegen mich eingeleitet - »

«Was Sie sagen! Sie haben wirklich viel Neues zu erzählen!»

«Ts!» machte Fischel. «Wir wohnen nicht mehr in unserer alten Wohnung. Meine Frau ist für die Scheidung zu ihrem Bruder gezogen. » Er holte eine Visitenkarte hervor: « Und das ist meine Adresse. Ich hoffe, Sie besuchen mich bald. » Auf der Karte las Ulrich «Generaldirektor» und einige jener vieldeutigen Titel wie «Import und Export» und «Transeuropäische Waren-und Geldverkehrsgesellschaft» und eine vornehme Anschrift. «Sie können sich nicht vorstellen, wie man von selbst aufsteigt» erklärte ihm Fischel.

«Wenn bloß einmal alle diese Gewichte wie Familie und Beamtenstellung, vornehme Verwandtschaft der Frau und die Verantwortung vor den großen Menschheitsgeistern von einem genommen werden! Ich bin in wenigen Wochen ein einflußreicher Mann geworden. Auch ein wohlhabender Mann. Vielleicht werde ich übermorgen wieder nichts haben, aber vielleicht auch noch viel mehr!»

844

«Was sind Sie jetzt eigentlich?»

«Das kann man einem Außenstehenden nicht so mir nichts, dir nichts erklären. Ich mache Geschäfte. Wa

rengeschäfte, Geldgeschäfte, politische Geschäfte, künstlerische Geschäfte. Die Hauptsache ist bei jedem Geschäft, daß man sich im rechten Augenblick davon zurückzieht; dann kann man nie daran verlieren — »

Wie nur je in alten Zeiten schien es Leo Fischel Freude zu bereiten, sein Tun mit «Philosophie» zu begleiten.

Ulrich hörte ihm neugierig zu, dann sagte er:

«Bei alledem ist es mir aber auch wichtig zu erfahren, was Gerda zum Selbstmord von Hans gesagt hat. »

«Daß ich ihn ermordet hätte, behauptet sie! Dabei waren sie schon vorher ganz auseinandergekommen… »

120 Gartenfest

Am gleichen Abend mußte Ulrich bei einem Gartenfest erscheinen. Er konnte nicht wohl absagen und hätte es doch getan, wenn ihn seine Mißstimmung nicht gerade hingetrieben hätte. Aber er erschien spät. Der größere Teil der Besucher hatte die Masken bereits abgelegt. Zwischen den Bäumen des alten Parks flammten Fackeln, die wie brennende Spieße in den Rasen gerammt oder mit Klammern an den Stämmen befestigt worden waren. Mit weißen Tüchern gedeckte riesige Tische waren aufgestellt. Eine flackernde Feuersbrunst rötete die Rinde der Bäume, das lautlos über den Häuptern schwebende Blätterdach und die Gesichter unzähliger zusammengedrängter Menschen, die auf einige Entfernung nur aus solchen roten und schwarzen Flecken zu bestehen schienen. Es hatte wohl bei den Damen als Parole gegolten, in Männertracht zu erscheinen: Frau Maja Sommer als Maria-Theresianischer Soldat, die Malerin von Hartbach als Tiroler Sepp mit nackten Knien, und Frau Klara Kahn, die Gattin des berühmten Arztes, allerdings in einem Beardsley-Kostüm. Ulrich stellte fest, daß auch von den jüngeren Damen des Hochadels, soweit er sie von Angesicht kannte, viele eine männliche oder knabenhafte Erscheinung gewählt hatten, es gab da Jockeis, Liftjungen, halbmännliche Dianen, weibliche Hamlets und beleibte Türken. Die vor nicht langer Zeit befürwortete Mode des Hosenrocks schien, obgleich ihr niemand gefolgt war, doch auf die Phantasie gewirkt zu haben; für die damalige Zeit, wo die Frauen höchstens von der Erde bis zur halben Wade der Welt angehörten, von da bis zum Hals aber nur ihren Gatten und Liebhabern, und auf einem Fest, wo man Mitglieder des Kaiserlichen Hauses erwarten durfte, war das etwas Unerhörtes, eine Revolution, wenn auch nur eine aus Laune, und der Vorbote vulgärer Sitten, die vorherzusehen die älteren und dickeren Damen damals schon bevorzugt waren, während die anderen nichts als die Ausgelassenheit bemerkten. Ulrich glaubte es sich erlassen zu dürfen, den alten Fürsten zu begrüßen, um den sich als Hausherrn immer ein Kreis von Menschen versammelt hielt, während er ihm kaum bekannt war; er suchte Tuzzi, dem er etwas zu bestellen hatte, und als er ihn nirgends traf, nahm er an, daß der arbeitsame Mann schon nach Hause gegangen sein werde, und schlenderte vom Mittelpunkt des Treibens fort an den Rand einer Baumgruppe, von wo man, über ein ungeheures Rasenparterre hinweg, den Blick aufs Schloß hatte. Das prachtvolle alte Schloß hatte eine Art Rampenlicht angesteckt, lange Reihen elektrischer Lämpchen, die unter den Gesimsen hin oder die Pfeiler hinaufliefen und die Formen der Architektur gleichsam aus dem Schatten schmolzen, als sei der strenge alte Meister, der sie erdacht hatte, mit unter den Gästen und hätte einen kleinen Schwips unter einer weißseidenen Papiermütze. Man konnte unten die Dienerschaft bei den dunklen Türöffnungen ein-und auslaufen sehen, und oben wölbte sich der häßliche rotgraue Nachthimmel der Großstadt wie ein Schirm nach vorne, in den anderen, dunkelreinen Nachthimmel hinein, den man mit seinen Sternen erblickte, wenn man das Auge in die Höhe hob. Ulrich tat es und war wie trunken von einem Gemisch aus Widerwillen und Freude. Als er seinen Blick sinken ließ, gewahrte er eine Gestalt in seiner Nähe, die ihm vorher entgangen war.

Es war die einer großen Frau im Kostüm eines napoleonischen Obersten, und sie trug noch eine Maske; Ulrich erkannte daran sofort, daß es Diotima war. Sie tat, als bemerke sie ihn nicht, und blickte versunken auf das leuchtende Schloß. -

«Guten Abend, Kusine!» sprach er sie an. «Versuchen Sie nicht zu leugnen, ich erkenne Sie unfehlbar daran, daß Sie als einzige noch eine Maske tragen. »

«Wie meinen Sie das?» fragte die Maske.

«Sehr einfach: Sie fühlen sich beschämt. Erklären Sie mir, warum so viele Damen in Hosen erschienen sind?»

845

Diotima zuckte heftig die Achseln. «Es hat sich herumgesprochen. Mein Gott, ich habe es begriffen, die alten Ideen sind schon so erschöpft. Aber ich muß Ihnen wirklich gestehen, daß ich mich verdrießlich fühle; es war eine unfeine Idee, man glaubt in eine Theaterredoute geraten zu sein. »

«Das Ganze ist unmöglich» meinte Ulrich. «Solche Feste gelingen heute nicht mehr, weil ihre Zeit vorüber ist. »

«Ach!» erwiderte Diotima obenhin. Sie fand den Anblick des Schlosses träumerisch.

«Herr Oberst befehlen mir wovon eine richtigere Auffassung zu haben?» fragte Ulrich und betrachtete herausfordernd den Körper Diotimas.

«Ach lieber Freund, sagen Sie nicht Oberst zu mir!»

Es war etwas Neues in ihrer Stimme. Ulrich trat nahe an sie heran. Sie hatte die Maske abgenommen. Er bemerkte zwei Tränen, die langsam aus ihren Augen traten. Dieser große weinende Offizier war sehr närrisch, aber auch sehr schön. Er ergriff ihre Hand und fragte leise, was ihr fehle. Diotima konnte nicht antworten; ein Schluchzen, das sie sich zu unterdrücken bemühte, bewegte den hellen Schein ihrer unter dem zurückgeschlagenen Mantel hoch hinaufreichenden weißen Reithosen. So standen sie im Halbdunkel des in den Wiesen versinkenden Lichts.

«Wir können uns hier nicht aussprechen, » flüsterte Ulrich «folgen Sie mir anderswohin. Ich bringe Sie, wenn Sie erlauben, zu mir. »

Diotima suchte ihre Hand aus der seinen zu ziehn; als es nicht gelang, ließ sie es sein. An dieser Bewegung fühlte Ulrich, was er kaum glauben konnte, daß seine Stunde bei dieser Frau gekommen sei. Er faßte Diotima ehrbar um die Taille und führte sie, zart stützend, tiefer in den Schatten hinein und dann in einem Bogen zur Ausfahrt.

Ehe sie wieder ins Licht traten, hatte Diotima selbstverständlich ihre Tränen getrocknet und ihre Aufregung wenigstens äußerlich bemeistert.

«Sie haben nie bemerkt, Ulrich, » sagte sie mit tiefer Stimme «daß ich Sie schon seit langem liebe; wie einen Bruder. Ich habe keinen Menschen, mit dem ich sprechen kann. »

Da Leute in der Nähe waren, murmelte Ulrich nur: «Kommen Sie, wir werden sprechen. »

Im Wagen aber sagte er kein Wort, und Diotima drückte sich, ihren Mantel ängstlich zusammenhaltend, von ihm fort in die Ecke. Sie war entschlossen, ihm ihr Leid zu klagen, und ein Entschluß Diotimas war immer eine feste Sache; obgleich sie in ihrem ganzen Leben nie des Nachts bei einem anderen Mann gewesen war als bei Sektionschef Tuzzi, folgte sie Ulrich, weil sie sich, ehe sie ihn traf, vorgenommen hatte, sich mit ihm auszusprechen, falls er käme, und ein großes wehmütiges Verlangen nach einer solchen Aussprache hatte. Körperlich wirkte nun, in der Erregung der Durchführung, dieser feste Beschluß freilich nicht günstig auf sie; es ist die Wahrheit, daß er ihr im Magen lag wie eine harte Speise, wenn die Aufregung alle Säfte, die sie auflösen könnten, zurücktreten läßt, und Diotima fühlte kalten Schweiß auf Stirn und Nacken wie bei einer Übelkeit. Sie wurde von sich erst abgelenkt durch den Eindruck, den ihr die Ankunft bei Ulrich machte; den kleinen Park, wo die Glühbirnen an den Baumstämmen eine Gasse bildeten als sie hindurchschritten, fand sie bezaubernd, die Halle mit den Hirschgeweihen und der kleinen Barocktreppe erinnerte sie an Hifthorn, Meute und Kavaliere, und sie konnte sich - da solche Eindrücke in der Nacht doch verstärkt werden und ihre Schwächen verbergen - vor Bewunderung ihres Vetters nicht fassen, der niemals ein Aufheben von diesem Besitz gemacht hatte, sondern, wie es immer schien, darüber nur spottete.

Ulrich lachte und besorgte warmes Getränk. «Das ist, näher gesehen, eine dumme Spielerei, » sagte er

«aber wir wollen nicht von mir sprechen. Erzählen Sie mir, was Ihnen geschehen ist!»

Diotima brachte kein Wort hervor, das war ihr noch nie widerfahren; sie saß in ihrer Uniform und fühlte sich von den vielen Glühbirnen beleuchtet, die Ulrich angezündet hatte. Es beirrte sie. -

«Also Arnheim hat sich unschön benommen?» half Ulrich nach.

Diotima nickte. Dann begann sie: Arnheim sei frei, zu machen, was er wolle. Zwischen ihr und ihm sei nie etwas vorgekommen, was ihm, im gewöhnlichen Sinn, Pflichten auferlegen oder Rechte geben sollte.

«Aber wenn ich richtig beobachtet habe, stand es zwischen Ihnen doch schon so, daß Sie sich scheiden lassen und ihn heiraten wollten?» warf Ulrich ein.

«Oh heiraten?» sagte der Oberst. «Wir hätten vielleicht geheiratet, wenn er sich besser benommen hätte; das kann kommen, wie ein Band, das man zum Schluß noch lose auflegt, aber es soll kein Reif zum 846

Zusammenhalten sein!»

«Und was hat Arnheim getan? Meinen Sie seinen Seitensprung mit Leona?»

«Sie kennen diese Person?»

«Flüchtig. »

«Sie ist schön?»

«Das kann man vielleicht sagen. »

«Hat sie Charme? Geist? Welchen Geist hat sie?»

«Aber liebe Kusine, sie hat nicht den geringsten Geist!»

Diotima schlug ein Bein über das andere und ließ sich eine Zigarette reichen; sie hatte etwas Mut gefunden.

«Sie sind aus Protest in diesem Kostüm auf dem Fest erschienen?» fragte Ulrich. «Habe ich recht? Sie wären sonst durch nichts dazu zu bringen gewesen. Eine Art Übermann in Ihnen hat Sie verlockt, nach dem Versagen der Männer; ich kann es nicht recht ausdrücken. »

«Aber mein Lieber» begann Diotima, und plötzlich rannen ihr hinter dem Rauch der Zigarette die Tränen wieder über das Gesicht. «Ich war die älteste von fünf Töchtern. Meine ganze Jugend lang habe ich die Mutter spielen müssen; wir haben keine Mutter gehabt; ich habe immer alle Fragen beantworten müssen, alles besser wissen müssen. Ich habe Sektionschef Tuzzi geheiratet, weil er um vieles älter war als ich und schon die Haare zu verlieren begann; ich wollte endlich einmal einen Menschen haben, dem ich mich unterwerfen durfte, aus dessen Hand mein Scheitel die Gnade oder Ungnade empfing. Ich bin nicht unweiblich.

Ich bin nicht so stolz, wie Sie mich kennen. Ich beichte Ihnen, daß ich während der ersten Jahre in den Armen Tuzzis Wonnen empfunden habe wie ein kleines Mädchen, das der Tod zu Gott dem Vater entführt.

Aber seit Jahren muß ich ihn verachten. Er ist ein platter Nützlichkeitsmensch. Von allem anderen sieht und versteht er nichts. Begreifen Sie, was das bedeutet?!»

Diotima war aufgesprungen; ihr Mantel war am Stuhl liegen geblieben; das Haar hing ihr konventsmäßig in die Wangen; ihre linke Hand stützte sich bald männlich auf den Säbelknauf, bald griff sie sich damit weiblich in die Haare; ihr rechter Arm machte große rednerische Bewegungen; sie stellte das Bein vor oder schloß die Beine eng zusammen, und der runde Bauch in den weißen Reithosen hatte, was merkwürdigerweise komisch wirkte, nicht die kleinste Unregelmäßigkeit, wie sie den Mann verrät. Ulrich bemerkte erst jetzt, daß Diotima leicht betrunken war. Sie hatte auf dem Fest in ihrer kummervollen Stimmung mehrere Gläser schweren Getränks hintereinander getrunken, und nun, nachdem auch Ulrich ihr Alkohol angeboten hatte, war der Glanz des Rausches davon wieder frisch gefirnißt worden. Aber ihre Trunkenheit war gerade nur so groß, daß sie die Hemmungen und Einbildungen wegschwemmte, aus denen sie sonst bestand, und legte eigentlich nur so etwas wie ihre natürliche Natur bloß, allerdings auch das nicht ganz, denn sowie Diotima nun auf Arnheim zu sprechen kam, begann sie von ihrer Seele zu reden.

Sie habe ihre ganze Seele diesem Mann gegeben, ob Ulrich glaube, daß ein Österreicher in solchen Fragen ein feineres Empfinden, mehr Kultur habe?

«Nein. »

«Vielleicht doch!» Arnheim sei gewiß ein bedeutender Mensch. Aber er habe schließlich schmählich versagt. Schmählich! «Ich habe ihm alles gegeben, er hat mich ausgenutzt, und nun bin ich arm!»

Es war klar, das übernatürliche andeutende Liebesspiel mit Arnheim, körperlich höchstens bis zu einem Kuß ansteigend, gedanklich dagegen grenzenlos und ein schwebendes Duett der Seelen, hatte in seiner wochenlangen, und zuletzt durch das Zerwürfnis Diotimas mit ihrem Gatten, reinen Dauer, das natürliche Feuer in Diotima so geschürt, daß man, respektlos gesagt, es gleichsam mit einem Ruck unter dem Kessel wegreißen sollte, um irgendein Unglück zerberstender Nerven zu verhüten. Das war es, was Diotima, bewußt oder nicht, von Ulrich verlangte. Sie hatte sich auf ein Sofa gesetzt, ihr Schwert lag über ihren Knien und über ihren Augen der schweflige Nebel der leichten Entrücktheit, als sie zu Ulrich sagte: «Hören Sie, Ulrich, Sie sind der einzige Mensch, vor dem ich mich nicht schäme. Weil Sie so schlecht sind. Weil Sie so viel schlechter als ich sind -!»

Ulrich war verzweifelt. Die Umstände erinnerten ihn an einen Auftritt mit Gerda, der sich vor Wochen hier abgespielt hatte, Ergebnis vorangegangener Überreizung wie dieser. Aber Diotima war kein Mädchen, das von verbotenen Umarmungen überreizt worden ist. Ihre Lippen waren groß und offen, ihr Körper feucht und atmend wie aufgeworfene Gartenerde, und ihre Augen unter dem Schleier des Verlangens wie zwei in einen dunklen Gang geöffnete Tore. Aber Ulrich dachte gar nicht an Gerda; er sah Agathe vor sich, und er 847

hätte schreien mögen vor Eifersucht, im Anblick dieses weiblichen Unvermögens, länger Widerstand zu leisten, obgleich er seinen eigenen Widerstand von Sekunde zu Sekunde schwinden fühlte. Schon spiegelte ihm seine Erwartung das Brechen dieser Augen vor, ihr Glanzloswerden, wie es nur der Tod und die Liebe hervorrufen, das ohnmächtige Aufbrechen der Lippen, zwischen denen sich der letzte Atem fortschleicht, und er konnte es kaum noch erwarten, diesen Menschen, den er da vor sich hatte, ganz zusammenbrechen zu fühlen und ihm zuzusehen, während er sich im Moder wand, wie ein Kapuziner, der in die Schädelgruft hinabsteigt. Wahrscheinlich gingen da seine Gedanken schon in einer Richtung, in der er Rettung erhoffte, denn er wehrte sich mit allen Kräften gegen seinen eigenen Zusammenbruch. Er hatte die Fäuste geballt und bohrte seine Augen, von Diotima aus gesehen, fürchterlich in ihr Gesicht. In diesem Augenblick empfand sie nichts als Angst und Anerkennung für ihn. Da fiel Ulrich ein verzerrter Gedanke ein, oder er las ihn aus der Verzerrung des Gesichtes, in das er blickte. Leise und bedeutsam erwiderte er: «Sie wissen gar nicht, wie schlecht ich bin. Ich kann Sie nicht lieben; ich müßte Sie schlagen dürfen, um Sie lieben zu können —!»

Diotima blickte ihm blöde in die Augen. Ulrich hoffte ihren Stolz zu verletzen, ihre Eitelkeit, ihre Vernunft; vielleicht waren es aber auch nur die natürlichen, in ihm aufgehäuften Gefühle des Grolls gegen sie, die er aussprach.

Er fuhr fort: «Ich denke seit Monaten an nichts anderes, als Sie zu schlagen, bis Sie brüllen wie ein kleines Kind!» In diesem Augenblick hatte er sie aber schon bei den Schultern gepackt, nahe beim Hals. Die Opferblödheit in ihrem Gesicht nahm zu. Noch zuckten Ansätze darin, etwas zu sagen, die Lage durch eine überlegene Bemerkung zu retten. In ihren Schenkeln zuckten Ansätze aufzustehen, und kehrten vor dem Ziel um. Ulrich hatte ihren Pallasch ergriffen und halb aus der Scheide gezogen. Um Gotteswillen! - fühlte er - ich werde, wenn nicht etwas dazwischen tritt, sie damit über den Kopf schlagen, bis sie kein Zeichen ihres verfluchten Lebens mehr von sich gibt! - Er bemerkte nicht, daß in dem napoleonischen Obersten indessen eine entscheidende Veränderung vor sich ging. Diotima seufzte schwer auf, als entflöhe die ganze Frau, die sie nach ihrem zwölften Lebensjahr gewesen sei, aus ihrer Brust, und dann neigte sie sich zur Seite, um Ulrichs Lust sich über die ihre ergießen zu lassen, wie er mochte.

Wäre ihr Gesicht nicht gewesen, Ulrich hätte in diesem Augenblick aufgelacht. Aber dieses Gesicht war unbeschreiblich wie der Wahnsinn und ebenso ansteckend. Er warf den Säbel fort und gab ihr zweimal einen derben Klaps. Sie hatte es anders erwartet, aber die physische Erschütterung wirkte trotzdem. Es kam etwas in Gang, wie manchmal Uhren zu gehen beginnen, wenn man sie roh behandelt, und auch in den gewöhnlichen Ablauf, den die Begebnisse von da an nahmen, blieb ein Ungewöhnliches gemengt, ein Schrei und Röcheln des Gefühls.

Weit zurückliegende Kinderworte und Gebärden mengten sich hinein, und die ablaufenden wenigen Stunden bis zum Morgen waren wie erfüllt von einem dunklen, kindischen und seligen Traumzustand, der Diotima von ihrem Charakter befreite und sie in die Zeit zurückführte, wo man noch nichts überlegt und alles gut ist. Als der Tag durch die Scheiben schien, lag sie auf den Knien, ihre Uniform war über den Boden verstreut, die Haare waren ihr über das Gesicht gefallen und die Wangen voll Speichel. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie in diese Stellung gekommen war, und ihre erwachende Vernunft entsetzte sich über ihre entweichende Entrücktheit. Von Ulrich war aber nichts zu sehen.

121 Der Grieche

[Früher Entwurf]

Es war beschlossen worden, Clarisse in ein neues Sanatorium zurückzubringen; sie ließ es ohne Widerstand und fast schweigend geschehn. Sie fühlte sich von Ulrich schwer enttäuscht und sah ein, daß sie in eine Krankenanstalt zurückkehren müsse, - «um den Kreislauf noch einmal durchzumachen»; er war so schwer, daß er selbst ihr nicht gleich beim erstenmal gelingen konnte.

Sie richtete sich an dem neuen Aufenthaltsort sicher ein, wie ein Mensch, der in ein Hotel wiederkehrt, wo er ein erfahrener Stammgast ist. Walter blieb vier Tage bei ihr. Er fühlte die Wohltat, daß Ulrich nicht mitgekommen war, und er allein Clarisse beherrschen konnte, gestand sich das aber nicht ein. Die Art, wie er sich gegen Ulrich verhalten hatte, sollte große Höhe haben und er glaubte auch, daß ihm dies gelungen sei; aber jetzt, wo es vorbei war, meldete ihm etwas sehr Unangenehmes, daß er sich während der ganzen 848

Zeit vor Ulrich gefürchtet hatte. Sein Körper wollte eine männliche Genugtuung. Er nahm keine Rücksicht auf Clarisse und redete sich ein, daß sie nicht krank sei, sondern am ehesten sich erholen werde, wenn man sie neben körperlicher Pflege seelisch möglichst wie eine gewöhnliche Frau behandle. Aber er wußte dennoch, daß er sich das nur einrede. Zu seinem Erstaunen fand er weniger Widerstand bei Clarisse, als er gewohnt war. Er litt. Er empfand Ekel vor sich. Er hatte sich in der ersten Nacht eine kleine Verletzung zugezogen, die ihn schmerzte: unter körperlichen Schmerzen und Schauder vor seiner Roheit glaubte er sie und sich zu geißeln. Dann war sein Urlaub zuende. Es fiel ihm nicht ein, seinem Büro zu desertieren. Er mußte seine Seele mit der Uhr in der Hand einpacken.

Clarisse unterzog sich einer Mastkur, welche man ihr verordnet hatte, da man ihre nervöse Überreizung als Folge körperlichen Herabgekommenseins ansah. Sie war abgemagert und struppig wie ein Hund, der sich wochenlang im Freien herumgetrieben hat. Die ungewohnte Ernährung, deren Wirkung sie zu fühlen begann, machte Eindruck auf sie. Sie duldete auch Walter, sanft wie die Kur, die ihr fremde Körper aufnötigte und sie zwang, grobe Stoffe zu verschlingen. Schwermütig nahm sie alles hin, um sich das Zeugnis der Gesundheit vor sich selbst zu erwerben. «Ich lebe nur auf meinen eigenen Kredit, » sagte sie sich «niemand glaubt an mich. Vielleicht ist es nur ein Vorurteil, daß ich lebe?»: es beruhigte sie, während Walters Anwesenheit, sich mit Materie zu füllen und irdischen Ballast einzunehmen, wie sie es nannte.

Aber an dem Tag, wo Walter abreiste, war der Grieche da. Er wohnte im Sanatorium, vielleicht schon länger als Clarisse, aber da war er ihr in den Weg getreten. Er sagte zu einer Dame, als Clarisse vorbeiging:

«Ein Mensch, der soviel gereist ist wie ich, vermag überhaupt nicht eine Frau zu lieben. » Es konnte sogar sein, daß er gesagt hatte: «Ein Mensch, der soweit herkommt wie ich… » Clarisse verstand sogleich, daß es ein ihr geltendes Vorzeichen war, was diesen Menschen in ihren Weg führte. Noch am gleichen Abend schrieb sie ihm einen Brief. Sein Inhalt war: ich bin die einzige Frau, die Sie lieben werden. Sie begründete es ausführlich. «Sie sind von guter Mannesgröße, » schrieb sie ihm «aber haben eine frauenähnliche Figur und weibliche Hände. Sie haben eine <Geiernase>, das ist eine Adlernase, der das unnütze Übermaß von Kraft genommen ist; es ist schöner als eine Adlernase. Sie haben große dunkle tiefe Augenhöhlen; schmerzhafte Lasterhöhlen. Sie kennen die Welt, die Überwelt und Unterwelt. Ich habe gleich bemerkt, daß Sie mich hypnotisieren wollten, obgleich Ihr Blick eigentlich müde und furchtsam war. Sie haben erraten, daß ich Ihr Schicksal bin.

Ich bin nicht hier, weil ich krank bin. Sondern weil ich instinktiv immer die rechten Mittel wähle. Mein Blut läuft langsam. Niemand hat je an mir Fieber konstatieren können. Schlechterdings unnachweisbar irgendeine lokale Entartung; kein organisch bedingtes Magenleiden, wie sehr auch immer, als Folge der Gesamterschöpfung, die tiefste Schwäche des gastrischen Systems. Mag Ihnen übrigens unser Arzt was immer sagen, als Summe bin ich gesund, mag ich selbst als Winkel krank sein. Beweis: eben jene Energie zur absoluten Vereinsamung und Herauslösung, die mich hierher gebracht hat. Ich habe mit unbedingter Sicherheit erraten, was augenblicklich nottut; ein typisch krankes Wesen kann überhaupt nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen. Achten Sie auf mich. Ich habe deshalb auch mit unbedingter Sicherheit erraten, was Ihnen nottut.

Sie sind der große Hermaphrodit, auf den alle warten. Ihnen haben die Götter Männliches und Weibliches zu gleichen Teilen geschenkt. Sie werden die strahlende Welt von dem dunklen unsagbaren Zwiespalt der Liebe erlösen. Oh, wie ich es verstanden habe, als Sie ausriefen, daß keine Frau Sie festzuhalten vermag!

Ich aber bin der große weibliche Hermaphrodit. Dem kein Mann zu genügen vermochte. Einsam trage ich den Zwie-Spalt. Den Sie nur im Geist und also dennoch noch als Sehnsucht besitzen, die wir überwinden müssen. Mit einem schwarzen Schild davor. Kommen Sie. Eine göttliche Begegnung hat uns hierher geführt.

Wir dürfen unserem Schicksal nicht ausweichen und die Welt neue hundert Jahre warten lassen… !»

Am nächsten Tag brachte ihr der Grieche den Brief zurück. Er tat es aus Diskretion persönlich. Er sagte ihr, daß er ihr keinen Anlaß geben wolle, ihm derartiges zu schreiben. Seine Ablehnung war vornehm und bestimmt. Sein Gesicht, kinodämonisch, hypnotiseurhaft, männlich, wäre, in jeden beliebigen Menschenauflauf hineingestellt, augenblicklich der Mittelpunkt des Bildes geworden. Aber seine Hände waren frauenhaft schwach, die Kopfhaut unter dem dichten schwarzblauen sorgfältigen Scheitel zuckte zuweilen unfreiwillig und seine Augen zitterten ein wenig, während sie Clarisse betrachteten. Clarisse hatte sich in der Tat unter dem Einfluß der Mastkur und neuer Stimmungen schon in den wenigen Tagen 849

körperlich verändert; sie war dicker und gröber geworden, und ihre arbeitsharten Klavierhände, die sich in der Aufregung spannten und krallten, erregten in dem Levantiner eine eigenartige Furcht; er mußte sie immerzu betrachten, hatte Fluchtimpulse und konnte nicht aufstehen.

Clarisse wiederholte ihm, daß er seinem Schicksal nicht ausweichen dürfe, und griff nach ihm. Er sah die entsetzliche Hand daherkommen und vermochte sich nicht zu regen. Erst als ihr Mund an seinen Augen vorbei zu seinem glitt, fand er die Kraft aufzuspringen und zu fliehn. Clarisse hielt ihn am Beinkleid fest und suchte ihn zu umschlingen. Er stieß einen leisen Laut des Ekels und der Angst aus und erreichte den Ausgang.

Clarisse war entzückt. Sie behielt das Gefühl zurück, daß dieser Mann von ungeheurer seltener, geradezu dämonischer Reinheit sei; aber auch die Unanständigkeiten, welche sie selbst begangen hatte, waren in diesem Gefühl gefärbt. Ihr Atem ging hoch und breit; die Genugtuung, dem Befehl ihrer inneren Stimme über die letzten Rücksichten weg gefolgt zu sein, spannte ihre Brust wie Metallfedern. Eigentlich vergaß sie für vierundzwanzig Stunden alles, was sie hierhergeführt hatte, Sendung und Leiden; ihr Herz schoß keine Pfeile mehr gegen den Himmel, sie kamen, alle vor dem abgesandten, einer nach dem ändern zurück und durchbohrten es. Sie litt mit Stolz qualvolle Schmerzen des Verlangens. Vierundzwanzig Stunden lang.

Diese frigide junge Frau, welche den Rausch des Geschlechts nicht kennengelernt hatte, solange sie gesund war, empfing ihn wie eine Marter, die in ihrem Körper mit solcher Gewalt tobte, daß er nicht einen Augenblick stillhalten konnte und von fürchterlichstem Nervenhunger umhergetrieben wurde, während ihr Geist beglückt an dieser Gewalt feststellte, daß die grenzenlose Macht aller Geschlechtsbegierde, von der sie die Welt erlösen mußte, in sie gefahren sei. Die Süße dieser Qual, die ruhelose Ohnmacht, ein Bedürfnis, sich diesem Mann in den Weg zu werfen und vor Dankbarkeit zu weinen, das Glück, dem sie sich nicht verwehren konnte, war ihr ein Beweis, mit welchem ungeheuren Dämon sie den Kampf aufzunehmen hatte.

Diese Geisteskranke, welche noch nicht geliebt hatte, tat es jetzt mit allem, was in ihr noch verschont geblieben war, wie eine gesunde Frau, nur verzweifelt stark, als wollte sich dieses Gefühl mit der äußersten ihm möglichen Kraft von den Schatten losringen, die es umgaben und unwiderstehlich umdeuteten.

Wie alle Frauen wartete sie, daß der wiederkäme, der sie zurückgestoßen hatte. Vierundzwanzig Stunden vergingen, da - ungefähr zur gleichen Stunde wie gestern - klopfte wirklich der Grieche an Clarissens Tür.

Eine ihm unerklärliche Kraft führte den willensschwachen und weiblich empfindenden Mann in die Situation zurück, in welcher der brutale Angriff gegen ihn abgebrochen war, ohne ein Ende gefunden zu haben. Er kam, wohlüberlegte Reden vorschützend und unantastbar schön gekleidet und frisiert, und vor sich selbst gestärkt durch die Überlegung, daß man diese interessante Frau auskosten müsse, aber seine Augäpfel zitterten, als er Clarisse ansah, wie die Brüste eines Mädchens, die zum erstenmal berührt werden.

Clarisse machte nicht viel Federlesens. Sie wiederholte ihm, er dürfe nicht ausweichen, auch der Gott habe am Ölberg Angst gelitten, und griff ihn an. Seine Knie zitterten und seine Hände legten sich kraftlos wie Tücher vor ihre, um sie abzuwehren. Aber Clarisse umschlang ihn mit Armen und Beinen und verschloß seinen Mund mit dem heißen Phosphathauch des ihren. In seiner höchsten Angst verteidigte sich der Grieche mit dem Geständnis, daß er homosexuell sei. Der Unglückliche wußte sich nicht zu helfen, als sie ihm darauf erklärte, daß er sie gerade deshalb lieben müsse.

Er war einer jener halb kranken, halb mondänen Menschen, die durch die Sanatorien wandern, welche für sie Hotels sind, in denen man interessantere Bekanntschaften macht als in den gewöhnlichen. Er sprach mehrere Sprachen und hatte die Bücher gelesen, von denen die Rede war. Eine südosteuropäische Eleganz, schwarzer Scheitel und trägdunkles Auge trugen ihm die Bewunderung aller Frauen ein, welche am Mann Geist und Dämonie lieben. Seine Lebensgeschichte war wie eine Lotterie von Nummern der Hotelzimmer, in die er eingeladen worden war. Er hatte nie in seinem Leben gearbeitet, wurde von seiner reichen Kaufmannsfamilie ausgestattet, und war einverstanden mit dem Gedanken, daß sein jüngerer Bruder nach dem Tode des Vaters die Leitung der Geschäfte übernehme. Er liebte die Frauen nicht, wurde aber aus Eitelkeit ihre Beute und besaß nicht genug Entschiedenheit, um seiner Neigung für Männer anders als gelegentlich in den Kreisen der großstädtischen Prostitution zu folgen, wo sie ihn ekelte. Er war eigentlich ein großer dicker Knabe, in dem die Neigung dieses unbestimmten Alters zu allen Lastern niemals Späterem Platz gemacht und sich bloß in den Schutz einer melancholischen Trägheit und Unentschlossenheit eingebettet hatte.

Diesem unseligen Mann war noch nie widerfahren, daß eine Frau ihn so anpackte wie Clarisse. Ohne daß er 850

es an irgendeiner Bestimmtheit fassen konnte, wandte sie sich an seine Eitelkeit. «Großer Hermaphrodit»

sagte sie immer wieder, und aus ihren Augen leuchtete etwas, das wie Großer Kaiser war, spielhaft für ihn und doch Rausch. «Merkwürdige Frau» sagte der Grieche. «Du bist der große Hermaphrodit, » sagte sie

«der weder die Frauen zu lieben vermag, noch die Männer! Und deshalb bist gerade Du berufen, sie von der Erbsünde, die sie schwächt, zu erlösen!»

Von den drei Männern Walter, Meingast und Ulrich, welche Clarissens Leben beeinflußten, hatte Meingast, ohne daß es ihr selbst je klar geworden war, den stärksten Eindruck auf sie geübt, indem er ihren Ehrgeiz -

wenn man das Verlangen des unschöpferisch in ein Durchschnittsleben gebannten Geistes nach Flügeln so nennen darf - durch seine Art am mächtigsten erregte. Seine Männerbünde, klirrend wie Erzengel in ihrer Phantasie, von denen sie als Frau ausgeschlossen war, hatten sich zu dem Gedanken umgeformt, daß der starke und (was hinzu kam: von den Leiden der Ehe und Liebe) erlöste Mensch homosexuell sei: «Gott selbst ist homosexuell» sagte sie dem Griechen; «er fährt in den Gläubigen, er überwältigt ihn, erfüllt ihn, schwächt ihn, vergewaltigt ihn, behandelt ihn wie eine Frau und fordert von ihm Hingabe, während er die Frauen von der Kirche ausschließt. Erfüllt von seinem Gott geht der Gläubige neben den Frauen wie zwischen krausen, kleinlichen Elementen, die er nicht bemerkt. Liebe ist Untreue an Gott, Ehebruch, beraubt den Geist seiner Menschenwürde. Sündigkeitswahn und Seligkeitswahn locken das Handeln der Menschheit ins Ehebett (Ehebruchbett). Du mein weiblicher König, nimmst mit mir die Sünden der Menschheit auf dich, um sie zu erlösen, indem wir sie begehen, obgleich wir sie schon durchschauen. »

«Verrückt -

verrückt» murmelte der Grieche, aber zugleich leuchteten ihm Clarissens Ideen

widerstandslos ein und berührten einen Punkt seines Lebens, der noch nie mit solchem Ernst und solcher Leidenschaft behandelt worden war. Clarisse rüttelte seine träge Seele wach wie ein im tiefsten Dunkel tobender Traum, aber sie behandelte ihn dabei wie ein älterer Knabe in der Pubertät einen kleineren fängt, um die verrückten Opfer des ersten Liebeskults an ihm zu vollziehn. Seine Würde als interessanter Mann litt auf das heftigste unter der ihm aufgezwungenen Rolle, aber zugleich kam diese tief in ihm vergrabenen Phantasien entgegen und Clarissens rücksichtslose Besuche versetzten ihn in einen zitternden Zustand der Hörigkeit. Er fühlte sich nirgends mehr sicher vor ihr, sie lud ihn zu Wagenfahrten ein, während deren sie sich hinter dem Rücken des Kutschers an ihm vergriff, und seine größte Angst war, daß sie es einmal im Sanatorium vor allen Leuten tun werde, ohne daß er sich wehren könne. Schließlich zitterte er, sobald sie ihm nur in die Nähe kam, aber ließ alles mit sich geschehn. «Cette femme est folle» - diesen Satz sagte er dabei leise, unaufhörlich klagend in drei Sprachen her wie ein Schutzgebet. Endlich aber - das sonderbare, halb durchsichtige Verhältnis fiel auf und er glaubte zu fühlen, daß man bereits über ihn spottete - riß ihn seine Eitelkeit heraus; weinend fast vor Schwäche suchte er alle Kraft zusammen, um diese Frau von sich abzuschütteln. Als sie in den Wagen stiegen, sagte er mit abgewandtem Gesicht, daß es das letztemal sei.

Auf der Fahrt zeigte er ihr einen Schutzmann, behauptete, daß er mit ihm ein Verhältnis habe und dieser nicht mehr dulden wolle, daß er mit Clarisse verkehre; wie um einen Fels schlang er seine Blicke um diesen massigen, in der Straße stehenden Mann, wurde vom wegrollenden Wagen losgerissen, aber fühlte sich durch seine Lüge doch gestärkt, als hätte man ihm etwas zu Hilfe geschickt. Auf Clarisse wirkte es jedoch verkehrt. Den Geliebten ihres «weiblichen Königs» zu sehen, wirkte wie eine überraschende Materialisation auf sie. Sie hatte sich schon in Gedichten als Hermaphrodit bezeichnet und glaubte nun zum erstenmal an ihrem Körper zwitterhafte Eigenschaften bemerken zu können. Sie vermochte es kaum zu erwarten, daß sie das Freie erreichten. «Es ist eine göttliche Liebeskonstellation» sagte sie. Der Grieche fürchtete sich vor dem Kutscher und stieß sie zurück. Er hauchte ihr ins Gesicht, daß es die letzte Fahrt sei.

Der Kutscher, ohne sich umzusehn, scheinbar ahnend, daß etwas hinter ihm vorgehe, trieb die Pferde an.

Plötzlich war ein Gewitter von drei Seiten heraufgezogen und hatte sie überrascht. Die Luft war dick und voll unheimlicher Spannung, Blitzstrahlen zuckten und Donner rollte heran. «Ich empfange heute abend den Besuch meines Geliebten» sagte der Grieche, «du darfst nicht zu mir kommen!» «Wir reisen ab, heute Nacht!» antwortete Clarisse. «Nach Berlin, der Stadt der ungeheuren Energien!» Mit erschütternden Krach schlug in diesem Augenblick ein Blitz nicht weit von ihnen in die Felder, und die Pferde rissen galoppierend an den Strängen. «Nein!» schrie der Grieche auf und verbarg sich unwillkürlich an Clarisse, die ihn umfing. «Thessalische Hexe dünk ich mich!» schrie sie in den Aufruhr, der nun von allen Seiten losbrach. Blitzfeuer brüllte, Wasser und Erde stoben vermengt vom Boden auf, Schrecken rüttelte die Luft.

Der Grieche zitterte wie ein elektrisierter armer Tierkörper. Clarisse jauchzte, umschlang ihn mit 851

«Blitzarmen» und schlug in ihn ein. Da sprang er aus dem Wagen.

Als Clarisse lange nach ihm - sie hatte den Kutscher gezwungen, langsam durch das Gewitter zu fahren, und langsam weiter, als wieder die Sonne schien und Wagenleder, Felder und Pferde dampften, während sie Geheimnisvolles sang - nach Hause kam, fand sie einen Zettel des Griechen auf ihrem Zimmer, worin er ihr noch einmal mitteilte, daß der Schutzmann in seinem Zimmer sei, sich ihren Besuch verbat und am nächsten Morgen abzureisen erklärte. Beim Abendessen erfuhr Clarisse, daß seine Abreise Wahrheit sei.

Sie wollte zu ihm eilen, aber sie nahm wahr, daß alle Frauen sie beobachteten. Auf den Gängen wollte die Unruhe nicht enden. So oft Clarisse den Kopf aus der Tür steckte um in das Zimmer des Griechen zu huschen, kamen Frauen vorbei. Diese dummen Personen sahen Clarisse spöttisch an, statt zu begreifen, daß der Schutzmann sie alle verhöhnte. (Oder: ein fremder Mann öffnete ärgerlich. Der Grieche schon fort?) Und Clarisse traute sich aus irgendeinem Grund mit einemmal nicht mehr aufrecht und harmlos zu der Tür des Griechen zu gehen. Endlich wurde es still und sie schlich ohne Schuhe hinaus. Sie kratzte leise an der Tür, aber niemand antwortete, obgleich durch das Schlüsselloch Licht herausfiel. Clarisse preßte die Lippen an das Holz und flüsterte. Drinnen blieb es still; man hörte ihr zu, aber würdigte sie keiner Antwort.

Der Grieche lag mit dem «Schutzmann» im Bett und verachtete sie. Da faßte sie, die noch nie geliebt hatte, der namenlose Schmerz demütiger Eifersucht. «Ich bin seiner nicht würdig, » flüsterte sie «er hält mich für krank» und flüsternd glitten ihre Lippen das Holz hinunter in den Staub. Eine herzzerreißende Begeisterung betörte sie, leise wimmernd stieß sie gegen die Tür, um zu ihm zu kriechen und seine Hand zu küssen, und begriff nicht, daß es ihr vereitelt war.

Als sie in ihrem Bett erwachte und dem Zimmermädchen läutete, erfuhr sie, daß der Grieche abgereist sei.

Sie nickte, als ob das zwischen ihnen so verabredet gewesen wäre. «Ich reise auch» sagte Clarisse. «Ich muß es dem Arzt melden» das Mädchen. Kaum hatte es das Zimmer verlassen, sprang Clarisse aus dem Bett und schüttete wie rasend ihren Besitz in einen Handkoffer; was nicht hineinging, und das übrige Gepäck ließ sie zurück. Das Mädchen glaubte, der Herr habe den Münchner Zug genommen. Clarisse floh.

«Irrtum ist nicht Blindheit, » murmelte sie «Irrtum ist Feigheit!» «Er hat seine Aufgabe erkannt, aber er besaß nicht genug Mut für sie. » Während sie aus dem Haus schlich, an seinem verlassenen Zimmer vorbei, traf sie wieder mit Schmerz und Scham der vergangenen Nacht zusammen. «Er hat mich für krank gehalten!» Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie wurde sogar gerecht gegen das Gefängnis, dem sie nun entsprang, mitleidig nahm sie Abschied von den Mauern und den Bänken vor der Tür. Die Menschen hatten es hier gut mit ihr gemeint, so gut sie es eben verstanden. (Alle waren [gut] gegen sie gewesen; auch die Kranken. ) «Sie wollten mich heilen» lächelte Clarisse. «Aber Heilen ist Zerstören!» Und als sie im Eilzug saß, dessen stürmende Sprünge sie kräftigend durchdrangen, wurden ihre Entschlüsse klar. Wie kann man irren? Nur, indem man nicht sieht. Wie kann man aber nicht sehn, was doch zu sehen ist?! Indem man sich nicht zu sehn getraut. (Ähnlich erkennt Ulrich, weshalb es keinen radikalen Fortschritt gibt. ) Clarisse erkannte wie ein weites grenzenloses Feld das allgemeine Gesetz menschlicher Entwicklung: Irrtum ist Feigheit; wenn die Menschen einmal nicht feig sein werden, wird die Erde einen Sprung vor machen. Gut, wie der Zug mit ihr ohne Aufenthalt davonbrauste. Sie wußte, daß sie den Griechen einholen müsse.

122 Clarisse in Venedig

[Früher Entwurf]

Clarisse nahm ein Schlafwagenabteil. Als sie den Wagen betrat, sagte sie sofort dem Schaffner: «Hier müssen drei Herrn sein, sehen Sie nach, ich muß sie unbedingt sprechen!»

Alle Mitreisenden gerieten, wie ihr schien, unter den starken persönlichen Einfluß, der von ihr ausging, und befolgten ihre Befehle. Auch die Kellner im Speisewagen. Trotzdem mußte der Schaffner erklären, daß er den Griechen, Walter und Ulrich nicht gefunden habe. Darauf erkannte sie sich im Spiegel mit völlig klarem sinnlichem Eindruck bald als weiße Teufelin, bald als blutrote Madonna.

Als sie am Morgen in München den Zug verließ, fuhr sie in ein vornehmes Hotel, nahm ein Zimmer, rauchte den ganzen Tag, trank Kognak und schwarzen Kaffee und schrieb Briefe und Telegramme.

Irgendein Umstand hatte sie zu der Annahme gebracht, daß der Grieche nach Venedig gereist sei, und sie gab ihre Anweisungen ihm, den Hotels, konsularischen Vertretungen und Ämtern. Sie entwickelte große Geschäftigkeit. «Eilen Sie!» sagte sie zu den roten Boys, welche den ganzen Tag für sie galoppierten. Es 852

war eine Stimmung, wie bei einem Brand, wenn die Feuerwehren anrasseln und die Hörner klagen, oder bei einer Mobilisierung, wo Pferde trappeln, unendliche Züge helmbewehrter, entschlossener Gesichter wie träumend durch die Straßen marschieren, die Luft voll zugeworfener Blumen und grauenschwerer Spannung ist.

Am Abend reiste sie selbst nach Venedig weiter.

Sie stieg in Venedig in einer von Deutschen besuchten Pension ab, wo sie während der Hochzeitsreise gewohnt hatte; man erinnerte sich dunkel der jungen Frau. Das gleiche Leben wie in München begann mit Mißbrauch von Alkohol und Alkaloiden, nur sendete sie jetzt keine Depeschen und Boten mehr aus. Seit dem Augenblick, wo sie in Venedig eingetroffen war, vielleicht weil am Bahnhof nicht schon die Abgesandten der Behörden mit Meldungen standen, besaß sie die Gewißheit, daß der Grieche ihr durch das Netz gegangen und in seine Heimat geflohen sei. Nun galt es, den Sturm zu hemmen und sich zum letzten Angriff ohne Übereilung und mit den strengsten Maßnahmen gegen sich selbst vorzubereiten. Es stand fest, daß sie nach Griechenland segeln werde, aber vorher mußte das rasende Verlangen nach dem Mann, das sie beinahe zu weit vorgerissen hatte, bezähmt werden. Clarisse nahm außer Kaffee und Kognak keine Mahlzeiten zu sich, kleidete sich nackt aus und verriegelte sich in ihrem Zimmer, in welches sie auch die Bedienung nicht einließ. Der Hunger und noch irgendetwas, das sie nicht wahrzunehmen vermochte, versetzten sie in eine tagelange

fieberähnliche

Verwirrtheit, wovon