An den Nordabhängen jener Hügel und Wälder, an welchen südlich Seldwyla liegt, florierte noch gegen das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die Stadt Ruechenstein im kühlen Schatten. Grau und finster war das gedrängte Korpus ihrer Mauern und Türme, schlecht und recht die Rät und Burger der Stadt, aber streng und mürrisch, und ihre Nationalbeschäftigung bestand in Ausübung der obrigkeitlichen Autorität, in Handhabung von Recht und Gesetz, Mandat und Verordnung, in Erlaß und Vollzug. Ihr höchster Stolz war der Besitz eines eigenen Blutbannes, groß und dick, den sie im Verlauf der Zeiten aus verschiedenen zerstreuten Blutgerichten von Kaiser und Reich so eifrig und opferfreudig an sich gebracht und abgerundet hatten, wie andere Städte ihre Seelenfreiheit und irdisches Gut. Auf den Felsvorsprüngen rings um die Stadt ragten Galgen, Räder und Richtstätten mannigfacher Art, das Rathaus hing voll eiserner Ketten mit Halsringen, eiserne Käfige hingen auf den Türmen, und hölzerne Drehmaschinen, worin die Weiber gedrillt wurden, gab es an allen Straßenecken. Selbst an dem dunkelblauen Flusse, der die Stadt bespülte, waren verschiedene Stationen errichtet, wo die Übeltäter ertränkt oder geschwemmt wurden, mit zusammengebundenen Füßen oder in Säcken, je nach der feineren Unterscheidung des Urteils.
Die Ruechensteiner waren nun nicht etwa eiserne, robuste und schreckhafte Gestalten, wie man aus ihren Neigungen hätte schließen können; sondern es war ein Schlag Leute von ganz gewöhnlichem, philisterhaftem Aussehen, mit runden Bäuchen und dünnen Beinen, nur daß sie durchweg lange gelbe Nasen zeigten, eben dieselben, mit denen sie sich gegenseitig das Jahr hindurch beschnarchten und anherrschten. Niemand hätte ihrem kümmelspalterischen Leiblichen, wie es erschien, so derbe Nerven zugetraut, als zum Anschau’n der unaufhörlichen Hochnotpeinlichkeit erforderlich waren. Allein sie hatten’s in sich verborgen.
So hielten sie ihre Gerichtsbarkeit über ihrem Weichbilde ausgespannt gleich einem Netz, immer auf einen Fang begierig; und in der Tat gab es nirgends so originelle und seltsame Verbrechen zu strafen, wie zu Ruechenstein. Ihre unerschöpfliche Erfindungsgabe in neuen Strafen schien diejenige der Sünder ordentlich zu reizen und zum Wetteifer anzuspornen; aber wenn dennoch ein Mangel an Übeltätern eintrat, so waren sie darum nicht verlegen, sondern fingen und bestraften die Schelmen anderer Städte; und es mußte einer ein gutes Gewissen haben, wenn er über ihr Gebiet gehen wollte. Denn sobald sie von irgend einem Verbrechen, in weiter Ferne begangen, hörten, so fingen sie den ersten besten Landläufer und spannten ihn auf die Folter, bis er bekannte, oder bis es sich zufällig erwies, daß jenes Verbrechen gar nicht verübt worden. Sie lagen wegen ihren Kompetenzkonflikten auch immer im Streit mit dem Bunde und den Orten und mußten öfter zurechtgewiesen werden.
Zu ihren Hinrichtungen, Verbrennungen und Schwemmungen liebten sie ein windstilles, freundliches Wetter, daher an recht schönen Sommertagen immer etwas vorging. Der Wanderer im fernen Felde sah dann in dem grauen Felsennest nicht selten das Aufblitzen eines Richtschwertes, die Rauchsäule eines Scheiterhaufens, oder im Flusse wie das glänzende Springen eines Fisches, wenn etwa eine geschwemmte Hexe sich emporschnellte. Das Wort Gottes hätte ihnen übel geschmeckt ohne mindestens ein Liebespärchen mit Strohkränzen vor dem Altar und ohne Verlesen geschärfter Sittenmandate. Sonstige Freuden, Festlichkeiten und Aufzüge gab es nicht, denn alles war verboten in unzähligen Mandaten.
Man kann sich leicht denken, daß diese Stadt keine widerwärtigeren Nachbaren haben konnte, als die Leute von Seldwyla; auch saßen sie diesen hinter dem Walde im Nacken, wie das böse Gewissen. Jeder Seldwyler, der sich auf Ruechensteiner Boden betreten ließ, wurde gefangen und auf den zuletzt gerade vorgefallenen Frevel inquiriert. Dafür packten die Seldwyler jeden Ruechensteiner, der sich bei ihnen erwischen ließ, und gaben ihm auf dem Markt ohne weitere Untersuchung, bloß weil er ein Ruechensteiner war, sechs Rutenstreiche auf den Hintern. Dies war das einzige Birkenreis, was sie gebrauchten, da sie sich selbst untereinander nicht weh zu tun liebten. Dann färbten sie ihm mit einer höllischen Farbe die lange Nase schwarz und ließen ihn unter schallendem Jubelgelächter nach Hause laufen. Deshalb sah man zu Ruechenstein immer einige besonders mürrische Leute mit geschwärzten, nur langsam verbleichenden Nasen herumgehen, welche wortkarg nach Armensünderblut schnupperten.
Die Seldwyler aber hielten jene Farbtunke stets bereit in einem eisernen Topfe, auf welchen das Ruechensteiner Stadtwappen gemalt war und welchen sie »den freundlichen Nachbar« benannten und samt dem Pinsel im Bogen des nach Ruechenstein führenden Tores aufhingen. War die Beize ausgetrocknet oder verbraucht, so wurde sie unter närrischem Aufzug und Gelage erneuert zum Schabernack der armen Nachbaren. Hierüber wurden diese einmal so ergrimmt, daß sie mit dem Banner auszogen, die Seldwyler zu züchtigen. Diese, noch rechtzeitig unterrichtet, zogen ihnen entgegen und griffen sie unerschrocken an. Allein die Ruechensteiner hatten ein Dutzend graubärtige verwitterte Stadtknechte, welche neue Stricke an den Schwertgehängen trugen, ins Vordertreffen gestellt, worüber die Seldwyler eine solche Scheu ergriff, daß sie zurückwichen und fast verloren waren, wenn nicht ein guter Einfall sie gerettet hätte; denn sie führten Spaßes halber den »freundlichen Nachbar« mit sich und statt des Banners einen langen ungeheuren Pinsel. Diesen tauchte der Träger voll Geistesgegenwart in die schwarze Wichse, sprang mutig den vordersten Feinden entgegen und bestrich blitzschnell ihre Gesichter, also daß alle, die zunächst von der verabscheuten Schwärze bedroht waren, Reißaus nahmen und keiner mehr der Vorderste sein wollte. Darüber geriet ihre Schar ins Schwanken; ein unbestimmter Schreck ergriff die Hintern, während die Seldwyler ermutigt wieder vordrangen unter wildem Gelächter und die Ruechensteiner gegen ihre Stadt zurückdrängten. Wo diese sich zur Wehre setzten, rückte der gefürchtete Pinsel herbei an seinem langen Stiele, wobei es keineswegs ohne ernsthaften Heldenmut zuging; schon zweimal waren die verwegenen Pinselträger von Pfeilen durchbohrt gefallen, und jedesmal hatte ein anderer die seltsame Waffe ergriffen und von neuem in den Feind getragen.
Am Ende aber wurden die Ruechensteiner gänzlich zurückgeschlagen und flohen mit ihrem Banner in hellem Haufen durch den Wald zurück, die Seldwyler auf den Fersen. Sie konnten sich mit Not in die Stadt retten und das Tor schließen, welches ihre Verfolger samt der Zugbrücke so lange mit dem verwünschten Pinsel schwarz beklecksten, bis jene sich etwas gesammelt und die lärmenden Maler mit Kalktöpfen bewarfen.
Weil nun einige angesehene Seldwyler in der Hitze des Andranges in die Stadt geraten und dort abgeschlossen, dafür aber auch ein Dutzend Ruechensteiner von den Siegern gefangen worden waren, so verglich man sich nach einigen Tagen zur Auswechslung dieser Gefangenen und hieraus entstand ein förmlicher Friedensschluß, so gut es gehen wollte. Man hatte sich beiderseitig etwas ausgetobt und empfand ein Bedürfnis ruhiger Nachbarschaft. So wurde ein freundnachbarliches Benehmen verheißen; zum Beginn desselben versprachen die Seldwyler, den eisernen Topf auszuliefern und für immer abzuschaffen, und die Ruechensteiner sollten dagegen auf jedes eigenmächtige Strafverfahren gegen spazierende Seldwyler feierlich Verzicht leisten, sowie die diesfälligen Rechte überhaupt sorgfältig ausgeschieden werden.
Zur Bestätigung solchen Übereinkommens wurde ein Tag angesetzt und die Berglichtung zur Zusammenkunft gewählt, auf welcher das Haupttreffen stattgefunden hatte. Von Ruechenstein fanden sich einige jüngere Ratsherren ein; denn die Alten brachten es nicht über sich, in Minne mit den Leuten von Seldwyla zu verkehren. Diese erschienen auch wirklich in zahlreicher Abordnung, brachten den »freundlichen Nachbar« mit lustigem Aufwand und führten ein Fäßchen ihres ältesten Stadtweines mit nebst einigen schönen silbernen und vergoldeten Ehrengeschirren. Damit betörten sie denn die jungen Ruechensteiner Herren, denen ein ungewohnter Sonnenblick aufging, so glücklich, daß sie sich verleiten ließen, statt unverweilt heimzukehren, mit den Verführern nach Seldwyla zu gehen. Dort wurden sie auf das Rathaus geleitet, wo ein gehöriger Schmaus bereit war; schöne Frauen und Jungfrauen fanden sich ein, immer mehrere Stäufe, Köpfe, Schalen und Becher wurden aufgesetzt, so daß über all dem Glänzen der feurigen Augen und des edlen Metalles die armen Ruechensteiner sich selbst vergaßen und ganz guter Dinge wurden. Sie sangen, da sie nichts anderes konnten, einen lateinischen Psalm um den anderen zwischen die Zechlieder der Seldwyler und endeten höchst leichtsinnig damit, daß sie diese dringend einluden, ihrer Stadt mit ihren Frauen und Töchtern einen Gegenbesuch zu machen, und ihnen den freundlichsten Empfang versprachen. Hierauf erfolgte die einmütige Zusage, hierauf neuer Jubel, kurz die Geschäftsherren von Ruechenstein verabschiedeten sich in vollständiger Seligkeit und hielten sich, Schnippchen schlagend, dazu noch für glückliche Eroberer, als die lachenden Damen ihnen bis zum Tore das Geleit gaben.
Freilich verzog sich das liebliche Antlitz der Sache, als die fröhlichen Herren am andern Tage in ihrer finstern Stadt erwachten und nun Bericht erstatten mußten über den ganzen Hergang. Wenig fehlte, als sie zum Punkte der Einladung gediehen, daß sie nicht als Behexte inhaftiert und untersucht wurden. Indessen fühlten sie auch obrigkeitliches Blut in ihren Adern, und obgleich sie das Ding selbst schon gereute, so blieben sie doch fest bei der Stange, ihr gegebenes Wort zu lösen, und stellten den Alten vor, wie die Ehre der Stadt es schlechterdings erfordere, die Seldwyler gut zu empfangen. Sie gewannen einen Anhang unter der Bürgerschaft, vorzüglich durch ihre Beschreibung des reichen Stadtgerätes, womit die Seldwyler so herausfordernd geprahlt hätten, sowie durch das Herausstreichen ihrer Frauen und deren zierlicher Kleidung. Die Männer fanden, das dürfe man sich nicht bieten lassen, man müsse den eigenen Reichtum dagegen auftischen, der in den eisernen Schränken funkle, und die Frauen juckte es, die strengen Kleidermandate zu umgehen und unter dem Deckmantel der Politik sich einmal tüchtig zu schmücken und zu putzen. Denn das Zeug dazu hatten sie alle in den Truhen liegen, sonst wären ihnen die strengen Verordnungen längst unerträglich gewesen und durch ihre Macht gestürzt worden. Der Empfang der neuen Freunde und alten Widersacher ward also durchgesetzt, zum großen Verdruß der Bejahrteren. Auch beschlossen diese sogleich, den ärgerlichen Tag durch eine vorzunehmende Hinrichtung zu feiern und damit eine zu lebhafte Fröhlichkeit heilsam und würdig zu dämpfen. Während die jüngeren Herren mit den Zurichtungen zum Feste betätigt waren, trafen jene in aller Stille ihre Anstalten und nahmen einen ganz jungen, unmündigen armen Sünder beim Kragen, der gerade im Netze zappelte. Es war ein bildschöner Knabe von elf Jahren, dessen Eltern in kriegerischen Zeitläuften verschollen waren und der von der Stadt erzogen wurde. Das heißt, er war einem niederträchtigen und bösen Bettelvogt in die Kost gegeben, welcher das schlanke, wohlgebildete und kraftvolle Kind fast wie ein Haustier hielt und dabei an seiner Frau eine wackere Helferin fand. Der Knabe wurde Dietegen genannt, und dieser Taufname war sein ganzes Hab und Gut, sein Morgen- und Abendsegen und sein Reisegeld in die Zukunft. Er war erbärmlich gekleidet, hatte nie ein Sonntagsgewand besessen und würde an den Feiertagen, wo alles besser gekleidet ging, in seinem Jammerhabitchen wie eine Vogelscheuche ausgesehen haben, wenn er nicht so schön gewesen wäre. Er mußte scheuern und fegen und lauter solche Mägdearbeiten verrichten, und wenn die Bettelvögtin nichts Schnödes für ihn zu tun hatte, so lieh sie ihn den Nachbarsweibern aus gegen Mietsgeld, um ihnen alle Lumpereien zu tun, die sie begehrten. Sie hielten ihn trotz seiner Anstelligkeit für einen dummen Kerl, weil er sich stillschweigend allem unterzog und nie Widerstand leistete; und dennoch vermochten sie nicht lang ihm in die feurigen Augen zu blicken, wenn er in unbewußter Kühnheit blitzend umhersah.
Vor mehreren Tagen nun war Dietegen gegen Abend zum Küfer geschickt worden, um Essig zu holen, da es seine Pflegeeltern nach einem Salat gelüstete. Der Essig wurde seit alter Zeit in einem kleinen Kännchen gehalten, welches, schwarz angelaufen, wie es war, für schlechtes Blech angesehen wurde und schon von der Mutter der Bettelvögtin einst für einige Pfennige nebst anderem Gerümpel gekauft worden, das aber in der Tat von gutem Silber war. Der Küfer, der den Essig machte, wohnte in einer einsamen Gegend hinter der Stadtmauer. Wie nun der Knabe mit seinem Kännchen so daherkam, schlich ein alter Jude mit seinem Sack vorbei, welcher schnell einen Blick auf das zierlich gearbeitete, obwohl schmutzige Gefäß warf, und es dem Burschen mit schmeichlerischen Worten zur näheren Betrachtung abforderte. Dietegen gab es hin, der Jude schürfte heimlich mit seinem großen Daumnagel daran und bot dem Erstaunten sogleich eine hübsch aussehende Armbrust dafür zum Tausch an, welche er aus dem Sacke zog, nebst einigen Bolzen in einer Tasche von zerfressenem Otterfell. Begierig griff der Junge nach der Waffe und spannte sie sogleich mit geschickter und kräftiger Hand, während der Hebräer sachte seines Weges ging, ohne daß jener sich weiter um ihn kümmerte. Im Gegenteil fing er alsobald an, nach der Türe eines kleinen Turmes zu schießen, der dort an die Mauer gebaut war, und ohne von jemand gestört zu werden, setzte er, die ganze Welt vergessend, das Spiel fort, bis es dunkelte, und schoß immer fort im Scheine des aufgegangenen Mondes.
Unterdessen hatte der Bettelvogt auch noch einen Gang um die Stadt gemacht und den Juden gefangen, welcher eben aus dem Tore schlüpfen wollte. Als der Sack des Juden untersucht wurde, erkannte der Vogt verwundert sein Essigkrüglein, das er soeben dem Pflegling selbst in die Hand gegeben. Der Jud, in der Angst um seinen Hals, gestand sogleich, daß es von Silber sei, und gab vor, ein junger Mensch habe es ihm mit Gewalt für eine herrliche Armbrust aufgedrängt, die gleichwohl nicht so viel wert sein möge. Jetzt lief der Bettelvogt und holte einen Goldschmied; der prüfte das Kännchen und bestätigte, daß es ein altes feines Ding von Silber sei und von trefflicher Arbeit. Da gerieten der Bettelvogt und sein Weib, das mittlerweile auch herbeigelaufen, in die größte Aufregung und Wut, erstens, weil sie, ohne es zu wissen, ein so kostbares Essighäfelchen besaßen, und zweitens, weil sie fast darum gekommen wären. Die Welt schien ihnen voll des ungeheuersten Unrechtes zu gären, das Kind erschien ihnen als der Erbfeind, der ihre ewige Seligkeit, den Lohn unendlicher Duldungen und Verdienste, beinahe entführt hätte. Sie stellten sich plötzlich, als ob sie von je gewußt hätten, daß die Kanne von Silber sei und als ob sie immer in ihrem Hause dafür gegolten. Mit den tollsten Verwünschungen klagten sie den Knaben des schweren Diebstahls an, und während der Arglose noch immer mit seinen Pfeilen beschäftigt war und mit jedem Schusse das Ziel besser traf, zogen schon zwei Haufen von Häschern aus, den Entflohenen zu suchen; an der Spitze des einen zog der Bettelvogt einher, vor dem andern die Frau, die es sich nicht nehmen ließ. So stießen sie von verschiedenen Seiten bald auf den Schützen, welcher rüstig im Mondlicht hantierte und wie aus einem Traum erwachte, als er unversehens umringt war. Nun fiel ihm erst seine Versäumnis ein und zugleich der Mangel des Kännchens. Aber er glaubte, einen guten Handel gemacht zu haben, reichte auch lächelnd dem Bettelvogt die Armbrust hin, um ihn zu begütigen. Nichtsdestoweniger wurde er auf der Stelle gebunden, ins Gefängnis geschleppt, verhört und er gab den ganzen Hergang zu, ohne sich im mindesten verteidigen zu können.
Dies arme Kind wurde nun zum Galgen verurteilt und die Hinrichtung auf den Tag verlegt, da die Seldwyler zum Besuch kommen wollten.
Sie erschienen denn auch in stattlichem Zuge, in leuchtenden Farben und ihre Stadttrompeter an der Spitze; übrigens waren sie alle mit guten Schwertern und Dolchen bewaffnet, führten aber nichtsdestominder ein Dutzend ihrer kecksten jungen Frauen, reich geschmückt, in der Mitte, und sogar einige Kinder in den Stadtfarben, welche Geschenke trugen. Die jungen Ratsherren von Ruechenstein, ihre Freunde, ritten ihnen eine Strecke vor das Tor entgegen, bewillkommten sie und führten sie etwas kleinmütig in die Stadt. Das Tor war möglichst abgekratzt, frisch übertüncht und mit etwas magerem Kranzwerk behangen. Innerhalb des Tores aber standen die sämtlichen Stadtknechte aufgestellt in voller Rüstung, welche rasselnd und klirrend den Zug durch die schattig dunklen Straßen begleiteten. Die Leute guckten stumm, aber neugierig aus den Fenstern, wie wenn ein Meerwunder sich durch die Gasse gewälzt hätte, und wo ein Seldwyler lustig hinaufsah und grüßte, da fuhren die Weiber scheu mit den Köpfen zurück. Ihre Männer hingegen drückten sich seltsam die Nasenspitzen an den grünlichen Glasscheiben platt, um die ungewohnte Erscheinung bloßer Frauenhälse zu beobachten.
Also erreichte der Zug die große Ratsstube. Die war reich, aber düster anzusehen, Wände und Decke ganz mit schwarz gefärbtem Eichenholz getäfert mit etwas Vergoldung. Eine lange Tafel war mit gewirktem Linnenzeug gedeckt, worein Laubwerk mit Hirschen, Jägern und Hunden mit grüner Seide und Goldfäden gewoben war. Darüber lagen noch feine Tüchlein von ganz weißem Damast, welche bei näherem Hinsehen ein gar kunstreiches Bildwerk von sehr fröhlichen Göttergeschichten zeigte, wie man sie in diesem gravitätischen Saale am wenigsten vermutet hätte. Auf diesem prächtigen Gedecke stand nun alles bereit, was zu einer öffentlichen Mahlzeit gehörte, und darunter besonders eine große Zahl köstlicher Geschirre, welche wiederum in getriebener Arbeit, bald halb erhaben, bald rund, eine glänzende Welt bewegter Nymphen, Najaden und anderer Halbgötter zur Schau trugen; sogar das Hauptstück, ein hoch aufgetakeltes silbernes Kriegsschiff, sonst ganz ehrbar und staatsmäßig, zeigte als Galion eine Galatea von den verwegensten Formen.
Längs dieser Tafel ging eine Anzahl von Ratsfrauen auf und ab, in starre schwarze oder blutrote Seidengewänder gekleidet, von steifem Spitzenschmuck bis an das Kinn verhüllt. Sie trugen vielfache goldene Ketten, Gürtel und Hauben, und über den Handschuhen eine Menge Ringe an allen Fingern. Diese Frauen waren nicht häßlich, sondern eher hübsch zu nennen; wenigstens waren fast alle mit einer zarten durchsichtigen Gesichtsfarbe und zierlichen roten Wänglein begabt; aber sie sahen so unfreundlich, streng und sauer aus, daß man zweifelte, ob sie je in ihrem Leben gelacht, wenn nicht höchstens einmal in dunkler Nacht, wenn sie dem Mann die erste Nachtmütze aufgeschwatzt hatten.
Die Begrüßung war denn auch befangen genug und man war allerseits froh, bald am Tische zu sitzen und die Verlegenheit mit Essen und Trinken zu vertreiben. Die Seldwyler fanden zuerst ihre natürliche Heiterkeit wieder und zwar durch die Bewunderung des reichen Tafelzeuges. Dies gefiel den Ruechensteinern nicht übel und sie schickten sich eben an, ein steifes Gespräch zu führen, als die Sache eine Wendung nahm, die sie sich nie geträumt hätten. Denn die Seldwyler, welche ihre Augen gebrauchten, entdeckten alsobald die heitern und anmutigen Darstellungen der gewirkten Decken sowohl, wie der Trinkgeschirre, ließen die Blicke voll lachenden Vergnügens über die freien und üppigen Szenen schweifen, machten sich gegenseitig aufmerksam und wußten scherzend und zierlich das Dargestellte zu deuten und zu benennen, und die Damen hielten sich so wenig zurück, als die Herren. Dies dünkte die Wirte und Wirtinnen doch etwas kindisch und sie sahen jetzt auch näher zu, was denn da so lustig zu betrachten wäre. Wie vom Himmel gefallen, erstarrten sie mit offenem Munde! Sie hatten in ihrem beschränkten Sinne all die Herrlichkeit noch gar nie genauer beschaut und Zierat schlechtweg für Zierat genommen, der seinen Dienst zu tun habe, ohne daß ernsthafte Leute ihn eines schärferen Blickes würdigen. Nun sahen sie mit Entsetzen, welch eine heidnische Greuelwelt sie dicht unter ihren ehrbaren Augen hatten. Aber sie waren empört über die neugierige und ungezogene Art, mit welcher die Seldwyler den unbedeutenden Tand ans Licht zogen, anstatt gesetzt und würdig darüber wegzusehen und nur die Kostbarkeit der Stoffe zu bewundern. Die Herren lächelten sauer und mißvergnügt, wenn hier eine Leda und dort eine Europa entdeckt wurde; die Frauen aber erröteten und wurden blaß vor Zorn, und sie waren eben daran, entrüstet aufzubrechen, als der traurige Klang einer Glocke sie plötzlich beruhigte. Es war das Armensünderglöckchen von Ruechenstein; ein dumpfes Geräusch auf der Straße verkündete, daß der junge Dietegen jetzt zum Galgen hinausgeführt werde. Die ganze Tischgesellschaft erhob sich und eilte an die Fenster, wobei die Ruechensteiner ihren aufgeräumten Gästen mit hämischem Lächeln den Platz frei ließen.
Ein Pfaffe, ein Henker mit seinem Knecht, einige Gerichtspersonen und Scharwächter zogen vorbei und an ihrer Spitze ging der gute Dietegen barfuß und nur mit einem weißen, schwarzgesäumten Armensünderhemde bekleidet, die Hände auf den Rücken gebunden und vom Henker an einem Stricke geführt. Das schöne Haar fiel ihm auf den glänzenden bloßen Nacken, verwirrt und flehend sah er, wie Hilfe und Erbarmen suchend, an die Häuser hinauf. Unter dem Portale des Rathauses standen die festlich geputzten Knaben und Mädchen der Seldwyler, welche nach Kinderart vom Tische gesprungen und ins Freie geeilt waren. Als der arme Sünder diese hübschen und glücklichen Kinder erblickte, dergleichen er noch nie gesehen, wollte er vor ihnen stehen bleiben und die Tränen liefen ihm heiß über die Wangen; doch der Henker stieß ihn vorwärts, daß der Zug vorüberging und bald verschwand. Die Seldwylerinnen oben erblaßten und auch ihre Männer faßte ein tiefes Grauen, da sie überhaupt nicht Liebhaber von dergleichen Vorgängen waren. Es ward ihnen unheimlich bei diesen Menschen, so daß sie dem Drängen ihrer Frauen, welche fort wollten, nachgaben, und sich, so höflich sie konnten, beurlaubten. Die Ruechensteiner dagegen waren mit dem Trumpf, welchen sie ausgespielt, zufrieden und fast heiter geworden; sie führten daher ihre werten Gäste, wie sie sagten, guter Dinge wieder zum Tore hinaus, galant und gesprächig.
Vor dem Tore stieß der Zug auf die zurückkehrenden Richtmenschen, welche mürrisch vorbeigingen. Gleich darauf folgte ein einzelner Knecht, der einen Karren vor sich her stieß, auf welchem der Gerichtete in einem schlechten Sarge lag. Scheu und ehrerbietig hielt der arme Teufel an und stellte sich zur Seite, um die glänzenden Leute vorüberziehen zu lassen, und er rückte den losen Sargdeckel zurecht, welcher stets herabzufallen und den Gehängten zu enthüllen drohte. Nun war unter den Kindern der Seldwyler ein siebenjähriges Mädchen, keck, schön und lockig, das hatte nicht aufgehört zu weinen, seit es den Knaben hatte dahinführen sehen, und konnte nicht getröstet werden. Wie der Zug jetzt an dem Karren vorbeiging, sprang das Kind wie ein Blitz hinzu, stieg auf das Rad und warf den Deckel hinunter, so daß der leblose Dietegen vor aller Augen lag. In demselben Augenblicke schlug er die Augen auf und tat einen leisen Atemzug; denn er war in der Zerstreuung des Tages schlecht gehenkt und zu früh vom Galgen genommen worden, weil die Beamteten noch etwas von der Mahlzeit zu erschnappen gedachten. Das heftige Mädchen schrie laut auf und rief: »Er lebt noch! er lebt noch!« Sogleich drängten sich die Frauen von Seldwyla um den Sarg, und als sie den schönen erbleichten Knaben sich regen sahen, bemächtigten sie sich seiner, nahmen ihn vom Karren und riefen ihn vollends ins Leben zurück, indem sie ihn rieben, mit Wasser besprengten, ihm Wein einflößten und ihn auf jede Weise pflegten. Die Männer unterstützten sie dabei, während die Herren Ruechensteiner ganz betroffen umherstanden und nicht wußten, was sie tun sollten. Als der Knabe endlich wieder auf den Füßen stand und sich umschaute, wie wenn er im Paradies erwacht wäre, erblickt’ er plötzlich den Henkersknecht, der ihm den Strick umgelegt hatte, und entsetzt, daß auch dieser, wie er meinte, mit in den Himmel gekommen sei, flüchtete und drängte er sich aufs neue in die Frauen hinein. Gerührt baten diese die gestrengen Nachbarn, daß sie ihnen den Buben schenken möchten, zum Zeichen guter Freundschaft; die Männer stimmten ihnen bei und die Ruechensteiner, nachdem sie eine Weile geratschlagt, erklärten, daß sie nichts dagegen einzuwenden hätten, wenn sie den kleinen Sünder mitnähmen, und daß er ihnen, wie er da wäre, geschenkt sein solle samt seinem Leben. Da waren die hübschen Frauen und ihre Kinder voll Freuden, und Dietegen zog, wie er war, in seinem Armensünderhemde mit ihnen davon. Es war aber ein schöner Sommerabend, weswegen, als die Seldwyler auf der Höhe des Berges und auf ihrem Gebiete angekommen waren, sie beschlossen, sich hier in dem abendlichen Sommerwalde auf eigene Rechnung zu belustigen und von dem gehabten Schrecken zu erholen, zumal ihnen aus ihrer Stadt noch ein ansehnlicher Zuzug entgegenkam, voll Neugierde, wie es ihnen ergangen sei. So mußten denn die Musikanten wieder aufspielen und die mitgeführten Becher kreisten erst jetzt in voller Fröhlichkeit.
Dietegen blickte so glückselig, neugierig und harmlos umher, daß man von weitem sah, daß das ein unschuldiges Kind war, was seine Erzählung auch bestätigte. Die Seldwylerinnen konnten sich nicht satt an ihm sehen, flochten ihm einen Kranz von Laub und Waldblumen auf den Kopf, daß er in seinem langen weiten Hemde gar lieblich aussah, und endlich küßten sie ihn der Reihe nach, und wenn ihn die letzte aus den Armen ließ, nahm ihn die erste wieder beim Kopf.
Aber jenes kleine Mädchen, welches den Dietegen eigentlich gerettet hatte, trat jetzt plötzlich aus der Menge hervor und stellte sich zornig zwischen den Knaben und die Frau, welche ihn eben küssen wollte; es nahm ihn eifrig bei der Hand, um ihn in den Kreis der Kinder zu führen, so daß die Gesellschaft in neue Heiterkeit ausbrach und rief: »So ist es recht! die kleine Küngolt hält ihre Eroberung fest! und Geschmack hat sie auch, seht nur, wie gut das Männchen zu ihr paßt!« Küngolts Vater aber, der Forstmeister der Stadt, sagte: »Der Bub gefällt mir wohl, er hat sehr gute Augen! Wenn es den Herren recht ist, so nehme ich ihn einstweilen bei mir auf, da ich doch nur ein Kind habe, und will sehen, daß ich einen ehrlichen Weidmann aus ihm mache!«
Dieser Vorschlag erhielt den Beifall der Seldwyler, und so ließ Küngolt, wohl zufrieden, ihren Dietegen nicht mehr von der Hand, sondern hielt ihn fest bei sich. Das Pärchen nahm sich in der Tat höchst anmutig aus; auch das Mädchen trug einen üppigen Kranz auf dem Köpfchen und war in Grün und Rot gekleidet. Deshalb gingen sie wie ein Bild aus alter Märchenzeit vor dem fröhlichen Volke her, als dieses endlich beim glühenden Abendrot berghinunter heimwärts zog. Bald jedoch trennte sich der Forstmeister von dem Zuge und ging mit den Kindern seitwärts nach seinem Forsthause, welches unweit der Stadt im Walde lag. Ein dunkler Baumgang führte zu dem Hause, in welchem die stille Frau des Försters saß und mit Erstaunen die Kinder eintreten sah. Sogleich sammelte sich auch das Gesinde, und während die Frau den müden Kindern zu essen gab, erzählte der Mann das Abenteuer mit dem Knaben. Der war aber jetzt gänzlich erschöpft, auch fror es ihn in seiner allzuleichten Tracht; daher wurde herumgefragt, wer den Ankömmling für die erste Nacht in seinem Bette aufnehmen wolle? Aber die Knechte, sowie die Magd wichen scheu zurück und hüteten sich, ein Kind zu berühren, das soeben am Galgen gehangen hatte. Da rief Küngolt eifrig: »Er soll in meinem Bettchen schlafen, es ist groß genug für uns beide!« Als hierüber alles lachte, sagte die Forstmeisterin freundlich: »Das soll er, mein Kind!« Und den Jungen liebevoll betrachtend, setzte sie hinzu: »Gleich als der arme Schelm hereintrat, befiel mich eine sonderbare Ahnung, als ob ein guter Engel erschiene, der uns noch zum Heil gereichen würde. Soviel ist sicher nach meinem Gefühle: Unheil wird er uns nicht bringen!«
Damit führte sie die Kinder in das Kämmerchen neben der großen Stube und beförderte sie zu Bette. Dietegen, welcher kaum mehr sah und hörte, was um ihn vorging, machte die gewohnten Bewegungen, um sich zu entkleiden; da er aber sozusagen schon im Hemde war, so machten seine schlaftrunkenen vergeblichen Versuche einen so komischen Eindruck auf das Mädchen, welches inzwischen schon unter die Decke geschlüpft war, daß es vor Vergnügen laut auflachte und rief: »O seht mir den Hemdlemann! Er will sich immer ausziehen und hat doch weder Wämschen noch Stiefelchen an!« Auch die Mutter mußte lächeln und sagte: »Geh in Gottes Namen nur in deinem Armensünderhemdchen zu Bett, du lieber Schelm! Es ist ja ganz neu und dazu von guter Leinwand! Wahrlich, die bösen Leute zu Ruechenstein betreiben ihre Greuel wenigstens mit einem gewissen Aufwand!«
Damit deckte sie die Kinder behaglich zu und konnte sich nicht enthalten, beide zu küssen, so daß nun Dietegen herrlicher aufgehoben war, als er es sich noch am Morgen oder je in seinem Leben geträumt hätte. Aber seine Augen waren schon geschlossen und seine Seele in tiefem Schlafe. »Nun hat er aber gar nicht gebetet!« sagte Küngolt halblaut und bekümmert, worauf die Mutter erwiderte: »So bete du auch für ihn, mein Kindchen!« und in die Stube zurückging. In der Tat sprach das Mädchen nun zwei Vaterunser, eines für sich und eines für seinen Schlafkameraden, worauf es still wurde im dunklen Kämmerlein.
Geraume Zeit nach Mitternacht erwachte Dietegen, weil nun erst ihn sein Hals zu schmerzen begann von dem unfreundlichen Strick. Das Gemach war ganz hell vom Mondschein, aber er konnte sich durchaus nicht entsinnen, wo er war und was aus ihm geworden sei. Nur das erkannte er, daß es ihm, vom Halsweh abgesehen, unendlich wohl ergehe. Das Fenster stand offen, ein Brunnen klang lieblich herein, die silberne Nacht webte flüsternd in den Waldbäumen, über welchen der Mond schwebte: alles dies schien ihm unbegreiflich und wunderbar, da er noch nie den Wald, weder bei Tag noch bei Nacht, gesehen hatte. Er schaute, er horchte, endlich richtete er sich auf und sah neben sich Küngoltchen liegen, welcher der Mond gerade ins Gesicht schien. Sie lag still, aber ganz wach, weil sie vor Freude und Aufregung nicht schlafen konnte. Deshalb glänzten ihre Augen weit geöffnet und ihr Mund lächelte, als ihr der nahe Dietegen ins Gesicht schaute und sich nun besann. »Warum schläfst du nicht? Du mußt schlafen!« sagte das Mädchen; allein er klagte nun, daß ihm der Hals weh täte. Sogleich schlang Küngolt ihre zarten Ärmchen um seinen Hals und schmiegte mitleidig ihre Wangen an die seinigen, und wirklich glaubte er bald nichts mehr von dem Schmerze zu verspüren, so heilsam schien ihm dieser Verband. Nun plauderten sie halblaut; Dietegen mußte von sich erzählen; allein er war einsilbig, weil er nicht viel zu sagen wußte, was ihn freute, und vom erlebten Elend konnte er keine Darstellung machen, weil er noch keinen Gegensatz davon kannte, den heutigen Abend ausgenommen. Doch fiel ihm plötzlich sein Vergnügen mit der Armbrust ein, das er seither ganz vergessen, und er erzählte von dem alten Juden, wie der ihn in die Tinte gebracht, wie er aber herrlich geschossen habe länger als eine Stunde, und wie er sich nur wieder eine solche Armbrust wünsche. »Armbrüste und Schießzeug hat mein Vater genug, da kannst du gleich morgen anfangen zu schießen, so viel du willst!« sagte Küngoltchen, und nun fing sie an herzuzählen, was alles für gute Dinge und schöne Sachen im Hause seien, was sie selbst für Hauptsachen in einer kleinen Truhe besitze, zwei goldene Regenbogenschüsselchen, ein Halsband von Bernstein, ein Legendenbüchlein mit bunten Heiligen und auch einen schönen Schnecken, in welchem eine kleine Muttergottes sitze in Gold und roter Seide, mit einem Glasscheibchen bedeckt. Auch gehöre ihr ein vergoldeter silberner Löffel mit einem gewundenen Stiel, mit dem dürfe sie aber erst essen, wenn sie einst groß sei und einen Mann habe; dann bekomme sie zur Hochzeit den Brautschmuck ihrer Mutter und deren blaues Brokatkleid, welches ganz allein aufrecht stehen könne, ohne daß jemand drin stecke. Hierauf schwieg sie ein Weilchen; dann ihren Schlafgesellen fester an sich schließend, sagte sie leiser: »Du, Dietegen!« »Was?« fragte er, und sie erwiderte: »Du mußt mein Mann werden, wenn wir groß sind, du gehörst mein! Willst du freiwillig?« »Ja freilich,« sagte er. »So gib mir die Hand darauf!« meinte die Heiratslustige; er tat es, und nach diesem Eheversprechen schliefen sie endlich ein und erwachten nicht, bis die Sonne schon hoch am Himmel stand. Denn die gute Mutter hatte absichtlich, um dem Knaben seine Erholung zu gönnen, auch ihr Kind nicht geweckt.
Jetzt aber trat sie sorglich in die Kammer, ein vollständiges Knabengewand auf dem Arme tragend. Vor zwei Jahren war ihr von einer gefällten Eiche ein Sohn erschlagen worden, dessen Kleider, obgleich er ein Jahr älter gewesen als Dietegen, diesem recht sein mochten, da er vollkommen die Größe jenes verlorenen Kindes besaß. Es war das Feiertagskleid, welches sie mit Leid und Weh aufbewahrt; darum war sie mit der Sonne aufgestanden, um einige bunte Bänder davon abzutrennen, welche dasselbe zierten, und die Schlitze zuzunähen, die das seidene Unterfutter durchschimmern ließen. Ihre Tränen waren über dieser Arbeit wieder geflossen, als sie die rote Seide, welche wie ein verlorener Frühling hervorglänzte, allmählich hinter dem schwarzen Tuche des Wämschens und der kleinen Pumphose verschwinden sah. Aber ein süßer Trost beschlich sie, da ihr das Schicksal jetzt ein so schönes, dem Tod abgejagtes Menschenkind zusandte, welches sie mit der dunklen Hülle ihres eigenen Kindes bekleiden konnte, und sie ließ nicht nur aus Eile, sondern absichtlich die helle Seide darunter, wie das verborgene Feuer ihres eigenen Herzens; denn sie meinte es viel besser und lieblicher mit allen Wesen, als sie in ihrer Stille zu zeigen vermochte. Wenn der Junge sich gut anließ, so wollte sie die Schlitze wieder auftrennen; er sollte das Kleid ohnehin nur einige Tage für die Woche tragen, bis ein handfesteres Werkelkleid gezimmert war. Während sie aber dem Knaben Anleitung angab, das ungewohnte Staatskleid sich anzuziehen, war Küngoltchen längst aus dem Bette und hatte unversehens das abgelegte Galgenhemd erwischt und aus Mutwillen sich über den Kopf gezogen, so daß sie jetzt darin herumspazierte und es auf dem Boden nachschleppte. Dazu trug sie die Hände auf dem Rücken, wie wenn sie gebunden wären, und sang: »Ich bin ein armes Sünderlein und habe keinen Strumpf am Bein!« Darüber erschrak die Frau Forstmeisterin tödlich und erbleichte. »Um Christi willen,« sagte sie dennoch sanft und leise, »wer lehrt dich nur solche schlimmen Späße!« und sie nahm dem vergnügten Kind das böse Hemd. Dietegen aber ergriff es voll Zorn und zerriß es mit wenig Zügen in zwanzig Stücke.
Nun die Kinder angekleidet waren, ging es endlich zum Frühstück in die Stube. Es war in der Frühe Brot gebacken worden, daher gab es frische Kümmelkuchen zu der Milchsuppe, und statt des kleinen Extrabrötchens, das sonst für Küngolt sorglich gebildet und gebacken werden mußte, daß es in seiner Gestalt den großen Broten gleich sah, waren heute zwei gemacht worden, und das Mädchen ruhte nicht, bis Dietegen das vollkommenere gewählt hatte. Er aß ohne Schüchternheit alles, was man ihm gab, wie wenn er von fremden bösen Leuten in das Vaterhaus zurückgekommen wäre. Aber er war ganz still dabei und besah sich fortwährend die freundliche milde Frau, die helle Stube und die stattlichen Geräte; als er gegessen, setzte er diese Betrachtungen fort, denn die Wände waren mit Tannenholz getäfert und mit buntem Blumenwerk übermalt und in den Fenstern glänzten zwei gemalte Scheiben mit den Wappen des Mannes und der Frau. Als er auch das Büfett mit dem blanken Zinngeschirr aufmerksam beschaut, erinnerte er sich plötzlich des schmutzigen Silberkännchens, das ihn ins Unglück gebracht, und der unfreundlichen Bettelvogtswohnung, und in der Meinung, er müsse wieder dahin zurückkehren, sagte er ängstlich: »Muß ich jetzt wieder nach Haus gehen? Ich weiß den Weg nicht!«
»Den brauchst du auch nicht zu wissen,« sagte die Mutter gerührt und streichelte ihm das Kinn; »hast du noch nicht gemerkt, daß du bei uns bleiben mußt? Geh jetzt mit ihm herum, Küngoltchen, und zeig ihm das Haus und den Wald und alles, aber geht nicht zu weit!«
Da nahm ihn Küngoltchen bei der Hand und führte ihn in des Forstmeisters Kammer, wo er seine Waffen bewahrte. Sechs oder sieben schöne Armbrüste hingen dort, ferner Jagdspieße, Hirschfänger, Weidmesser und Dolche; auch des Forstmeisters langes Schwert stand in einer Ecke. Dietegen beschaute alles, ohne ein Wort zu sprechen, aber mit glänzenden Augen; Küngolt stieg auf einen Stuhl, um ihm die Armbrüste herunter zu reichen, von denen einige mit eingelegter Arbeit künstlich verziert waren. Er bewunderte alles mit ehrerbietigen Blicken, wie etwa ein talentvoller Junge sich in der Werkstatt eines großen Malers umsieht, während dieser nicht zu Hause ist. Küngolts Versprechen, eine Schießbelustigung anzustellen, konnte freilich nicht ausgeführt werden, weil die Bolzen in einem Kasten verschlossen waren; dafür gab sie ihm einen schönen kurzen Spieß in die Hand, damit er eine Waffe trage, und führte ihn nun in den Forst hinaus. Zunächst kamen sie durch einen eingehegten Wildgarten, in welchem die Stadt zahmes Rotwild pflegen ließ, damit es ja nie an einem guten Braten fehle zu ihren öffentlichen Schmausereien. Das Mädchen lockte einen Hirsch herbei und einige Rehe; solche Tiere hatte Dietegen bisher nur tot gesehen; er stand deshalb ganz verzückt mit seinem Spieß auf der Schulter und konnte sich nicht satt schauen an dem Stehen und Gehen des schönen Wildes. Begierig streckte er die Hand aus nach dem stolzen Hirsch, um ihn zu streicheln, und als derselbe mit einem Satze seitwärts sprang und lässig davontrabte, lief er ihm aufjubelnd und jauchzend nach und sprang mit ihm in die Wette im weiten Kreise herum. Es war vielleicht das erste Mal in seinem Leben, daß er auf diese Weise seine Glieder brauchte und seiner Lebenslust inne ward, und der Hirsch, voll Anmut und Kraft, schien den behenden Knaben zu seinem Vergnügen zu verlocken und, indem er vor ihm floh, seine schönsten Sprünge zu üben.
Doch Dietegen wurde wieder still und beschaulich, als sie den Hochwald betraten, in welchem die Tannen und die Eichen, die Fichten und die Buchen, der Ahorn und die Linde dicht ineinander zum Himmel wuchsen. Das Eichhörnchen blitzte rötlich von Stamm zu Stamm, die Spechte hämmerten, hoch in der Luft schrieen die Raubvögel und tausend Geheimnisse rauschten unsichtbar in den Laubkronen und im dichten Gestäude. Küngolt lachte wie närrisch, weil der arme Dietegen nichts von allem verstand und kannte, obgleich er in einem Berg- und Waldstädtchen aufgewachsen, und sie wußte ihm alles geläufig zu weisen und zu benennen. Sie zeigte ihm den Häher, der hoch in den Zweigen saß, und den bunten Specht, der eben um einen Stamm herumkletterte, und über alles wunderte er sich höchlich, und daß die Bäume und Sträucher so viele Namen hatten. Nicht einmal die Haselnuß und die Brombeersträucher hatte er gekannt. Sie kamen an einen rauschenden Bach, in welchen, von ihren Füßen aufgescheucht, eben eine Schlange schlüpfte und davonschwamm oder sich in den Steinen verkroch. Schnell riß sie ihm den Spieß aus der Hand und wollte damit in dem Wasser herumstechen, um die Schlange aufzustöbern. Aber als Dietegen sah, daß sie die blankgeschliffene schöne Waffe mißhandeln wollte, nahm er ihr dieselbe stracks wieder aus den Händen und machte sie aufmerksam, wie sie die glänzende scharfe Spitze an den Steinen verderben würde. »Das ist wohlgetan von dir, du wirst gut zu brauchen sein!« sagte plötzlich der Forstmeister, der mit einem Knechte hinter den Kindern stand. Sie hatten ihn wegen des Bachgeräusches nicht kommen hören. Der Knecht trug einen geschossenen Auerhahn an der Hand, denn sie waren in der Morgenfrühe schon ausgezogen. Dietegen durfte den prächtigen Vogel an seinen Spieß hängen und über der Schulter vorantragen, daß die entfächerten Flügel seine schlanken Hüften verhüllten, und der Forstmeister betrachtete voll Wohlgefallen den schönen Knaben und verhieß, einen rechten Gesellen aus ihm zu machen.
Vorderhand jedoch sollte er nur notdürftig etwas lesen und schreiben lernen und mußte zu diesem Ende hin jeden Tag mit Küngoltchen zur Stadt gehen, wo in einem Nonnen- und in einem Mönchskloster für die Bürgerkinder einiger Unterricht erteilt wurde. Aber die Hauptunterweisung erhielt Dietegen auf dem Hin- und Herwege, auf welchem das Mädchen ihm die Welt auftat und ihm Auskunft gab über alles, was am Wege stand oder darüber lief. Hierbei befolgte die kleine Lehrjungfer eine Erziehungsart von eigentümlicher Erfindung. Sie neckte, hänselte und belog den unwissenden und leichtgläubigen Knaben erst über alle Dinge, indem sie ihm die dicksten Bären und Erfindungen aufband, und wenn er dann ihre Lügen und Märchen gutmütig glaubte und sich darüber verwunderte, so beschämte sie ihn mit der Erklärung, daß alles nicht wahr sei; nachdem sie ihm dann seinen blinden Glauben spottend verwiesen, verkündigte sie ihm mit großer Weisheit den wahren Bestand der Welt, so weit er ihrem Kinderköpfchen bekannt war, und er befliß sich errötend eines größeren Scharfsinnes, bis sie ihm eine neue Falle stellte. Nach und nach aber wurde er dadurch gewitzigt, den Weltlauf besser zu verstehen, was ein anderer Junge zu seinem Schrecken erfahren mußte; denn als dieser es dem Mädchen nachtun wollte und den Dietegen mit einem frechen Aufschnitt bewirtete, schlug der ihn unverweilt ins Gesicht. Küngolt, hierüber verblüfft, war neugierig, ob sich ein solcher Zorn auch gegen sie wenden könnte, und probierte den Schüler auf der Stelle, aber sachte, mit neuen Lügen. Von ihr jedoch nahm er alles an, und sie setzte ihren wunderlichen Unterricht kecklich fort, bis sie entdeckte, daß er gutmütig mit ihren Lügen zu spielen anfing und einen zierlichen Gegenunterricht begann, indem er ihre mutwilligen Erfindungen mit nicht unwitzigen Querzügen durchkreuzte, so daß sie manchmal auf ein glattes Eis gesetzt wurde. Da fand sie, daß es Zeit sei, ihn aus dieser Schule zu entlassen und einen Schritt weiter zu führen. Sie begann ihn jetzt zu tyrannisieren, daß er fast in ärgere Dienstbarkeit verfiel, als er einst bei dem Bettelvogt erduldet hatte. Alles gab sie ihm zu tragen, zu heben, zu holen und zu verrichten; jeden Augenblick mußte er um sie sein, ihr das Wasser schöpfen, die Bäume schütteln, die Nüsse aufklopfen, das Körbchen halten und die Schuhe binden; und selbst ihr das Haar zu strählen und zu flechten, wollte sie ihn abrichten; aber das schlug er ab. Da schmollte und zankte sie mit ihm, und als ihn die Mutter unterstützte und sie zur Ruhe verwies, wurde sie sogar gegen diese ungebärdig.
Doch Dietegen erwiderte ihre Unart nicht, gab ihr kein böses Wort und war immer gleich geduldig und anhänglich. Das sah die Forstmeisterin mit großem Wohlgefallen, und um ihn dafür zu belohnen, erzog sie den Knaben wie ihr eigenes Kind, indem sie ihm alle jene zarteren und feineren Zurechtweisungen und unmerklichen Leitungen gab, welche man sonst nur dem eigenen Blute zukommen läßt und durch welche man ihm die schöne Farbe herkömmlicher guter Sitte verleiht. Freilich hatte sie davon den Gewinn, daß sie in dem Pflegling einen kleinen Sittenspiegel für das mutwillige Mädchen schuf, und es war drollig anzusehen, wie die unruhige Küngolt bald beschämt ihrem besseren Vorbild nachzuleben trachtete, bald eifersüchtig und zornig auf dasselbe wurde. Einmal war sie so gereizt, daß sie mit einer Schere leidenschaftlich nach ihm stach; Dietegen fing rasch und still ihr Handgelenk, und ohne ihr weh zu tun, ohne einen bösen Blick wand er die Schere sanft aber sicher aus ihrer Hand. Dieser Auftritt, welchem die Mutter im verborgenen zugesehen, bewegte sie so heftig, daß sie hervortrat, den Knaben in die Arme schloß und liebevoll küßte. Still und bleich vor Aufregung ging das Mädchen hinaus. »Geh, versöhne dich mit ihr und mach den Trotzkopf wieder gut!« sagte die Mutter; »du bist ihr guter Engel!«
Dietegen suchte sie und fand sie hinter dem Hause unter einem Holunderbaum; sie weinte wild und krampfhaft, zerriß ihre Halsschnur, indem sie dieselbe zusammenzog, als ob sie sich erdrosseln wollte, und zerstampfte die zerstreuten Glasperlen auf dem Boden. Als Dietegen sich ihr näherte und ihre Hände ergreifen wollte, rief sie schluchzend: »Niemand darf dich küssen, als ich! denn du gehörst mir allein, du bist mein Eigentum, ich allein habe dich aus dem Sarge befreit, in dem du auf ewig geblieben wärest!«
Da der Knabe gar stattlich heranwuchs, erklärte der Forstmeister eines Tages, daß es nun Zeit für ihn sei, mit in den Wald zu gehen und die Jägerkunst zu lernen. So wurde er von Küngolts Seite genommen und war die meisten Tage vom Morgengrauen bis zur sinkenden Nacht mit den Männern in den Wäldern, auf Moor und Heide. Erst jetzt reckten sich seine Glieder aus, daß es eine Freude war; rasch und gelenksam wie ein Hirsch gehorchte er auf den Wink und lief zur Stelle, wohin man ihn schickte. Schweigsam und gelehrig war er überall zur Hand, trug die Geräte, half die Netze stellen, sprang über Halden und Gräben und erspähte den Stand des Wildes. Bald kannte er die Fährten aller Tiere, wußte den Lockruf der Vögel nachzuahmen, und ehe man sich’s versah, ließ er ein junges Schwarzwild auf den Sauspieß rennen. Nun gab ihm der Forstmeister auch eine Armbrust. Mit derselben übte er sich zu jeder Stunde nach der Scheibe sowohl wie nach lebendigen Zielen, kurz, als Dietegen sechzehn Jahre zählte, war er bereits ein junger Weidmann, den man überall hinstellen durfte, und der Forstmeister sandte ihn schon etwa allein hinaus, die Knechte anzuführen und die Stadtforste zu überwachen.
Dietegen war daher nicht nur mit der Armbrust auf dem Rücken, sondern auch mit dem Schreibzeug im Gürtel auf den Bergen zu sehen, und er gereichte mit seinen wachsamen Augen, mit seinem frischen Gedächtnis seinem Pflegvater zu guter Aushilfe. Da er sich nun so gut anließ, gewann ihn der Forstmeister täglich lieber und sagte, er müsse ihm gänzlich ein ehr- und wehrbarer Stadtmann werden.
Es war begreiflich, daß Dietegen dem Forstmeister mit Leib und Seele anhing; denn nichts gleicht der Neigung eines Jünglings zu dem Manne, von welchem er weiß, daß er ihm sein Bestes zuwenden und lehren will und den er für sein untrügliches Vorbild hält.
Der Forstmeister war ein Mann von etwa vierzig Jahren, groß und fest, von breiten Schultern und schönen Ansehens. Sein goldblondes Haar war bereits von einem Silberschimmer überflogen, dagegen die Gesichtsfarbe frisch gerötet und die blauen Augen groß, offen und voll Feuer. In seiner Jugend war er denn auch der lustigste und wildeste der Seldwyler gewesen, der stets die wunderlichsten Streiche angegeben; als er aber seine junge Frau heimgeführt, änderte er sich augenblicklich und blieb seit der Zeit der gesetzteste und ruhigste Mann von der Welt. Denn die Frau war von äußerst zarter Beschaffenheit, von einer wehrlosen Herzensgüte, und obgleich nicht unwitzig, hätte sie doch mit keinem scharfen Worte einer Unbilde zu widerstehen vermocht. Eine rüstig Streitbare würde den lebhaften Mann wahrscheinlich zu weiterem Tun gereizt haben; gegen die anmutige Schwäche der zarten Frau aber benahm er sich wie die wahre Stärke; er hütete sie wie seinen Augapfel, tat was ihr Freude gewährte und blieb nach vollbrachtem Tagwerk ruhig an seinem Herde.
Nur bei den wichtigsten Festlichkeiten der Stadt, des Jahres etwa drei- oder viermal, ging er unter die Rät’ und Bürger, führte dort mit frischer Kraft den Reigen, und nachdem er die Alltagszecher einen um den andern unter den Tisch getrunken, ging er als der letzte aufrecht von der Ratsstube und stieg fröhlich in den Wald hinauf.
Aber die Hauptlustbarkeit ergab sich jedesmal am andern Tag, wenn ihm dann doch der Kopf gelinde summte und der Mann mit einer halb verdrießlichen, halb heitern Löwenlaune erwachte, welche sich in der Tat zu dem kleinen Katzenjammer der heutigen verhielt, wie der Löwe zur Katze. Zeitig in der hellen Morgensonne erschien er beim Frühstück, und das Unwohlsein bezwingend, eröffnete er dasselbe mit einem mürrischen Scherzworte, einem drolligen Einfall. Seine Frau, welche stets hungrig nach den Witzen ihres sonst schweigsamen Mannes war, lachte sogleich mit so hellem Geklingel, wie man hinter dem sanften Wesen nie gesucht hätte; es lachten die Kinder, die Jäger und das Gesinde. Auf diese Art ging es fort; unter allgemeinem Gelächter wurden die Geschäfte getan, der Forstmeister immer voran, die Axt schwingend oder Lasten hebend. An einem solchen Tage war einst Feuer in der Stadt ausgebrochen; über brennenden Dächern ragte ein unzugängliches hölzernes Fachwerk, in welchem eine vergessene alte Frau jammerte und auf deren Schulter ein zahmer Star sich kläglich und drollig gebärdete. Niemand wußte ihr beizukommen, als der Forstmeister zur Stelle kam. Der erklomm einen Absatz an einer gegenüberstehenden hohen Mauer, zog mit gewaltiger Kraft eine Leiter nach sich, schwenkte sie in der Luft und legte sie nach dem Fenster der Verlassenen hinüber. Auf dieser Schwindelbrücke ging er hin und schritt wieder herüber, das Weib auf den Armen, den Vogel auf dem Kopfe und das leckende Feuer unter sich. Alles dies tat er wie zum Scherze, mit launigen Ausdrücken und Bewegungen.
War dann ein tüchtiges Stück Arbeit getan, so bewirtete er sein Haus auf das beste und hielt eine lustige Nachfeier mit den Seinen. Dabei war er ungewöhnlich zärtlich gegen seine Frau, nahm sie wohl auf die Kniee, zum großen Vergnügen der Kinder, und nannte sie sein Weißkehlchen und seine Schwalbe, und sie, die Arme übereinandergelegt in selbstvergessener Behaglichkeit, verwandte lachend kein Auge von ihm.
An einem solchen Tage war es auch, daß er einen Tanz veranstaltet, da es gerade der erste Mai war. Er ließ einen Spielmann holen und einige junge Leutchen aus der Stadt dazu laden. So wurde denn auf dem glatten Rasen unter den blühenden Bäumen zunächst des Hauses zierlich getanzt, und der Forstmeister eröffnete den Reigen mit seiner Frau, die sich bescheiden geschmückt hatte, aber ihre feine Gestalt lächelnd herumdrehte. Da sah auch Dietegen, welcher sich die letzten Jahre eifrig zu den Männern gehalten, daß Küngolt ein schönes Weib zu werden begann. Ihr Gesicht, von zarten und lieblichen Zügen, erinnerte an die Mutter; der Wuchs aber artete dem Vater nach; denn sie schoß wie eine junge Tanne in die Höhe, die Brustknochen waren so kühn gewölbt, daß sie trotz ihrer vierzehn Jahre fast vollbusig schien; goldgelbes Ringelhaar fiel üppig über den Rücken und verhüllte die noch eckigen aber schön und festgeformten Schulterblätter. Sie ging grün gekleidet, trug um den bloßen Hals ihr Bernsteinband und auf dem Haupte, gleich den andern Mädchen, nach damaliger Sitte ein Rosenkränzchen. Ihre Augen leuchteten offen und freundlich umher; aber unversehens blitzten sie einmal mutwillig auf und streiften wie Pfeile über die Jünglinge hin, bis sie einen Augenblick auf Dietegen ruhten und dann wieder weiter fuhren. Dietegen sah unverwandt hin, sie flüchtig noch einmal zurück, worauf er den Blick errötend niederschlug und Küngolt sich an ihrem Haar zu schaffen machte. Das war das erste Mal, daß sie sich nicht mehr unbefangen ansahen; aber bald darauf waren sie wieder in der Nähe und fanden sich Hand in Hand in einem Ringreihen. Ein neues süßes Gefühl durchströmte ihn und verließ ihn auch nicht mehr, als der Ring sich wieder löste. Küngolt aber ging von ihm wie von einer Sache, die einem zu eigen gehört und deren man sicher ist; nur zuweilen warf sie einen Blick über ihn, und wenn er etwa in die Nähe anderer Mädchen geriet, war sie unversehens da und stand dazwischen.
Dergestalt herrschte ein glückseliges Leben bis in die Nacht; die Jungen wurden so munter und flügge wie die jungen Holztauben und taten es bald dem lustigen Forstmeister zuvor, und dieser spiegelte sich wohlgemut in dem fröhlichen Nachwuchs, gab aber vor allen seiner Frau die Ehre, deren Wohlgefallen ihn höchlich zu erquicken schien, besonders da sie nun anfing, ihm auch allerlei lustige Spitznamen anzuhängen. So ehrbar nun all die Lustbarkeit war, so hätte sie doch der Bürger einer andern Stadt vielleicht um ein kleines Maß zu warm befunden; der Würzwein, welchen die Leutchen tranken, war untadelhaft gemischt, aber in ihnen selbst war ein klein bißchen zu viel Zucker und in ihrer Freude um ein weniges zu viel Süßigkeit. Die Hände der jungen Mädchen lagen fortwährend auf den Schultern der Jünglinge und das Völkchen nahm sich auf den Schoß und küßte sich gelegentlich, ohne ein Pfänderspiel vorzuschützen, wie die heutigen Philister. Kurz, es fehlte ihnen das Glas und der Kristall einer gewissen Sprödigkeit, mit welcher Dietegen dafür zu reichlich gesegnet war als ein Abkömmling von Ruechenstein. Denn obgleich er bereits verliebt war, floh er das Liebkosen, welches ziemlich allgemein begonnen hatte, wie das Feuer und hielt sich vorsichtig außerhalb der gefährlichen Linie. Desto kecker und zutulicher wurde Küngolt, welche in kindlicher Unwissenheit, nach Art unerwachsener Mädchen, sich nicht beherrschte, sondern den spröden Knaben aufsuchte, der im Schatten dunkler Bäume saß, und sich neben ihn setzte, seine Hand ergreifend und halb kindlich mit seinen Fingern spielend. Als er dies geschehen ließ und ihr mit der Hand gönnerhaft und sanft, fast wie wenn er ihr Pate wäre, durch das Ringelhaar fuhr, legte sie sogleich den Arm um seinen Hals und liebkoste ihn mit der Unbefangenheit, aber auch mit all’ dem rückhaltlosen Ungestüm eines Kindes, während es doch schon die Jungfrau in ihr war, die sie bewegte. Dietegen, der kein Kind mehr war, wollte für beide Verstand brauchen und war ängstlich beflissen, sich aus ihren Armen loszumachen, als die fröhlich erregte Forstmeisterin herbeikam und mit Vergnügen die Kinder beisammen sah.
»Das ist recht, daß ihr auch zusammenhaltet,« sagte sie, indem sie beide zumal in die Arme schloß, »sei nur dem Dietegen recht gut, mein Kind! er verdient es, daß er eine Heimat nicht nur in unserem Hause, sondern auch in deinem Herzchen behält; und du, Dietegen! sei meinem Küngoltchen allezeit ein treuer Wächter und Beschützer und laß es nie aus deinen Augen, denen ich alles Gute zutraue!«
»Er gehört niemand als mir, und das schon lange!« sagte Küngolt fast trotzig und küßte ihn keck und leichthin auf die Wange, halb wie einen Bräutigam und halb wie ein Kind ein junges Kätzchen küßt. Jetzt ward dem armen Burschen zu heiß und unheimlich zwischen Tochter und Mutter; er machte sich ziemlich unsanft von ihnen los und trat einige Schritte weit hinweg, Küngolt verfolgte ihn mutwillig, und als er fliehend wieder in die Nähe der hübschen Mutter kam, fing ihn diese scherzend auf, hielt ihn fest und rief: »Hier hast du ihn, mein Töchterchen! Komm und halt’ ihn fest!«
Als er aufs neue so gefangen war, klopfte ihm das Herz vor großer Aufregung, und indem er sich so wohl geborgen sah, empfand er erst recht seine Einsamkeit in der Welt. Er kam sich vor wie eine vom Baume des Lebens geschüttelte verlorene Seele, welche, von weichen Händen aufgehoben und gepflegt, nun für immer des eigenen freien Daseins beraubt wäre. Deshalb, wie nun das Gefühl der persönlichen Freiheit mit der zärtlichen Zuneigung in ihm rang, stand er zitternd und schweigend, halb in Empörung gegen die eigenmächtige Zutulichkeit der Frauen, halb in Versuchung, das Mädchen ungestüm an sich zu ziehen und beim Kopf zu nehmen. Er liebte die Mutter mit der treuesten und dankbarsten Anhänglichkeit, aber ihre unbefangene Aufmunterung zum Kosen machte ihm wunderlich und schwül zu Mute; er betrachtete sich als dem Töchterchen ganz zu eigen gehörig; aber höchst ernsthaft war er um ihre gute Sitte besorgt, und als ihn Küngolt nun heftig auf den Mund küssen wollte, hielt er plötzlich die Hand dazwischen und sagte wohlwollend aber mit dem Tone eines alten Schulmeisters: »Du bist noch zu jung zu diesem! Das schickt sich nicht für dich!«
Das Mädchen wurde blaß vor Unmut und Beschämung; plötzlich ging sie hinweg und mischte sich wieder unter die Gesellschaft, wo sie mit zorniger Ausgelassenheit einigemal herumsprang und sich dann finster zur Seite setzte. Die Forstmeisterin streichelte dem jungen Sittenprediger lächelnd die Wange und sagte: »Ei du bist ja ein gar gestrenger Gespan! Aber umso treuer wirst du um mein Kind sorgen! Versprich mir, es nie zu verlassen! Sieh, wir sind alle ein lustiges Völklein und es mag sein, daß wir zu wenig an die Zukunft denken!«
Dietegen gab ihr mit nassen Augen die Hand und sie führte ihn ebenfalls zu den Leuten zurück. Doch Küngolt kehrte ihm schnöde den Rücken und schaute mit wirklichem Kummer und Zorn in die Mainacht hinaus.
Wunderbar! Nun war das Kind auf einmal groß genug, dem spröden Jünglinge Liebessorge zu machen; denn traurig und betreten stand er auch zur Seite und war noch mehr beschämt als das Mädchen. »Was ist das? Was gibt’s da zu grämen?« sagte der vergnügte Forstmeister, als er es bemerkte, und leidenschaftlich fing Küngolt an zu weinen und rief vor aller Welt: »Er ist mir geschenkt worden von den Richtern, da er nichts als ein Leichnam war, den ich zum Leben erweckt habe! Drum hat nicht er über mich zu richten, sondern ich allein über ihn, und er muß tun alles, was ich will, und wenn ich ihn gern küsse, so habe ich es allein zu verantworten und er hat nur still zu halten!«
Alles lachte über diese wunderliche Äußerung; die Forstmeisterin aber nahm den Dietegen bei der Hand, führte ihn zu dem Kinde hin und sagte: »Komm! versöhne dich mit ihr und laß dich diesmal noch küssen! Nachher sollst du auch deinen Willen haben und ihr Vorgesetzter sein in solchen Sachen!« Errötend wegen der vielen Zuschauer bot Dietegen dem Mädchen halbwegs den Mund hin; sie ergriff ihn herrisch bei den Locken, küßte ihn, und nachdem sie noch einen Blick voll Zorn auf ihn geworfen, ging sie so rasch und trotzig hinweg, daß der goldene Flug ihres Ringelhaares in der Nachtluft wehte und Dietegens Gesicht im Vorübergehen streifte. Jetzt glühte auch in ihm ein leidenschaftliches Wesen an; er verließ bald nach ihr den Kreis und suchte die wilde Küngolt schnell und schneller, bis er sie auf der andern Seite des Hauses fand, wie sie träumerisch am Brunnen saß und mit der Bernsteinkette an ihrem Halse spielte. Dort ergriff er ihre beiden Hände, preßte sie in seine rechte Hand, faßte mit der linken ihre Schulter, daß das glänzende, noch unvollkommene Gebilde unter seiner festen Hand zusammenzuckte, und sagte hastig: »Höre, du Kind! Ich lasse nicht mit mir spielen! Von heut an bist du so gut mein Eigentum, wie ich das deinige, und kein anderer Mann soll dich lebendig bekommen! Daran denke, wenn du einst groß genug bist!«
»O du großer und alter Mann!« sagte Küngolt leise lächelnd, indem sie etwas erblaßte, »du bist mein und nicht ich dein! Aber das hat dich nicht zu kümmern; denn ich werde dich wohl niemals fahren lassen!«
Damit stand sie auf und ging, ohne den Gespielen weiter anzusehen, um das Haus herum.
Die gute Forstmeisterin aber erkältete sich in der kühlen Mainacht und trug eine tödliche Krankheit davon, welcher sie in wenigen Monaten erlag. Auf dem Totbette war sie sehr bekümmert um ihren Mann und um das Kind; auch suchte sie hartnäckig die Ursache der Krankheit zu leugnen; denn sie fühlte wohl, daß das nicht die rechte Todesart für eine Hausmutter sei, die von Unvorsichtigkeit in der Freude herrührt.
Weil sie nun tot im Hause lag, waren alle sehr traurig und die ganze Stadt bedauerte sie, da sie keinen einzigen Feind hatte. Der Forstmeister selbst weinte des Nachts in seinem Bette; des Tages sprach er kein Wort und ging nur ab und zu vor den Sarg und besah sich die stille Leiche, worauf er kopfschüttelnd wieder wegging.
Er ließ einen schweren Kranz von jungem Tannengrün binden und legte ihn auf den Sarg; Küngolt häufte noch ein Gebirge von Waldblumen darauf, und dergestalt wurde die Leiche von der Höhe hinunter zur Kirche getragen, gefolgt von den Verwandten und Freunden und den Jägerknechten.
Als sie in der kühlen Erde lag, führte der Forstmeister das Leichenbegleit in die Herberge, wo er ein reichliches Totenmahl hatte anrichten lassen. Das Wildbret dazu, einen Rehbock und zwei prächtige Auerhähne, hatte er eigenhändig geschossen, voll Schmerz über seinen Verlust, und als die schön gefiederten Vögel nun auf dem Tische prangten, gedachte er abermals des hohen Bergwaldes, in welchem sie gesessen und welchen er in den jungen Jahren seiner Liebe so oft durchstreift hatte, das Bild der Toten im Sinne tragend. Doch durfte der Forstmeister nicht lange solchen Gedanken nachhängen; denn als der Claret und der Malvasier nun kredenzt und die Tafel mit einem großen Korbe voll vermischten Zuckerwerkes überschüttet wurde, belebten sich die Gäste und der Traueranlaß war bald von einem Taufmahle nicht mehr zu unterscheiden.
Der Forstmeister saß zwischen Küngolt und Dietegen, die sich wegen seiner großen Gestalt nicht sehen konnten, ohne sich vornüberzubeugen oder hinter ihm durch, und dies mochten sie nicht tun, da sie allein in der erwachenden Fröhlichkeit traurig und ernst blieben. Ihm gegenüber saß eine Person von vielleicht bald dreißig Jahren, eine Base des Forstmeisters Namens Violande. Diese Dame fiel auf wegen ihrer ausgesuchten, sonderbaren Kleidung, welches nicht die Kleidung einer Zufriedenen und Glücklichen, sondern eher einer Unruhigen und Hohlherzigen zu sein schien. Sie war schön und wußte anmutig zu blicken, wenn nicht gerade etwas unselig Verlogenes und Selbstsüchtiges über ihr Wesen zuckte.
Als vierzehnjähriges Mädchen schon war sie in den nachmaligen Forstmeister verliebt gewesen, weil er just der größte und schönste junge Mann war unter denen, die ihr zu Gesicht kamen. Er merkte aber nichts von dieser frühen Leidenschaft, da er überhaupt auf das kleine Bäschen nicht achtete und seinen Sinn mehr auf erwachsene Personen richtete, die ihm gefielen. Voll Neid und Eifersucht und ebenso schon voll Ränke wußte das junge Wesen nun zwei oder drei Liebesverhältnisse des Forstmeisters zu zerstören, indem es durch fast unbemerkbare Zwischenträgereien die Dinge entstellte und verwirrte. Wenn er eine Schöne zu gewinnen im Begriffe war, so erfand und verbreitete das verschlagene Kind unter der Hand ganz unbefangen Züge und Tatsachen, woraus hervorzugehen schien, daß er eigentlich die in Rede stehende Person gar nicht leiden könne, vielmehr eine andere im Auge habe und überhaupt ein hinterlistiger und verstellter Mensch sei. So wußte er wiederholt nicht, wie es kam, daß die, welche er liebte, sich plötzlich und mißtrauisch von ihm abwandte, während eine andere, an die er nie gedacht, ihn unversehens mit ihrer Gunst beehrte und, einmal im Zuge, nicht mehr nachließ, bis er mit ihr im Gerücht war. Dann pflanzte er in Ungeduld und Verwirrung die eine wie die andere hin und ergab sich auf kurze Zeit der Freiheit. Auf diese Weise verdarb ihm, obgleich er ein schöner und tüchtiger Gesell war, alles, bis er an die nun verstorbene Forstmeisterin geriet. Diese hielt ihn fest, da sie so ehrlich war wie er selbst und alle Künste der kleinen Hexe waren vergeblich, ja sie bemerkte dieselben nicht einmal, weil sie nur auf die Augen des Geliebten sah. Hiefür war er ihr auch dankbar und treu geblieben und hielt sie für eine teure Errungenschaft, so lang sie lebte.
Violande dagegen, als sie den Mann endlich versorgt sah, übte die erworbenen Geschicklichkeiten, um sie nicht brach liegen zu lassen, nun auch anderwärts aus, und je älter sie wurde, mit desto mehr Einsicht und Erfolg, aber ohne Glück für sie selber; denn sie blieb unverheiratet und die Männer, welche sie ihren Freundinnen abspenstig machte, wendeten sich deswegen nicht zu ihr, da sie eher Haß und Verachtung für sie empfanden. Da wandte sie sich dem Himmel zu und sagte, sie wolle eine Nonne werden; doch überlegte sie sich das Ding noch in der letzten Stunde und trat statt in ein Kloster in ein solches Ordenshaus, aus welchem sie allenfalls wieder herausgehen, und sogar noch heiraten konnte. Sie verschwand nun aus den Augen der Leute, da sie von einem Haus ins andere in verschiedenen Städten herumzog und nirgends Ruhe fand. Plötzlich, als die Forstmeisterin auf dem Krankenbette lag, erschien sie wieder in weltlicher Tracht zu Seldwyla, und so fügte es sich, daß sie am Totenmahle dem trauernden Witwer gegenübersaß.
Sie bezwang ihre Unruhe und sah manche Augenblicke bescheiden und kindlich aus, und als die Frauen sich erhoben und unter sich umhergingen, während die zechenden Männer am Tisch blieben, ging sie auf Küngolt zu, küßte sie und schloß Freundschaft mit ihr. Das Mädchen fühlte sich geehrt durch diese Annäherung einer halbgeistlichen Frau, die weit herumgekommen war und voll Weltkenntnis schien; sie führten sogleich ein langes und vertrautes Gespräch, als ob sie seit Jahren bekannt wären, und beim allgemeinen Aufbruch bat Küngolt ihren Vater, er möchte Violanden in sein Haus berufen, dasselbe zu besorgen, denn sie selbst fühle sich noch zu jung und unerfahren dazu. Der Forstmeister, dessen Stimmung jetzt aus einer wunderbaren Mischung von Trauer und Weinlaune bestand und dessen Gedanken weit abwesend bei der Toten waren, gab ohne weiteres Nachdenken seine Zustimmung, obgleich er sich nicht viel aus der Base machte und sie für eine schnurrige Person hielt.
Sie zog also in den nächsten Tagen ins Forsthaus und stellte sich mit gutem Anstand und nicht ohne Rührung an dessen Herd, an welchem ihr endlich, nach langem Irrsal, die Wünsche ihrer frühsten Jugend in ruhige Erfüllung zu gehen schienen. Sie öffnete bescheiden die Schränke ihrer Vorgängerin und sah das Linnen und die Vorräte wohlgeordnet und im tiefen Frieden liegen; zierlich gereiht sah sie die Töpfe und die Kessel, die Krüge und die Büchsen und lauschig hingen die Flachsbüschel unter dem Dache. In diesem Frieden ließ sie alles ein paar Wochen bestehen; dann aber begann sie allmählich die kleinen Töpfe zwischen die großen zu stellen, die Leinwand durcheinander zu werfen, den Flachs zu zerzausen, und bis sie damit zu Ende war, hatte sie auch die menschlichen Dinge im Hause in beginnende Unordnung gebracht.
Da sie beabsichtigte, endlich doch noch des Forstmeisters Frau zu werden, um sich wenigstens zu versorgen, so galt es vor allem, sein Kind und den jungen Dietegen, deren Lage sie bald inne geworden, auseinander zu bringen und für immer zu trennen. Denn sie dachte richtig, daß Dietegen, wenn er das Mädchen zur Frau bekäme, als des Forstmeisters Nachfolger im Hause bleiben und dieser, bei seiner Anhänglichkeit an seine tote Frau, dann nicht mehr heiraten würde, was dagegen leichter geschehen dürfte, wenn beide Kinder fort kämen und er sich in seinem Hause vereinsamt sähe.
Wie nun Küngolt mit jedem Tage zusehends sich entwickelte und schöner wurde, weckte sie in ihr das frühzeitige Bewußtsein dieser Schönheit und den Geist einer wenn auch noch kindischen Buhlsucht, indem sie, ohne daß es jemand merkte, das Mädchen mit wenigen Worten zu allen jungen Leuten in ein befangenes Verhältnis zu bringen wußte, so daß das Kind jeden drum ansehen lernte, ob er seine Schönheit auch fühle und anerkenne, und hinwieder jeder vermeinte, er sei dem jungen hübschen Mädchen besonders ins Auge gefallen.
Dann zog Violande noch andere junge Frauenzimmer herbei, daß da öfter gute Kompanie beisammen war und unter ihrer Führung immer gelinde courtoisiert wurde.
So kam es, daß Küngolt, noch ehe sie völlig sechzehn Jahre zählte, schon einen Kreis unruhiger Gemüter um sich versammelt sah.
Es gab allerlei kleine und größere Festlichkeiten, Geschichtchen, Streitigkeiten, Geräusch und Gesang, und wie es zu gehen pflegt, machten sich vorwitzige oder törichte Leutchen unangenehm und wurden dabei am ehesten gelitten.
Hierüber wurde Dietegen nicht glücklich. Im Anfang sah er mit einer gewissen scheuen Wehmut zu, welche heranwachsenden Jünglingen nicht sonderlich geschickt ansteht; als aber die Gesellschaft davon eher belustigt als gerührt schien und Küngolt selbst es kalt beachtete, wollte er sich gegen solche Unlust mit linkischem Schmollen und Trotz erwehren. Allein das brachte ihn noch weniger auf einen grünen Zweig und endigte damit, daß er eines Tages zu bemerken glaubte, wie Küngolt allein in einem Kreise von spöttisch aussehenden Jünglingen saß und mit Wohlgefallen die Mißreden mit anhörte, die sie offenbar über ihn führten.
Da wendete er sich ab und mied von nun an schweigend die Gesellschaft. Er war ohnehin in das Alter getreten, in welchem die kräftigeren Knaben sich wehrbar zu machen begannen. Auf dem Grundstücke der Försterei ruhte von alters her die Verpflichtung zum Bereithalten von drei oder vier Mannsrüstungen, und der Forstmeister hatte immer darauf gesehen, eigene Leute dazu stellen zu können. Mit Wohlgefallen fand er, daß Dietegen, schlank und wohlgebaut aufwachsend, bald in einen zierlichen Harnisch taugen würde, in dem er einst seinen eigenen Sohn zu erblicken gehofft hatte.
So ging denn Dietegen mit andern jungen Knechten an den langen Winterabenden in die Fechtschule, wo er die kürzeren Waffen führen lernte nach heimischer Kriegsart; und im Frühjahr, den Sommer hindurch, weilte er manchen Sonn- und Feiertag auf dem weiten Felde oder in Waldlichtungen, wenn die Jünglinge sich im behenden Marsch und im festgeschlossenen Vordrange übten, an ihren langen Spießen über breite Gräben setzten und die Körper in jeder Weise sich dienstbar machten, oder endlich der Kunst der Büchsenschützen oblagen.
Da durch alles dies das Leben im Hause sich änderte und besonders das weibliche Treiben ihn störte, ohne daß er recht beachtete, wie es eigentlich damit beschaffen war, so nahm seinerseits der Forstmeister öfter, als zu Lebzeiten seiner Frau geschehen, den Weg in die Trinkstuben seiner Stadtgenossen. Fern von der kindischen Torheit des Hauses lag er der reiferen Torheit der Männer ob und trug sein Haupt zuweilen beladen, aber immer aufrecht den Forst hinan, wenn die Mitternachtsglocke verhallte.
So gingen die Dinge ihre verschiedenen Wege und die Zeit vorüber, bis an einem sonnenhellen Johannistage allerlei Geschicke sich zu erfüllen begannen.
Der Forstmeister ging in die Stadt auf seine Zunft, welche ihr Hauptgebot mit großem Jahresschmaus abhielt, und er gedachte, bis in die Nacht zu zechen.
Dietegen ging zeitig ins Schützenhaus, da er einmal einen langen Sommertag hindurch nach Herzenslust schießen wollte. Die übrigen Knechte gingen auch ihres Weges, der eine über Land zu den Seinigen, der andere zum Tanz mit seinem Schatz, der dritte auf einen Markt, um sich Tuch für Gewand zu erstehen, oder ein paar neue Schuhe.
So saßen nun die Frauen allein im Forsthause, einerseits wenig erbaut über die schnöde Art, wie die Männer an diesem Freudentage alle davongegangen, ohne sich zu kümmern, wie jene ihre Zeit vertreiben sollten, anderseits aber äugelten sie in das webende Sonnenlicht hinaus und spähten, wie sie sich auch eine Lustbarkeit schaffen möchten.
Zunächst fingen sie an, Kuchen zu backen und allerhand Süßwerk zu bereiten; auch brauten sie einen großen, gewürzten Wein für alle Fälle und um den heimkehrenden Männern einen Nachttrunk bieten zu können, wie sie meinten. Dann kleideten sie sich feiertäglich und schmückten sich mit Blumen, während andere Jungfräulein, die sie zu einer Frauenlust hatten entbieten lassen, eins nach dem andern ebenso geschmückt herankamen, und auch das letzte Dienstmägdlein im Hause geputzt und fröhlich dreinsah.
Unter schönen Lindenbäumen, die vor dem Forsthause standen, war der Tisch gedeckt, als der Abend nahte und goldenes Licht über der Stadt und dem Tale ruhte.
Da saßen nun die Frauen um den Tisch gereiht, taten sich gütlich und sangen bald mit wohlklingenden Stimmen vielstrophige Lieder mit sehnsüchtigem Ton, von Liebesglück und Herzeleid, von den zwei Königskindern oder »Es spielt ein Ritter mit einer Maid« und dergleichen. Der Gesang tönte lockend ins Land hinaus; die Vögel in den Linden und im nahen Walde, die erst ein wenig zugehört, sangen wetteifernd mit. Aber bald ließ sich noch ein dritter Chor vernehmen, indem vom Berge her Geigen und Pfeifen erklangen, vermischt mit Männerstimmen. Ein Trupp Jünglinge war von Ruechenstein herübergekommen, trat jetzt aus dem Holze hervor und beschritt den Weg, der mitten durch die Försterei in das Tal führte, ein paar Spielleute an der Spitze. Es war der Sohn des Schultheißen von Ruechenstein, ein halbwegs fröhlicher Gesell, der aus der Art schlug; von der Schule nach Hause gekehrt, hatte der einige wilde Studenten mitgebracht, worunter ein paar geistliche Schüler und dabei auch ein junger Mönch, sowie Hans Schafürli, der Ratsschreiber von Ruechenstein, eine buckelige, gebogene Gestalt mit einem langen Degen, der letzte im Zuge, da sie wegen der Schmalheit des Weges einer hinter dem andern daherkamen.
Als sie jedoch der sangbaren Frauen ansichtig wurden, stellten sie die eigene Musik ein und schienen das Ende des Liedes abwarten zu wollen, welches jene sangen. Indessen verstummten die Frauen ebenfalls; sie waren überrascht und lächelten zugleich erwartungsvoll den Dingen entgegen, die jetzt geschehen würden. Violande zeigte sich nicht betroffen, sondern trat auf den Schultheißensohn zu, welcher sie höflich begrüßte und erklärte, wie er mit seinen Freunden einen kurzweiligen Besuch in der fröhlichen Nachbarstadt habe machen wollen, um den Johannistag nicht allzu trostlos zu verleben, wie nun aber hier noch ein schönerer Aufenthalt winke, sofern es gestattet sei, den Jungfrauen einen ehrbaren Tanz anzubieten.
In weniger als drei Minuten war die Angelegenheit geordnet, und sie tanzten alle auf dem großen Flur des Forsthauses, Küngolt mit dem Schultheißensohn, Violande mit dem Mönch und die übrigen mit den Schülern; aber am gewandtsten und leidenschaftlichsten tummelte sich der Ratsschreiber herum, der trotz seines Buckels mit seinen Beinen weiter ausgriff als alle andern, da sie gleich unter dem Kinn schon sich zu spalten schienen.
Küngolt war nicht froh und wußte nicht, was ihr fehlte. Als daher Violande ihr zuflüsterte, sie sollte es auf das Schultheißenkind absehen, damit sie Schultheißin von Ruechenstein würde, blieb sie kalt und teilnahmlos, bis sie plötzlich den Buckligen mit seinem gewaltigen Tanzen sah und hoch auflachte. Sie begehrte sofort mit ihm zu tanzen, und es sah aus wie ein Märchen, als ihre schöne Gestalt in grünem Kleide und das Haupt mit dunkelroten Rosen geschmückt am Arme des spukhaften Schreibers dahinflog, der seinen Höcker in Scharlach gehüllt trug.
Doch unversehens änderte sie ihre Laune und sie geriet an den Mönch, von diesem an einen der Studenten, und eh’ eine halbe Stunde vergangen, hatte sie mit allen anwesenden jungen Männern sich gedreht, so daß alle seltsam aufgeregt die Blicke an ihr haften ließen, indessen die übrigen Frauen allmählich auch wieder zu den Ihrigen zu kommen suchten. Damit das geschehe, rief Violande die Gesellschaft zum Tische unter den Linden, um sich dort auszuruhen und zu erquicken, indem je ein Jüngling neben eine Jungfer zu sitzen kam und Küngolt zu dem Schultheißensohn.
Küngolt aber war von einer Sehnsucht gequält, alle diese Jünglinge sich unterworfen zu sehen. Sie rief, sie wolle die Schenkin sein, und eilte ins Haus, noch mehr Wein zu holen. Dort schlich sie schnell in Violandes Kammer und suchte etwas in deren Kleidertruhe. Violande hatte ihr einst im geheimen ein kleines Fläschchen gezeigt und anvertraut, das sei ein Philtrum oder Liebestrank, »Gang mir nach« genannt; wer es von der Hand einer Weibsperson zu trinken bekomme, der sei derselbigen ohne Gnade verfallen und müsse ihr nachgehen. Es sei in dem Fläschlein zwar nicht das starke und gefährlichere Gift Hippomanes, aus dem Stirngewächs eines erstgebornen Füllens gebraut, sondern das Tränklein sei aus den Gebeinlein eines grünen Frosches gemacht, welcher in einen Ameisenhaufen gelegt und von diesen zernagt und zierlich präpariert worden sei. Aber es sei immerhin noch stark genug, um einem halben Dutzend unbotmäßiger Männer die Köpfe zu verdrehen. Sie habe das Fläschlein von einer Nonne geschenkt bekommen, deren Geliebter vor der Anwendung plötzlich an der Pest gestorben, so daß sie entsagend ins Kloster gegangen sei. Violande selbst getraue sich weder dasselbe zu gebrauchen, noch es wegzuwerfen, weil hieraus ein unbekanntes Unheil entstehen könnte.
Dieses Fläschchen fand Küngolt und goß seinen Inhalt schnell und verstohlen in eine frische Kanne Wein, mit welcher sie klopfenden Herzens hinauseilte. Sie hieß die Jünglinge alle ihre Gläser leeren, weil sie ihnen einen neuen süßen Trunk einschenken wolle, und sie wußte es so einzurichten, daß in dem Kruge nichts übrig blieb, nachdem sie alle Gläser der Männer gefüllt und jedem nachträglich etwas zugegossen hatte, während sie ihn wie ein Wetterleuchten süß und schalkhaft anblickte.
In diesen gleichmäßig und unparteiisch verteilten Blicken lag das Zaubergift, welches nebst dem starken Wein jetzt die Knaben betörte, daß alle voll Verblendung und Leidenschaft das glänzende Mädchen umwarben mit jener Selbstsucht, welche sich allaugenblicklich stets dahin wendet, wo sie ein von anderen gewünschtes oder allgemein erstrebtes Gut locken sieht. Alle ließen die übrigen Frauen stehen, welche blaß aus Ärger vor sich niedersahen oder ihre Verlegenheit unter lautem Geplauder zu verbergen suchten. Selbst der Mönch ließ plötzlich ein braunes Dienstmägdlein fahren, das er soeben kosend umfangen hatte, und Schafürli, der Ratsschreiber, drängte sich mit einem langen Schritte vor den Schultheißensohn, der die Küngolt sponsierend an der Hand hielt.
Diese aber ließ keinen auskommen; kalt wie Eis gegen jeden einzelnen in ihrem Herzen, wußte sie wie eine Schlange sich unter ihnen umzutun, und als sie sah, daß sie alle umstrickt hielt, selbst die anderen Frauen wieder freundlich zu machen und herbeizulocken.
Es war nun dunkel geworden. Die Sterne funkelten am Himmel und die Mondsichel stand über dem Walde, erbleichte jedoch bald hinter einem hellen Johannisfeuer, das von einer Anhöhe aufflammte, vom jungen Landvolke angezündet.
»Laßt uns zum Feuer gehen!« rief Küngolt, »der Weg ist kurz und lieblich durch den Wald! Aber wie es sich geziemt, die Frauen voran und die Knaben hinten drein!« So geschah es und sie zogen mit angezündeten Kienfackeln durch den Wald mit lautem Gesange.
Nur Violande blieb zurück, das Haus zu hüten und den Forstmeister zu erwarten; denn auch sie gedachte heute ihren Fang zu tun. Es dauerte auch nicht lange, bis er ankam, in starker Stimmung und mit umflorten Sinnen. Als er die Tische unter den Linden sah, setzte er sich hin und verlangte wohlgelaunt einen Schlaftrunk von Violanden, die ihm denselben davoneilend zu bereiten ging.
Aber auch sie schlüpfte vorher schnell in ihre Kammer hinauf, das lang gehütete Fläschlein mit dem »Gang mir nach« zu holen, und sie fand es nicht. Sie konnte es auch auf dem Wege nicht finden, den sie verlegen und sinnend zurückkam; denn dort wo es Küngolt hastig und achtlos hingeworfen, hatte es bereits das vom Mönche zur Seite gestellte Mägdlein aufgehoben, das sich grollend ins Haus zurückgezogen.
Doch Violande besann sich nicht lange. Sie machte den Trank umso süßer und stärker und gesellte sich, als er ihn trank, nahe zum Forstmeister. Es strömte ein zärtlich-trautes Wesen von ihr aus; auch trug sie ein blaßgelbes Kleid, das überall rot eingefaßt war und ihr untadelig weißes Fell, wie man damals sagte, am Halse wohl sehen ließ. Die Blumen hatte sie aus dem Haar getan, um nicht kindisch zu erscheinen, und sie wand ihre starken dunkeln Zöpfe frisch um den Kopf.
»Ei Base,« sagte der Forstmeister, als er sie über den Becher weg von ungefähr erblickt hatte, ganz nah bei ihm, »wie seht Ihr gut aus!«
Da lächelte sie wie selig und sah ihn mit süß funkelnden Augen unverhohlen an, indem sie sagte: »Gefall’ ich Euch endlich und so spät? Wenn Ihr wüßtet, wie gern ich Euch schon gesehen habe, als ich noch ein Kind war!«
Das ging dem guten Mann ein, stärker als ein Liebestrank von Froschbeinchen; wunderliche Vorstellungen, eine dunkle Erinnerung an ein schönes Mädchenkind zogen durch seine Sinne, während das Kind jetzt als lange schön bleibende Weibesgestalt in Lebensreife bei ihm war, wie aus weiter Ferne unversehens herangetreten. Sein großmütiges Herz stieg in das aufgeregte Hirn empor und schaffte dort in aller Eile an allerlei Bildwerk herum. Violande erschien ihm plötzlich als eine durch Leiden und viele Erfahrung höchst wertvoll gewordene Person, mit der man ein bedeutendes und geheimnisreiches Stück Leben in die Arme schlösse und welcher Heimat und Ruhe zu geben dem Schenker selbst ein goldenes Gut verleihen würde.
Er nahm ihre Hand, streichelte ihr die Wangen und sagte: »Wir sind nicht alt, Violande, liebe Base! Wollt Ihr noch meine Frau werden?« Und da sie ihm die Hand ließ und sich näher zu ihm neigte, von wirklicher Glückesgüte erglänzend, machte er den Brautring seiner ersten Frau, den er seit ihrem Tode an einer Verzierung seines Dolchgriffes trug, los und steckte das Kleinod an Violandes Finger. Sie drückte ihr Gesicht in sein breites blondgraues Löwenantlitz, sie umfingen und küßten sich zärtlich unter den rauschenden Nachtlinden, und der kluge Mann glaubte den Stein der Weisen gefunden zu haben.
In diesem Augenblicke kam Dietegen mit seinen Waffen nach Hause. Da er quer über den Rasen daherging, hörten ihn die Kosenden nicht und er schaute in höchster Betroffenheit, was er da vor sich sah. Beschämt und errötend zog er sich so still als möglich zurück und umging das Haus, um die hintere Tür zu gewinnen. Dort aber hörte er mit einemmal vom Walde her ein lautes Schreien und Rufen, wie wenn Menschen in Streit oder Gefahr wären. Ohne Zögern ging Dietegen dem Lärmen nach. Bald fand er die so fröhlich ausgezogene Gesellschaft in schrecklichem Zustande. Von Wein und allgemeiner Eifersucht toll geworden, waren die jungen Männer auf dem Rückwege vom Johannisfeuer, als sie mit den Weibern vermischt gingen, hintereinander geraten und hatten sich mit ihren Dolchen angegriffen, so daß mehr als einer blutete. Gerade aber, als Dietegen ankam, hatte der krumme Ratsschreiber wütend den jungen Schultheißen mit seinem Degen niedergestochen, der, gleichfalls das Schwert in der Hand, im grünen Kraute lag und eben den Geist aufgab, während die übrigen sich schön paarweise noch an den Gurgeln gepackt hielten und die Weiber entsetzt um Hilfe schrieen, mit Ausnahme Küngolts, die totenblaß aber neugierig und mit offenem Munde in das schreckhafte Schauspiel starrte.
»Küngolt, was ist das?« sagte Dietegen zu ihr, als er sie rasch erblickt; es war das erste Wort, das er seit langem an sie gerichtet. Sie zuckte zusammen, sah ihn aber wie erleichtert an. Doch sprang er jetzt ohne Aufenthalt unter die Streitenden und es gelang ihm mit einigen kräftigen Anstrengungen, die tollen Jünglinge auseinander zu bringen und ihnen den Toten zu zeigen, worauf sie stracks die Arme sinken ließen und ganz vernichtet bald auf die Leiche, bald auf den grimmigen Schafürli schauten, der wie wahnsinnig um sich stierte.
Inzwischen waren Bauern und auch die heimkehrenden Knechte herbeigekommen, welche die Ruechensteiner einstweilen gefangen nahmen und den Schafürli banden.
Das war nun ein schlimmer Morgen, der darauf folgte. Der Forstmeister war mit der bösen Violande verlobt, sein Kopf summte sehr unleidig, ein toter Ruechensteiner lag im Hause, die andern waren eingetürmt, und eh’ es Mittag war, erschien eine Abordnung aus Ruechenstein mit dem alten Schultheißen selbst, um nach dem Unglücke und dessen Entstehung zu fragen und alle Rechenschaft zu fordern.
Aber schon hatte im Turm der gefangene Ratsschreiber, der wußte, daß es ihm als Mörder des Schultheißensohnes an den Kragen ging, grimmige Klage gegen die Weiber von Seldwyla und hauptsächlich gegen Küngolt erhoben, die er der Zauberei und Behexung beschuldigte.
Jenes grollende Mägdlein hatte dem Mönch, dem es nun verzieh, das Fläschlein mit einigen Worten zuzustecken gewußt und dieser es dem Schafürli gegeben.
Zum Schrecken der Seldwyler drehte sich der Handel noch am gleichen Tage gegen das Kind des Forstmeisters und gegen dessen Haus; denn jedermann, in Seldwyla sowohl als in Ruechenstein, glaubte an die Wirkung der Zaubertränke, und die anwesenden Ruechensteiner traten so drohend auf, daß das Ansehen und die Beliebtheit des Forstmeisters die Gefangensetzung der Küngolt nicht abwenden konnten, zumal er sich in seinen Gedanken wie gelähmt fühlte.
Sie gestand die Tatsache alsobald ein, halb bewußtlos vor Schrecken, und der Schafürli mit seinen Gesellen wurde freigelassen. Die Ruechensteiner verlangten nun, die Zauberhexe, welche ihre Angehörigen geschädigt und den Tod eines ihrer Bürger verursacht habe, solle ihnen zur Bestrafung ausgeliefert werden. Dies wurde nicht gewährt und jene zogen grollend mit der Leiche des Schultheißensohnes von dannen. Als sie aber nachher vernahmen, daß die Seldwyler das Mädchen nur zu einer einjährigen milden Gefängnisstrafe verurteilt hätten, erwachte die alte Feindschaft wieder, welche eine Reihe von Jahren geschlafen, und es wurde für jeden Seldwyler gefährlich, ihren Bann zu betreten.
Die Stadt Seldwyla hielt nun für Vergehen, die sie nach ihrer Lebensanschauung zu den leichteren zählte und nach Umständen mit Nachsicht behandeln wollte, kein Gefängnis, sondern verdingte die Verurteilten, besonders wenn es sich um Frauen und jugendliche Personen handelte, an irgend eine Haushaltung zur Haft und Pflege. So sollte denn die arme Küngolt auf die Ratstube gebracht und dort zu einer öffentlichen Steigerung ausgestellt werden.
Der Forstmeister, dessen Fröhlichkeit dahin war, sagte seufzend zu Dietegen, es sei ein saurer Gang für ihn, aufs Rathaus zu gehen und bei dem Kind zu wachen; denn es müsse jemand von den Seinigen bei ihm sein während dieser bittern Stunde. Da erwiderte Dietegen: »Ich will es schon tun, wenn ich Euch gut genug dazu bin!« Der Forstmeister gab ihm die Hand. »Tu’s,« sagte er, »du sollst Dank dafür haben!«
Dietegen ging hin, wo die Abgeordneten des Rats saßen und einige Steigerungslustige, sowie ein Häuflein Neugieriger sich sammelten. Er hatte sein Schwert umgetan und sah mannhaft und düster blickend aus.
Als nun Küngolt hereingeführt wurde, blaß und bekümmert, und sie vor dem Tische stehen sollte, zog Dietegen rasch einen Stuhl herbei und ließ sie darauf sitzen, indem er sich hinter den Stuhl stellte und die Hand auf dessen Lehne stützte. Sie hatte ihn überrascht angeblickt und sah noch mit einem schmerzlichen Lächeln nach ihm zurück; allein er schaute scheinbar ruhig und streng über sie hinweg.
Der erste, welcher ein Angebot auf ihre Gefangenhaltung tat, war der Stadtpfeifer, ein vertrunkener Mann, der von seiner Frau hergeschickt war, um mit dem Erwerbe die zerrütteten Umstände etwas zu verbessern, insonderlich weil zu hoffen war, daß der Gefangenen aus ihrem elterlichen Hause offen oder heimlich allerhand Gutes zufließen würde, dessen man sich bemächtigen oder wenigstens teilhaftig machen könnte.
»Willst du zum Stadtpfeifer?« fragte Dietegen die Küngolt kurz, und sie sagte »nein!« nachdem sie den beduselten und rotnasigen Musikus angesehen. Der rief lachend: »Ist mir auch recht!« und schwankte ab.
Hierauf bot ein alter Seckler und Pelzkappenmacher auf Küngolt, welcher sie tapfer zum Nähen anzuhalten gedachte, um einen schönen Nutzen aus ihr zu ziehen. Er hatte aber einen offenen Schaden am Bein, welchen er den ganzen Tag salbte und pflasterte, und auf dem Kopf ein Gewächs wie ein Hühnerei, welches Küngolt als Kind schon gefürchtet hatte, wenn sie in die Schule und an seiner Werkstatt vorbeigegangen. Als daher Dietegen fragte, ob sie zu diesem wolle, sagte sie wiederum nein, und er zog keifend davon.
Nunmehr trat ein Geldwechsler hervor, der einerseits wegen seines wucherischen und häßlichen Geizes und anderseits wegen seiner widerwärtigen Lüsternheit verrufen war. Kaum hatte der aber seine roten Augen auf Küngolt gerichtet und den schiefen Mund zum Angebote geöffnet, so winkte ihm Dietegen, ihn drohend anblickend, mit der Hand hinweg, ohne das erschrockene Mädchen zu befragen.
Jetzt kamen nur noch einige ordentliche Leute, gegen welche nicht wohl etwas einzuwenden war, und diese wurden nun zur eigentlichen Versteigerung oder Gant zugelassen. Am mindesten forderte für ihre Aufnahme und Ernährung der Totengräber an der Stadtkirche, ein stiller, ehrbarer Mann, welcher eine brave Frau und auch, nach seiner Meinung, ein geeignetes Lokal besaß und schon einige Sträflinge dieser Art beherbergt hatte.
Diesem wurde Küngolt von der Ratsabordnung zugeschlagen und sofort in sein Haus geführt, das zwischen dem Kirchhof und einer Seitengasse gelegen war. Dietegen ging mit, um zu sehen, wo sie untergebracht würde. Das war in einer offenen kleinen Vorhalle des Hauses, welche unmittelbar an den Totengarten grenzte und von demselben durch ein eisernes Gitter abgeschlossen war. Dort pflegte nämlich der Totengräber in der wärmeren Jahreszeit seine Gefangenen einzusperren, während er sie über den Winter einfach in die Stube nahm und mit einer leichten eisernen Kette an einen Fuß des Ofens band.
Als aber Küngolt in ihrem Gefängnis war und sich nur durch ein Eisengitter von den Gräbern der Toten getrennt sah, überdies in nächster Nachbarschaft das alte Beinhaus bemerkte, das mit Schädeln und andern Gebeinen angefüllt war, fing sie an zu zittern und bat flehentlich, man möchte sie nicht da lassen, wenn es Nacht werde. Die Frau des Totengräbers dagegen, welche eben einen Strohsack und eine Decke herbeischleppte, auch eine Art Vorhang an dem Gitter anbrachte, sagte, das könne nicht sein und der ernste Aufenthalt gereiche ihr nur zur wohltätigen Buße für ihren sündigen Sinn.
Da sagte Dietegen: »Sei ruhig, ich fürchte mich nicht vor den Toten und Gespenstern und will des Nachts so lange hieher kommen und vor dem Gitter wachen, bis du dich auch daran gewöhnt hast!«
Das sagte er aber so zu ihr, daß die Frau es nicht hören konnte, und begab sich hierauf nach Hause. Dort fand er den traurigen Forstmeister, wie er sich eben mit Violanden verständigt hatte, daß sie ihre Hochzeit erst halten wollten, wenn Küngolts Strafzeit vorüber und die schlimme Sache einigermaßen ausgeglichen wäre. Violande hielt sich dabei mäuschenstill, zufrieden, daß sie als die eigentliche Urheberin der unglücklichen Hexerei und ihrer Folgen so gut davongekommen war. Bei dem strengen Verhör, dem sie auch unterworfen gewesen, hat man ihrer Aussage, daß sie jenen Liebestrank nur verwahrt, damit er nicht in unrechte Hände gerate, zur Not geglaubt und sie entlassen.
Als nun die Dämmerung vorüber und die Mitternacht im Anzuge war, machte sich Dietegen ungesehen auf, nahm sein Schwert und ein kleines Fläschchen mit gutem Wein und stieg wieder in die Stadt hinunter, wo er unverweilt sich über die Kirchhofmauer schwang und furchtlos über die Gräber hin vor Küngolts unheimliche Wohnstätte ging. Sie saß lautlos auf ihrem Strohsack zusammengekauert hinter dem Vorhang und lauschte zitternd jedem Geräusche; denn sie hatte, ehe die Geisterstunde gekommen, schon einige Schrecknisse erlebt. Im Beinhause war eine Katze über die Knochen weggestrichen, so daß dieselben sachte etwas geklappert hatten. Dann wurden vom Nachtwind die Sträucher über den Gräbern bewegt, daß sie leise rauschten, und der Hahn auf dem Dachreiter der Kirche gedreht, welches einen seltsamen Ton gab, den man im Tagesgeräusch nie vernahm.
Als daher Küngolt die nahenden Schritte hörte, erschrak sie von neuem und fuhr zusammen; als er aber durch das Gitter griff und den Vorhang zurückschob, daß der Vollmond den Raum erhellte, und sie leise anrief, da stand sie eilig auf, lief ihm entgegen und streckte beide Hände durch das Gitter.
»Dietegen!« rief sie und brach in Tränen aus, die ersten, die sie seit dem Unglückstag vergießen konnte; denn sie hatte bis jetzt wie in einer starren Betäubung gelebt.
Dietegen gab ihr aber die Hand nicht, sondern das Weinfläschchen und sagte: »Nimm einen Schluck Wein, es wird dir gut tun.« Sie trank und nahm auch von dem guten Brot ihres Vaterhauses, das er ihr gebracht. So wurde es ihr besser zu Mut, und als sie sah, daß er nicht weiter mit ihr sprechen wollte, zog sie sich schweigend auf ihr Lager zurück und weinte leise, bis sie in einen ruhigen Schlaf versank.
Dietegen aber hielt sie nach seinen jugendlich spröden Begriffen und in seiner Unerfahrenheit für ein bös gewordenes Wesen, das nicht recht tun könne, und er wachte bei ihr, indem er sich auf einen an der Wand lehnenden alten Grabstein setzte, ihrer toten Mutter zuliebe und weil er ihr selbst sein Leben verdankte.
Küngolt schlief, bis die Sonne aufging, und als sie erwachte, sah sie, daß Dietegen still weggegangen war.
Dergestalt kam er eine Nacht um die andere, bei ihr zu wachen; denn er hielt nach seinem Glauben den Ort für in der Tat gefährlich für jemand, der kein gutes Gewissen habe und voll Furcht sei. Jedesmal brachte er ihr etwas zur Labung mit und frug sie etwa, was sie sich wünschte, und er brachte ihr alles, was ihm recht schien. Er kam auch, wenn es regnete und stürmte und versäumte keine Nacht, und wenn es nach damaligem Volksglauben in Ansehung der Toten und ihres Treibens besonders verrufene Nächte waren, so erschien er umso pünktlicher.
Küngolt ihrerseits richtete sich unvermerkt so ein, daß sie während des Tages ihren Vorhang zog, um sich vor den Neugierigen zu verbergen, wie sie sagte, wenn Leute auf den Kirchhof kämen, in der Tat aber, um zu schlafen; denn sie liebte es, während der Nacht munter zu sein, kein Auge von der dunkeln Gestalt ihres Wächters zu verwenden, und über ihn und sich und wie alles gekommen sei, nachzudenken, während er sie schlafend wähnte.
Sie fühlte sich von einem neuen, ungeahnten Glücke umflossen, sobald er kam und sie ihren Gedanken in seiner Gegenwart still und stumm nachhängen konnte. Sein hartes Urteil ahnte sie nicht und hoffte ihr Anrecht an ihn wieder erringen zu können, da er sich so treu erwies. Nicht so dachte ihr Vater, der sie jede Woche einmal besuchte; wenn sie dann fast jedesmal schüchtern auf irgend eine Weise Dietegens Namen nannte und er wohl merkte, daß sie sich ihm wieder zugewendet, seufzte er innerlich, weil er wohl wünschte, daß das halb verlorene Kind durch den braven Pflegesohn gerettet werden möchte, aber fürchtete, der werde schwerlich eine angehende und schon eingesperrt gewesene Hexe erwerben wollen.
Mittlerweile hatte sich auch noch anderer Besuch bei Küngolt eingestellt. Der Ratsschreiber von Ruechenstein, der gewalttätige Krummbuckel Schafürli, konnte das schöne Wesen nicht vergessen und fühlte sein stark durch die Krümmungen des Körpers strömendes Blut von ihrem Bilde bewohnt und befahren, nach seinem Glauben wie von einer Hexe, welche nächtlich einsam auf einem Strome in dunklem Kahne dahinschieße.
Er gedachte daher, da er ein verwegener Kerl war, statt bei den Kapuzinern, bei der Urheberin selbst seine Heilung und Befreiung zu versuchen und wanderte in dunkler Nacht über den Berg und bis auf den Kirchhof, wo sie gefangen saß. Da es noch nicht die Zeit war, um welche Dietegen zu erscheinen pflegte und auch seine Schritte fremd klangen, so erschrak Küngolt und duckte sich hinter ihren Vorhang. Schafürli aber zündete ein kleines Licht an, das er mitgenommen, riß das Tuch zurück und leuchtete in den vergitterten Raum hinein, bis er sie entdeckte.
»Komm heran, Hexenmädchen!« flüsterte er heftig und halblaut, »und gib mir beide Hände und deinen Mund, denn du mußt mir heilen, was du verdorben hast!«
Sie erkannte ihn an seiner Gestalt, und die Erinnerung an all das geschehene Unheil, sowie die Gegenwart des Mannes erfüllten sie mit solcher Angst, daß sie, ohne einen Laut zu geben, zitterte wie Espenlaub.
Da begann der Ratschreiber an dem Gitter zu rütteln, und weil es keineswegs besonders fest war, vielmehr nur für schwächere Gefangene zu dienen hatte, schickte er sich an, es mit Gewalt aus den Angeln zu heben. In demselben Augenblicke kam aber Dietegen, sah den Vorgang und packte den Schafürli an der Schulter. Der schrie wild auf und wollte seinen Dolch ziehen. Doch Dietegen hielt ihm die Hände fest und rang mit ihm, bis er ihn bezwungen hatte. Er besann sich, ob er ihn gefangen nehmen und anzeigen, oder ob er ihn bloß verjagen solle, und weil er den Zusammenhang des Vorfalls noch nicht kannte, und nicht eine neue Verwicklung für Küngolt herbeiführen wollte, ließ er den krummen Mann laufen, indem er ihm bei Sicherheit seines Lebens verbot, je wieder an den Ort zu kommen. Zugleich aber ging er in das Haus hinein und veranlaßte den Totengräber, die Gefangene nunmehr in die Stube zu nehmen, da ja ohnehin der Herbst vor der Tür sei und die Nächte zu kühl würden für den bisherigen Aufenthalt.
Küngolt wurde also noch in dieser Nacht mit der herkömmlichen leichten Kette am Fuße an den Ofen gefesselt. Es war das ein schlankes Gebäude von grünen Kacheln, welche in erhabener Arbeit die Geschichte der Erschaffung des Menschen und des Sündenfalls darstellten; an den vier Ecken des Ofens standen die vier großen Propheten auf vorstehenden gewundenen Säulchen, und das Ganze bildete ein nicht unzierlich gegliedertes Monument, an welches hingeschmiegt nun Küngolt auf der Ofenbank saß.
Sie freute sich der geschützteren Lage und der Rettung, welche sie dem Dietegen dankte, und schrieb alles seiner treuen Gesinnung für sie zu, obgleich er in dieser Nacht kein Wort mit ihr gesprochen und sich nach getaner Sache ohne weiteres hinwegbegeben hatte.
Als nun aber die gute Küngolt dergestalt installiert war, fand sich ein neuer Liebhaber ihrer Schönheit ein in der Person eines Kaplans, welcher allerhand kleine Priestergeschäfte an der Kirche besorgte und auch den geistlichen Beistand bei den Siechen und Gefangenen auszuüben hatte. Dieses Pfäfflein kam nun, da Küngolt in der warmen Stube saß, fleißig zu ihr, um ihr Zusprache zu halten, ihr die Neigung zur Zauberei und Spendierung von Liebestränken auszutreiben und sich dabei ihres schönen Anblickes und lieblichen Wesens zu erfreuen. Denn seit der Zeit ihres Leidens war eine neue Art von Schönheit über sie gekommen; sie war ein reifes, schlankes, obgleich blasses Frauenbild geworden, dessen Augen in sanftem und lieblichem Feuer strahlten, von einem Trauerschatten umgeben. Sie wurde, vom Anbinden abgesehen, wie ein Glied des Hauses gehalten, in dem auch einige Kinder sich befanden, und wenn der Kaplan kam, so wurde er mit einem Glase Wein oder Bier bewirtet, für welches der Forstmeister etwa sorgte. Wenn nun der Geistliche sein Sprüchlein getan hatte, seine Erfrischung zu sich nahm und ersichtlich nur noch blieb, um die getröstete Sünderin ein bißchen anzugucken und etwa bescheidentlich ihre Hand zu streicheln, so überließ sich Küngolt einer aufwachenden, kleinen anmutigen Heiterkeit, indem sie bedachte, welch einen prächtigen Liebhaber sie, nach ihrer Meinung, diesem Pfäfflein gegenüber in Dietegen besaß.
So kam es, daß das Mädchen in seiner bescheidenen Fröhlichkeit, nachdem sie den Tag über von der besseren Zukunft geträumt hatte, des Abends der Liebling der Totengräbersleute war und sie den Tisch zu ihr an den Ofen rückten. Auch in der Neujahrsnacht, die nun gekommen, ging es so, und der Priester gesellte sich hinzu, so daß der Totengräber, seine Frau und Kinder und der Kaplan bei der angebundenen Küngolt um den Tisch herumsaßen, mit Nüssen spielten und Küngolt eben laut über etwas lachte, was der Pfaffe gesagt hatte, während er ihre Hand hielt, als Dietegen hereintrat, um seinem Schützling und Kind seines Herrn einige gute Sachen von Hause zu bringen. Ein unbewußter Zug des Herzens, das eingeschlafene Heimweh nach ihr hatte ihn doch den Vorsatz fassen lassen, etwa eine Stunde dort zu verweilen, damit Küngolt, welche die erste Neujahrsnacht ihres jungen Lebens außer dem Hause zubrachte, jemand von den Ihrigen bei sich hätte.
Als er aber den fröhlichen Auftritt und den Priester sah, der die Hand der lachenden Küngolt streichelte, ergriff ihn eine eisige Kälte, daß ihm das Blut beinahe erstarrte, und er ging, nachdem er dem Mädchen die Sachen mit zwei Worten als Sendung des Vaters übergeben, ohne weiteren Aufenthalt wieder fort, während zwischen seinen Zähnen sich die Worte lösten: »hin ist hin!« Jetzt ahnte Küngolt plötzlich den Inhalt dieses Augenblickes und auch ihr trat alles Blut zum Herzen zurück. Sie sank erbleichend an den Ofen hin und die Leutchen gingen betreten auseinander: das Licht in der Totengräberwohnung erlosch, noch eh’ die erste Stunde des neuen Jahres angebrochen war.
Küngolt blieb nun fast wie vergessen von den Ihrigen, zumal in diesen Tagen die Eidgenossenschaft immer lauter von Kriegslärm ertönte und jene Ereignisse sich folgten, welche man den Burgunderkrieg nennt. Als das Frühjahr da war, und der Tag von Grandson nahte, zogen auch die Städte Seldwyla und Ruechenstein, wie andere ihrer Nachbarorte, mit ihren Fähnlein in das Feld, und es war für den Forstmeister sowie für Dietegen eine Erlösung, aus dem gestörten Hause hinauszutreten und die frische rauhe Kriegesluft zu atmen.
Festen Schrittes gingen sie mit ihrem Banner, obwohl schweigsamer als die anderen, und stießen mit den übrigen herbeieilenden Scharen zu dem Gewalthaufen der Eidgenossen, welcher den schon im Streite Stehenden zu Hilfe kam.
Wie ein eiserner Garten stand das lange Viereck geordnet und in seiner Mitte wehten die Fahnen der Länder und Städte. Mann an Mann standen die Tausende, jeder in Zuverlässigkeit und Furchtlosigkeit wieder eine Welt für sich, und alle zusammen doch nur ein Häuflein Menschenkinder.
Da harrte der Leichtsinnige und der Verschwender neben dem Geizigen und dem Sorgenfreund seiner Stunde; der Zanksüchtige und der Friedliebende hielten mit gleicher Geduld ihre Kraft bereit; wer schweren Herzens war, hielt sich so still, wie der Prahler und der Redselige; der Arme und Verlassene stand ruhig und stolz neben dem Reichen und Gebietenden. Ganze Gassen sonst im Streite liegender Nachbarn standen gedrängt; aber Neid und Mißgunst hielten den Spieß oder die Hellebarde so fest, wie die Großmut und Leutseligkeit, und der Ungerechte richtete wie der Gerechte sein Auge auf die nächste Pflicht. Wer mit seinem Leben abgeschlossen und einen Rest seiner Kraft unbeweint zu opfern hatte, galt nicht mehr oder weniger als der aufblühende Knabe, auf dessen Auge die Hoffnung der Mutter und einer ganzen Zukunft stand. Der düster Gesinnte ertrug ohne Murren die halblauten Einfälle des Possenmachers und dieser wiederum ohne Gelächter die kleinen heimlichen Vorkehrungen des Spießbürgers, der neben ihm stand.
Neben dem Banner von Seldwyla ragte dasjenige von Ruechenstein, so daß die Reihen der grollenden Nachbarstädte sich dicht berührten und der Forstmeister, der einen Teil seiner Mitbürger führte und ihren Eckstein bildete, der Nachbar des Ratschreibers von Ruechenstein war, welcher am Ende einer Rotte der Seinigen stand; allein keiner von ihnen schien dessen zu gedenken, was vorgefallen. Dietegen ging mit den Schützen und verlorenen Knaben außerhalb des Gewalthaufens und lebte schon mitten im furchtbaren Getümmel, als dieser sich jetzt plötzlich in Bewegung setzte und in die Schlacht ging, um einen der ersten Kriegsfürsten mit seinem in Glanz und Üppigkeit strahlenden Heerzuge wie einen Fabelkönig in die Flucht zu schlagen.
Im Drange des harten Streites war der Forstmeister mit einigen seiner Knechte durch burgundische Reiterei von seinem Banner getrennt worden und schlug sich durch die Reiter hindurch, aber nur, um einsam unter feindliches Fußvolk zu geraten; in diesem arbeitete er sich getreulich ein Kämmerlein aus, wie ein fleißiger Bergmann; aber eben, als er sich auch ein Pförtlein in dasselbe gebrochen hatte, kam durch diese Öffnung eine verspätete verirrte Stückkugel Karls des Kühnen und zerschlug ihm die breite Brust, also daß er in einem kurzen Augenblick im Frieden der ewigen Ruhe dalag und nichts ihn mehr beschwerte.
Als Dietegen frisch und gesund aus dem Kampfe und von der Verfolgung der fliehenden Burgunder zurückkam und nach kurzer Nachfrage den gefallenen Freund und Vater fand, begrub er ihn samt seinem Schwerte selbst zwischen die Wurzelarme einer mächtigen Eiche, welche unweit des Schlachtfeldes am Rande eines Haines stand.
Dann zog er mit dem Heere nach Hause und wurde von der Stadt wegen seiner Tapferkeit und Tüchtigkeit für einstweilen in das Forsthaus gesetzt, um dort die Aufsicht zu führen. Mit dem Tode des Forstmeisters war dessen Hausstand aufgelöst. Sein Gut war in den letzten Jahren wegen Unachtsamkeit geschwunden, und Küngolt hatte nichts mehr auf dieser Welt, als sich selbst und die Vorsorge Dietegens, soweit er etwa sorgen konnte, da er selbst ein armes Blut war.
Sie saß unbewegt an ihrem Ofen, die Wangen an die rauhen Bildwerke desselben gelehnt, welche den Verlust des Paradieses darstellten in vier oder fünf Bildern, die sich um den ganzen Ofen herum immer wiederholten; die Erschaffung Adams, diejenige der Eva, der Baum der Erkenntnis und die Verstoßung aus dem Garten. Wenn das Gesicht sie von dem Drucke schmerzte, so löste sie es ab und kehrte es gegen die harten Darstellungen, dieselben immer wieder von neuem betrachtend, indessen ihr Tränen entfielen, wenn sich hiezu etwa wieder so viel Kraft gesammelt hatte. Ja, wenn sie zuweilen zu demjenigen Bildwerke kam, welches die Verstoßung aus dem Garten vorstellte, so empfand sie sogar einen Lachreiz. Denn durch die Unaufmerksamkeit des Töpfers oder Bildners hatte auf dieser Platte Adam statt eines vertieften Nabels ein erhabenes rundes Knöpfchen auf dem Bauche, welches regelmäßig auf jeder Verstoßung wiederkehrte.
Wenn dann aber Küngolt lachen sollte über diese harmlose Erscheinung, so schnürte ihr dagegen das Elend das Herz und die Kehle zusammen, so daß ein erbärmliches Ringen und ein körperlicher Schmerz daraus entstand für einen Augenblick, bis ihr die Augen übergingen und sie das Gesicht verzog, wie jemand, der niesen sollte und nicht kann. Sie vermied daher zuletzt, dieses Bild anzuschauen.
Indessen war auch die Schlacht von Murten geschlagen worden und um die gleiche Zeit die Strafdauer Küngolts zu Ende. Dietegen hatte angeordnet, daß sie in das Forsthaus kommen solle, um dort mit Violanden vorderhand zu hausen, welche jetzt bescheiden, traurig und ziemlich ordentlich geworden war; denn sie hatte in der späten Verlobung mit dem Forstmeister und seinem Tode doch noch etwas Rechtes erlebt und einigen Halt daran genommen. Dietegen selbst aber kam nicht nach Hause, sondern tummelte sich bis ans Ende jener Kriegszüge im Felde herum.
Damit aber auch er nicht ohne Fehl und Tadel aus diesen Schicksalsläufen hervorgehe, hatten die Gewohnheiten des Krieges, verbunden mit dem stummen Schmerze wegen des Verlorenen, eine gewisse Wildheit in ihn gebracht. Er schloß sich jenen rauhen jungen Gesellen an, welche unter dem Namen des törichten Lebens sich aufgemacht hatten, um die der Stadt Genf im Friedensvertrage auferlegte und von ihr hinterhaltene Brandschatzung auf eigene Faust einzutreiben. Aus burgundischen Beutestücken, die ihm zugefallen, hatte er sich Prunkkleider machen lassen; er trug, hinter der tollen Eberfahne herziehend, Gewand von blaßrotem Burgunderdamast; das eidgenössische Kreuz auf Brust und Rücken war von Silberstoff und mit Perlen besetzt. Den Hut überragte rings eine breite Last von wogenden Straußfedern, den in eroberten Lagern zerstreuten Ritterhüten entnommen. Dolch und Schwert trug er reich an kostbarem Wehrgehänge und neben der Feuerbüchse einen langen Speer, an welchem seine tannenschlanke breitschulterige Gestalt sich lässig lehnte und wiegte, wenn er drohend unter seinem Hute hervorschaute, um einen feigen Lärmmacher oder eine Dirne zu schrecken. Er liebte es, etwa eine schreiende Magd bei den Zöpfen zu packen, ihr einen Augenblick forschend ins Gesicht zu sehen und die Erschrockene oder auch Lachende dann wieder laufen zu lassen.
In solcher Tracht war er, ehe er sich zu dem Zuge des törichten Lebens gesellt hatte, auch einen Augenblick auf dem Försterhofe zu Seldwyla erschienen, einem Abkömmling aus uraltem, reinem Volksstamme gleichend, so kühn, sicher, stark und zugleich gelenk bewegte er sich.
Als Küngolt ihn so sah, der er im Vorübergehen ein kaltes wildes Lächeln zugeworfen, wie er es sich im Felde angewöhnt, waren ihre Augen wie geblendet. Während er nun in Welschland lag, war es ihr einziges Tun, über die Vergangenheit zu grübeln und in den glücklichen Tagen der verlorenen Kindheit zu leben. Besonders verweilte ihr Sinnen fast zu jeder Stunde auf jener Waldhöhe, wo die Seldwyler Frauen das vom Tode errettete Kind Dietegen einst in seinem Armensünderhemde gekost und mit Blumen geschmückt hatten, und sie eilte, so oft sie konnte, hinauf und schaute voll Sehnsucht nach dem fernen Südwesten, wo man sagte, daß die drohende Schar der unbezwinglichen Jünglinge sich gelagert habe.
Aber in der gleichen Berggegend, welche vom Ruechensteiner Grenzbanne durchschnitten war, kreiste der Ratsschreiber Schafürli herum, der stetsfort nach Heilung des ihm angetanen Schadens oder aber nach Rache dürstete; denn es waltete in Ruechenstein trotz der vermeintlichen Hexerei wegen der Tötung des Schultheißensohnes doch ein offener und geheimer Haß gegen ihn, den er durch den Tod der von den Seldwylern nach Ruechensteiner Ansicht unbestraft gelassenen Küngolt zu sühnen hoffte. Als daher eines Tages die arme Küngolt achtlos gerade auf einem Grenzsteine saß, und zwar so, daß ihre Füße auf dem Ruechensteiner Boden ruhten, trat Schafürli unversehens mit einem Ratsknechte aus den Bäumen hervor, nahm sie gefangen und führte sie gebunden nach seiner Stadt, wo ihr wegen des durch ihre Zauberei herbeigeführten ungesühnten Todes des Schultheißensohnes sofort von neuem der Prozeß gemacht wurde.
In Seldwyla war, zumal in diesen aufgeregten Zeitläufen, niemand mehr, der sich ihrer angenommen hätte, auch wenn ein Erfolg in Aussicht gewesen wäre. Es hieß daher bald, ihr Leben werde wohl dahin sein. Nun war es die einst so schlimme Violande, welche, von Reue und Mitleid erschüttert, sich aufraffte und die einzige Hilfe aufsuchte, die ihr denkbar schien. Sie machte sich auf und wanderte Tag und Nacht gegen Westen, um die Bande des tollen Lebens und Dietegen zu finden. Das Gerücht von dem Treiben der verwegenen Schar leitete sie auch bald auf den rechten Weg und sie fand den Gesuchten, wie er eben mit einigen Gefährten in einer Schenke gleichgültig um Geld würfelte.
Sie gab ihm Kunde von dem neuen Unglücke Küngolts und er hörte ihr wider Erwarten aufmerksam zu, sagte aber dann: »Hier kann ich nichts machen! Das ist eine Rechtssache und da die Seldwyler selbst nichts tun, so würde ich keine zehn Gesellen finden, die mir folgen würden, um das Kind zu befreien!«
Violande aber, welche von ihrem früheren Wesen und Treiben her alle möglichen Heiratsfälle im Gedächtnisse hatte, erwiderte: »Gewalt ist auch nicht nötig. Die Ruechensteiner haben seit altem her die Satzung, daß ein zum Tode verurteiltes Weib von jedem Manne gerettet werden kann und demselben übergeben wird, der sie zu ehelichen begehrt und sich auf der Stelle mit ihr trauen läßt!«
Dietegen schaute der Sprecherin verwundert und wunderlich ins Gesicht, nicht ohne sein spöttisches Soldatenlächeln.
»Ich soll also eine Art Dirne zur Frau nehmen, meint Ihr?« sagte er, indem er seinen hervorsprossenden Schnurrbart drehte und sich sehr ungläubig anstellte, obgleich es ihm durch das Antlitz zuckte. »Sag nicht Dirne,« antwortete Violande, »sie ist es nicht!«
Und plötzlich in Tränen ausbrechend, ergriff sie Dietegens Hände und fuhr fort: »Was sie gefehlt hat, ist meine Schuld, laß es mich bekennen; denn ich wollte euch trennen und beide aus dem Hause bringen, um den Vater zu bekommen! Darum habe ich das Kind zu allen seinen Torheiten verleitet!«
»Sie hätte sich nicht sollen verleiten lassen,« rief Dietegen, »ihre Eltern sind von guter Art gewesen; aber sie ist nicht geraten!«
»Und ich schwöre dir bei meiner Seligkeit,« rief Violande, »es ist alles wie vom Feuer weggebrannt, was sie verunziert hat; sie ist gut und sanft und liebt dich so, daß sie schon längst sich ein Leid angetan hätte, wenn du nicht in der Welt zurückbleiben würdest. Übrigens gedenke doch dessen, was du ihr schuldest! Würdest du jetzt in deiner Kraft und Schönheit dastehen, wenn sie dich nicht aus dem Sarge des Henkers genommen hätte? Und gedenke auch der Mutter Küngolts und ihres braven Vaters, die dich erzogen haben, wie ihr eigenes Kind. Und bist denn du der einzige Richter über den Fehl eines schwachen Kindes? Hast du selbst noch nie unrecht getan? Hast du keinen Mann erschlagen in deinen Kriegen, dessen Tod nicht gerade nötig gewesen wäre? Hast du keine Hütten von Armen und Wehrlosen verbrannt? Und wenn du auch dies nicht getan, hast du immer Barmherzigkeit geübt, wo du es gekonnt hättest?«
Dietegen errötete und sagte: »Ich will nichts geschenkt haben und niemandem etwas schuldig bleiben! Wenn es sich verhält, wie Ihr sagt, mit dem Ruechensteinischen Rechtsbrauche, so will ich hingehen und das Kind zu mir nehmen! Möge Gott mir und ihr dann weiter helfen, wenn sie nicht mehr recht tun kann!«
Sogleich gab er der gänzlich erschöpften Frau, die ihm nicht hätte folgen können, einiges Geld, womit sie sich etwas pflegen und zur Rückreise stärken sollte. Er selbst ging augenblicklich, seine Waffen ergreifend, auf und davon, quer durch das Land, und ruhte nicht, bis er die finstere Stadt Ruechenstein erblickte.
Dort hatten sie nicht lange Spaß gemacht, sondern nach wenig Tagen die Küngolt, die im alten Turme saß, zum Tode verurteilt, und zwar wegen ihres unbescholtenen Vaters, der für das Vaterland gefallen sei, aus besonderer Milde zum Tode durch Enthauptung, statt durch Feuer oder Rad oder eine andere ihrer üblichen Praktiken.
Sie wurde demgemäß zum Tore hinausgeführt nach dem Richtplatze, barfüßig und mit nichts als dem Armensünderhemde bekleidet, Nacken und Rücken von dem schweren flatternden Haare bedeckt. Schritt für Schritt ging sie ihren Todespfad, inmitten ihrer Peiniger, zuweilen strauchelnd, aber gefaßten Mutes, da sie sich ergeben und aller weiteren Lebens- und Glückeshoffnung entschlagen hatte. »So kann es einem ergehen!« dachte sie mit einem fast merklichen Lächeln, und erst als sie plötzlich wieder an Dietegen dachte, entfielen ihren Augen süße Tränen; denn sie bedachte auch, daß er ihr sein blühendes Leben danke, und sie fühlte sich durch dieses Erinnern getröstet, so selbstlos und gut war ihr Herz geworden.
Schon saß sie auf dem Stuhle und war gewissermaßen froh, daß sie nur sitzen und ausruhen konnte von dem mühseligen Gang. Sie schaute zum letzten Male über das Land hin und in den blauen Schmelz der Ferne. Da verband ihr der Henker die Augen und schickte sich an, ihr das reiche Haar abzunehmen, soweit es unter der Binde hervorquoll, als Dietegen in einiger Entfernung zum Vorschein kam und mächtig rufend seinen Hut und seinen Spieß schwenkte. Gleichzeitig aber, um die Handlung aufzuhalten, riß er seine Büchse von der Schulter und sandte eine Kugel über den Kopf des Henkers weg. Überrascht und erschreckt hielten die Richter inne und alles griff zu den Waffen, als der reisige Jüngling in weiten Sätzen heran und auf das Blutgerüst sprang, daß dasselbe von der Wucht seines Sprunges beinahe zusammenbrach. Die sitzende Küngolt bei der Schulter fassend, da ihre Hände auf den Rücken gebunden waren, suchte er eine Weile nach Atem, eh’ er sprechen konnte. Die Ruechensteiner, als sie sahen, daß er allein war und kein weiterer Überfall erfolgte, harrten der Dinge, die da kommen sollten, und als er endlich sein Begehren erklären konnte, traten sie zur Beratung der Angelegenheit zusammen.
Sowohl ihre Art, an den einmal herrschenden Rechtsgewohnheiten unverbrüchlich festzuhalten, als das Ansehen, welches Dietegen in diesen kriegerischen Tagen und mit seiner ganzen Erscheinung behauptete, ließen den Handel ohne Schwierigkeit beilegen, nachdem der grämliche Verdruß über die ungewöhnliche Störung einmal überwunden war. Selbst der Ratsschreiber, der sich nicht versagt hatte, sein Amt in dieser Sache selbst zu versehen und sich von dem Untergange der Hexe zu überzeugen, verbarg sich, so gut er konnte, um den wilden Kriegsmann, dessen Hand er trotz seines Mutes fürchtete, nicht auf sich aufmerksam zu machen.
Der gleiche Priester, der vorher mit der Verurteilten gebetet hatte, mußte nun stehenden Fußes die Trauung auf dem Gerüste vornehmen. Küngolt wurde losgebunden, auf die schwankenden Füße gestellt und befragt, ob sie diesem Manne, der sie zu ehelichen begehre, als seine rechte Ehefrau folgen und ihm ihre Hand geben wolle.
Stumm blickte sie zu ihm auf, der das erste war, was sie nach abgenommener Augenbinde von der Welt wieder sah, und sie blickte wie in einen Traum hinein; doch um, auch wenn es ein solcher wäre, nichts zu verfehlen, nickte sie, da sie nicht reden konnte, mit Geistesgegenwart und geisterhaft drei- oder viermal, und gleich darauf noch ein paarmal, so daß selbst die düsteren Ratsmänner gerührt wurden und die Zitternde stützten, als sie hierauf in aller Form mit dem Manne verbunden wurde.
Erst jetzt wurde sie ihm mit Leib und Leben, wie sie stand und ging, ohne Nachwähr noch irgend einigen Anspruch auf Gut oder Schadenersatz, übergeben, gegen Erlegung der Gebühr für den Trauschein dem Pfaffen und Bezahlung von zehn Kopf Weins für den Scharfrichter und seine Knechte, als Hochzeitgabe, auch drei Pfund Heller für ein neues Wams dem Scharfrichter.
Als er alles bezahlt hatte, nahm Dietegen sein Weib bei der Hand und verließ mit ihr den Richtplatz. Weil er sie aber nehmen mußte, wie sie stand und ging, und sie barfuß und mit nichts als dem Totenhemde bekleidet, auch die Jahreszeit noch früh und kühl war, so befand sie sich nicht gut und konnte nicht wohl neben dem Manne fortkommen. Er hob sie daher vom Boden auf den Arm, schob seinen Hut über die Schultern zurück, sie schlang sogleich ihre Arme um seinen Nacken, legte ihr Haupt auf das seinige und schlief nach wenigen Schritten ein, die er mit dem Speer in der andern Hand zurücklegte. So wandelte er rüstig weiter auf einsamer Höhe und fühlte, wie sie im Schlafe leise weinte und ihr Atem in süßer Erlösung freier wurde, und als ihre Tränen seine Stirne benetzten, da wurde es ihm zu Mute, als ob er vom seligen Glücke selbst getauft würde, und dem rauhen starken Gesellen rollten die eigenen Tränen über die Wangen. Sein war das Leben, das er trug, und er hielt es, als ob er die reiche Welt Gottes trüge.
Als sie auf der Stelle anlangten, wo er selbst als Kind im Sünderhemdchen unter den Frauen gesessen und kürzlich Küngolt gefangen worden war, schien die Märzensonne so hell und warm, daß ein kurzes Ausruhen erlaubt schien. Dietegen setzte sich auf den Grenzstein und ließ seine reiche Last sachte auf seine Kniee nieder; der erste Blick, den die Erwachende ihm gab, und die ersten armen Wörtchen, die sie nun endlich stammelte, bestätigten ihm, daß er nicht sowohl eine Pflicht treu erfüllt, als eine neue eingegangen habe, nämlich diejenige, so gut und wacker zu werden, daß er des Glückes, das ihn jetzt beseelte, auch allezeit wert sei.
Der Boden um den Markstein her war schon mit Maßliebchen und andern frühen Blumen besät, der Himmel weit herum blau, und kein Ton unterbrach die Nachmittagsstille, als der Gesang der Buchfinken in den Wäldern.
Weiter sprachen sie nun nichts, sondern atmeten einträchtiglich in die laue Luft hinaus; endlich aber erhoben sie sich, und weil der Weg nur noch über weichen Moosboden durch die Buchenwaldung abwärts führte nach dem Forsthause, so gingen sie nun nebeneinander hin.
Unversehens griff Küngolt an ihr Goldhaar, welches sie erst jetzt abgeschnitten glaubte, und da sie es noch fand, wie es gewesen, stand sie still und sagte zu Dietegen, indem sie ihn treuherzig ansah: »Kann ich nicht noch ein Brautkränzchen bekommen?«
Er sah sich um und gewahrte eine glänzend grüne Stechpalme. Rasch schnitt er einen starken Zweig vom Strauche, machte einen Kranz daraus und setzte ihr denselben sorgsam aufs Haupt mit den Worten: »Es ist ein rauher Brautkranz, aber wehrhaft, wie unsere Ehre es jederzeit sein soll! Wer sie mit Wort oder Tat beleidigen will, wird die Strafe fühlen!«
Er küßte sie hierauf ein einziges Mal fest unter ihrem Kranze und sie ging zufrieden weiter mit ihm.
Das Forsthaus stand leer und verlassen, als sie es erreichten. Das Gesinde hatte sich wegen der vermeintlichen Hinrichtung teils aus Trauer, teils aus ungetreuem Leichtsinn verlaufen und niemand kehrte an diesem Tage mehr zurück. Umso traulicher wurde das rasch auflebende junge Weib mit jedem Augenblick. Sie eilte von Schrank zu Schrank, von Kammer zu Kammer, und bald erschien sie in dem köstlichen Brautkleid ihrer Mutter, von welchem sie ihrem jetzigen Manne in jener Nacht erzählt, als sie zusammen im gleichen Kinderbettchen gelegen. Dann deckte sie den Tisch mit festlichen Linnen und trug auf, was sie an Speise und Wein hatte finden und bereiten können.
In tiefer Stille und Einsamkeit saßen sie nun nebeneinander, sie in ihrem Kranze und er mit abgelegten Waffen, und nachdem sie ihr einfaches Mahl genossen, gingen sie zur Ruhe. »So kann es einem ergehen!« sagte Küngolt heute zum zweiten Male und mit leichterem Herzen leise vor sich hin, als sie zufrieden an der Seite ihres Mannes lag; denn es blieb immer ein Restchen von Schalkheit in ihr.
Dietegen wurde ein angesehener Mann durch das Kriegswesen, nicht besser als andere jener Zeit, vielmehr den gleichen Fehlern unterworfen. Er wurde ein Feldhauptmann, der für oder wider die fremden Herren Partei nahm, Söldner warb, Gold und Beute raffte und so von Krieg zu Krieg sein Wesen trieb, gleich den Ersten seines Landes, so daß er emporkam und einen oft gewalttätigen Einfluß übte. Allein mit seiner Frau lebte er in ununterbrochener Eintracht und Ehre und gründete mit ihr ein zahlreiches Geschlecht, das jetzt noch in Blüte steht in verschiedenen Ländern, wohin der kriegerische Zug der Zeiten die Vorfahren einst getrieben.
Violande ihrerseits war bald nach der Hochzeit Dietegens und Küngolts, die ihr zum Troste gereicht hatte, in ein wirkliches Kloster gegangen und eine wirkliche Nonne geworden, welche den Kindern Küngolts zuweilen allerlei Backwerk und Näschereien sandte. Auch gefiel sie sich darin, wenn Herr Dietegen auf der Höhe seines Ansehens etwa große Gasterei hielt und mit langem Bart und goldener Ritterkette dasaß, als geistliche Frau auf Besuch zugegen zu sein und mit einem goldenen Kreuze auf der Brust, und intrigante höfliche Reden mit den Kriegsherren zu wechseln.
Wie Küngolt im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts ausgesehen, ist noch aus dem Bilde eines guten Malers zu entnehmen, welches in einer bekannten Galerie hängt und laut Inschrift ihr Bildnis ist. Man sieht da eine schlanke feine Patrizierfrau, deren schöne Gesichtszüge einen gewissen tiefen Ernst verkünden, durchblüht aber von sanfter kluger Laune.
Auch sie starb noch in guten Jahren an einer Erkältung, gleich ihrer Mutter, der Forstmeisterin, als nämlich ihr Mann in einem der Mailänder Feldzüge endlich ums Leben kam und auf dem Friedhofe eines lombardischen Kirchleins begraben wurde. Sie eilte hin, in der Absicht, ihm ein Grabmal zu errichten, in der Tat aber, um ungesehen eine lange Regennacht hindurch auf seinem Grabe zu sitzen, so daß ein Fieber sie in zwei Tagen dahinraffte und sie an der Seite Dietegens ihre Ruhestatt fand.
Dieses Lied sang der Fahnenträger des Seldwyler Männerchors, welcher an einem prachtvollen Sommermorgen zum Sängerfeste wanderte. Nachdem die Herren am Abend vorher aufgebrochen und einen Teil des Weges auf der Schienenbahn befördert worden waren, hatten sie beschlossen, den Rest in der Morgenkühle zu Fuß zu machen, da es nur noch durch schöne Waldungen ging.
Schon breitete sich der glänzende See vor ihnen aus mit der bunt beflaggten Stadt am Ufer, als die sechzig bis siebzig jüngeren und älteren Männer des Vereines in zerstreuten Gruppen durch einen herrlichen Buchenwald hinabstiegen und das hinter den großen Stämmen wohnende Echo mit Jauchzen und einzelnen Liederstrophen widerhallen ließen, auch etwa einem weiterhin niedersteigenden Fähnlein antworteten.
Nur der allen vorausziehende Fahnenträger, ein schlank gewachsener junger Mann mit bildschönem Antlitz, sang sein Lied vollständig durch mit freudeheller und doch gemäßigter Baritonstimme. Geschmückt mit breiter reichgestickter Schärpe und stattlichem Federhut, trug er die ebenso reiche, schwere Seidenfahne, halb zusammengefaltet, über die Schulter gelegt, und deren goldene Spitze funkelte hin und wieder im grünen Schatten, wo die Strahlen der Morgensonne durch die Laubgewölbe drangen.
Als er nun sein Lied geendet, schaute er lächelnd zurück und man sah das schöne Gesicht in vollem Glücke strahlen, das ihm jeder gönnte, da ein eigentümlich angenehmes Lachen, wenn es sich zeigte, jeden für ihn gewann.
»Unser Jukundi,« sagten die hinter ihm Gehenden zueinander, »wird wohl der schönste Fähnrich am Feste sein.« Er führte nämlich den heiter klingenden Namen Jukundus Meyenthal und wurde mit allgemeiner Zärtlichkeit schlechtweg der Jukundi genannt. Es erwahrte sich auch die Hoffnung; denn als die Seldwyler, am Orte angekommen, sich zum Einzuge unter die langen Sängerscharen reihten, erregte seine Erscheinung, wo sie durchzogen, überall großes Wohlgefallen.
Denjenigen, welche schon mehrere Feste gesehen hatten, war er auch schon auf das vorteilhafteste bekannt als eine mustergültige Festerscheinung. Von steter Fröhlichkeit und Ausdauer vom ersten bis zum letzten Augenblicke, war Jukundi dennoch die Ruhe und Gelassenheit selbst; immer sah man ihn teilnehmend an jeder allgemeinen Freude und an jeder besondern Ausführung, ausharrend und hilfreich, nie überlaut oder gar betrunken. Den schreienden Possenmacher wußte er zu ertragen, wie den übellaunischen Festgast, der sich übernommen und die Freude verdorben hatte, und beide verstand er voll Duldung und Freundlichkeit aus allerlei Fährlichkeiten zu erlösen, wenn die allgemeine Geduld zu brechen drohte, und sie aus beschämendem Schiffbruche zu erretten. Selbst den bewußtlosen Jähzornigen führte er, alle Schmähungen überhörend, mit stillem Geschicke aus dem Gedränge und erwarb sich Dank und Anhänglichkeit des Nüchterngewordenen.
In dieser Übung konnte er übrigens nur als eine Darstellung aller Seldwyler gelten, wenn sie zu Feste zogen. So ungeregelt und müßig sie sonst lebten, so sehr hielten sie auf Ordnung, Fleiß und gute Haltung bei solchen Anlässen. Rühmlich zogen sie auf und wieder ab, eine gut gemusterte, einige Schar, so lange die Lustbarkeit dauerte, und sich im voraus auf die zwanglose Erholung freuend, welche zu Hause nach so ernster Anstrengung sich langehin zu gönnen sein werde.
In dieser Weise hatten sie auch den Gesang, mit welchem sie am Sängertage um den Preis zu ringen gedachten, trefflich eingeübt und schonten ihre Stimmen mit großer Entbehrung. Sie hatten eine Tondichtung gewählt, welche »Veilchens Erwachen!« betitelt und auf irgend ein nichtssagendes Liedchen aufgebaut, aber so künstlich und schwer auszuführen war, daß es schon Monate vorher ein großes Gerede gab an allen Orten, als ob die Seldwyler zu viel unternommen und sich dem Untergang ausgesetzt hätten.
Als aber der Tag der Wettgesänge vorgerückt war und in der mächtigen weiten Halle Tausende von Hörern vor fast so viel tausend Sängern saßen und das Häuflein der Seldwyler, da ihre Stunde gekommen, mit dem Banner einsam vortrat in dem Menschenmeere, da hielten sie den ebenso zarten als schweren Gesang durch alle schwierigen Harmonien und Verwicklungen hindurch aufrecht ohne Wanken, und ließen ihn so weich und rein verhauchen, daß man das blaue Veilchenknöspchen glaubte leise aufplatzen und das erste Düftlein durch die Halle schweben zu hören.
Rauschend, tosend brach der Beifall nach der atemlosen Stille los, die erhabenen Kampfrichter nickten vor allem Volke sichtbar mit den Häuptern und sahen sich an, die goldenen Dosen ergreifend, Ehrengeschenke entlegen wohnender Fürsten und Völker, und sich gegenseitig Prisen anbietend; denn es befanden sich von den ersten Kapellmeistern darunter.
Die Seldwyler selbst traten mit ruhiger Haltung zurück und wußten ohne Aufsehen aus der Schlachtordnung sich hinauszuwinden, um in einem schattigen Garten ein mäßiges Champagnerfrühstück einzunehmen. Keiner begehrte mehr als seine drei Gläser zu trinken, niemand merkte, wo sie gewesen seien, als sie wieder in der Halle sich einfanden.
Dergestalt würdig verhielten sie sich während der Dauer des ganzen Festes, bis die Stunde der Preiserteilung kam. Das Gold der Nachmittagssonne durchwebte den bis zum letzten Platz angefüllten Festbau, welcher mit rotem Tuch und Grün ausgeschlagen, mit vielen Fahnen geschmückt, in feierlichem Glanze wie zu schwimmen schien. Auf erhöhter Stelle, wo die zu Preisen und Festgeschenken bestimmten Schalen und Hörner in Gold und Silber leuchteten, saßen einige Jungfrauen, auserwählt, die Kränze an die gekrönten Sängerfahnen zu binden.
Oder vielmehr dienten sie der schönsten und größten unter ihnen zum Geleit, der schönen Justine Glor von Schwanau, welche sich mit vieler Mühe hatte erbitten lassen, das Anbinden der Kränze zu übernehmen. Sie sah auch aus wie eine Muse; in reichgelocktem braunem Haar trug sie einen frischen Rosenkranz und das weiße Gewand rot gegürtet.
Aller Augen hafteten an ihr, als sie sich erhob und den ersten Kranz ergriff, welcher soeben den Seldwylern unter Trompeten- und Paukenschall zugesprochen worden war. Zugleich sah man aber auch den Jukundus, der unversehens mit seiner Fahne vor ihr stand und in frohem Glücke lachte. Da strahlte wie ein Widerschein das gleiche schöne Lachen, wie es ihm eigen, vom Gesichte der Kranzspenderin, und es zeigte sich, daß beide Wesen aus der gleichen Heimat stammten, aus welcher die mit diesem Lachen begabten kommen. Da jedes von ihnen sich seiner Eigenschaft wohl mehr oder weniger bewußt war und sie nun am anderen sah, auch das Volk umher die Erscheinung überrascht wahrnahm, so erröteten beide, nicht ohne sich wiederholt anzublicken, während der Kranz angeheftet wurde.
Eine Stunde später ordnete sich der letzte und rauschendste Zug durch die Feststadt, unter den unzähligen Wimpeln und Kränzen und durch das wogende Volk hindurch, indem die gewonnenen Festgeschenke und die gekrönten Fahnen umhergetragen wurden. Da sahen sich die beiden wieder, als Justine von der Gartenzinne ihrer Gastfreunde aus den Zug anschaute und Jukundus vorüberziehend seine Fahne schwenkte; und am Abend ereignete es sich, da das gute Glück heute besonders fleißig war, daß Jukundus während des Schlußbankettes der Schönen am gleichen Tische gegenüber zu sitzen kam, so daß sie um Mitternacht schon in aller Fröhlichkeit und Freundlichkeit aneinander gewöhnt waren.
Sie trafen sich auch am nächsten Morgen als gute Bekannte auf einem großen beflaggten Dampfboote, welches die Festregierung mit einer Zahl eingeladener Verdienst- und Ehrenpersonen und auswärtiger Freunde zu einer Lustfahrt den See entlang tragen sollte. Ein wolkenloser Himmel breitete sich über Wasser, Land und Gebirge und öffnete die letzten Quellen edler Freude, welche noch verschlossen sein konnten. Das Schiff durchfurchte das tiefgrüne kristallene Wasser, bald von den Klängen guter Musik getragen, bald von Liedern umtönt. Von den blühenden Ortschaften an den weithin sich ziehenden Ufern rechts und links schallten Grüße und winkten Fahnen herüber, und mit Stolz wies man den Gästen das wohlbekannte Land, die reichen Wohnsitze und Ortschaften. Ein stattlicher Kranz von Frauen saß auf erhöhtem Platze des Schiffes, unter ihnen Justine Glor in schöner einfacher Modekleidung, den Sonnenschirm in der Hand, so daß Jukundus, als er in seiner Fahnenträgertracht grüßend vor sie trat, überrascht von ihrem veränderten und fast noch feineren Aussehen, beinahe befangen wurde. Sie wechselten jedoch nur wenige Worte, wie zu geschehen pflegt, wenn ein reichlich langer Sommertag zu Gebote steht.
Als eine Weile später Jukundus wieder in ihre Nähe kam, winkte sie ihm und teilte ihm mit, daß ihre Eltern in Schwanau, welches am oberen Teile des Sees lag, die ganze Gesellschaft auf den Abend in ihre Gärten einladen, daß das Schiff dort vor Anker gehen würde, und daß sie hoffe, er werde auch so lange dabei bleiben. Diese vertrauliche Mitteilung, von der nur noch wenige wußten, trug ihm sofort Anspielungen und Glückwünsche der Umstehenden ein, die er bescheidentlich ablehnte, aber gerne vernahm.
In der Tat wurde es bald kund, daß das Schiff gegen Abend in Schwanau anhalten würde und daß alle gebeten seien, die letzte Erfrischung im Besitztume der Familie Glor einzunehmen. Dieselbe tat das der Tochter zu Ehren, um zu zeigen, daß sie wo zu Hause sei und eigentlich nicht nötig habe, an fremden Festtafeln zu sitzen, sondern selbst ein Fest geben könne. Denn es waren Leute, die auf ihre Besitztümer, als selbsterworbene, etwas viel hielten.
Um also den vielverheißenden Abend unverkürzt zu genießen, wurden die Aufenthalte an den übrigen Uferorten, wo das Schiff erwartet wurde, genau abgemessen und innegehalten, und das tönende und singende Schiff fuhr rechtzeitig quer über den funkelnden See, von Kanonenschlägen begrüßt, nach Schwanau hinüber und legte an, wo die hohen Bäume der Glorschen Gärten sich im Wasser spiegelten und darüber weg von den Terrassen und Hügeln ihre Häuser glänzten.
Während das Sängervolk sich unter den Bäumen ausbreitete, verschwand Justine im Hause, um den Ihrigen Handreichung zu tun, wogegen der Vater und die Brüder sich um die zahlreichen Gäste und deren Begrüßung bemühten. In Lauben und Veranden waren Niederlassungen für die Frauen mit den entsprechenden Erfrischungen bereitet; in einer frischgemähten Wiese, unter Fruchtbäumen, lange Tische für die Männer gedeckt. Es dauerte aber nicht lange, so waren auch alle Frauen auf der Wiese, angelockt von den Scherzen, Possen und Neckereien, welche die junge Männerwelt unter sich trieb, um ein Aufsehen zu erregen. Und es gab genug zu schauen und zu lachen, da Laune und Geschicklichkeit der einzelnen hundert kleine artige Erfindungen und Stücklein hervorbrachten, wobei das Naivste, mit guter Art entstanden, in der allgemeinen glücklichen Stimmung den herzlichsten Beifall weckte. Selbst ein unvermutet geschlagener Purzelbaum fand seine Gönner und sogar der unglückliche Virtuose, welcher auf seinem Frisierkamm allen Ernstes eine gefühlvolle Weise hatte blasen wollen und daran scheiterte, freute sich über die ungetrübte Heiterkeit, die er erweckt, und tat den ihm aufgesetzten Strohkranz nicht mehr vom Kopfe.
Nur Jukundus fühlte sich etwas vereinsamt in dem Treiben, weil er Justinen gar zu lange nicht mehr erblickte, an die er schon ein kleines Anrecht zu haben glaubte, wenigstens für diesen letzten Tag. Indessen fand sich eine holde Erlösung, da unversehens die Jungfrau dicht bei ihm stand, ohne daß er wußte, wo sie her kam, und ihn dem Vater und den Brüdern vorstellte als den Bannerherrn des erstgekrönten Vereines. Er wurde von den Männern höflich und auch freundlich gegrüßt und willkommen geheißen, aber nicht ohne jene feste kühle Haltung, welche so reiche Arbeitsherren einem nichts oder wenig besitzenden Seldwyler gegenüber bewahren mußten, insofern er etwa Mehreres vorzustellen gedächte, als einen stattlichen Festbesucher.
Der gutmütige Sänger fühlte das doch augenblicklich und wurde etwas verlegen, so auch Justine, welche ihn darum zur Entschädigung weiter führte, als die Herren weggegangen, und ihm das Gut zu zeigen vorschlug.
Zwei gleichgebaute, villenartige Häuser neuesten Stiles, welche zunächst dem See in den schattigen Anlagen standen, bezeichnete sie ihm als die Wohnungen der beiden Brüder, wovon jeder schon seine eigene Familie gegründet hatte, ohne deswegen aus der Gesamtfamilie auszuscheiden. Dann stieg sie mit ihm Wege und Treppen empor, bis wo über den Wipfeln der unteren Bäume die Wohnung der Eltern stand, worin sie selber lebte, von etwas älterer Bauart, aber immerhin ein stattliches Herrenhaus, umgeben von Wirtschaftsgebäuden und Ställen; weiterhin sah man lange hohe Gewerbshäuser mit zahllosen Fenstern, welche an die staubige Landstraße grenzten, die hier vorüberführte. Jenseits der Straße aber, an dem ansteigenden Bergabhang, dehnten sich Äcker, Weinberge und Wiesen mit Wäldern von Obstbäumen und hoch über allem diesem zeigte ihm Justine das Haus der Großeltern als den Stammsitz der Ihrigen, in der Abendsonne weit über das Land hin schimmernd, ein weitläufiges vornehmes Bauernhaus von altertümlicher Bauart, mit hellen Fensterreihen, weißem Mauerwerk und buntbemaltem Holzwerk an Dach und Scheunen, mit steinernen Vortreppen und künstlich geschmiedeten eisernen Geländern. Hier hausten der Großvater und die Großmutter mit ihrem Gesinde, beide achtzigjährige Landleute, beide noch täglich und stündlich schaffend und befehlende, zähe und gestrenge alte Personen von einfachster Lebensweise und stets fertig mit ihrem Urteil über alle Jüngeren, wie Justine ihrem Begleiter sie schilderte. »Wollen wir noch schnell hinaufgehen und sie grüßen, da sie es verschmähen, von ihrer Höhe herunter zu steigen und unsere Lustbarkeit anzusehen? Es ist eine herrliche Aussicht dort oben!« so sagte das Mädchen. Aber Jukundus empfand eine Art Scheu vor den Alten und dankte höflich für weitere Bemühung seiner Führerin, da ihn überdies all das ausgedehnte Wesen eher ängstigte als erfreute.
Sie kehrten daher wieder zurück und mischten sich unter die Festgenossen, die je länger je lustiger wurden, bis im Osten der Vollmond aufging und nach dem Niedergang der Sonne hinüberschaute, so daß Rosen und Silber sich in den Lüften und auf den Wassern vermengten und das Schiff zur Abfahrt bereitet, auch bald bestiegen wurde.
Es gab ein Gedränge hiebei, da jeder den Wirten, die am Ufer standen, die Hand geben wollte, während die Schiffleute zur Eile mahnten. So kam es, daß Jukundus Meyenthal von seinem Vorhaben, von der schönen Justine Abschied zu nehmen, abgedrängt wurde und dem Strome folgen mußte, da sie nicht am Wege stand. Freilich schüttelten auch ihm Vater und Brüder die Hand, flüchtig sprechend: »Es hat uns gefreut;« aber der eine nannte ihn Herr Thalmeyer, der andere Meienberg, der dritte gar Herr Meierheim, und keiner sagte: »Auf Wiedersehen!«
Als das Schiff in den Abendglanz hinausfuhr, sah er sie auch nicht mehr, da sie mit den anderen Frauen im dunkelnden Schatten der Bäume stand.
Zu Hause lebte Jukundus bei seiner Mutter, deren einziger Sohn und Jukundi er war und deren große Hoffnung. Weil der Vater früh gestorben, so hatte er das von auswärts zugebrachte Vermögen der Frau nur halb aufbrauchen und sie mit der anderen Hälfte den Sohn aufziehen können; und es war auch jetzt noch etwas da, obschon er noch keinen entschiedenen Anlauf gemacht und noch wenig erworben hatte. Aber es war von ihm auch noch nichts verschwendet worden, weil er der Mutter, von welcher er seine Schönheit und Gesundheit besaß und die ihn mit Freundlichkeit liebte, leidlich gehorchte und sich von ihr leiten ließ.
Bei einem bestimmten Berufe war er noch nicht geblieben. Zuerst hatte es geschienen, daß er für technisches Wesen Neigung zeige, und er war deshalb eine Zeitlang auf die Bureaus eines Ingenieurs gegangen. Dann änderte sich aber diese Stimmung zu Gunsten des Kaufmannsstandes, und er trat in ein Geschäft ein, welches bald darauf aus Mißgeschick sich auflöste, ohne daß er viel einbüßte; jetzt war er gerade in der Richtung, sich dem Militärwesen zu widmen, indem er sich zu einem Unterrichts- und Stabsoffizier ausbildete. Da er hiebei den größten Teil des Jahres auf den Waffenplätzen zuzubringen hatte und Sold empfing, so gewährte das für einstweilen ein stattliches Dasein, ohne daß es bei seiner mäßigen Lebensweise großen Zuschuß eigener Mittel erforderte.
Als er nun nach dem Feste in schmuckem Kriegsgewand und den Säbel an der Seite zu Pferde saß, beschaute ihn seine Mutter mit Wohlgefallen und bemerkte dabei, daß sein anmutiges Lächeln eine kleine Beimischung von Melancholie oder dergleichen gewonnen hatte. Er schien auszusehen wie einer, der irgend ein Heimweh oder eine Sehnsucht aufgelesen hat. Sie dachte darüber nach und stellte auch einige vorsichtige Forschungen an, und als sie von dem Abenteuer mit der Kranzjungfrau hörte und wie er etwa von den andern damit geneckt wurde, ging ihr ein Licht auf, bei dessen Scheine sie sofort still an die Arbeit ging, um ein Glück zu schaffen, wohl angemessen und gut genäht.
Nachdem sie mehr aus den Mienen als aus den wenigen Äußerungen Jukundis gemerkt hatte, daß sich dem also verhielte, wie sie meinte, daß er aber als ein bescheidener und die Verhältnisse wohl durchschauender Mensch kaum große Unternehmungslust verspürte, sagte sie vorderhand nichts mehr. Als aber der Sommer vorgerückt war, verkündigte sie, zum ersten Male in ihrem Leben, daß sie in ihren Jahren doch anfangen müsse, etwas für die Gesundheit zu tun und für einige Wochen einen schönen Kurort zu besuchen Lust habe, wenn Jukundus die Kosten nachher mit ihr gemeinschaftlich durch Sparsamkeit wieder einbringen wolle. Er erklärte sich sofort dazu bereit und sie reiste vergnügt hierüber und in bester Gesundheit ab, mit ihrem schönsten Staate beladen.
Sie gab ihrem Sohne die Weisung, dannzumal, wenn sie ihn benachrichtigen würde, sie heimzuholen, und es aber so einzurichten, daß er auch noch einige Tage an jenem Orte verweilen könne.
Bald darauf tauchte sie in der nicht unberühmten und herrlich in einer Gebirgsgegend gelegenen Kuranstalt auf und setzte sich wohlgeputzt, aber mit unbefangener Haltung unten an die Tafel, an welcher oben die reiche und hochangesehene Frau Gertrud Glor von Schwanau mit ihrer schönen Tochter Justine saß und die Gelegenheit beherrschte. Sie war ebenso hoch gewachsen wie die Mutter Jukundi, aber bedeutend fester, mit weisen und etwas strengen Blicken, und gab gern zu verstehen, daß man sie nicht nur im Kreise der Ihrigen, sondern auch in der Gemeinde, ja wohl noch in weiteren Bezirken, eine »Stauffacherin« nenne, wahrscheinlich weil sie auch Gertrud heiße, wie die rat- und tugendreiche Ehewirtin in Schillers berühmtem Schauspiele Wilhelm Tell.
Sie ließ sich aber etwan belehren, daß man gar wohl wisse, was der Name zu bedeuten habe, und daß er das Ideal einer klugen und starken Schweizerfrau bezeichne, einen Stern und Schmuck des Hauses und Trost des Vaterlandes.
Frau Meyenthal hörte das am ersten halben Tage, den sie am Orte zubrachte, hielt sich aber ganz still und zurückgezogen, und erst gegen Ende des zweiten Tages, als Frau Gertrud nicht mehr dulden konnte, daß ein weiblicher Ankömmling von ihr ungekannt sei, ließ die Mutter Jukundi sich von ihr abfangen und in ein höfliches, kurzes Gespräch verwickeln. Doch fand sie im Verlaufe desselben rasch die Gelegenheit, die Hand der festen Dame zu ergreifen und in herzlichem Tone mitzuteilen, sie fühle sich gedrängt, ihre Freude darüber zu äußern, daß sie eine solche wahrhafte Stauffacherinnengestalt kennen gelernt habe! Man erwarte jeden Augenblick, sie aus einem wappen- und spruchgezierten Schwyzerhause hervortreten zu sehen und wie sie die trostreiche Hand auf die Schulter des sorgenvollen Eheherrn lege!
Während Frau Glor von Schwanau wohlgefällig errötete, erschrak ihrerseits Frau Meyenthal, als während ihrer Rede ihre Augen die schöne Tochter Justine überflogen, die dabei stand; sie sah deren holdes Lächeln, welches dasjenige ihres Sohnes war, genau mit dem gleichen Schatten einer leisen Sehnsucht gemischt, wie das seinige.
Frau Meyenthal erschrak über dieses wundervolle Naturspiel, diese unverkennbare Willensäußerung des Schicksals und diese offenbare Tatsache überhaupt, zumal Justine, welcher das Gesicht der Mutter des Fahnenträgers bekannt und vertraut erschienen war, keinen Augenblick zweifelte, wen sie vor sich habe, als sie ihren Namen und Herkunft hörte, und daher ein kurzes unbewachtes Weilchen eben mit jenem Lächeln erfreut an ihren Augen hing.
Als die Sonne niederging, beglänzte sie die drei hohen Frauengestalten, welche seltsam bewegt von der Liebe zu sich selbst oder von der Liebe und Sorge für andere, auf der Bergeshöhe beisammenstanden und einigermaßen verwirrt auseinander zu schweben schienen.
Die Mutter Jukundi faßte sich jedenfalls am schnellsten, indem sie noch am gleichen Abend ihrem Sohne schrieb, er solle in etwa einer Woche sie besuchen, um nach einigen Tagen Aufenthalt mit ihr heimreisen zu können. Gegen die Frauen von Schwanau tat sie hierauf, als ob sie keine Ahnung von der Begegnung auf der Sängerfahrt hätte, und die Frau Gertrud erinnerte sich der Sache auch kaum und hatte den hübschen Fahnenträger zu jener Zeit gar nicht gesehen, da sie wegen der Bewirtung meist im Innern eines Gartenhauses geblieben war.
Nur Justine war befangen und in Unruhe; sie wagte nicht, die neue Bekannte nach dem Sohne zu fragen, und doch glaubte sie auch nicht gerne, daß er so gar nichts von dem Festerlebnisse und von ihr zu Hause erzählt haben sollte. Frau Meyenthal wollte aber, daß die jungen Leute sich ganz unerwartet und unverhofft wiedersähen und hielt sich daher zurück, ohne die Gelegenheit indessen zu versäumen, bei der alten Stauffacherin mehr als einen Stein im Brett zu erobern durch kluges Benehmen. Denn man konnte jene insofern schon die alte Stauffacherin nennen, als die schöne, gute Justine in ihrer vollsten Lebensblüte stand und ihr nichts mehr fehlte zur Würde und Übung eigenen Stauffachertums, als ein für die Geschicke des Landes in Sorgen stehender Gemahl.
Daß ein solcher nicht schon vorhanden war, lag in den seltsamen Geschicken, welche gerade ausgezeichnete Jungfrauen so oft zu Jahren kommen lassen wegen der scheinbaren Kälte, für welche ihre edle Ruhe gehalten wird, wegen der eifersüchtigen Hut, deren sie sich seitens der Ihrigen erfreuen, und vor allem auch durch Wahrung des größeren Rechtes, das sie besitzen, nur auf die Stimme des Herzens zu achten.
Endlich kam aber ein schöner Abend über das Gebirge und mit ihm langte Jukundus an, und zwar, da er aus einem Feldlager kam und nur wieder in ein anderes gehen mußte, in militärischer Tracht, mit etwas Rot und mit etwas Gold am dunkeln Kleide. Nachdem er sich erfrischt und genugsam mit der Mutter geplaudert hatte, ging er ahnungslos mit ihr spazieren und sie lenkte den Weg dahin, wo sie die beiden Schwanauerinnen wußte, durch das Gehölz auf einen einsamen Felsvorsprung, der mit Sitzen und Geländern versehen war, hoch über einer blauenden Taltiefe.
Die plötzliche Glückseligkeit der beiden jungen Personen, die sich beim unverhofften Wiedersehen auf ihren Gesichtern zeigte, die Gleichartigkeit derselben und das eigentümliche kindliche Lächeln, das sie begleitete, gingen so über alle Vorstellung und Erwartung selbst der Mutter Meyenthal, daß von Kunst und Durchspielen einer Rolle bei ihr keine Rede mehr sein konnte und sie nur froh war, so ruhig und besonnen als möglich den Dingen zuzusehen.
Frau Gertrud aber wendete ganz erstaunt kein Auge von den Kindern und lenkte ihre Blicke immer von einem Gesichte auf das andere. Zuletzt legten sich aber die sanften Wellen der allgemeinen unversehenen Aufregung und es entspann sich ein höchst angenehmes Geschwätz und Gezwitscher, über welchem der Mond aufging, der in der Tiefe der Täler verborgen gewesene Bäche und Weiher beglänzte, daß sie wie goldene Sterne heraufleuchteten.
Frau Gertrud Glor empfand eine Art von Wonne, wie wenn sie ein eigenes verschollenes Jugendglück neu erlebte, und nahm die Mama Meyenthal an den Arm, als auf dem Wege zum Kurhause die Kinder nebeneinander vorangingen und abwechselnd plauderten oder schwiegen. Frau Meyenthal ihrerseits war gerührt und betroffen von der Wichtigkeit der Tatsache und in beide Kinder gleichmäßig verliebt und zugleich in Sorgen, wie das nun enden würde.
Bei der Abendtafel erhöhte sich die glückliche Stimmung womöglich, wie es zu geschehen pflegt, wenn eine eingekehrte schöne Hoffnung die Beteiligten und Mitwissenden belebt und sie reizt, das Geheimnis ungefährdet an der allgemeinen Fröhlichkeit zu sonnen.
Frau Gertrud Glor trank ein kleines Spitzchen mit Jukundus aus lauter Wohlgefallen an seiner guten und schönen Haltung, und als beim Schlafengehen die Tochter sie umhalste und einige schwere Tränen in der Mutter Halskrause niederlegte, wie einen sauer ersparten Zinsgroschen, da war sie gar nicht verwundert, sondern streichelte dem Kind teilnahmvoll die Wangen.
Aber kaum war das Spitzchen notdürftig ausgeschlafen, was schon bald nach Mitternacht getan war, da es nur klein gewesen, wie es einer Stauffacherin geziemt, so wachte sie sorgenvoll auf und besah sich den Schaden die übrige Nacht hindurch, während Justine auch nicht schlief und wohl merkte, daß die Mutter wachte. Aber sie hielt sich mäuschenstill und war nur glücklich, daß sie keine Zeit mit Schlafen verlor und unaufhörlich an die Sache denken konnte.
Der Mutter indessen wurde es mit der zunehmenden Morgendämmerung immer deutlicher, daß ja unmöglich ein Mann aus Seldwyla in die Familie heiraten dürfe, aus dem Orte, in welchem noch nie einer auf einen grünen Zweig gekommen sei und wo niemand etwas besitze. Sie wachte daher mit Sorge, aber auch mit Entschlossenheit dem Morgen entgegen, um das entstehende Übel im Werden zu ersticken, das ihr umso größer erschien, wenn sie noch der strengen Gesinnung der Männer ihres Hauses in diesem Punkte gedachte.
Bestärkt wurde sie noch in diesen Vorsätzen, als um die Zeit des Sonnenaufganges ein später Schlafgänger, offenbar angetrunken, die Treppen heranstieg und von einem Hausbediensteten an den verschiedenen Zimmertüren vorbeigeleitet wurde, nicht ohne vor derjenigen der Glorschen Frauen über deren Schuhe zu stolpern und dieselben mit dem Fuße wegzuschleudern. Die Schuhe der Mama fuhren, der eine überzwerch, der andere mit dem Hinterteil voran, den ganzen Korridor entlang; die Stiefelchen der Tochter aber reisten infolge eines rückwärts scharrenden Stoßes wie zwei wettfahrende Schifflein der Treppe zu und über dieselbe hinunter.
»Aha!« rief drinnen die wachsame Frau, »da haben wir den Seldwyler!«
Und das Herz wurde ihr schon leichter über diesen rechtzeitigen Enthüllungen.
Justine saß aber auch schon aufrecht in ihrem Bette und lauschte mit angstvoller Spannung; als sie noch ein paar Worte des draußen Hinwandelnden gehört, rief sie ihrerseits erleichtert, ja mit sündlicher Freude:
»Es ist nicht der Hauptmann! Es ist ja unser Rudolf, der Stimme nach zu urteilen!«
Die Mutter sah sich überrascht nach der Tochter um und sagte fast erbost: »Bist du bei Verstand? Wie soll unser Rudolf hieher kommen und zu dieser Stunde? Und seit wann stolpert der betrunken in den Gasthäusern herum? Und ist er nicht eben jetzt weit weg bei einer Militärübung?«
Es war aber dennoch der jüngere Sohn und Augapfel der Frau Gertrud, der soeben zu Bett gegangen auf diesem hohen Berge.
Er war spät in der Nacht noch eilig mit einem Führer angekommen, erschöpft und anscheinend mit einem Kummer belastet. Auch er trug den Soldatenrock und kam soeben von seinem Waffenplatze hergeflüchtet, wo er von einem andern Offizier, den er beleidigt hatte, gefordert worden war. Da er sich mehr auf die Buchführung und die Kurszettel verstand, als auf Duellangelegenheiten, und eine junge Frau mit zwei kleinen Kindlein besaß und sich beklemmt fühlte, so hatte er Bedenkzeit genommen und war schnell hieher gelaufen, um seine Mutter zu Rate zu ziehen, wie er sich verhalten solle.
Im Speisesaal hatte er noch den Jukundus getroffen, welcher, keine Schlaflust verspürend, in angenehmer Träumerei noch ein Stündchen allein verwachte.
Der gemeinsame Kriegspfad, auf dem sie wandelten, zwang die beiden Herren, sich zu begrüßen und eine Unterhaltung zu eröffnen, als der Leutnant Glor sich an den Tisch setzte, um noch ein Nachtessen einzunehmen. Weil er kürzlich von dem guten Ansehen vernommen, in welchem der Hauptmann Meyenthal in militärischen Kreisen bereits stand, erneuerte er jetzt gern dessen Bekanntschaft und fühlte sich gleich vertrauensvoll zu ihm hingezogen. Von einigen Gläsern Weines, die er in seiner Aufregung rasch getrunken, hingerissen, erzählte er dem Jukundus bald seinen Handel und wie er nun hergekommen sei, seine Mutter, welche nämlich eine wahre Stauffacherin genannt werden müsse und für alles einen Rat besitze, um ihre Meinung zu befragen.
Jukundus gab ihm aber den Rat, das nicht zu tun, wenn er den Handel nicht verschlimmern wolle. Er setzte ihm auseinander, wie nach der einmal herrschenden Anschauung in solchen Sachen er Gefahr laufe, als Offizier unmöglich zu werden, sobald es ruchbar würde, daß er seine Duellangelegenheiten der Mutter anvertraue und ihre Weisungen befolge.
Da versank Herr Rudolf in neue Kümmernis, denn es wollte ihm vernünftigermaßen durchaus nicht einleuchten, warum er wegen solcher Dummheiten von Frau und Kindern wegsterben solle.
Jukundus befragte ihn jetzt um die eigentliche Natur des Streites, und was denn vorgefallen sei?
Rudolf hatte mit drei andern Kriegern eine Partie Karten gespielt. Nach Beendigung einer Tour, in welcher sein Partner nicht nach Rudolfs Wunsch ausgespielt hatte, ward der Verlauf, während die Karten neu gegeben wurden, kritisiert und zwar mit den Konjugationen der gegenwärtigen Zeit. Ich spiele also dies, hieß es und du jenes; nun muß er so spielen und nicht so, und ich werde hierauf zu ihm halten und das spielen, worauf du wieder jenes spielen wirst, das ist doch klar, wenn wir gewinnen wollen. Nein, das ist nicht klar, hatte Rudolfs Partner erwidert, sondern ich steche zunächst den Trumpf ab und spiele dann jenes.
»Dann spielst du wie ein Esel!« hatte Rudolf gerufen, worauf dann sogleich allgemeiner Aufbruch und am andern Morgen die Forderung erfolgt war in so feierlicher und barscher Form, daß der gute junge Mann gar nicht hatte dazu kommen können, sich in genugtuender Weise zu erklären.
Als Jukundus über diese Geschichte lächelte und noch den Namen des Forderers erfuhr, sagte er: »So, der! Nun der muß in Gottes Namen alle Jahr eine Forderung vom Stapel lassen, damit seine Ehre nicht schimmelig wird! Die Ihrige aber, Herr Leutnant, erfordert allerdings, daß Sie wegen dieses Vorfalls Ihr Leben nicht aufs Spiel setzen und also dem Gegner einfach erklären, daß er nicht wie ein Esel gespielt haben würde, sondern in jeder beliebigen andern Eigenschaft, welche er vorzöge! Sie können daraus immerhin die Lehre ziehen, daß man sich in Uniform stets einer etwas gemessenen Sprache bedienen sollte, auch in den Stunden der Erholung. Nun darf es aber durchaus nicht den Anschein haben, als ob Ihre Erklärung das Ergebnis einer Unterredung mit der Mutter wäre, wenn Sie, wie ich schon gesagt, nicht noch schlimmere Folgen herbeiführen wollen. Wenn Ihnen daher damit gedient ist, will ich als Ihr Ratgeber und Helfer auftreten und dem Herrn gleich jetzt mit drei Zeilen schreiben, daß Sie mit mir gesprochen und jene genugtuende Erklärung abgegeben haben und zwar auf meinen Rat! Morgen früh wird der Brief abgehen und die Sache wird damit zu aller Zufriedenheit abgetan sein, dafür kann ich Ihnen bürgen!«
Jetzt war von dem Herzen des jungen Kriegers ein großer Stein gefallen, und um seine Dankbarkeit zu beweisen und zugleich sich für die ausgestandene Sorge zu entschädigen, hatte er in gewaltsamer Weise vieles und gutes Getränke kommen lassen und den hilfreichen Freund bis zum anbrechenden Morgen festgehalten. Der war auch gern bei ihm sitzen geblieben und hatte gar willig dem frohen Geplauder des jungen Mannes zugehört, der Justines Bruder war. Allein der Wein verzischte unschädlich in der Tiefe seiner warmen Neigung und er ging still mit guten Sinnen zu Bette, während jener so geräuschvoll sein Lager suchte.
So hatten sich nun für die Stauffacherin, während sie über das Übel mit der aufgehenden Sonne zu triumphieren glaubte, die Dinge nur schlimmer gestaltet; denn nicht nur war es ihr eigenes Blut, welches so angeheitert dahin gewallt, sondern in demselben auch ein guter Parteigänger für den Feind erstanden.
Justine hatte durch die halbgeöffnete Türe eine Magd herbeizurufen gewußt und von derselben vernommen, daß in der Tat ihr Herr Bruder angekommen und die Nacht hindurch in guter Gesellschaft mit dem Herrn Hauptmann geblieben sei. Darauf war sie wieder ins Bett geschlüpft und endlich vergnügt eingeschlafen.
Jukundus schlief auch ziemlich lang und Rudolf war bis tief in den Vormittag hinein nicht zu erwecken, bis die Mutter mit Gewalt in sein Zimmer drang und ihn zur Rede stellte. Weil er nun den Ehrenhandel für abgetan erachten konnte, so vertraute er die Sache doch noch seiner Mutter an und erzählte ihr, wie der gute Rat und die Tat des Seldwyler Hauptmanns die Schwierigkeit gelöst und sein Leben, man könne wohl sagen, erhalten habe; denn er könne sich gar nicht vorstellen, wie er mit einer wirklichen Pistolenkugel auf einen gesunden Menschen hätte schießen sollen, während er diesem dann doch hätte stillhalten müssen. Und er pries in seiner immer noch aufgeregten Redseligkeit die Weisheit und Bravheit des Seldwylers so gewaltig an, daß sie von Betroffenheit und Ärger verwirrt in ihr Zimmer eilte und sich vorderhand dort einschloß.
Sie war überdies eifersüchtig auf ihren Stauffacherruhm und auf ihr mütterliches Ansehen und Recht ganz erbost, wieso ihr Rat dem Sohne übler hätte bekommen sollen, als derjenige eines jungen Seldwylers. Sie stürmte daher bald wieder aus ihrem Versteck hervor, um dem unberufenen Ratgeber selbst den Kopf zu waschen und damit zugleich nützliche Händel mit ihm anzufangen, welche die Freundschaft aufhöben. Allein sie fand die ganze Gesellschaft in fröhlicher Eintracht in einer Laube beisammensitzen, jedes mit einem verspäteten Frühstück eigener Erfindung versehen und alle untereinander damit Tauschhandel treibend. Kaum hatte sie das junge Paar wieder so schön und glücklich nebeneinander erblickt, so war auch schon jeder Vorsatz vergessen und sie half sogleich für den Nachmittag einen schönen Ausflug beraten und festsetzen; denn sie war eine fröhliche Frau, wie alle Stauffacherinnen, wenn gerade keine Gewitterwolken über den Männern schweben, die sie zerstreuen sollen.
Wie nun gar während des Tags sie den Jukundus, den sie doch zur Rede stellte, mit höflichen und klugen Worten die Duellsache auseinandersetzen hörte, sah sie wohl ein, daß er recht und ihrem Sohne einen guten Dienst geleistet habe, was sie mit einem dankbaren Gefühl und Zutrauen erfüllte.
Sie machte sich daher gleichen Tages auch an die Mutter des Jukundi und stellte auch diese zur Rede mit allerlei ausholenden Sprüchen und Anschraubungen von wegen der zwei Kinder.
Frau Meyenthal fing das Garn ihrer Rede auch sofort ein und wickelte es behende auf ein Spülchen, welches sie der Gegnerin mit dem Trumpfe zurückgab, daß sie das Übel von Seldwyla gar wohl kenne. Allein es komme alles auf die Umstände an. Auch sie habe von außen her sich da angeheiratet und sei eine gute Partie geheißen worden, und es sei, abgesehen von dem frühen Hinscheiden des seligen Mannes, nicht übel gegangen, so daß, wie sie glaube, der Sohn, Gott sei Dank, gut geraten und für ein gutes und ehrbares Leben empfänglich sei, was Frau Glor auch glaubte.
Hiemit war die maßgebende Geheimverhandlung durchgeführt und was mächtige Naturstimmen wünschten, im Lauf. Die beim übrigen Teil der Schwanauer Familie noch harrenden Schwierigkeiten wurden still und anständig überwunden und in wenig Monaten Jukundus und Justine als Verlobte ausgerufen.
Es erschien das allgemein als ein so hübsches und gerechtes Ereignis, daß keine Mißrede zu vernehmen war. Die Verlobten erhielten nicht einen einzigen anonymen Schmäh- oder Warnungsbrief, wie das sonst so zu geschehen pflegt, wenn ein großer Neid erregt wird. Der klarste Morgenhimmel lachte über ihrem Brautstande und die Hochzeit selbst ward zu einem sonnigen und klangvollen Feste mit Fahnen und Gesängen, welches das teilnehmende Volk wie ein altes schönes Lied anmutete.
Die jungen Eheleute wohnten im elterlichen Hause zu Seldwyla. Es war das ein ziemlich großes Gebäude mit hohen Zimmern und Sälen, im vorigen Jahrhundert von einem Bürger erbaut, der im Auslande reich geworden und sein Gut in der Vaterstadt prächtig hatte ausbreiten wollen. Ehe es aber wohnlich eingerichtet und ausgestattet war, hatte der Mann sein ganzes Vermögen in den eingetretenen Revolutions- und Kriegsjahren wieder verloren, so daß er statt das Haus zu beziehen, wieder fortgezogen war, um dort, wo er die früheren Glücksgüter gefunden, nachzusehen, ob nicht solche von neuem zu erhaschen wären. Das Haus aber war seither von Hand zu Hand gegangen in der Art, daß immer derjenige Seldwyler, der am meisten Lust und Mittel zu einem herrschaftlichen Dasein verspürte, dasselbe übernahm und eine Zeitlang bewohnte, ohne daß es jedoch im Innern jemals ganz fertig wurde.
Am längsten hatten es jetzt die Meyenthal besessen und im Verlaufe der Zeit hier eine Tapete, dort einen Anstrich aufgewendet; vor der Hochzeit hatte Jukundus noch die Außenseiten des Hauses auffrischen und den Garten in gute Ordnung bringen lassen, und als nun Justine mit einer gewaltigen Aussteuer an fahrender Habe aller Art eingezogen und diese in den stattlichen Räumen auf das schönste verteilt und untergebracht war, schien das geschmiedete, oder in diesem Falle das genähte Glück endlich für eine gute Dauer in dem Hause zu wohnen. Auch residierte die Urheberin desselben, die Meyenthal, zufrieden und stolz in ihrer Abteilung, besonders da sie sah, daß die schöne Justine einen festen und klaren Sinn für den Besitz und dessen Erhaltung zeigte und Jukundus seine gutgeartete Lenksamkeit auch der jungen Gattin gegenüber nicht zu verlieren Miene machte.
Mit der Verheiratung hatte er verabredetermaßen die militärische Laufbahn als Berufssache wieder aufgegeben wegen der fortwährenden Abwesenheit, die sie mit sich brachte. Um sich aber dafür einen ehrbaren Erwerb und eine geordnete Tätigkeit zu sichern, hatte er ein Handelsgeschäft errichtet, welches sich auf den Holzreichtum der Stadtgemeinde und der umgebenden Landschaft gründete. Zu den großen Allmenden, die von der alemannischen Bodenteilung herrührten, waren später noch die Waldungen von Burg und Stift gekommen, an deren Mauern die Stadt sich angebaut hatte.
Diese hatte bisher die Quellen ihrer Behaglichkeit geschont und auch aus bürgerlichem Stolz erhalten, wie sie ihre reichen Trinkgeschirre und den alten Wein im Stadtkeller sorgfältig erhielt. Allein durch irgend eine Spalte war die Verlockung und die Gewinnsucht endlich hereingeschlüpft und es wandelte ungesehen schon der Tod durch die weiten Waldeshallen, schlich längs den Waldsäumen hin und klopfte mit seinen Knochenfingern an die glatten Stämme. Als daher eben um diese Zeit Jukundus auftrat, um das Bau- und Brennholz anzukaufen und auszuführen, kam sein Geschäft alsobald in Schwung; denn die Seldwyler zogen die Vermittlung des ihnen wohlbekannten ehrlichen Mitbürgers dem Andringen der fremden Händler, durch die das Unheil eingeschlichen, vor.
Jetzt begannen die hundertjährigen Hochwaldbestände zu fallen und auch sofort dem Strich der Hagelwetter den Durchlaß auf die Weinberge und Fluren zu öffnen. Allein sie waren auch einmal jung und niedrig gewesen oder schon mehrmals vielleicht, und sie konnten wieder alt und hoch werden. Doch als die Axt auch an die jüngeren Wälder geriet, für das zuströmende Geld immer schönere Zwecke erfunden und die Berghänge dafür immer kahler wurden, fing es den Jukundus innerlich an zu frieren, da er von Jugend auf ein großer Freund und Liebhaber des Waldes gewesen. Während er an dem Handel einen ordentlichen Gewinn machte, begann er sich desselben mehr und mehr zu schämen; er erschien sich als ein Feind und Verwüster aller grünen Zier und Freude, wurde unlustig und oft traurig und vertraute sich seiner Frau an, da sie sein frohes Lächeln, das zu dem ihrigen wie ein Zwillingsgeschwister war, fast seltener werden sah und ihn ängstlich befragte. Sie dachte aber, die Dinge würden mit oder ohne den Mann ihren Lauf gehen und wahrscheinlich nur noch schlimmer, und sie war nur darauf bedacht, ihn bald aus eigenen Kräften wohlhabend und unabhängig zu wissen, um auch von dieser Seite her stolz auf ihn sein zu können. Sie bestärkte daher den Mann nicht in seiner Unlust, sondern ermunterte ihn vielmehr zum Ausharren und er fuhr dann so fort.
Da wurde an einer schief und spitz sich hinziehenden Berglehne, welche der Wolfhartsgeeren hieß, ein schönes Stück Mittelwald geschlagen. Aus demselben hatte von jeher eine gewaltige Laubkuppel geragt, welche eine wohl tausendjährige Eiche war, die Wolfhartsgeereneiche genannt. In älteren Urkunden aber besaß sie als Merk- und Wahrzeichen noch andere Namen, die darauf hinwiesen, daß einst ihr junger Wipfel noch in germanischen Morgenlüften gebadet hatte. Wie nun der Wald um sie her niedergelegt war, weil man den mächtigen Baum für den besondern Verkauf aufsparte, stellte die Eiche ein Monument dar, wie kein Fürst der Erde und kein Volk es mit allen Schätzen hätte errichten oder auch nur versetzen können. Wohl zehn Fuß im Durchmesser betrug der untere Stamm und die wagrecht liegenden Verästungen, welche in weiter Ferne wie zartes Reisig auf den Äther gezeichnet schienen, waren in der Nähe selbst gleich mächtigen Bäumen. Meilenweit erblickte man das schöne Baumdenkmal und viele kamen herbei, es in der Nähe zu sehen.
Als man nun gewärtigte, welcher Käufer den höchsten Preis dafür bieten würde, erbarmte sich Jukundus des Baumes und suchte ihn zu retten. Er stellte vor, wie gut es dem Gemeinwesen anstehen würde, solche Zeugen der Vergangenheit als Landesschmuck bestehen zu lassen und ihnen auf allgemeine Kosten Luft und Tau und die Spanne Erdreich ferner zu gönnen; wie die verhältnismäßig kleine Summe des Erlöses nicht in Betracht kommen könne gegenüber dem unersetzlichen inneren Wert einer solchen Zierde. Allein er fand kein Gehör; gerade die Gesundheit des alten Riesen sollte ihn sein Leben kosten, weil es hieß, jetzt sei die rechte Zeit, den höchsten Ertrag zu erzielen; wenn der Stamm einmal erkrankt sei, sinke der Wert sofort um vieles. Jukundus wandte sich an die Regierung, indem er die Erhaltung einzelner schöner Bäume, wo solche sich finden mögen, als einen allgemeinen Grundsatz belieben wollte. Es wurde erwidert, der Staat besitze wohl für Millionen Waldungen und könne diese nach Gutdünken vermehren, allein er besitze nicht einen Taler und nicht die kleinste Befugnis, einen schlagfähigen Baum auf Gemeindeboden anzukaufen und stehen zu lassen.
Er sah wohl, daß man überall nicht zugänglich war für seinen Gedanken und daß er sich nur als Geschäftsmann bloßstellte und heimlich belächelt wurde. Da kaufte er selbst die Eiche und das Stück Boden, auf welchem sie stund, säuberte den Boden und stellte eine Bank unter den Baum, unter dem es eine schöne Fernsicht gab, und jedermann lobte ihn nun für seine Tat und ließ sich den Anblick gefallen. Aber von diesem Augenblicke an suchte auch jedermann, ihn zu benutzen und zu übervorteilen, wie einen großen Herrn, der keiner Schonung bedürfe.
Aus Widerwillen gegen die Baumschlächterei änderte Jukundus nach und nach, aber so rasch als möglich, sein Geschäft, indem er den Holzhandel verließ und dafür sich auf den Verkehr mit jenen Schätzen warf, welche aus dem Schoße der Erde kommen und das Holz ersetzen. Er errichtete Magazine von Stein- und Braunkohlen, führte Ton- und Eisenrohre ein, um die hölzernen Wasserleitungen zu verdrängen, Backsteine zu leichteren Baulichkeiten, die man sonst von Holz zu erstellen pflegte, Zement für allerlei Behälter, und verleitete einen reichen Bauer, sich ein gewaltiges festes und kühles Mostfaß aus Zement errichten zu lassen. Als dies gelang, sah er im Geiste schon statt der hölzernen Fässer in jedem Keller solche Vorratsgefäße, gleich den großen in der Erde ruhenden Weinkrügen der Alten, und das gute Eichenholz gespart. Auch kaufte er Massen von ausgedienten Eisenbahnschienen, welche in hundert Fällen einen Holzbalken vertreten.
Natürlich ging die Holzausfuhr ohne ihn und über ihn hinweg nach den alles aufzehrenden Städten; allein er war nun mit seinem Gewissen im reinen, ohne welchen stillen Gesellschafter er sich als Handelsherr nicht glücklich fühlte. Auch wären die neuen Geschäfte an sich nicht ohne Gewinn geblieben, wenn nicht bei jener Geschäftsänderung eine gewisse Störung stattgefunden und, seit er den Baum als Pensionär an seine Kost genommen, sich das Gebaren der Geschäftsfreunde verändert hätte, so daß diese nun das wahre Gesicht zeigten.
Jukundus sagte immer die Wahrheit und glaubte dafür auch alles, was man ihm sagte. Er eröffnete stets im Anfang seine ganze Meinung und was er tun und halten konnte und nahm als richtig an, was ihm der andere von seinen Kaufs- und Verkaufsbedingungen und von der Beschaffenheit der Ware mitteilte, erst in der Meinung, daß jener schon sich bemühen werde, der Sache näher auf den Grund zu kommen, später, als das nicht geschah, gleich mit dem kecken Vorsatz der Täuschung. Und alle Erfahrung half hier nichts und jede Ermahnung der Frauen, nicht so leichtgläubig zu sein, war fruchtlos. Denn gleich das nächste Mal glaubte er wieder, weil er nicht anders konnte, oder es war ihm zu widerwärtig und verächtlich, lange zu zanken und zu feilschen. Dazu kam, daß er nichts weniger als ein geschickter Finanzmann war, der Geld und Kredit zu wenden wußte, und so fügte es sich, daß eines Tages seine Mittel erschöpft waren und das Ende herangekommen. Es geschah dies plötzlich, weil er nicht lange von einem Nagel an den andern gehängt und keinen Scheinverkehr getrieben hatte.
Er überlegte, ob er sich zuerst der Mutter oder der Gattin oder beiden gleichzeitig anvertrauen und mitteilen solle, daß der Wohlstand dahin sei und von unten auf wieder angefangen werden müsse, was und wo, wisse er noch nicht. Er entschied sich für die Frau. Als er nun mit ihr allein in seiner Handelsstube stand und schweren Herzens von seiner Lage zu erzählen begann, trat sie ganz nahe zu ihm hin, strich ihm mit der Hand über die sorgenvolle Stirne und unterbrach ihn mit der Frage, ob seine Bücher richtig und vollständig geführt seien? Als er die Frage bejahte, lachte sie ihn so schön an, daß ihm das Herz aufging, und sagte, in diesem Falle kenne sie den Sachbestand schon, da sie neugierig gewesen sei und neulich in seiner Abwesenheit seine oder vielmehr ihre gemeinschaftlichen Angelegenheiten studiert habe.
In der Tat hatte sie, da sie inne geworden, daß er Kummer verbarg, eines stillen Sonntags, als er verreisen mußte und, wie gewohnt, die Schlüssel auf ihr Arbeitstischchen legte, diese genommen und sich auf seiner Schreibstube eingeschlossen; dort hatte sie seine Bücher und Papiere untersucht, was sie gar wohl verstand. Es war alles klar und durchsichtig und jede Zahl an ihrem Platze. Sie sah, daß es nicht lange mehr gehen könne, jedoch die Gefahr eines schimpflichen Vorganges nicht vorhanden sei, wenn zur rechten Zeit der Strich unter die Rechnung gemacht werde. Bei seiner Offenheit gewiß, daß seine Beichte nicht lange auf sich warten lassen werde, hatte sie seither bereits gehandelt und ihre Eltern ins Vertrauen gezogen. Schon bei der Einwilligung zu der Heirat war in dem stolzen Sinne der reichen Leute der Fall vorausgesehen und im Geheimen festgesetzt worden, daß die jungen Leute nach Schwanau kommen sollten, wenn es, wie wahrscheinlich wäre, in Seldwyla nicht ginge. So war denn Justine über ihre Entdeckung nicht eben sehr erschrocken, sondern empfand fast eher eine geheime Freude, daß sie den lieben, schönen, guten Mann in ihr Vaterhaus ziehen und dort mit aller Vorsorge einspinnen und in Seide wickeln könne, wie ein zerbrechliches Glasmännchen.
Wie sie ihm diese Pläne nun aber mitteilte und eröffnete, daß man nur eine rasche, stille Abwicklung der Geschäftslage in Seldwyla vorzunehmen und nach Schwanau überzusiedeln brauche, wo Jukundus sich schon werde nützlich machen können, erblaßte er und sagte: »Da würde meine Freiheit und mein Selbstbewußtsein dahin sein! Lieber will ich Holz hacken!«
»Nun, da kann ich auch dabei sein!« erwiderte Justine, »da helfe ich dir sägen, und wenn wir alsdann so im Regenwetter auf der Straße sind und beide an der Säge hin und her ziehen, zanken wir miteinander, daß die Leute stillstehen, wie wir es auf unserer Hochzeitsreise in jener großen Stadt gesehen haben!«
Sie setzte sich und fuhr fort: »Erinnerst du dich noch, welch einen seltsamen Eindruck es auf uns machte? Das regnete, regnete unaufhörlich, das Holz war naß und die Säge war naß und der Mann und die Frau waren durchnäßt und sie rissen die Säge unablässig hin und her und zankten bitterlich mit harten Worten! Weißt du, warum? Sie stritten um die Not, um das Elend, um die Sorge, und schämten sich nicht im geringsten vor den Leuten, die zuhörten –«
»Schweig,« rief Jukundus, »wie kannst du mein Wort so ausmalen und ausbeuten, da du wohl weißt, wie es zu nehmen ist!«
»Es kann alles darin liegen, was ich gesagt habe!« antwortete Justine. »Komm,« sagte sie und legte den Arm um seine Schultern, »alles liebt dich und alles hilft dir, du bist ein ganzer Mann, wenn du nur erst einen vernünftigen Boden unter den Füßen hast! Aber hier gedeihen wir nicht!«
Jukundus brach die Unterredung ab, um sich zu sammeln; denn er war verwirrt und gestört, weil er die Sache nicht so trost- und mutlos angesehen hatte wie seine Frau, und er fühlte sich gekränkt. Er ging zu seiner Mutter; die fing aber sogleich an zu weinen, als sie von der Lage Kenntnis erhielt. Alles schien ihr verloren, wenn der Sohn sich nicht an die Frau und deren Haus hielte, und sie beschwor ihn, sein und der Seinigen Glück nicht zu Grunde zu richten.
Die gute Mutter hatte sich gegen die Armut nun so lange zu wehren und derselben durch ihre kluge Verheiratung des Sohnes, wie sie glaubte, für immer zu entgehen gewußt, und sie fürchtete die Armut wie ein geschliffenes Schwert.
Justine dagegen haßte und verachtete die Armut wie etwas an sich Böses und Verächtliches, wenn es sich nicht etwa um fremde arme Leute handelte, denen man gemächlich Gutes tun kann. Sie übte sogar eine eifrige und geordnete Mildtätigkeit, ging in die Hütten der Armen und suchte sie auf. Aber wo die Armut in ihre engeren Lebenskreise der Blutsverwandtschaft oder Freundschaft eindringen wollte, empfand sie einen harten Abscheu, wie gegen die Pest, und floh ordentlich davor. Es half daher nichts, daß Jukundus wieder zu ihr ging und ihr vorstellte, sie könne ja das ungewisse Schicksal immer ein wenig mit ihm versuchen und ertragen, da ihr ja schließlich die elterliche Zuflucht und ihr reiches Erbe gesichert sei. Nicht einen Tag wollte sie ihn und sich der Not und der Erniedrigung ausgesetzt sehen, und als ihr Vater kam und ihm freundlich zuredete, als zu einer Sache, die ja selbstverständlich sei und sich für alle aufs beste ordnen lasse, mußte er sich ergeben.
Die Arbeitsleute Jukundis wurden ausbezahlt und verabschiedet, der Grundbesitz verkauft, weil die Mutter, welche noch teil daran hatte, nicht allein in Seldwyla bleiben wollte, und alle Verbindlichkeiten gelöst. Jukundus behielt hierauf nicht einen Taler mehr in der Hand für den Augenblick, was ihm eine höchst seltsame Empfindung verursachte. Justine indessen betrieb guten Mutes und voll Munterkeit das Einpacken der fahrenden Habe und die Übersiedlungsanstalten; bald war sie in Schwanau, um dort die Wohnung einzurichten, bald wieder in Seldwyla, um hier die Dinge zu besorgen, war reichlich mit Geldmitteln versehen und vergaß in ihrem frohen Eifer gänzlich, daran zu denken, ob auch Jukundus noch etwas bedürfe oder in der Hand habe.
Da wurde es ihm zu Mute, wie wenn er ohne einen Zehrpfennig in ein fernes Land unter wildfremde Menschen wandern müßte, deren Sprache er nicht verstehe, und er sah sich besorgt um, wo er noch wenigstens ein Stück eigenes Handgeld erraffen könne für alle Fälle. Es war noch der große Eichbaum vergessen worden, den er gerettet und erhalten hatte. Mit wehmütigem Lächeln verkaufte er den alten Riesen nun doch samt dem Boden, auf dem er stand, und erhielt einige tausend Franken, welche er sorgfältig aufbewahrte.
Der Käufer des Baumes stellte sogleich ein Dutzend Männer ein, welche dessen Wurzeln frei machten und untergruben und volle acht Tage damit zu schaffen hatten. Als man endlich so weit war, daß der Baum umgezerrt werden konnte, strömte ganz Seldwyla auf die Berghalde hinaus, um den Fall mit anzusehen, und Tausende von Menschen waren rings herum gelagert, mit Speise und Trank wohl versehen.
Starke Taue wurden in der Krone befestigt, lange Reihen von Männern daran gestellt, welche auf den Befehlsruf zu ziehen begannen; die Eiche schwankte aber nur ein weniges und es mußte stundenlang wieder gelöst und gesägt werden in den mächtigen Wurzeln. Das Volk aß und trank unterdessen und machte sich einen guten Tag, aber nicht ohne gespannte Erwartung und erregtes Gefühl.
Endlich wurde der Platz wieder weithin geräumt, das Tauwerk wieder angezogen und nach einem minutenlangen starken Wanken, während einer wahren Totenstille, stürzte die Eiche auf ihr Antlitz hin mit gebrochenen Ästen, daß das weiße Holz hervorstarrte. Nach dem ersten allgemeinen Aufschrei wimmelte es augenblicklich um den ungeheuren Stamm herum. Hunderte kletterten an ihm hinauf und in das grüne Gehölz der Krone hinein, die im Staube lag. Andere krochen in der Standgrube herum und durchsuchten das Erdreich. Sie fanden aber nichts, als ein kleines Stück gegossenen dicken Glases aus der Römerzeit, das vor Alter wie Perlmutter glänzte, und eine von Rost zerfressene Pfeilspitze.
Auf einer fernen Berghöhe, über welche eben Jukundus mit den Seinigen langsam hinwegfuhr, riefen arbeitende Landleute plötzlich, nach dem Horizont hinweisend: »Seht doch, wie die alte Wolfhartsgeereneiche schwankt, weht denn dort ein Sturmwind?« Denn sie konnten die Leute nicht sehen, die daran zogen. Jukundus blickte auch hin und sah, wie sie plötzlich nicht mehr dort und nur der leere Himmel an der Stelle war.
Da ging es ihm durchs Herz, wie wenn er allein Schuld wäre und das Gewissen des Landes in sich tragen müßte.
Die Seldwyler aber lebten an jenem Abend eher betrübt als lustig, da der Baum und der Jukundi nicht mehr da waren.
Im Beginn seines Aufenthaltes zu Schwanau verbrachte Jukundus seine meiste Zeit bei den Großeltern auf dem Berge, die er einst wegen ihres scheinbar unfreundlichen, herben und rastlosen Wesens beinah gefürchtet hatte. Im Verlaufe der Zeit war er aber auf einen guten Fuß mit ihnen geraten und sogar der Liebling der Alten geworden, wie denn öfter geschieht, daß solche Landleute in ihrer uralten Sicherheit gern etwas Müßiges und ihnen Ungleiches um sich leiden mögen, das ihre Heiterkeit weckt. In dem jungen Manne sahen sie etwas fremdartig Unpraktisches, aber Liebenswürdiges, das vermutlich keinen guten Stern haben würde und daher Mitleid und Teilnahme verdiene. So dachten die Ehgaumers, wie sie im Volke noch hießen von dem verschollenen Ehegaumeramte her, das der Großvater vor einem halben Jahrhundert einst bekleidet hatte und eine Art Sitten- und Eherichteramt gewesen war. So alt wie dieser Titel war auch der Schnitt der weißen Haube und des großen weißen Halstuches, womit die Ehegaumerin sich schmückte, und alles stammte noch aus jener Zeit, da schon Goethe bei einem Besuch in dieser Gegend schrieb, der Ort gebe von der schönsten und höchsten Kultur einen reizenden und idealen Begriff, die Gebäude stehen weit auseinander, Weinberge, Felder, Gärten, Obstanlagen breiten sich zwischen ihnen aus und so weiter, und: was man von Ökonomen wünschen höre, den höchsten Grad von Kultur mit einer gewissen mäßigen Wohlhabenheit, das sehe man hier vor Augen.
Dieser Zustand war nun auf diesem Hochsitz noch der nämliche bis auf das Wohnhaus, das Nußbaumgeräte in der Stube und das Geschirr in den Schränken, während die neue Zeit mit ihrem veränderten Angesicht und ihren gesteigerten Verhältnissen sich gegen das Ufer hinab lagerte. Jukundus erfreute sich der reinen Luft auf der Höhe und half den Alten und ihren Dienstleuten so eifrig bei ihren Arbeiten, daß er bald aller Dinge kundig und ein Offizier wurde bei den Patriarchen, den sie nicht wieder entlassen wollten.
Justine freute sich des guten Ansehens, das ihr Mann sich bei den Großeltern erwarb, und kam öfter vergnügt auf den Berg gestiegen, um ihn Abends herunterzuholen, oder sie freute sich auch, oben ein Gewitter zu erleben während der Heuernte, das die jungen Leute zwang, dort die Nacht zuzubringen. Dann zog sie ihr modisches Oberkleid aus, schlug eines der weißen Halstücher der Großmutter um, die Zipfel auf dem Rücken verbunden, und kochte die gebrannte Mehlsuppe, buk den duftenden Eierkuchen oder briet die leckere Fettwurst, die sie eigenmächtig zum Nachtmahl aus der Vorratskammer geraubt. Wenn sie dann mit gerötetem Gesicht gar fröhlich und lieblich dreinschaute und vollends die glänzende Zinnkanne mit klarem, leichtem Weine regierte, so bezeugten die Alten, daß sie erst jetzt wie eine rechte alte Landjungfer aussehe, und es gab etwa noch eine kleine Mummerei, indem die Großmutter ihren verjährten Granatschmuck, sowie Sonntagshäubchen und seidene Jacken herbeibrachte, die sie vor sechzig Jahren in blühender Jugend getragen. Damit kleidete sich die Enkelin zum allgemeinen Wohlgefallen; aber anstatt in den Spiegel schaute Justine dann mit ihrem glückseligen Lachen dem Jukundus ins Gesicht, das die wie aus weiter Zeitferne herüberleuchtende Erscheinung anstaunte.
Auch an Sonntagen ging er meistens in den Berg hinauf, da es ihm dort wohler zu Mut war, als in dem lauten, aber eintönigen Gesellschaftslärm, welchen die viel sprechenden Leute bei ihren Zusammenkünften unten erhoben.
An Feiertagen lag auf dem Berge immer die Bibel geöffnet auf dem Tische, damit die Ehgaumerin die langen Stunden hindurch bequem ab und zu darin lesen konnte, wenn es ihr einfiel, wie man einen Krug Wein, eine Schüssel mit Kirschen oder andern Näschereien an solchen Ruhetagen zur Erquickung bereitstehen läßt.
Hatte sie ihren Rosmarinzweig und ihre Brille dann auf das Buch gelegt, wenn sie des Lesens müde war, so pflegte Jukundus gern sich hinter die Bibel zu setzen und darin zu lesen, weil ihm das Buch sonst selten zur Hand war, wie es so geht, wo man stets Neueres und Notwendigeres lesen soll oder dann jenes Alte in der Zwangszeit der Schuljahre sich genugsam angeeignet zu haben meint. Er betrachtete die schwülen Gewittergründe des Alten Testamentes, die leidenschaftlichen Gestalten darin, oder entdeckte die hamletartige Szene im Johannesevangelium, wo Jesus nachdenklich mit dem Finger etwas auf den Boden schreibt, ehe er sagt, wer ohne Sünde sei, möge den ersten Stein auf die Sünderin werfen, wo er dann wieder schreibt und, als er aufsieht, alle Ankläger hinweggegangen sind und das Weib einsam vor ihm steht im still gewordenen Tempel.
Die Großmutter sah das sehr gern; denn sie war ganz alt- und rechtgläubig und überzeugt, daß das Lesen in der Bibel jedem ohne weiteres gedeihlich sei. Justine hatte ihn, um sein unkirchliches Wesen zu beschönigen, bei den Alten für einen Philosophen ausgegeben; denn sie selbst hing der unbestimmten Zeitreligion an und war darin umso eifriger, je gestaltloser ihre Vorstellungen waren.
Einst setzte sich die Alte traulich zu ihm, als er wieder las; die fein gefälteten Spitzenflügel ihrer Haube streiften seine Wange und sie streichelte ihm die Hand, indem sie sagte: »Nun, Herr Philosoph, ich glaube immer, du hast doch ein klein wenig Gottesfurcht!«
Jukundus war von dieser Frage überrascht und dachte darüber nach. Es dünkte ihn, er könnte wohl antworten; allein sollte er der alten Frau das anvertrauen, was ihn seine eigene Frau eigentlich noch nie gefragt hatte, wenn er es recht überlegte? Und wie sollte diese auch nach dem fragen, was sie nicht kannte? Denn sie besaß warmes religiöses Gefühl, aber sie war in Hinsicht auf göttliche Dinge viel zu neugierig und indiskret und hatte auch ein zu großes persönliches Sicherheitsgefühl, um das haben zu können, was man in reinerem Sinne sonst unter Gottesfurcht verstanden hat. Daß es mit dem lieben Gott selbst nun kritisch beschaffen war, hatte sie schon von den gesuchtesten Kanzelrednern vernommen, deren Vorträgen sie nachreiste. Für Christum aber, den schönsten und vollkommensten Menschen, wie ihn diese Priester nannten, hegte sie mehr die Gesinnung schwesterlicher Verehrung oder schwärmerischer Freundschaft; ihm hätte sie das schönste Sofakissen und die herrlichsten Pantoffeln sticken können, seinem Haupt und seinen Füßen zur würdigen Ruhe! Ja, die tiefste Rührung hatte sie einst ergriffen, als sie auf Reisen jenes berühmte Bild Correggios gesehen, welches das Antlitz Christi auf dem Schweißtuch der Veronika mit magischer Wirkung darstellt. In den Anblick des träumerisch starren Ausdruckes des höchsten Leidens versunken, hatte sie tief aufgeseufzt und alsbald Mitgefühl suchend ihren Mann angelächelt, der ihr zur Seite stand, und noch jetzt gehörte jener Augenblick zu ihren liebsten Erinnerungen; aber alles dies glich nicht der Gottesfurcht.
Als die Alte indessen auf einer Antwort bestand, sagte Jukundus bedächtig: »Ich glaube, der Sache nach habe ich wohl etwas wie Gottesfurcht, indem ich Schicksal und Leben gegenüber keine Frechheit zu äußern fähig bin. Ich glaube nicht verlangen zu können, daß es überall und selbstverständlich gut gehe, sondern fürchte, daß es hie und da schlimm ablaufen könne, und hoffe, daß es sich dann doch zum Bessern wenden werde. Zugleich ist mir bei allem, was ich auch ungesehen und von andern unbewußt tue und denke, das ganze der Welt gegenwärtig, das Gefühl, als ob zuletzt alle um alles wüßten und kein Mensch über eine wirkliche Verborgenheit seiner Gedanken und Handlungen verfügen oder seine Torheiten und Fehler nach Belieben tot schweigen könnte. Das ist einem Teil von uns angeboren, dem anderen nicht, ganz abgesehen von allen Lehren der Religion. Ja, die stärksten Glaubenseiferer und Fanatiker haben gewöhnlich gar keine Gottesfurcht, sonst würden sie nicht so leben und handeln, wie sie wirklich tun.
Wie nun dieses Wissen aller um alles möglich und beschaffen ist, weiß ich nicht; aber ich glaube, es handelt sich um eine ungeheure Republik des Universums, welche nach einem einzigen und ewigen Gesetze lebt und in welcher schließlich alles gemeinsam gewußt wird. Unsere heutigen kurzen Einblicke lassen eine solche Möglichkeit mehr ahnen als je; denn noch nie ist die innere Wahrheit des Wortes so fühlbar gewesen, das in diesem Buch hier steht: In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen!«
»Amen!« sagte die Alte, die aufmerksam zugehört hatte; »das ist doch etwas und besser als gar nichts, was du da predigst. Lies nur fleißig in meiner Bibel, da wirst du für deine Republik schon noch einen Bürgermeister bekommen!«
»Wohl möglich,« erwiderte Jukundus lachend, »daß zuweilen ein solcher gewählt wird und somit der Herrgott eine Art Wahlkönig ist!«
Die Alte lachte auch über diese Idee, indem sie rief: »So ein ordentlich angesehener Herr Weltammann! Wie sie da drüben Landammänner haben!« Sie deutete hiebei durch das offene Fenster nach dem Gebirge hinüber, wo in den alten Landrepubliken die obersten Amtleute so genannt wurden.
Sie lachte immer mehr darüber; denn da sie in ihrem hohen Alter allezeit an Gott und die Ewigkeit zu denken liebte, so war ihr auch das unschuldige Spiel mit dem Namen Gottes willkommen, um ihn zur Hand zu haben.
Wie beide nun in ihrem nicht gerade schulgerechten Religionsgespräche sich vergnügten und lachten, schaute Justine durch die Nelkenstöcke herein, die vor dem Fenster standen, und ihr Gesicht glühte trotz den Nelken, da sie den Berg erstiegen hatte, um ihren Mann herunter zu holen. Ihr schönes Gesicht überglühte aber fast noch die roten Nelken, als die Großmutter lustig rief: »Komm schnell herein, Kind! Eine Neuigkeit! Dein Mann hier hat ein bißchen ganz ordentliche Gottesfurcht, er hat es soeben mir selber gestanden!«
Es ergriff sie augenblicklich eine seltsame Eifersucht, daß die Großmutter mehr von den Gedanken Jukundis wissen sollte, als sie, seine Frau, und sie sagte: »Wahrscheinlich tut er mir darum kein einziges Mal die Ehre an, mit mir zur Kirche zu gehen!«
»Sei still!« sagte Jukundus, »zanke nicht! Wir zanken ja auch nicht ums klare Wasser, das jedes trinkt, wann und wo es will!«
Dieses Wort nahm Justine wieder auf, als sie am Arme ihres Mannes die abendliche Höhe entlang wandelte, um auf einem entfernteren Wege hinunter zu gehen.
»Wir zanken nicht ums Wasser! Aber wir müssen sorgen, daß wir auch nie ums liebe Brot streiten müssen, weder unter uns, noch mit andern!« sagte sie und erzählte ihm, wie die Familie und sie selbst wünschen, daß er nun sich in fester Weise in dem großen Gewerbs- und Handelsgeschäfte des Hauses betätigen und Stellung nehmen möchte. Die ländliche Beschäftigung bei den Alten auf dem Berge passe auf die Dauer nicht recht für ihn und führe zu nichts, während unten alle bereit seien, ihn in die Geschäfte einzuführen und Arbeit wie Gewinn redlich mit ihm zu teilen.
Jukundus fühlte die Meinung wohl, die es hiebei hatte; man wollte niemand in der Familie dulden, der nicht reich zu werden fähig und willig war, und da er im Grunde keine bessere Meinung verlangen konnte, so ergab er sich ohne weiteres Zögern darein, obgleich mit geheimem Mißtrauen gegen sich selbst. Er sagte also der Justine, er werde gleich am nächsten Morgen, da es Montag sei, anfangen und einen vollen Wochenlohn zu verdienen suchen.
So wurde er denn früh am andern Tage in die Schreibstuben und Arbeitsräume des Hauses eingeführt, um der Reihe nach die verschiedenen Zweige des Geschäftes kennen zu lernen und derselben Herr zu werden. Das Haus Glor betrieb seit mehr als dreißig Jahren die Seidenweberei, welches Geschäft mit der Zeit zu bedeutendem Umfange gediehen war. In hundert ländlichen Wohnungen an den sonnigen Berglehnen, hinter klaren Fenstern, standen die Webstühle der Mädchen und jüngeren Frauen der Bevölkerung, welche die glänzenden Stoffstücke mit leichter fleißiger Hand webten und so selber allwärts den Grund zu einem kleineren Wohlstande legten. Auf allen Wegen eilten die rüstigen Gestalten mit den Weberbäumen auf der Schulter heran, um das fertige Stück abzugeben und die Seide für ein neues Stück zu holen. In großen Sälen waren aber auch Maschinen aufgestellt, an welchen schwerere und reichere Stoffe verfertigt und männliche Arbeiter beschäftigt wurden.
Der Ankauf der rohen Seide, die Vorbereitung derselben durch die verschiedenen Stadien, die Beaufsichtigung und Beurteilung der Arbeit, der Verkauf der gehäuften Vorräte, der Ausblick in den allgemeinen Verkehr und die Berechnung des richtigen Augenblickes für jede Geschäftshandlung, endlich die vorteilhaftere Verwendung der eingehenden Wertsummen, alles dies bedingte eine unaufhörliche, rasch laufende Tätigkeit und eine Reihe ineinandergreifender Erfahrungen.
Der Verkehr mit den zuströmenden Mäklern, welche die aus verschiedenen Weltteilen herkommenden Würmergespinste anboten, derjenige mit den Männern, welche die Ausfuhr der fertigen Gewebe nach anderen Weltteilen vermittelten und hiebei wieder eigenen Reichtum zu gewinnen trachteten, erheischte fortwährende Gewandtheit und rasche Überlegung. Die täglich sich mehrende Konkurrenz forderte ein peinliches Zuratehalten der aufzuwendenden Mittel und zugleich die genaueste Prüfung der gelieferten Arbeit in Bezug auf ihre Güte und Reinheit, während die gleichen arbeitenden Hände, die man so streng überwachen mußte, von anderer Seite eifrig gesucht und abwendig gemacht wurden, wenn die Unternehmungslust im Schwange war; ging sie aber zurück, so mußten dieselben auf die besseren Tage hin mit Opfern in Tätigkeit erhalten bleiben.
Wiederum mußte der Wechsel des Geschmacks und der Bedürfnisse unter den verschiedensten Himmelsstrichen aufmerksam verfolgt werden. Hier mußte das gefällige und dauerhafte Seidenkleid der Bürgersfrau alt geordneter Gesellschaftsländer geliefert werden; dort handelte es sich um das billige Prunkkleid, das die Weiber der kalifornischen oder australischen Abenteurer einige Jubeltage hindurch schmückte, um nachher weggeworfen zu werden. Je nach der Bestimmung mußte die Kunst der großen Färbereien in Anspruch genommen und der Krieg mit denselben geführt werden um die schönsten und dauerhaftesten Farben für das Kennerauge der echten Hausfrau oder um den trügerischen Schein für die farbigen Schönheiten im entlegensten Westen.
In dies verwickelte Getriebe war nun Jukundus hineingestellt, um darin schwimmen zu lernen, und er bestand die Probe nicht gut. Im Anfang, bei den einzelnen einfacheren Hantierungen, ging es ordentlich, weil er aufmerksam und sorgfältig arbeitete. Allein man klagte bald über Langsamkeit, da die Beweglichkeit und der leichte Sinn der ersten Jugend vorüber war, und es hieß, er käme nicht recht von der Stelle. Um ihn nun mit Gewalt schwimmen zu lehren, wurde er köpflings in den Strudel gestürzt, und er trieb sich auch mit gezwungener Lustigkeit oder vielmehr mit einer gewissen Angst hastig in demselben herum, daß ihm Hören und Sehen verging. Arbeiter betrogen ihn um die anvertraute Seide, indem sie das Gewebe zu leicht und locker machten und ihn über die Ursache belogen. Andere wußten ihm Geschäftsgeheimnisse abzuschwatzen, um auf eigene Faust eine schädliche Konkurrenz zu eröffnen. Den Mäklern und Zwischenhändlern glaubte er gegen alle gefaßten Vorsätze immer wieder aufs Wort und genehmigte alle ihre Angebote schon, wenn die anderen erst begannen, ihnen halbwegs zuzuhören und Antwort zu geben. In diese Ungeschicklichkeit arbeitete er sich recht eigentlich noch hinein, mehr als es in seinem Wesen bedingt war; eine Art unnatürlicher Dummheit legte sich auf seine Seele und umschleierte seine Gedanken, sobald es sich um Geschäfte handelte, und ehe ein halbes Jahr vorüber war, hatte er wie ein verborgener Marder einen merklichen Schaden in Gestalt eines Mindergewinns angerichtet, welchem nachgespürt wurde.
Als Justine bemerkte, daß die fremden Leute und Angestellten des Hauses ihren Mann bereits nicht mehr für ein Kirchenlicht hielten und ihn mitleidig belächelten, weinte sie heimlich vor Aufregung und Bekümmernis und verfiel in eine beklemmende Angst, daß sie werde anfangen müssen, ihn für einen unglücklichen beschränkten Menschen zu halten. Die Aussprüche des Vaters und der Brüder, wenn die Angelegenheit geheim beraten wurde, waren auch nicht angetan, ihren Mut und ihr Selbstgefühl zu erhöhen, und selbst die Trostworte der alten Stauffacherin, daß man in einem solchen Hause wohl vermöge, einen blinden Passagier mitreisen zu lassen, wenn er sonst gesittet sei, vermochten nicht, sie aufzurichten.
Ging sie aber zu Jukundis Mutter, um zu fragen und zu klagen, so weinte diese mit ihr und beschwor sie, nur auszuharren, Jukundus sei gewiß kein dummer Kerl, er werde sich schon noch bewähren und so weiter.
Jukundus hatte keine Ahnung, wie es um ihn her tönte, und doch war ihm keineswegs wohl bei der Sache. Da jeder überzeugt war, daß es nicht lange so gehen und ohnehin eine Aufklärung eintreten werde, so wollte niemand zuerst mit ihm reden und niemand ihm zuerst weh tun; allein es verbreitete sich doch ein leichter Nebel um ihn her, welcher die Augen der Umstehenden zu verhüllen und den Ton ihrer Stimmen zu dämpfen schien.
Als er aber eines Tages wieder einen Vorrat roher Seide gekauft hatte zu einem Preise, der noch vor zwölf Stunden gegolten, jetzt aber schon etwas gefallen war, und er gebeten wurde, diesen Teil der Geschäfte lieber lassen zu wollen, und als diese Bitte sich in einigen Tagen auch auf einem anderen Gebiete wiederholte, hörte er, etwas betreten, ganz auf. Erst als niemand ihn um die Ursache seiner genommenen Muße fragte und alles seinen Weg fortging, als ob nichts geschehen wäre, erkannte Jukundus endlich seine Lage und seine völlige Vereinsamung.
Am gleichen Tage wurde ihm auch seine Erkenntnis bestätigt.
Justine war auf den Abend ins Pfarrhaus eingeladen, wo der Pfarrherr eine Abhandlung über die zeitgemäße Wiederbelebung und Erneuerung der Kirche durch die Künste vorlesen wollte, ein Thema, welches sie sehr ansprach und auch nach Maßgabe der kleinen Verhältnisse schon beschäftigte. Jukundus seinerseits verhielt sich kühl in dieser Sache und liebte, so wenig als möglich in der Sprechweite des Geistlichen zu weilen. Doch hatte er, da es ein dunkler Herbsttag war, versprochen, die Gattin abzuholen.
Der Pfarrer stand auf der äußersten Linie der Streiter für die zu reformierende Kirche, die religiöse Gemeinde der Zukunft. Die Jugendjahre hindurch hatte er im allgemeinen freisinnig und schön gepredigt, so daß die Herden, die er gehütet, sehr erbaut, wenn auch nicht durchaus klar waren, auf welchem Boden sie eigentlich standen. Unter dem Schutze der weltlichen Macht und nach dem Beispiel altbewährter Führer hatte das jüngere Geschlecht die freiere Weltbetrachtung auf der Kanzel, sowie die freiere Bewegung im Leben errungen. Die strenggläubige Richtung war unvermerkt zur bloßen Verteidigung ihres Daseins hinübergedrängt worden, ohne daß von alledem an der äußeren Form des Gottesdienstes viel zu merken war. Die alten Lieder, die alten Gebetformen, die alten Bibeltexte herrschten, und nur bei gegebenem Anlasse wurde das Übermenschliche menschlich behandelt; im übrigen blieb Christus der Erlöser und Herr und an der Einheit und Persönlichkeit der Weltordnung, sowie an der Unsterblichkeit der Seele durfte nicht gerüttelt werden. Die Theologie galt noch für eine geschlossene Wissenschaft, auch wo ihre Träger längst im stillen allen möglichen zweifelhaften Anschauungen nachhingen und den lieben Gott einen guten Mann sein ließen, auch mit geheimen Seufzern das mögliche Ende ihres Selbstbewußtseins bedachten.
Dabei wurde mit Geringschätzung auf die früheren Aufklärer und Rationalisten herabgesehen, welche mit ihrer trockenen Tapferkeit doch die jetzige Zeit vorbereitet hatten, und die philiströsen Wundererklärer wurden selbstzufrieden belächelt, während man selbst immer das eine oder andere Wunder ausnahm und dasselbe halb natürlich, halb übernatürlich geschehen ließ.
Allein diese glückliche Zeit, wo alles so behaglich und rühmlich verlief für jeden, der gewandt in der Rede war und dem es nicht an Keckheit mangelte, verwandelte sich, wie alles in der Welt.
Gerade durch die wachsende Ausbreitung und Macht der freien Richtung wurde die Lust zur festeren Vereinigung und Gestaltung und der Wunsch nach der Herrschaft genährt, was zugleich ein deutlicheres Aussprechen dessen mit sich brachte, was man eigentlich bekannte und meinte.
Nun war aber gerade wieder die Zeit, wo die Physiker eine Reihe merkwürdiger Erfahrungen und Entdeckungen machten und die Neigung, das Sehen mit dem Begreifen zu verwechseln, überhand nahm und naturgemäß vom Stückweisen auf das Ganze geschlossen wurde, öfter aber nur da nicht, wo es am nötigsten war.
Auch verbreiteten neue Philosophen, welche ihre Stichwörter wie alte Hüte von einem Nagel zum andern hingen, böse, verwegene Redensarten, und es geschah ein großer Zwang in nachgesagten Meinungen und Sprüchen.
Wer nun unter den Priestern ruhiger und bescheiden war, dachte, es komme auf ein gewisses Maß des Mehr oder Weniger in der Unklarheit nicht gerade an, und verhielt sich klüglicherweise friedlich auf dem gewonnenen Standort, streitbar nur gegen die alten Feinde und Unterdrücker. Andere dagegen wollten um keinen Preis den Anschein haben, als ob sie hinter irgend einer Sache zurückblieben, nicht alles wüßten und nicht an der Spitze der Dinge ständen. Diese rüsteten sich mit schweren Waffen und setzten sich auf die äußersten Zweige des Baumes hinaus, von wo sie einst mit großem Klirren herabfallen werden.
Der Pfarrer von Schwanau hatte sich zu dieser Schar gesellt, weil auch ihm es nicht möglich war, im Widerspruche mit dem Geiste und der Bildung der Zeit zu leben, wie er sie verstand.
Er lehrte daher, es sei der Wissenschaft zuzugeben, daß ein persönlicher Lenker der Welt und hierüber eine Theologie nicht mehr bestehen könne. Aber da wo die Wissenschaft aufhöre, fange das Glauben und Ahnen des Unerklärten und Unbestimmten an, welches allein das Gemüt ausfüllen könne, und diese Ausfüllung sei eben die Religion, die nach wie vor verwaltet werden müsse, und die Verwaltung dieses Gebietes sei jetzt Theologie, Priester- und Kirchentum. Das göttliche Wort sei demnach unsterblich und heilig und seine Verwaltung heilig und weihevoll. Nach wie vor stehe der Tabernakel aufgerichtet, um welchen alle sich scharen sollen, die nicht an trostloser Leere des Herzens zu Grunde gehen wollen. Ja, das geheimnisvolle Ausfüllsel des Tabernakels bedürfe mehr als je der weihenden und räuchernden Priester, als Lenker der hilflosen Herde. Keiner dürfe hinter dem Tabernakel herumgehen, sondern jeder müsse sich vertrauensvoll an dessen Verwalter wenden; dafür dürfen die Priester nichts menschlichem mehr fern bleiben, das sie immer noch am besten verständen, und sie seien erbötig, überall nach wie vor zu helfen und beizustehen, daß die Wurst am rechten Zipfel angeschnitten würde. Nur verlangen sie dafür Heilighaltung des Tabernakels des Unbekannten und allgemeine Aufmerksamkeit bei Verkündung und Beschreibung desselben.