Project Gutenberg's Die schönsten Geschichten der Lagerlöf, by Selma Lagerlöf This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org
Title: Die schönsten Geschichten der Lagerlöf
Author: Selma Lagerlöf
Editor: Walter von Molo
Translator: Marie Franzos
Release Date: December 29, 2006 [EBook #20211]
Language: German
Character set encoding: ISO-8859-1
*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE SCHÖNSTEN GESCHICHTEN ***
Produced by Markus Brenner, Evelyn Kawrykow, La Monte H.P. Yarroll and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Die schönsten Geschichten der Lagerlöf
Ausgewählt und eingeleitet von Walter von Molo
Albert Langen, München
Die Geschichten der Lagerlöf in diesem Bande sind von Marie Franzos übersetzt
Ein Verzeichnis der Werke Selma Lagerlöfs befindet sich am Schluß dieses Buches
[Illustration: Selma Lagerlöf]
Inhalt Seite Frau Lagerlöf von Walter von Molo 7 Der Luftballon 13 Herrn Arnes Schatz 37 Reors Geschichte 110 Das Mädchen vom Moorhof 116 Das Schweißtuch der heiligen Veronika 177 Die Legende vom Vogelnest 224
Frau Lagerlöf
Die reine Frau hat das innigste Verhältnis zur Dichtkunst. Ihre seelische Veranlagung und ihre dadurch bedingten Aufgaben erhalten sie dem wahrhaft Realen, dem Mysterium des Fühlens, das die Wurzel der Dichtkunst war und ist, näher als den Mann, der vor allem durch die Tat und durch die Arbeit seines Kopfes wirkt, der sich im allgemeinen erst zum Zentrum des Fühlens durchkämpfen muß. Wie den Mann die Bezwingung des weiteren Weges stärkt und sichtet, hält die Nähe des Zieles die Frau, die die treueste Gefolgschaft jeder Kunst ist, entweder vom Selbstschaffen ab (meist zum Segen der Ihren!), oder sie wird, wenn sie selbst schafft, zumeist, gerade durch ihre Weiblichkeit, der Kunst verdorben: sie lernt nicht zu dem ihr Angeborenen zu, sie bleibt seelische Molluske, weil ihrem Werk nicht die Knochen des unerbittlich logischen Denkens, die innere und äußere Form, in voller Kraft zuwachsen. Die schöpferische Frau hat drum hauptsächlich das Gebiet der erzählenden Dichtung, deren Notwendigkeiten, in dieser Hinsicht, verhältnismäßig gering sind. Die Frau fabuliert! Sie erhält den Glauben an den unablässigen, unumstößlichen Sieg des Guten; sie ist, in ihrer reinsten Erscheinung, Märchen und Sage! Alles, was der Kindersinn sehnsüchtig sucht, ist den Frauen vorhanden! Ihr ragendstes Symbol ist mir die genialste selbstschöpferische Frau: die Lagerlöf! Die Lagerlöf schafft der Menschheit schönsten Besitz, Heimatliebe, Kinderliebe, Elternliebe, Gattenliebe, Liebe, mit all ihren unendlichen Schattierungen und Spiegelbildern in der menschlichen Seele, dichterisch zu ragenden Monumenten um. Ihr ist das Wunder an sich Voraussetzung alles Seins. Für sie gibt es keine »erkennende« Wissenschaft, keine »unbelebte« Natur! Wort für Wort ist ihr die Bibel, das Buch der Bücher, wahr; sie erhellt sie, sie übersetzt die Gläubigkeit aller Konfessionen gefühlsmäßig in Kunst. Nach den großen Gesetzen des Welträtsels, des gütigen Schicksals oder Gottes, reden und handeln ihr die Menschen und Tiere. Die Flüsse, Pflanzen und Steine sind ihr Lebewesen mit Seelen. Dieser begnadeten Frau ist das Übersinnliche Selbstverständlichkeit. Alles Schöne geht ihr in Erfüllung. Das Jenseits lebt, es greift entscheidend ins Dasein ein! Die Trolle, Nymphen, Kobolde, Heinzelmännchen und Riesen leben, die Engel schweben auf und nieder, die Brücke bildend für die bedrängten, erlösten Seelen, der Gottessohn steigt, immer wieder, zu uns herab, unter denen er ewig wandelt, damit das Böse stetig Gutes schafft. Es gibt keine Verfemten oder Narren, keine Toren und Krüppel oder Enterbten, es gibt bloß, im schlimmsten Falle, ein Nichtverstehen, ein Aneinandervorbeireden. Dieses menschliche Erbübel beseitigt und führt lächelnd zur Harmonie der Liebe der Lagerlöf großes, unbesiegliches Herz! Überall läßt sie Verzeihung und Gerechtigkeit triumphieren, und was das Wunderbarste ist: diese evangelische Frau steht dabei stets auf dem Boden der höchsten Wirklichkeit! Sie reißt dem Dasein die Maske ab, sie liebt ihm die Maske ab und -- Gott sieht uns an! Mit tiefster Menschenkenntnis, mit schärfster Charakterisierungsfähigkeit, mit rührendem Humor, mit verzeihender Schalkhaftigkeit und nie verletzendem Sarkasmus sieht und gestaltet sie die Lächerlichkeit, Nichtigkeit und Schurkenhaftigkeit dieses Seins. Alles Böse und Harte schmilzt in der übermenschlichen Liebe dieser genialen Puppenspielern zu Glück. Ihr hat nur das Leben des Geistes Wert; sie nützt alle Register, sie läßt alle Weltstimmen erbrausen, um die Symphonie der sinngemäßen Läuterung, des Verbundenseins mit dem Himmel des Guten und Schönen, der uns väterlich überwölbt, begnadet und erlöst, laut und sichtbar werden zu lassen. Es liegt an der Stumpfheit, daß die Menschen nicht immer so gesehen werden, wie sie der Lagerlöf erscheinen; sie sind edel, betrachtet man ihr Wichtigstes, entkleidet aller Nebensächlichkeiten! Der großen Schwedin Kraft und unwiderstehliche Beredsamkeit lassen jubelnd erkennend ins Gefüge des Ganzen, des Letzten sehen. Sie setzt menschliche Seelen in Handlung. Stets ist es der gleiche Geist, Gottes Geist, der ihr Geist ist, der sich die Vielfalt der Körper baut! Sie formt nicht von außen nach innen, nicht vom »Realen« zum »Romantischen«; sie formt von innerst heraus. Ihre Gestalten sind Vollwesen, nicht Hirngespinste, Vollwesen, geschaffen von subtilster Psychologie, geschaffen von höherer Psychologie, als sie die größte Hirnarbeit jemals zutage zu fördern vermag. Sie glaubt dem Wunder, weil das Wunder in ihr ist! Ihr Ich ist legendäre Anschauung der Seele! Ihre Psychologie ist nicht schürfend, sie ist da mit der Selbstverständlichkeit der Schöpfung. Untrennbar sind ihr Erfindung und Tatsache verwoben. »Ich muß sterben« wird zum »Ich darf sterben«, der Tauf- oder Hochzeitszug trifft den Leichenzug, der wieder Tauf- und ewiger Hochzeitszug ist. Die Menschen sehen mit den »Augen der Seele«, durch sie, daß das »Glück der Einbildung« ihr Bestes ist, daß es nichts Schöneres gibt als das Leben, das nicht schwer und traurig, sondern: »wunderschön« ist, lebt und versteht man es richtig! Alles Häßliche wird ihr zum vergänglichen Entwicklungsstück, alles Bittere ist überwindbar. Alle »Großen« sind Kinder, und alle Kinder sind »groß«. Sie zwingt die Sehnsüchte, mitzudichten, und sie folgen ihr freudig, weil sie überirdische Erfüllung durch sie finden. Zeitlos ist die Dichtung der Lagerlöf, sie wandelt die Wege der Ewigkeit. Alles Grenzende, Einengende fällt. Immer leidet das Hohe, immer leidet die Liebe, immer leiden Mann und Weib und Eltern und Kinder, arm und reich, doch es ist nur scheinbar; kaum steht die Lagerlöf neben ihnen, so sinkt das Niedere, gleich »kriegen« sie sich, gleich ist Hilfe, sind Verzeihen und Begreifen jedes Wollens da, gleich verschenkt der Reiche sein Gut, um wahrhaft reich zu sein, gleich singt der Arme, weil er schon lange wahrhaft reich ist. Mann und Weib sind der Lagerlöf immer dieselben! »Sie« ist die reine Magd, blond, keusch, stolz, hochgewachsen, helläugig, zu jeder Erlöserarbeit bereit, mag sie erst auch noch so hohl, selbstisch und kokett gewesen sein, nie ruft das Schicksal sie vergeblich zur Ordnung! Der Lagerlöf Frauengestalten sind mit der vollen Reinheit, mit der verschwiegensten Sehnsucht, der unberührten, ewigen Jungfräulichkeit gebildet! »Er« ist wild, trotzig, verwegen, untreu aus gierig suchender Treue, aufbegehrend in der Tollpatschigkeit seines Geschlechtes gegen die letzten Fragen, die er durch die Frau, die ihn erlöst, erkennt. »Er« ist ein Weihnachtsmann, wie die liebenswerten Kavaliere in »Gösta Berling« wie Gösta Berling selbst, hoch, traurig und verliebt, kindlich, schön, ritterlich, und immer hat er »Locken« über der »bleichen« Stirn. Er ist immer ein Stück Jesus Christus in Verkleidung; »sie« ist immer ein Stück Gottesmutter! Der Lagerlöf Religion ist die Religion aller Religionen; sie predigt unentwegt, ohne Predigt, des Dichtens Axiom: kein Mensch ist ganz verdorben! Sie ist die Toleranz selbst, die auch die wütendsten Gegner versöhnt. Kirchengläubigen und Sozialist! Die Lagerlöf kann nicht verstehen, warum zwischen diesen, überhaupt zwischen den Gegenpolen, zugegeben, daß sie bestehen, Feindschaft sein soll. Sie sind doch beide nötig; sie sind doch beide nur Handwerker des Ewigen? Sie heißen einmal Christ und Antichrist, vielleicht ist einmal der eine ein bißchen mehr weiß und der andere ein bißchen mehr schwarz. Du lieber Gott! sie wollen aber doch, bloß auf verschiedene Weise, das gleiche: das Glück, die Ruhe des Herzens! Der Lagerlöf ist's kein Unterschied, ob die heidnischen Bilder, ob die Heiligenbilder ins Leben herauf- oder hinuntersteigen; sie wirken Gutes. Musik erklingt, das Chaos legt sich, alle, die bangten, weinten, schluchzten und sich in Schmerzen wanden, beginnen zu lächeln! Die Welt wird immer am Ende schön, heldenhaft, edel, und was das Schönste und Edelste daran ist (ich verwende absichtlich die abgebrauchten »unphilosophischen« Worte, die der Lagerlöf Echtheit so völlig der Phrase entkleidet!): die Skeptischen werden besiegt, sie erkennen: wir sind so, wenn auch leider nur für Augenblicke der Erhebung, wie uns die Lagerlöf sieht oder selbstherrlich-demütig sehen will. Was in den geheimsten Ecken des Ichs nistet, mag man's nun Sentimentalität, Familienblattgier, Kindischkeit, Leiermannrührung, Kinoseligkeit, Kolportagegift oder wie immer nennen, das alles und noch viel mehr regiert diese Frau souverän, völlig unbekümmert um die Entsetzensschreie Ängstlicher, Bedenkenüberfüllter, zum Sieg. Die große Kunst der Lagerlöf, die Inbrunst ihrer dichterischen Überredung, vermag alle geheimen und wilden Schößlinge des Seelenbesitzes zu einer Blüte von berauschender Fülle und Seltenheit zu treiben und zu binden. Dieser Zusammenraffung alles Vorhandenen im Stofflichen entspricht die Verwendung aller Darstellungsmittel. Die Technik der Lagerlöf ist, wie der Inhalt des Gegebenen, nie Selbstzweck; beides ist Handwerkszeug, um immer wieder den Gralsschein der Seele leuchten zu lassen. Die Lagerlöf ist dramatisch und episch, modern, historisch und unmodern; sie beherrscht den Dialog gleich wie die Schilderung, sie geht, wenn's ihr paßt, Schrittlein für Schrittlein, sie überspringt, wenn's ihr nötig erscheint, jeden Abgrund, sie pinselt und strichelt hin und her, sie legt mit einem oder zwei Sätzen jeden Charakter, mag er noch so kompliziert sein, hin. Sie findet manchmal schwer den Schritt, sie spitzt mit geistvoller Schärfe die menschliche »Tendenz« in einen Satz. Ihr ist nichts unmöglich, weil der erlösenden Liebe alles möglich ist! Sie hat zu viel geschrieben und doch viel zu wenig, sie malt fast immer die Schönheiten ihrer schwedischen Heimat, doch der Polarstern ihres Einfühlvermögens steht über der ganzen Welt; der Stern wandert mit dem Erlöser der Schwere! Sie ist durch und durch germanisch, doch sie dankt dem größten Slawen, Dostojewski, das meiste! Ihre Seele ist die schwedische Volksseele in ihrer tiefgründigen Verspieltheit, doch ihr gehört die Welt, deren gesamte Pracht sie in sich trägt. Sie ist die liebreichste Mutter, ohne Mutter zu sein, sie bildet die Sagen und Märchen ihrer Heimat; es sind die allgemein gültigen, auch in unseren Tagen in jedes Menschen Leben im letzten Sinne sich stets wiederholenden Sagen und Märchen aller Menschen, die Sehnsucht tragen und den Himmel suchen. Sie ist naiv und aufs äußerste raffiniert; sie ist Unterhaltungsschriftstellerin mit der Weltanschauung und dem Können der reifsten Kunst; sie ist die reinste Seele, die seit Goethe und Hölderlin am Werke war! Sie ist Künstlerin, weil sie ein großer Mensch ist! Sie löst das Rätsel, das sich unablässig in ihren Werken löst, die zum bedeutendsten Besitze dessen gehören, was das Menschengeschlecht, zu seiner Erderlösung, hienieden aufzubauen vermag. Sie ist die lebendige, wirkende Summe des Göttlichen, das sich zu höchst lobt, dadurch, daß es unverlöschbar in der Menschheit, in deren Besten, brennt! Sie ist die Lagerlöf.
Frohnau i. d. Mark
Walter von Molo
Der Luftballon
Vater und die Knaben sitzen an einem regnerischen Oktoberabend in einem Kupee dritter Klasse, auf der Fahrt nach Stockholm. Vater ist auf seiner Bank allein. Die Knaben sitzen ihm gegenüber, eng aneinander geschmiegt, und lesen einen Roman von Jules Verne, der den Titel führt: Sechs Wochen im Luftballon. Das Buch ist sehr abgegriffen. Die Knaben können es fast auswendig und haben endlose Diskussionen darüber geführt, aber sie lesen es immer wieder mit demselben Vergnügen, sie haben alles vergessen, um den kühnen Luftschiffern quer über Afrika zu folgen, und sie erheben nur selten den Blick vom Buche, um die schwedischen Landschaften zu betrachten, die sie durchfahren.
Die Knaben sehen einander sehr ähnlich. Sie sind von gleicher Größe, gleich gekleidet -- in graue Überröcke und blaue Schulmützen --, sie haben alle beide große träumerische Augen und kleine Stumpfnasen. Sie sind immer gut Freund, gehen immer miteinander, kümmern sich nicht um andre Kinder und sprechen immer von Erfindungen und Entdeckungsfahrten. Der Begabung nach sind sie recht verschieden geartet. Lennart, der ältere, der dreizehn Jahre zählt, kommt in der Schule schwer vorwärts, und er kann kaum in irgendeinem Gegenstande mit seiner Klasse Schritt halten. Dafür ist er aber sehr geschickt und unternehmungslustig. Er will Erfinder werden und beschäftigt sich beständig damit, eine Flugmaschine zu konstruieren. Hugo ist ein Jahr jünger als Lennart, aber er begreift leichter und ist schon in derselben Klasse wie der Bruder. Auch er interessiert sich nicht besonders für das Lernen, hingegen ist er ein großer Sportsmann. Skiläufer, Radfahrer und Eisläufer. Wenn er erwachsen ist, will er auf Entdeckungsreisen gehen. Sobald Lennarts Flugmaschine fertig ist, wird Hugo damit ausfliegen, um zu entdecken, was von der Welt noch zu entdecken übrig ist.
Vater ist ein großgewachsener Mann mit eingesunkner Brust, fahlem Gesicht und schmalen, schönen Händen. Er ist nachlässig gekleidet. Seine Hemdbrust ist zerknittert, der Rockaufhänger guckt am Halse hervor, die Weste ist schief geknöpft, und die Strümpfe sind herabgerutscht. Er trägt das Haar so lang, daß es auf den Rockkragen hängt, dies jedoch nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus Geschmack und Gewohnheit.
Vater stammt aus einem alten Spielmannsgeschlecht, weit her aus dem Bauernland, und er hat als sein besondres Erbteil zwei starke Anlagen mitbekommen. Die eine Anlage ist eine große musikalische Begabung, und sie trat als erstes zutage. Er besuchte die Akademie in Stockholm, studierte dann ein paar Jahre im Ausland und machte in diesen Studienjahren so glänzende Fortschritte, daß er selbst und seine Lehrer erwarteten, es würde ein großer, weltberühmter Violinspieler aus ihm werden. Er hätte sicherlich Talent genug gehabt, dieses Ziel zu erreichen, aber es fehlte ihm an Kraft und Ausdauer. Er konnte sich draußen in der Welt keine Stellung erkämpfen, sondern kam gar bald heim und nahm einen Organistenposten in einer Provinzstadt an. Anfangs schämte er sich wohl, daß er allen den in ihn gesetzten Erwartungen nicht entsprochen hatte; aber er empfand es auch angenehm, einen sichern Lebensunterhalt zu haben und nicht mehr die Barmherzigkeit fremder Leute in Anspruch nehmen zu müssen.
Kurz nachdem er die Stelle bekommen hatte, heiratete er; und einige Jahre lang war er mit seinem Lose ganz zufrieden. Er hatte ein schönes kleines Heim, eine frohe und glückliche Frau und zwei kleine Jungen, und er war der Liebling der ganzen Stadt, überall gesucht und gefeiert. Aber dann war eine Zeit gekommen, wo dies alles ihn nicht mehr zu befriedigen schien. Er sehnte sich danach, noch einmal in die Welt hinauszuziehen und sein Glück zu versuchen, doch fühlte er sich verpflichtet, daheim zu bleiben, weil er nun Weib und Kind hatte.
Vor allem war es die Frau, die ihn überredet hatte, von dieser Reise abzustehen. Sie glaubte, daß es ihm nicht besser glücken werde als das erstemal. Sie meinte, sie seien so glücklich, daß er nichts andres zu erstreben brauche. Damit beging sie sicher einen Fehler, aber sie mußte ihn auch schwer genug büßen; denn von der Zeit an kam der zweite Familienzug bei dem Manne zum Vorschein. Da er seine Sehnsucht nach Ruhm und Erfolg nicht stillen konnte, suchte er sich mit dem Trinken zu trösten.
Und es ging ihm nun so, wie es den Menschen aus seiner Familie zu gehen pflegte: er trank ohne Besinnung und ohne Maß und kam binnen kurzem ganz herunter. Er wurde allmählich ein ganz andrer Mensch als zuvor. Er war nicht mehr liebenswürdig und einnehmend, sondern böse und hart. Und das größte Unglück war, daß er einen furchtbaren Haß gegen seine Frau faßte und sie in jeder möglichen Weise quälte, wenn er betrunken war -- und auch sonst.
Die Knaben hatten also kein gutes Heim gehabt, und ihre Kindheit wäre sehr unglücklich gewesen, hätten sie sich nicht eine kleine Welt für sich selbst geschaffen, voll von Maschinenmodellen, Entdeckungsplänen und Abenteuerbüchern. Die einzige, die zuweilen einen Blick in diese Welt werfen durfte, war Mutter. Vater hatte nicht einmal eine Ahnung, daß sie existierte; und auch jetzt vermag er mit den Knaben über nichts zu sprechen, was sie interessiert. Er stört sie einmal ums andre, wenn er fragt, ob es nicht schön wäre, Stockholm kennenzulernen, und ob sie sich nicht freuten, mit Vater zu reisen, und dergleichen mehr. Sie antworten sehr kurz, um sich augenblicklich wieder in das Buch zu vertiefen. Vater jedoch fragt weiter. Er glaubt, daß die Knaben von seiner Liebenswürdigkeit sehr entzückt sein müßten und nur zu schüchtern wären, es zu zeigen.
»Die haben zu lange an Mutters Schürzenband gehangen,« denkt er. »Sie sind ängstlich und zimperlich geworden. Das wird jetzt anders werden, wenn sie in meine Hand kommen.«
Aber Vater täuscht sich. Daß die Knaben ihm so kurze Antworten geben, kommt nicht von der Schüchternheit, sondern bedeutet nur, daß sie wohlerzogen sind und ihn nicht verletzen wollen. Wenn es nicht so wäre, würden sie ganz anders antworten. »Warum sollten wir es schön finden, mit Vater zu reisen?« würden sie dann sagen. »Vater glaubt freilich, etwas ganz Besondres zu sein, aber wir sehen ja, daß er nur ein verkommner Schwächling ist. Und warum sollten wir uns darauf freuen, Stockholm kennenzulernen? Wir wissen sehr gut, daß Vater uns nicht mitgenommen hat, um uns eine Freude zu machen, sondern nur, um Mutter zu kränken.«
Es wäre klüger, wenn Vater die Knaben lesen ließe, ohne sie zu stören. Sie sind niedergeschlagen und ängstlich, und es reizt sie, daß er so guter Laune ist. »Nur weil er weiß, daß Mutter daheim sitzt und weint, ist er heute so vergnügt,« flüstern sie einander zu.
Vaters Fragen bringen es schließlich dahin, daß die Knaben nicht mehr lesen, obgleich sie noch immer über das Buch gebeugt dasitzen. Anstatt dessen beginnen ihre Gedanken mit großer Bitterkeit um alles zu kreisen, was sie um Vaters willen haben leiden müssen.
Sie erinnern sich, wie sich Vater einmal am hellichten Tage betrunken hatte und über die Straße getorkelt kam, von einer Menge Schuljungen verfolgt, die ihn ausspotteten. Sie rufen sich zurück, wie die andern Jungen sie gehänselt und ihnen Spitznamen gegeben haben, weil sie einen Vater hatten, der trank.
Sie haben sich für Vater schämen müssen, sie mußten seinetwegen in beständiger Angst leben; und sowie sie irgendeinen Spaß hatten, ist er dazwischen gekommen und hat ihnen das Vergnügen verdorben. Es ist kein kleines Sündenregister, das sie da aufstellen. Die Knaben sind sehr sanftmütig und geduldig, aber sie fühlen einen Groll in sich aufsteigen, der stärker und stärker wird.
Er hätte doch begreifen müssen, daß sie ihm die große Enttäuschung nicht verzeihen konnten, die er ihnen gestern bereitet hatte. Das war doch das Ärgste, was er ihnen noch angetan hatte.
Die Sache war nämlich die, daß die Mutter der Knaben sich im vorigen Frühling entschlossen hatte, sich von deren Vater zu trennen. Mehrere Jahre lang hatte der Mann sie auf jede erdenkliche Art verfolgt und gepeinigt, doch sie hatte sich nicht von ihm trennen wollen, sondern war bei ihm geblieben, damit er nicht völlig verkomme. Aber jetzt endlich wollte sie es um der Knaben willen tun. Sie hatte beobachtet, daß der Vater sie unglücklich machte; und sie meinte, sie müsse sie diesem Elend entziehen und ihnen ein gutes, friedliches Heim schaffen.
Als das Frühlingssemester zu Ende war, hatte sie die Knaben aufs Land zu ihren Eltern geschickt und war selbst ins Ausland gereist, um so aufs einfachste die Scheidung zu erlangen. Es war ihr freilich nicht recht gewesen, daß es dadurch den Anschein gewann, als ob die Ehe durch ihr Verschulden gelöst würde; aber dem hatte sie sich unterwerfen müssen. Noch weniger zufrieden war sie damit, daß die Knaben vom Gerichte dem Vater zugesprochen wurden, weil sie eine entlaufene Ehefrau wäre. Sie tröstete sich freilich damit, daß er unmöglich die Absicht haben könnte, die Kinder zu behalten; aber sie hatte doch keine rechte Ruhe mehr.
Sobald die Scheidung durchgeführt war, war sie zurückgekommen und hatte eine Wohnung gemietet, in der sie mit den Knaben leben wollte. Erst vor zwei Tagen hatte sie alles fertig gehabt, so daß die Knaben zu ihr übersiedeln konnten. Es war der glücklichste Tag, den die Kinder noch erlebt hatten. Die ganze Wohnung bestand aus einem großen Zimmer und einer großen Küche, aber alles war neu und fein, und Mutter hatte es so außerordentlich behaglich eingerichtet. Das Zimmer sollte Mutter und ihnen tagsüber als Arbeitsraum dienen, und nachts sollten die Knaben da schlafen. Die Küche war sehr niedlich und hell. Da würden sie essen. Und in einem kleinen Verschlag hinter der Küche hatte Mutter ihr Bett.
Mutter hatte ihnen gesagt, daß sie sehr arm sein würden. Sie hatte eine Stelle als Gesanglehrerin an der Mädchenschule bekommen; aber dies war auch alles: davon mußten sie leben. Sie waren nicht in der Lage, sich ein Dienstmädchen zu halten, sondern mußten sich allein helfen. Die Knaben waren über das Ganze in hellstem Entzücken; vor allem darüber, daß sie mit angreifen durften. Sie erboten sich, Holz und Wasser zu tragen. Sie wollten die Schuhe putzen und die Betten machen. Es war ein rechter Spaß, sich das alles auszudenken.
Eine Kammer war da, wo Lennart alle seine Maschinen aufheben konnte. Er selbst sollte den Schlüssel dazu haben, und kein andrer als Hugo und er sollten sie je betreten dürfen.
Aber nur einen einzigen Tag durften die Knaben bei Mutter glücklich sein. Dann hatte ihnen Vater die Freude verdorben, wie er es stets getan hatte, solange sie sich zurückerinnern konnten. Mutter hatte ihnen erzählt, sie habe gehört, daß Vater eine Erbschaft von einigen tausend Kronen gemacht hätte; er habe seine Stellung gekündigt und wolle nun nach Stockholm ziehen. Mutter und sie hatten sich sehr darüber gefreut, daß er die Stadt verließ, so daß sie ihm nicht mehr auf der Straße zu begegnen brauchten. Aber dann war einer von Vaters Freunden mit der Botschaft zu Mutter gekommen, daß Vater die Knaben nach Stockholm mitnehmen wolle.
Mutter hatte geweint und gefleht, ihre Knaben behalten zu dürfen, aber Vaters Abgesandter hatte geantwortet, daß Vater fest entschlossen sei, die Knaben in seine Obhut zu nehmen. Wenn sie nicht gutwillig kämen, würde er sie durch die Polizei holen lassen. Er sagte, Mutter solle doch das Scheidungsurteil durchlesen, da stünde es ja deutlich, daß die Knaben dem Vater gehörten. Und das wußte Mutter ja auch. Das ließ sich nicht leugnen.
Vaters Freund hatte viele schöne Dinge gesagt: Vater liebe seine Jungen und wolle sie deshalb für sich haben ... Aber die Knaben wußten, daß Vater sie einzig und allein fortschleppte, um Mutter zu quälen. Er hatte sich das ausgedacht, damit Mutter an der Trennung von ihm keine Freude hätte. Sie sollte in beständiger Unruhe um die Knaben leben. Das Ganze war nur Rache und Bosheit.
Aber Vater hatte seinen Willen durchgesetzt, und hier waren sie nun auf dem Wege nach Stockholm. Und ihnen gegenüber saß Vater und freute sich, daß er Mutter unglücklich gemacht hatte. Mit jedem Augenblick, der verging, wurde ihnen der Gedanke, daß sie bei Vater bleiben und mit ihm leben müßten, immer widerwärtiger. Waren sie denn völlig in seiner Gewalt? Gab es keine Rettung?
Vater hat sich in seine Ecke zurückgelehnt, und nach einem Weilchen schlummert er ein. Sogleich beginnen die Knaben sehr lebhaft miteinander zu flüstern. Es wird ihnen nicht schwer, einen Entschluß zu fassen. Den ganzen Tag haben sie, jeder für sich, nur daran gedacht, durchzubrennen.
Sie verabreden, sich auf die Plattform schleichen und aus dem Zuge zu springen, wenn er gerade durch einen großen Wald führe. Dann würden sie sich an einem versteckten Plätzchen im Wald eine Hütte bauen und dort allein leben, ohne sich irgendeinem Menschen zu zeigen.
Während die Knaben diese Pläne schmieden, bleibt der Zug an einer Station stehen, und eine Bäuerin, die ein kleines Kind an der Hand führt, steigt in das Kupee. Sie ist schwarz gekleidet, trägt ein Kopftuch und sieht gut und freundlich aus. Sie zieht dem Kleinen das Überröckchen aus, das vom Regen naß geworden ist, und wickelt ihn in einen Schal. Dann zieht sie ihm die Schuhe ab, trocknet die kalten Füßchen, sucht aus einem Bündel Strümpfe und Schuhe hervor und legt sie ihm an. Schließlich steckt sie ihm ein Bonbon zu und legt ihn auf die Bank, den Kopf auf ihrem Schoße, damit er einschlafe.
Bald wirft der eine, bald der andre Knabe einen Blick auf die Bäuerin, die sich mit ihrem Kinde beschäftigt. Diese Blicke werden immer häufiger, und plötzlich haben die Knaben, beide zugleich, Tränen in den Augen. Nun sehen sie nicht mehr auf, sondern halten die Augen hartnäckig niedergeschlagen.
Es ist, als wäre zugleich mit der Bäuerin noch jemand anders, der für alle, außer für die Knaben, unsichtbar und unmerkbar ist, in den Wagen gekommen. Und dieser andre ist -- Mutter. Die Knaben haben das Gefühl, daß sie gekommen sei und sich zwischen sie gesetzt und ihre Hände ergriffen habe, wie sie es noch gestern abend tat, als es sich entschied, daß sie reisen müßten; und sie spricht ebenso zu ihnen wie damals: »Ihr müßt mir versprechen, daß ihr Vater meinetwegen nicht gram sein werdet. Vater hat es mir nie verzeihen können, daß ich ihn gehindert habe, fortzureisen. Er meint, daß es meine Schuld sei, wenn nichts aus ihm geworden ist, und wenn er trinkt. Er kann mich nie genug strafen. Aber ihr dürft ihm deshalb nicht böse sein. Da ihr jetzt mit Vater leben sollt, müßt ihr mir versprechen, gut gegen ihn zu sein. Ihr dürft ihn nicht reizen, ihr müßt auf ihn achten, so gut ihr könnt. Das müßt ihr mir versprechen; sonst weiß ich gar nicht, wie ich euch ziehen lassen soll.«
Und die Knaben hatten es versprochen.
»Ihr dürft euch nicht von Vater fortschleichen! Versprecht mir das!« hatte Mutter gesagt.
Das hatten sie auch versprochen.
Die Knaben sind zuverlässig, und in demselben Augenblick, wo sie daran denken, daß sie Mutter dieses Versprechen gegeben haben, lassen sie alle Fluchtgedanken fahren. Vater schläft noch immer, aber sie bleiben geduldig auf ihren Plätzen sitzen. Mit verdoppeltem Eifer fangen sie wieder zu lesen an, und ihr Freund, der gute Jules Verne, führt sie bald aus ihren Sorgen in die Wunderwelt Afrikas.
* * * * *
Weit draußen in der Södervorstadt hatte Vater zwei Zimmer zu ebner Erde gemietet, mit der Aussicht in einen engen Hof. Die Wohnung ist schon lange in Gebrauch, sie ist von einer Familie auf die andre übergegangen, ohne je instand gesetzt zu werden. Die Tapeten haben eine Unmenge Risse und Flecken, die Decken sind verrußt, ein paar Fensterscheiben sind zerbrochen, und der Küchenboden ist so ausgetreten, daß er ganz holprig geworden ist. Ein paar Dienstmänner haben die Möbel vom Bahnhof geholt, sie in die Zimmer getragen und sie da kunterbunt stehenlassen. Vater und Knaben sind jetzt dabei, auszupacken. Vater steht mit hocherhobener Axt da, um eine Kiste zu öffnen. Die Knaben packen aus einer andern Kiste Glas und Porzellan und stellen es in den Wandschrank. Sie sind geschickt und arbeiten eifrig, aber Vater hört nicht auf, sie zur Vorsicht zu mahnen, und verbietet ihnen, mehr als ein Glas oder einen Teller auf einmal zu tragen. Inzwischen geht es mit Vaters eigner Arbeit nicht recht vorwärts. Seine Hände sind zittrig und kraftlos, und er ist schon ganz schweißbedeckt, ohne den Deckel von der Kiste losbekommen zu können. Er legt die Axt nieder, geht um die Kiste herum und fragt sich, ob sie vielleicht verkehrt stehe. Da nimmt einer der Knaben die Axt und fängt an, sie anzustemmen, doch Vater stößt ihn fort. Lennart werde doch nicht glauben, daß er den Deckel aufbringen könne, wenn Vater selbst es nicht zustande bringe? »Nur ein geübter Arbeiter kann diese Kiste öffnen,« sagt Vater und nimmt Hut und Rock, um den Hausknecht zu holen.
Kaum ist Vater zur Türe hinaus, als ihm etwas einfällt. Er begreift plötzlich, warum er keine Kraft in den Händen hat. Es ist noch früh am Vormittag, und er hat nichts zu sich genommen, was das Blut in Umlauf bringt. Wenn er in ein Café ginge und einen Kognak tränke, dann würde er seine Kraft wiederfinden und könnte sich ohne fremde Unterstützung behelfen. Das ist viel besser, als den Hausknecht zu holen.
Vater geht also auf die Straße, um ein Café zu suchen. Als er in die kleine Hofwohnung zurückkehrt, ist es acht Uhr abends.
In Vaters Jugend, als er noch auf die Akademie ging, hatte er in der Södervorstadt gewohnt. Er war damals Mitglied eines Doppelquartetts gewesen, das hauptsächlich aus Kontoristen und kleinen Kaufleuten bestand und in einem Keller in der Nähe von Mosebacke seine Zusammenkünfte abzuhalten pflegte. Vater hatte nun Lust bekommen, nachzusehen, ob dieser kleine Keller noch existiere. Er war wirklich noch da, und Vater hatte das Glück gehabt, ein paar von den alten Freunden zu treffen, die da saßen und frühstückten. Sie hatten ihn mit größter Freude begrüßt, ihn zum Frühstück eingeladen und seine Ankunft in Stockholm auf die herzlichste Weise gefeiert. Als die Mahlzeit schließlich beendet war, hatte Vater heimgehen wollen, um seine Möbel auszupacken; doch die Freunde hatten ihn überredet, zu bleiben und mit ihnen zu Mittag zu essen. Und dies hatte sich so lange hinausgezogen, daß Vater nicht vor acht Uhr nach Hause gekommen war. Und es hatte ihn keine geringe Überwindung gekostet, sich zu so früher Stunde von der lustigen Gesellschaft loszureißen.
Als Vater heimkommt, sitzen die Knaben in der Dunkelheit, denn sie haben kein Zündholz. Vater hat ein Zündholzschächtelchen in der Tasche, und als er ein kleines Kerzenstümpfchen angezündet hat, das glücklicherweise mitgekommen ist, sieht er, daß die Knaben erhitzt und verstaubt sind, aber munter und vergnügt und augenscheinlich sehr zufrieden mit ihrem Tag.
In den Stübchen stehen die Möbel geordnet, die Kisten sind fortgeräumt, Stroh und Papierschnitzel fortgekehrt. Hugo macht gerade im ersten Zimmer die Betten für die Knaben. Das zweite Zimmer soll Vaters Schlafstube sein, und da steht sein Bett, mit so viel Sorgfalt gemacht, wie er sich's nur wünschen kann.
Jetzt geht mit Vater ein eigentümlicher Umschwung vor. Als er heimkam, war er mit sich selbst unzufrieden gewesen, weil er sich von der Arbeit davongemacht und die Knaben ohne Speise und Trank zurückgelassen hatte. Aber jetzt, wo er sieht, daß sie guter Laune sind, und daß ihnen nichts abzugehen scheint, bereut er es, daß er ihrethalben seine Freunde verlassen hat; er wird reizbar und streitsüchtig.
Er sieht wohl, daß die Knaben stolz auf alle die Arbeit sind, die sie geleistet haben, und daß sie erwarten, von ihm gelobt zu werden; aber dazu ist er gar nicht geneigt. Er fragt vielmehr, wer dagewesen sei und ihnen geholfen habe, und bittet sie, sich gefälligst zu merken, daß man in Stockholm nichts geschenkt bekomme und der Hausknecht für alles, was er täte, bezahlt werden müsse. Die Knaben antworten, daß sie keine Hilfe in Anspruch genommen, sondern alles allein gemacht hätten, aber er hört nicht auf, zu zanken. Es sei unrecht von ihnen gewesen, die große Kiste zu öffnen. Sie hätten sich dabei etwas zuleide tun können. Er hätte ihnen doch verboten, sie zu öffnen. Sie hätten jetzt ihm zu gehorchen. Er sei für sie verantwortlich.
Er nimmt die Kerze, geht in die Küche und leuchtet in die Schränke. Der kleine Vorrat an Glas und Porzellan ist in guter Ordnung auf den Brettern aufgestellt.
Er prüft alles haargenau, um Anlaß zu weiterem Tadel zu finden.
Plötzlich erblickt Vater ein paar Überreste des Abendbrots der Knaben und beginnt sogleich zu zanken, weil sie Huhn gegessen haben. Woher sie sich das verschafft hätten? Ob sie wie die Prinzen zu leben gedächten? Ob sie sein Geld hinauswürfen, um Hühner zu essen?
Dann fällt ihm ein, daß er ihnen ja kein Geld zurückgelassen hat. Er fragt, ob sie das Huhn gestohlen hätten, und gerät ganz außer sich.
Er spricht und ermahnt, zankt und tost, aber jetzt bekommt er von den Knaben keine Antwort. Sie wollen ihm nicht sagen, woher sie das Huhn haben, sondern lassen ihn austoben. Und er hält ganze Reden, ganze Predigten, er erschöpft seine letzten Kräfte. Schließlich bittet und bettelt er.
»Ich beschwöre euch, sagt mir die Wahrheit! Ich will euch alles verzeihen, was ihr auch begangen haben mögt, wenn ihr mir nur die Wahrheit sagt.«
Jetzt können es die Knaben nicht länger aushalten. Vater hört einen prustenden Laut. Sie werfen die Decken ab und setzen sich auf, und er merkt, daß sie vor unterdrücktem Lachen ganz rot im Gesicht sind. Und während sie jetzt ungezügelt herauslachen, sagt Lennart, von beständigem Kichern unterbrochen: »Mutter hat uns doch ein Hühnchen in den Eßkorb gelegt, den sie uns auf die Reise mitgegeben hat.«
Vater richtet sich auf, sieht die Knaben an, will sprechen, findet aber keine passenden Worte. Er richtet sich noch majestätischer empor, sieht sie mit tiefster Verachtung an und geht ohne weiteres auf sein Zimmer.
* * * * *
Vater hatte jetzt herausgebracht, wie geschickt die Knaben sind, und er benützt dies, um ein Dienstmädchen zu ersparen. Morgens schickt er Lennart in die Küche und läßt ihn Kaffee kochen, während Hugo den Frühstückstisch deckt und Brot vom Bäcker holt. Nach dem Frühstück setzt Vater sich auf einen Stuhl und sieht zu, wie die Knaben die Betten machen, die Zimmer kehren und die Öfen heizen. Er gibt unaufhörlich Befehle und kommandiert sie von einer Arbeit zur andern, nur um seine Macht zu zeigen. Wenn das Morgenaufräumen vorüber ist, geht er aus und bleibt den ganzen Vormittag weg. Das Mittagessen läßt er aus einer benachbarten Kochschule holen. Dann läßt Vater die Knaben für den Abend allein und verlangt von ihnen nichts andres, als daß sein Bett gemacht sei, wenn er heimkommt.
Die Knaben sind so fast den ganzen Tag allein und können sich beschäftigen, womit sie wollen.
Eine ihrer wichtigsten Arbeiten besteht darin, an Mutter zu schreiben. Sie bekommen von ihr jeden Tag einen Brief, und sie schickt ihnen Papier und Marken, damit sie ihr antworten können.
Mutters Briefe enthalten hauptsächlich Ermahnungen, artig gegen Vater zu sein. Sie schreibt immer, wie liebenswert Vater gewesen sei, als sie ihn kennenlernte, und sie erzählt ihnen, wie hochstrebend und arbeitsam er im Anfang seiner Laufbahn gewesen sei. Sie sollten zärtlich und liebevoll gegen ihn sein. Sie dürften nie vergessen, wie unglücklich er wäre.
»Wenn Ihr so recht gut gegen Vater seid, dann hat er vielleicht Mitleid mit Euch und läßt Euch wieder nach Hause zu mir kommen,« schreibt Mutter.
Mutter erzählt, daß sie beim Pfarrer und beim Bürgermeister gewesen sei, um zu fragen, ob es nicht möglich wäre, die Knaben wieder zu bekommen. Aber alle beide hätten ihr gesagt, daß es keinen Ausweg gebe. Die Knaben müßten bei ihrem Vater bleiben. Mutter wolle gern nach Stockholm übersiedeln, um ihre Jungen wenigstens ab und zu sehen zu können, aber alle Menschen rieten ihr, sich zu gedulden und noch zu warten. Sie glaubten, daß Vater die Knaben bald satt bekommen und sie wieder heimschicken werde. Mutter wisse nicht recht, was sie tun solle. Einerseits finde sie es schrecklich, daß ihre Knaben in Stockholm ohne irgend jemand lebten, der sich ihrer annehme; und andrerseits wisse sie: wenn sie ihr Heim verließe und ihre Anstellung aufgäbe, könnte sie sie nicht bei sich aufnehmen und versorgen, falls sie frei würden. Aber zu Weihnachten werde Mutter auf jeden Fall nach Stockholm kommen und nach ihnen sehen.
Die Knaben schreiben und erzählen, was sie den ganzen Tag tun, Stunde für Stunde. Sie lassen Mutter wissen, daß sie Vater das Essen holen und ihm das Bett machen. Sie begreift, daß sie sich bemühen, ihr zuliebe gut gegen ihn zu sein, aber sie merkt, daß sie ihn nicht besser leiden können als früher.
Ihre kleinen Jungen scheinen immer einsam zu sein. Sie wohnen in einer großen Stadt, wo es von Menschen wimmelt, aber niemand fragt nach ihnen, niemand beachtet sie. Und vielleicht ist es noch am besten so. Wer weiß, in was sie hineingeraten könnten, wenn sie irgendwelche Bekanntschaften machten!
Sie bitten sie immer, sich ihrethalben keine Sorgen zu machen. Sie würden sich schon durchschlagen. Sie erzählen, daß sie sich die Strümpfe stopfen und die Knöpfe annähen. Sie deuten auch an, daß Lennart mit seiner Erfindung sehr weit gekommen sei, und sagen, daß alles gut sein werde, sowie die fertig wäre.
Aber Mutter lebt in beständiger Angst. Tag und Nacht sind ihre Gedanken bei den Knaben. Tag und Nacht betet sie zu Gott, er möge über ihre kleinen Söhne wachen, die einsam in einer großen Stadt leben, ohne irgend jemand, der ihre Augen gegen die Lockungen der Verderbnis schützt und ihre jungen Herzen vor der Lust zum Bösen bewahrt.
* * * * *
Vater und die Knaben sitzen eines Vormittags in der Oper. Einer von Vaters früheren Kollegen, der der Hofkapelle angehört, hat ihn eingeladen, der Probe zu einem Symphoniekonzert beizuwohnen, und Vater hat die Knaben mitgenommen. Als das Orchester einsetzt und das Haus von den Tonwellen erfüllt wird, gerät Vater in so heftige Bewegung, daß er sich nicht beherrschen kann, sondern zu weinen anfängt. Er schluchzt, schneuzt sich geräuschvoll und stöhnt einmal um das andere auf. Er legt sich gar keinen Zwang mehr an, sondern wird so laut, daß die Spielenden gestört werden. Ein Diener kommt und winkt ihm ab, darauf nimmt Vater die Knaben bei der Hand und schleicht sich ohne ein Wort des Widerspruchs hinaus, und den ganzen Heimweg hören seine Tränen nicht auf zu fließen.
Vater hat die Hände der Knaben in den seinen behalten und geht mit einem Jungen an jeder Seite einher. Ganz plötzlich fangen auch die Knaben zu weinen an. Sie verstehen nun zum ersten Male, wie Vater seine Kunst geliebt hat. Es war entsetzlich für ihn gewesen, versoffen und verkommen dazusitzen und andre spielen zu hören. Es war ein Jammer, daß er nicht das geworden war, was er hätte werden sollen. Es war für Vater so, wie es für Lennart wäre, wenn er seine Flugmaschine nie fertig brächte, oder für Hugo, wenn er keine Entdeckungsreise machen dürfte. Zu denken, daß sie einmal als untaugliche Greise dasitzen und sich zu Häupten prächtige Luftschiffe dahinbrausen sehen sollten, die sie weder erfunden hätten noch lenken dürften!
* * * * *
Die Jungen sitzen eines Vormittags daheim und haben ihre Bücher vor sich. Vater hat eine Notenrolle unter den Arm genommen und ist ausgegangen. Er hat etwas davon gemurmelt, daß er eine Musiklektion zu geben hätte, aber die Knaben haben sich keinen Augenblick einreden lassen, daß dies die Wahrheit sei.
Vater ist schlechter Laune, wie er so über die Straße geht. Er hat den Blick bemerkt, den die Knaben wechselten, als er sagte, daß er zu einer Musiklektion ginge. »Sie werfen sich zum Richter auf über ihren Vater,« denkt er.
»Ich bin zu nachsichtig gegen sie. Ich hätte jedem eine Ohrfeige geben sollen. Sicherlich hetzt ihre Mutter sie gegen mich auf.«
»Wie wäre es, wenn ich mich ein wenig nach den Herrchen umsähe?« fährt er fort. »Es könnte gewiß nichts schaden, sich zu überzeugen, wie sie ihren Studien obliegen.«
Er kehrt um, geht rasch durch den Hof, öffnet ganz leise die Türe und steht in dem Zimmer der Knaben, ohne daß einer von ihnen ihn hätte kommen hören. Und richtig: die Knaben fahren mit ganz roten Köpfen auf, und Lennart reißt ängstlich ein Bündel Papiere an sich, das er in die Schreibtischlade wirft.
Als die Knaben ein paar Tage in Stockholm waren, da hatten sie gefragt, in welche Schule sie gehen würden, und Vater hatte geantwortet, mit ihrem Schulbesuch sei es jetzt aus. Er würde versuchen, einen Meister zu finden, der sie in die Lehre nehmen wollte. Dies hatte er jedoch nie ins Werk gesetzt, und die Knaben hatten auch nicht weiter von ihrem Schulbesuch gesprochen. Doch nach kaum einer Woche hing in dem Zimmer der Knaben ein Stundenplan an der Wand. Schulbücher wurden hervorgesucht, und jeden Vormittag saßen die Knaben an einem alten Schreibtisch und machten Aufgaben. Es war offenbar: sie hatten einen Brief von Mutter bekommen, der sie ermahnte, auf eigne Faust zu arbeiten, um nicht alles zu vergessen, was sie gelernt hätten.
Als Vater jetzt so unerwartet zu ihnen hereinkommt, geht er zuerst hin und studiert den Stundenplan. Er zieht seine Uhr heraus und vergleicht. Mittwoch von zehn bis elf: Geographie. Dann kommt er an den Tisch heran. »Hättet ihr in dieser Stunde nicht eigentlich Geographie?« fragt er. -- »Ja,« antworten die Knaben, flammend rot im Gesicht. -- »Aber wo habt ihr das Geographiebuch und den Atlas?« -- Die Knaben werfen einen Blick auf das Bücherbrett und sehen tödlich verlegen aus. »Wir haben noch nicht angefangen,« sagt Lennart. -- »So, so,« sagt Vater. »Ihr habt wohl etwas andres vor.« Und er richtet sich ganz vergnügt auf. Er hat jetzt die Oberhand, und die will er behalten, bis er die Knaben gründlich an die Wand gedrückt hat.
Die beiden Knaben schweigen. Seit dem Tage, da sie mit Vater in die Oper gingen, haben sie Mitleid mit ihm, und es hat ihnen nicht soviel Überwindung gekostet wie früher, artig gegen ihn zu sein. Aber natürlich haben sie keinen Augenblick daran gedacht, Vater ins Vertrauen zu ziehen. Er ist in ihrem Ansehen nicht gestiegen, wenn er ihnen auch leid tut.
»Habt ihr einen Brief geschrieben?« fragt Vater mit seiner strengsten Stimme. -- »Nein,« rufen die beiden Knaben wie aus einem Munde. -- »Was habt ihr denn getan?« -- »Wir haben nur geplaudert.« -- »Das ist nicht wahr! Ich habe gesehen, wie Lennart etwas in die Schreibtischlade gesteckt hat.« -- Jetzt schweigen die beiden Knaben wieder. -- »Nehmt es heraus!« ruft Vater, rot vor Zorn. Er glaubt, daß die Söhne an seine Frau geschrieben hätten; und da sie ihm den Brief nicht zeigen wollten, stünde natürlich etwas Häßliches über ihn darin. Die Knaben rühren sich nicht, und Vater hebt die Hand, um nach Lennart zu schlagen, der vor der Schublade sitzt. -- »Rühr' ihn nicht an!« ruft Hugo. »Wir haben nur über etwas gesprochen, was Lennart sich ausgedacht hat.«
Hugo schiebt Lennart weg, reißt die Lade auf und zieht einen Bogen Papier hervor, der mit Luftschiffen in den wunderlichsten Formen vollgekleckst ist. »Lennart hat sich heute nacht ein neues Segel für sein Luftschiff ausgedacht. Und darüber haben wir gesprochen.«
Vater will ihm nicht glauben. Er beugt sich hinunter, durchsucht die Lade, findet aber nichts andres als Bogen Papier, bedeckt mit Zeichnungen, die Luftballons, Fallschirme, Flugmaschinen und alles andre vorstellen, was zur Luftschiffahrt gehört.
Zum größten Staunen der Knaben schleudert Vater dies alles nicht gleich fort, er lacht auch nicht über ihre Versuche, sondern er betrachtet Blatt für Blatt genau. Vater hat nämlich auch ein wenig Anlage zur Mechanik; und er hat sich einstmals, als sein Hirn noch zu etwas taugte, für solche Dinge interessiert. Bald beginnt er Fragen nach dem Zweck von diesem und jenem zu stellen; und da seine Worte verraten, daß er großen Anteil nimmt und das, was er sieht, versteht, bekämpft Lennart seine Verlegenheit und antwortet ihm zuerst zögernd, doch allmählich mit immer größerer Bereitwilligkeit.
Bald sind Vater und die Kinder in eine tiefsinnige Diskussion über Luftschiffe und Flugmaschinen vertieft. Nachdem sie so recht in Zug gekommen sind, plaudern die Knaben unbefangen und teilen Vater alle ihre Pläne und Träume mit. Und wenn Vater auch begreift, daß die Knaben mit den Luftschiffen, die sie jetzt konstruieren, nicht weit fliegen können, imponiert ihm die ganze Sache doch. Seine kleinen Söhne sprechen von Aluminiummotoren, Äroplanen und Gleichgewichtslagen wie von den selbstverständlichsten Dingen. Er hat sie für rechte Dummköpfe gehalten, weil sie in der Schule nicht gut vorwärts kamen. Jetzt scheint es ihm mit einem Male, daß sie ein paar kleine Gelehrte seien.
Und hochfliegende Gedanken und Hoffnungen, -- das versteht Vater besser als irgend jemand. Er erkennt es wieder: er hat selbst so geträumt und hat durchaus keine Lust, über solche Träume zu lachen.
An diesem Vormittag geht Vater nicht mehr aus, sondern bleibt sitzen und plaudert mit seinen Knaben, bis es Zeit ist, das Mittagessen zu holen und den Tisch zu decken. Und da sind Vater und die Knaben zu ihrer großen Überraschung richtig gute Freunde.
* * * * *
Es ist elf Uhr abends, und Vater taumelt durch die Straßen. Die kleinen Jungen gehen neben ihm. Sie haben ihn im Wirtshaus gesucht und haben sich dicht an die Tür gestellt, ohne ein Wort zu sagen. Vater saß allein an einem Tisch, einen großen dunkeln Toddy vor sich, und hörte einer Damenkapelle zu, die am andern Ende des Zimmers spielte. Nach einem Weilchen war er unwillig aufgestanden und zu den Knaben hingegangen. »Was soll das heißen?« hatte er gefragt. »Warum kommt ihr hierher?« -- »Du solltest doch nach Hause kommen, Vater,« sagten die Knaben. »Es ist doch der fünfte Dezember. Du hast ja versprochen -- -- --«
Da hat sich Vater erinnert, daß Lennart ihm anvertraut hatte, heute sei Hugos Geburtstag, und daß er versprochen hätte, beizeiten nach Hause zu kommen. Aber das hatte er ganz vergessen. Hugo erwartete sich wohl ein Geburtstagsgeschenk von ihm, aber er hatte nicht daran gedacht, eins zu besorgen.
Auf jeden Fall ist er mit den Knaben gegangen, und nun wandert er, unzufrieden mit ihnen und mit sich selbst, die Straße entlang. Als er heimkommt, steht der Geburtstagstisch gedeckt. Die Knaben haben es festlich machen wollen. Lennart hat Kuchen gebacken, die jetzt ein paar Stunden alt sind und wie Lappen aussehen. Sie haben von Mutter ein bißchen Geld bekommen, und dafür haben sie Nüsse, Mandeln und eine Flasche Himbeersaft gekauft.
Alle diese Herrlichkeiten haben sie nicht allein genießen wollen, sondern haben gewartet, daß Vater heimkomme und sie mit ihnen teile. Nachdem sie sich nun mit Vater befreundet haben, können sie ein so großes Fest nicht ohne ihn feiern. Vater versteht das schon. Es schmeichelt ihm, daß sie sich nach ihm gesehnt haben, und in leidlich guter Laune läßt er sich an dem Tisch nieder. Aber halb betrunken, wie er ist, strauchelt er, als er Platz nehmen will, er hält sich an der Tischdecke fest, fällt zu Boden und zieht alle Herrlichkeiten mit. Als er wieder aufsteht, sieht er, wie der Himbeersaft über den Boden strömt und Backwerk und Konfekt zwischen Scherben von Porzellan und Glas verstreut liegen.
Vater wirft einen Blick auf die langen Gesichter der Knaben, läuft zur Türe hinaus und kommt nicht vor dem Morgengrauen heim.
* * * * *
An einem Vormittag im Februar gehen die Knaben mit Schlittschuhen über der Schulter durch die Straße. Sie sind nicht recht dieselben. Sie sind mager und blaß geworden und sehen ungepflegt und nachlässig aus. Ihr Haar ist nicht geschnitten, sie sind nicht ordentlich gewaschen, und Strümpfe und Schuhe zeigen Löcher. Wenn sie miteinander sprechen, brauchen sie eine Menge Gassenjungenausdrücke, und es kommt auch vor, daß ein Fluch über ihre Lippen gleitet.
Es ist ein Umschwung bei den Knaben eingetreten, und dies schreibt sich von dem Abend her, an dem Vater vergaß, heimzukommen und Hugos Geburtstag zu feiern. Es war, als hätte sie bis dahin doch die Hoffnung aufrecht erhalten, daß eine baldige Änderung in ihrem Schicksal eintreten würde. In der ersten Zeit hatten sie darauf gerechnet, daß Vater ihrer bald müde werden und sie wieder heimschicken würde. Dann hatten sie sich eingebildet, Vater würde sie liebgewinnen und um ihretwillen zu trinken aufhören. Ja, sie hatten sich gedacht, daß Mutter und er sich versöhnen könnten, und daß sie alle glücklich sein würden. Aber an jenem Abend wurde es ihnen klar, daß dies alles unmöglich war. Vater konnte nichts andres lieben als das Saufen. Wenn er auch ab und zu einmal gut gegen sie war, so machte er sich doch eigentlich nichts aus ihnen.
Und eine schwere Hoffnungslosigkeit bemächtigte sich der Knaben. Nichts könnte je anders werden. Sie würden nie von Vater loskommen. Sie hatten das Gefühl, als wären sie verurteilt, ihr ganzes Leben lang in einem dunkeln Gefängnis eingeschlossen zu sitzen.
Nicht einmal ihre großen Pläne konnten sie trösten. Festgekettet, wie sie hier saßen, könnten sie die ja nie zur Ausführung bringen. Da sie ja doch nicht einmal etwas lernen durften ...! Sie kannten die Geschichte der großen Männer gut genug, um zu wissen, daß jeder, der etwas Bedeutendes leisten will, vor allem Kenntnisse braucht.
Der härteste Schlag aber war gewesen, daß Mutter zu Weihnachten nicht zu ihnen gekommen war. Zu Anfang des Dezembers war sie auf der Treppe gefallen und hatte sich ein Bein gebrochen, so daß sie während der Weihnachtsferien im Krankenhaus liegen mußte und nicht nach Stockholm reisen konnte. Jetzt war Mutter wohl auf, aber jetzt hatte auch ihre Schule wieder begonnen. Überdies hatte sie kein Geld zur Reise. Alles, was sie zusammengespart hatte, war während ihrer Krankheit draufgegangen.
Die Knaben fühlten sich von der ganzen Welt verlassen. Es war ganz klar, daß es ihnen nie besser gehen würde, wie sehr sie sich auch anstrengten; und darum hatten sie so allmählich aufgehört, sich mit dem zu plagen, was ihnen langweilig schien. Sie konnten ja ebensogut etwas tun, was ihnen Spaß machte.
Manchmal betteten sie ihre Betten tagelang nicht auf, und sie hörten ganz auf, die Zimmer zu kehren. Es kam ja auf eins heraus. Es besuchte sie ja doch niemand, um nachzusehen, wie es ihnen ginge.
Vater kam immer tiefer herunter. Er versuchte manchmal, sich aufzurütteln und die Knaben zur Ordnung anzuhalten, aber das waren nur ohnmächtige Anläufe. Er vergaß seine Befehle ebenso rasch, wie er sie gegeben hatte.
Die Knaben hatten auch angefangen, die Vormittagsarbeit zu vernachlässigen. Niemand hörte ihnen die Aufgaben ab; und da hatte es ja keinen Zweck, daß sie lernten. Es war jetzt seit ein paar Tagen gutes Eis; so machten sie sich lieber Ferien und liefen Schlittschuh, solang es Tag war. Auf dem Eise gab es auch immer eine Menge andre Jungen, und sie hatten mit mehreren Bekanntschaft gemacht, die auch lieber Schlittschuh liefen als daheim saßen und lernten.
Heute nun ist ein so wunderschöner Tag, daß sie unmöglich im Zimmer bleiben können. Es sind nur ein paar Grad Kälte, -- stille, hohe Luft und klarer Sonnenschein. Es ist so herrliches Wetter, daß die Schulen Eislaufferien gegeben haben. Die ganze Straße ist voll von Kindern, die daheim waren, um ihre Schlittschuhe zu holen, und jetzt dem Eise zueilen.
Wie die Knaben so unter den andern Kindern einhergehen, sehen sie sehr ernst und schwermütig aus. Kein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Ihr Unglück ist so groß, daß sie es keinen Augenblick vergessen können.
Als sie aufs Eis kommen, herrscht dort Leben und Bewegung. Das Ufer ist von einer dichten Menschenmenge umsäumt, weiter draußen schwirren die Schlittschuhläufer durcheinander wie Ameisen, deren Haufen beschädigt worden ist; noch weiter weg sieht man einzelne schwarze Punkte, die in blitzschneller Fahrt dahingleiten.
Die Knaben schnallen die Schlittschuhe an und mischen sich unter die übrigen Läufer. Sie laufen sehr gut; und wie sie so in voller Fahrt über das Eis schießen, bekommen ihre Wangen Farbe und die Augen Glanz, doch nicht eine Minute sehen sie froh und sorglos aus wie andre Kinder.
Auf einmal, als sie gerade eine Wendung zum Ufer machen, erblicken sie etwas sehr Schönes. Ein großer Luftballon kommt aus der Richtung von Stockholm und treibt zur Ostsee hin. Er ist rot und gelb gestreift; und als die Sonne darauf fällt, leuchtet er wie eine Feuerkugel. Die Gondel ist mit einer Menge bunter Fähnchen geschmückt, und da der Ballon nicht sehr hoch fliegt, ist das lebhafte Farbenspiel sehr gut zu sehen.
Als die Knaben den Ballon erblicken, stoßen sie einen Freudenschrei aus. Es ist das erstemal in ihrem Leben, daß sie einen großen Ballon durch die Luft segeln sehen. Er ist viel schöner, als sie ihn sich vorgestellt haben. Alle die Träume und Pläne, die in so vielen schweren Tagen ihr Trost und ihre Freude waren, tauchen wieder auf, da sie ihn erblicken. Sie bleiben stehen, um zu sehen, wie die Stricke und Leinen befestigt sind, sie bemerken den Anker und die Sandsäcke an der Gondelkante.
Der Ballon streicht mit scharfer Geschwindigkeit über die vereiste Bucht. Alle Schlittschuhläufer, groß und klein durcheinander, stürzen ihm lachend und rufend entgegen, als er sich zeigt, und eilen ihm dann nach. Sie folgen ihm in einer langen geschwungenen Linie, wie ein ungeheures Schlepptau. Und die Luftschiffer vergnügen sich damit, eine Menge Papierchen in verschiedenen Farben auszuwerfen, die langsam durch die blaue Luft flattern.
Die Knaben sind die vordersten in der langen Reihe, die dem Ballon nachjagt. Sie eilen voran, den Kopf zurückgeworfen, den Blick nach oben gerichtet. Zum ersten Male, seit sie von ihrer Mutter getrennt sind, strahlen ihre Augen von Glück. Sie sind ganz außer sich vor Entzücken über das Luftschiff und denken an nichts anderes, als ihm solange zu folgen wie nur möglich.
Doch der Ballon treibt rasch dahin, und man muß schon ein guter Läufer sein, um nicht zurückzubleiben. Die Schar, die ihm nachjagt, lichtet sich, aber an der Spitze deren, die die Verfolgung fortsetzen, sind die kleinen Knaben. Sie sind so eifrig, daß man auf sie aufmerksam wird. Später sagten die Leute, es sei etwas eignes über ihnen gewesen. Sie lachten nicht, sie riefen nicht, aber es ruhte ein Glanz der Hingerissenheit auf ihren emporgewandten Gesichtern, als sähen sie eine Vision.
Der Ballon wirkt auf die Kleinen auch fast so wie ein himmlischer Wegweiser, der käme, sie auf den rechten Pfad zurückzuführen und sie zu lehren, ihn mit frischem Mut zu gehen. Wie die Knaben ihn erblicken, schwellen ihre Herzen vor Sehnsucht danach, wieder an der großen Erfindung zu arbeiten. Sie sind wieder gewiß, daß es ihnen gelingen wird. Wenn sie nur ausharren, werden sie sich schon zum Siege durchringen. Und der Tag wird kommen, da sie ihr eignes Luftschiff besteigen und in den Raum hinaufschweben werden. Ja, eines Tages werden sie dort oben hoch über den Menschen fliegen. Und ihr Luftschiff wird weit vollkommener sein als dieses, das sie jetzt sehen. Es wird sich lenken und drehen, senken und heben lassen, wird gegen den Wind und ohne Wind gehen. Es wird sie durch Tage und Nächte tragen, wohin sie nur wollen. Sie werden sich auf den höchsten Berggipfeln niederlassen, die ödesten Wüsten durchfahren, die am schwersten zugänglichen Gegenden erforschen. Sie werden alle Herrlichkeit der Welt sehen.
»Wir dürfen es nicht aufgeben, Hugo,« sagt Lennart. »Es wird prächtig sein, wenn wir nur fertig werden.«
Vater und sein Unglück, -- das ist etwas, was sie gar nichts mehr angeht. Wer ein so großes Ziel hat wie sie, kann sich wohl nicht von etwas Erbärmlichem hindern lassen.
Je weiter der Ballon kommt, desto größer wird seine Geschwindigkeit. Die Schlittschuhläufer haben nun aufgehört, ihn zu verfolgen. Die einzigen, die die Jagd fortsetzen, sind die kleinen Knaben. Sie eilen so rasch und leicht dahin, als hätten sie Flügel an den Füßen.
Plötzlich entringt sich den Menschen, die auf dem Lande stehen und weit über die Bucht schauen können, ein Schrei des Entsetzens und der Angst. Sie sehen, wie der Ballon, noch immer von den zwei Kindern verfolgt, dem offenen Fahrwasser zugleitet.
»Draußen ist offenes Wasser! Offenes Wasser!« So rufen die Menschen.
Die Schlittschuhläufer unten auf dem Eise hören die Rufe und wenden ihre Blicke der Mündung der Bucht zu. Sie sehen, daß weit draußen ein Streifen Wasser in der Sonne glitzert. Sie sehen auch, daß zwei kleine Knaben gerade auf diesen Streifen zulaufen, den sie nicht bemerken, weil sie die Augen auf den Ballon geheftet haben, ohne sie auch nur einen Moment zur Erde zu wenden.
Man ruft mit aller Macht, man stampft auf das Eis, Schnelläufer eilen dahin, sie aufzuhalten. Aber die Kleinen merken nichts von alledem, wie sie so dem Luftschiff nachjagen. Sie wissen nicht, daß sie die einzigen sind, die es verfolgen: sie hören keine Rufe hinter sich, sie vernehmen nicht das Wogen und Brausen des offenen Wassers vor sich. Sie sehen nur den Ballon, der sie gleichsam mitzieht. Schon fühlt Lennart, wie sein eignes Luftschiff sich unter ihm erhebt, und Hugo schwebt über den geheimnisvollen Gegenden des Nordpols dahin.
Die Leute auf dem Eise und am Strande sehen, wie rasch sich die Knaben dem offenen Wasser nähern. Ein paar Augenblicke herrscht eine so atemlose Spannung, daß sie weder rufen noch ein Glied rühren können. Es liegt wie eine Verzauberung über den beiden Kindern, die in ihrem wilden Dahinstürmen nichts merken, die dem Tode zueilen, einer strahlenden Himmelserscheinung nach.
Die Luftschiffer oben im Ballon haben nun auch die kleinen Knaben bemerkt. Sie sehen, daß sie in Gefahr sind, sie schreien ihnen zu und machen warnende Gebärden, aber die Knaben verstehen sie nicht. Als sie sehen, daß die Luftschiffer ihnen Zeichen machen, glauben sie, jene wollten sie in die Gondel hinaufnehmen. Sie strecken die Arme zu ihnen empor, überglücklich in der Hoffnung, ihnen durch den strahlenden Raum folgen zu dürfen.
In diesem Augenblick haben die Knaben den Wasserrand erreicht, mit emporgewendeten, freudestrahlenden Gesichtern und aufgehobenen Armen gleiten sie ins Meer und verschwinden ohne einen Hilferuf. Die Schlittschuhläufer, die versucht haben, sie einzuholen, stehen ein paar Sekunden später an der Eiskante, aber die Strömung hat die Körper unter das Eis gezogen, und keine helfende Hand kann sie erreichen.
Herrn Arnes Schatz
Im Pfarrhofe von Solberga
1
Zur Zeit, als König Friedrich II. von Dänemark Bohuslän regierte [1559-1588], wohnte in Marstrand ein armer Fischkrämer, der Torarin hieß. Er war ein schwacher und geringer Mann, sein einer Arm war lahm, so daß er weder zur Fischerei noch zum Rudern taugte. Er konnte seinen Unterhalt nicht auf der See verdienen wie die anderen Inselbewohner, sondern er zog umher und verkaufte eingesalzene und getrocknete Fische an die Leute auf dem Festlande. Er war nicht viele Tage des Jahres daheim, er zog immer von Dorf zu Dorf mit seinem Fischwagen.
An einem Februartage, als die Dämmerung hereinbrach, kam Torarin den Weg gefahren, der von Kunghäll nach dem Kirchspiel Solberga führte. Es war ganz einsam und menschenleer auf dem Wege, aber Torarin brauchte sich darum nicht Schweigen aufzuerlegen. Er hatte neben sich auf der Fuhre einen verläßlichen Freund, mit dem er Zwiesprach pflegen konnte. Das war ein kleiner schwarzer Hund mit buschigem Fell, den Torarin Grim nannte. Er lag meistenteils still da, den Kopf zwischen die Beine geklemmt, und blinzelte nur zu allem, was sein Herr sagte. Aber wenn er etwas zu hören bekam, was ihm nicht behagte, dann stellte er sich auf der Fuhre auf, streckte die Schnauze in die Luft und heulte ärger als ein Wolf.
»Nun will ich dir erzählen, Grim, mein Hund,« sagte Torarin, »daß ich heute große Neuigkeiten gehört habe. Sowohl in Kunghäll als in Kareby sagten sie mir, daß das Meer zugefroren sei. Es ist nun eine Zeitlang ruhiges schönes Wetter gewesen, das weißt du ja am besten, der du alle Tage draußen gewesen bist, und das Meer soll nicht nur in den Buchten und Sunden zugefroren sein, sondern weit hinaus ins Kattegat. Es gibt jetzt zwischen den Schären keinen Weg für Boote und Schiffe, da ist überall nur starkes hartes Eis, und man kann nun mit Schlitten und Pferd bis hinaus nach Marstrand und zur Paternosterschäre fahren.«
Alles dies hörte der Hund, und es schien ihm nicht zu mißfallen. Er lag still da und blinzelte Torarin an.
»Wir haben nicht mehr sonderlich viel Fische hier auf der Fuhre übrig,« sagte Torarin gleichsam überredend. »Was würdest du nun dazu sagen, wenn wir bei der nächsten Wegscheide einbögen und nach Westen zum Meere führen? Wir fahren an der Solberger Kirche vorbei und hinunter nach Ödmalsskil, und dann glaube ich nicht, daß es viel mehr als fünfviertel Meilen Wegs nach Marstrand sind. Es wäre doch eine schöne Sache, einmal heimkommen zu können, ohne Boot oder Fähre zu benutzen.«
Sie fuhren über die lange Karebyer Heide, und obgleich den ganzen Tag ruhiges Wetter gewesen war, kam jetzt ein kalter Lufthauch über die Heide gestrichen und machte die Fahrt unbehaglich.
»Es mag weichlich aussehen, daß wir so mitten in der besten Arbeitszeit heimfahren,« sagte Torarin und schlug der Kälte wegen mit den Armen um sich. »Aber wir sind nun doch viele Wochen unterwegs gewesen, du und ich, und können es gut brauchen, ein paar Tage daheim zu sitzen und die Kälte aus dem Körper auszutreiben.«
Da der Hund noch immer still dalag, schien Torarin seiner Sache sicherer zu werden, und er fuhr in zuversichtlicherem Tone fort:
»Nun hat Mutter viele, viele Tage einsam daheim in der Hütte gesessen. Sie sehnt sich wohl danach, uns wiederzusehen. Und in Marstrand geht es nun im Winter hoch her. Straßen und Gäßchen, Grim, sind voll von fremden Fischern und Kaufleuten. In den Seeschuppen gibt es jeden Abend Tanz. Und das viele Bier, das in den Schenken fließt! Das kannst du dir gar nicht denken.«
Als Torarin dies sagte, beugte er sich zu dem Hunde hinab, um zu sehen, ob er auf das hörte, was er zu ihm sprach.
Aber da der Hund ganz wach dalag und kein Zeichen des Mißvergnügens gab, bog Torarin in den ersten Weg ein, der nach Westen zum Meere führte. Er knallte mit der Peitsche und ließ das Pferd rasch traben.
»Da wir am Solberger Pfarrhof vorbeikommen,« sagte Torarin, »werde ich wohl dort vorsprechen und fragen, ob es sicher ist, daß das Eis bis nach Marstrand trägt. Dort müssen sie wohl darüber Bescheid wissen.«
Torarin hatte dies mit leiser Stimme gesagt, ohne daran zu denken, ob der Hund ihn hörte oder nicht. Aber kaum waren die Worte gesprochen, als der Hund sich auf der Fuhre aufstellte und ein entsetzliches Geheul ausstieß.
Das Pferd machte einen Sprung zur Seite, und auch Torarin erschrak und drehte sich um, um zu sehen, ob ihm Wölfe nachjagten. Aber als er merkte, daß es Grim war, der so heulte, versuchte er ihn zu beruhigen.
»Lieber,« sagte er zu ihm, »wie viele Male sind wir, du und ich, im Pfarrhof von Solberga eingekehrt. Ich kann ja nicht sagen, ob Herr Arne weiß, wie es mit dem Eise steht, aber das weiß ich sicher, daß er uns ein gutes Abendbrot vorsetzt, ehe wir unsere Seereise antreten.«
Doch seine Worte vermochten den Hund nicht zu beschwichtigen. Er richtete die Schnauze empor und heulte immer furchtbarer.
Da fehlte nicht viel, daß es Torarin unheimlich zumute geworden wäre. Es war nun beinahe dunkel geworden, aber Torarin konnte doch die Kirche von Solberga sehen und die weite Ebene ringsherum, die nach der Landseite von breiten bewaldeten Höhen geschützt dalag, und von runden nackten Felsenklippen nach dem Meere zu. Wie er da ganz mutterseelenallein über die weite weiße Ebene fuhr, kam er sich wie ein ganz geringes und kleines Gewürm vor, aber von den dunklen Wäldern und den öden Felsenklippen rückten große Ungeheuer und Trolle aller Art an, die sich nach Anbruch der Dunkelheit hinaus ins Land wagten. Und auf der ganzen Ebene gab es sonst niemand, auf den sie sich stürzen konnten, als den armen Torarin.
Aber zu gleicher Zeit versuchte er den Hund zu beruhigen.
»Lieber, was hast du gegen Herrn Arne? Er ist der reichste Mann im Lande. Er ist aus hohem Geschlecht, und wäre er nicht Geistlicher, so würde er ein mächtiger Anführer geworden sein.«
Aber damit konnte er den Hund nicht zum Schweigen bringen. Da riß Torarin die Geduld, so daß er den Hund beim Nackenfell packte und ihn vom Wagen hinunterwarf.
Der Hund lief ihm nicht nach, als er weiter fuhr, sondern blieb auf dem Wege stehen und heulte, bis Torarin durch ein dunkles Tor einfuhr und in den Hof des Pfarrhauses kam, der von vier langen niedrigen Holzbauten eingeschlossen wurde.
2
Im Pfarrhof von Solberga saß der Pfarrer, Herr Arne, und aß sein Abendbrot im Kreise aller seiner Hausgenossen. Es war kein Fremder zugegen außer Torarin.
Der Pfarrer war ein alter, weißhaariger Mann, aber er war doch noch kräftig und hoch. Er hatte seine Gattin neben sich sitzen. Ihr hatten die Jahre übel mitgespielt. Ihr Kopf und ihre Hände zitterten, und sie war beinahe taub. An Herrn Arnes anderer Seite saß der Hilfspfarrer. Er war jung und bleich und hatte ein bekümmertes Aussehen, so als ob er alle die Gelehrsamkeit nicht tragen könnte, die er während seines Studienjahres in Wittenberg eingesammelt hatte.
Diese drei saßen zu oberst am Tische, gleichsam ein wenig für sich. Nach ihnen kam Torarin, und dann die Diener. Diese waren auch alte Leute. Da waren drei Knechte, sie hatten Kahlköpfe, ihre Rücken waren gebeugt, und die Augen zwinkerten und tränten. Der Mägde waren nicht mehr als zwei. Sie waren etwas jünger und rüstiger als die Knechte, aber sie schienen doch hinfällig und voller Altersgebresten.
Am allerweitesten unten am Tische saßen zwei Kinder. Das eine war Herrn Arnes Sohnestochter, sie zählte nicht mehr als vierzehn Jahre. Sie war blondhaarig und zartgliedrig, das Gesicht war noch nicht recht fertig, aber sie sah aus, als würde sie lieblich werden. Sie hatte ein anderes kleines Jüngferchen neben sich. Das war eine arme vater- und mutterlose Waise, die immer im Pfarrhof lebte. Die beiden saßen dicht aneinander geschmiegt auf der Bank, und es hatte den Anschein, als ob große Freundschaft zwischen ihnen herrschte.
Alle diese Leute saßen da und aßen im tiefsten Schweigen. Torarin sah vom einen zum andern, aber keiner hatte Lust, während der Mahlzeit zu sprechen. Alle die Alten dachten bei sich: Es ist eine große Sache, sein Essen zu haben und nicht Not leiden oder hungern zu müssen, wie wir es in unserm Leben oftmals mußten. Während wir essen, dürfen wir an nichts anderes denken als daran, Gott für seine Güte zu danken.
Da Torarin niemand hatte, mit dem er reden konnte, wanderten seine Blicke das Zimmer hinauf und hinab. Er ließ die Augen von dem großen Ofen, der in vielen Geschossen unten von der Eingangstüre hinaufgemauert war, zu dem großen Himmelbette schweifen, das in der entferntesten Ecke des Zimmers stand. Er blickte von den wandfesten Bänken, die rings um die Stube liefen, hinauf zum Windfang an der Decke, durch den der Rauch hinauszog und die Winterkälte hereinströmte.
Als Torarin, der Fischkrämer, der in der kleinsten und ärmlichsten Hütte der Schären hauste, dies alles sah, dachte er: Wenn ich ein großer Herr wäre, wie Herr Arne, dann würde ich mich nicht damit begnügen, in einer uralten Hütte mit einer einzigen Stube zu wohnen. Ich würde mir ein Haus bauen mit Giebeln und vielen Gemächern, so wie der Bürgermeister und die Ratsmänner in Marstrand es tun.
Aber am häufigsten heftete Torarin seine Blicke auf eine große Eichentruhe, die zu Füßen des Himmelbettes stand. Er sah sie so oft an, weil er wußte, daß Herr Arne darin all sein Silbergeld verwahrte, und er hatte gehört, es wäre so viel, daß es die Truhe bis hinauf zum Rande füllte.
Und Torarin, der so arm war, daß er fast nie einen Silberling in der Tasche hatte, sagte zu sich selber: Ich möchte dieses Geld dennoch nicht haben. Man sagt, Herr Arne hätte es aus den großen Klöstern genommen, die früher einmal hier im Lande waren, und die alten Mönche hätten prophezeit, daß dieses Geld ihn ins Unglück stürzen würde.
Als Torarin eben in diesen Gedanken dasaß, sah er, wie die alte Hausmutter die Hand an das Ohr hielt, um besser zu hören. Hierauf wandte sie sich an Herrn Arne und fragte ihn: »Warum schleifen sie Messer auf Branehög?«
Es war eine so tiefe Stille im Zimmer, daß alle zusammenzuckten und erschrocken aufblickten, als die alte Frau dies fragte. Als sie sahen, daß sie dasaß und auf etwas horchte, hielten sie ihre Milchlöffel still und strengten sich an, um zu hören.
Eine Weile war es ganz totenstill in der Stube, aber dabei wurde die alte Frau immer unruhiger und unruhiger. Sie legte die Hand auf Herrn Arnes Arm und fragte ihn: »Ich weiß nicht, warum sie heute abend auf Branehög so lange Messer schleifen?«
Torarin sah, daß Herr Arne ihr über die Hand strich, um sie zu beruhigen. Aber er dachte nicht daran, zu antworten, sondern aß ruhig wie zuvor weiter.
Die alte Frau saß noch immer da und horchte. Vor Angst traten ihr Tränen in die Augen, und ihre Hände und ihr Kopf zitterten immer heftiger.
Da begannen die beiden kleinen Jüngferchen, die am Tischende saßen, vor Angst zu weinen.
»Könnt ihr nicht hören, wie es scharrt und kratzt?« fragte die Alte. »Könnt ihr nicht hören, wie es zischt und knirscht?«
Herr Arne saß still und streichelte seiner Frau die Hand. Solange er schwieg, wagte niemand sonst ein Wort zu äußern.
Aber alle glaubten, daß die alte Hausmutter etwas höre, was entsetzlich und unheilbringend sei. Alle fühlten, wie das Blut in ihren Adern erstarrte. Es saß niemand am Tische, der noch einen Bissen zum Munde führte, außer dem alten Herrn Arne selbst.
Sie dachten daran, daß die alte Hausmutter es war, die durch viele Jahre Sorge für das Haus getragen hatte. Sie war immer daheim auf dem Hofe geblieben und hatte mit Klugheit und Fürsorglichkeit über Kinder und Gesinde, über Hab und Gut und Viehstand gewacht, so daß alles gedieh. Nun war sie abgearbeitet und steinalt, aber es war doch gewiß, daß sie es vor allen anderen merken würde, wenn dem Hofe Gefahr drohte.
Die alte Frau wurde immer ängstlicher und ängstlicher. Sie faltete die Hände, und in ihrer Hilflosigkeit begann sie so bitterlich zu weinen, daß große Tränen über die verschrumpften Wangen rollten.
»Fragst du gar nicht danach, Arne Arneson, daß mir so bange ist?« klagte sie.
Herr Arne beugte sich nun zu ihr hinab und sagte: »Ich weiß nicht, wovor du dich fürchtest.«
»Ich fürchte mich vor den langen Messern, die sie auf Branehög schleifen,« sagte sie.
»Wie kannst du hören, daß sie auf Branehög Messer schleifen?« sagte Herr Arne und lachte. »Der Hof liegt ja eine Viertelmeile Wegs von hier. Nimm nur wieder den Löffel zur Hand und laß uns unser Abendbrot beenden.«
Die Alte versuchte, ihr Entsetzen zu unterdrücken. Sie nahm den Löffel und steckte ihn in die Milchschale, aber dabei zitterte ihre Hand so, daß alle hörten, wie der Löffel an den Rand schlug. Sie legte ihn gleich zurück. »Wie kann ich essen?« sagte sie. »Höre ich denn nicht, wie es knirscht? Höre ich denn nicht, wie es feilt?«
Im selben Augenblicke schob Herr Arne den Milchnapf von sich und faltete die Hände. Alle anderen taten ein gleiches, und der Hilfsgeistliche begann das Tischgebet zu sprechen.
Als dieses beendet war, sah Herr Arne zu denen hinunter, die unten am Tische saßen, und als er merkte, daß sie bleich und erschrocken aussahen, wurde er zornig.
Er fing mit ihnen von den Zeiten zu sprechen an, als er eben nach Bohuslän gekommen war, um die lutherische Lehre zu predigen. Da hatten er und seine Diener vor den Päpstlichen fliehen müssen wie gehetzte wilde Tiere. »Haben wir nicht unsere Feinde im Hinterhalt auf uns lauern sehen, wenn wir in das Haus Gottes zogen? Waren wir nicht aus dem Pfarrhof vertrieben, und haben wir nicht gleich Friedlosen in den Wald ziehen müssen? Steht es uns an, eines bösen Omens wegen den Mut zu verlieren und zu verzweifeln?«
Wie Herr Arne so sprach, sah er aus wie ein Recke, und die anderen faßten frischen Mut, als sie ihn hörten.
Das ist ja wahr, dachten sie. Gott hat Herrn Arne in den größten Gefahren beschützt. Er hält seine Hand über ihm. Er läßt seinen Diener nicht untergehen.
3
Als Torarin auf die Straße hinausfuhr, kam ihm sein Hund Grim entgegen und sprang auf die Fuhre hinauf. Als Torarin sah, daß der Hund vor dem Pfarrhof gewartet hatte, wurde er aufs neue unruhig. »Lieber, warum stehst du den ganzen Abend hier unterm Tore? Warum gehst du nicht in die Hütte und läßt dir einen Abendimbiß geben?« sagte er zum Hunde. »Kann Herrn Arne etwas Böses bevorstehen? Vielleicht habe ich ihn zum letztenmal gesehen. Aber auch ein solcher Recke wie er muß wohl einmal sterben. Er ist nun wohl an die neunzig Jahre alt.«
Er lenkte das Pferd auf einen Weg, der an dem Hofe Branehög vorbei hinab nach Ödmalsskil führte.
Als er nach Branehög kam, sah er, daß Schlitten auf dem Hofe standen und ein Lichtschein durch die verschlossenen Fensterladen drang.
Da sagte Torarin zu Grim. »Hier sind die Leute noch auf. Ich will hineinfahren und fragen, ob sie heute abend hier im Hause Messer geschliffen haben.«
Er fuhr in den Hof, aber als er die Tür zur Stube öffnete, sah er, daß darinnen ein Gastmahl abgehalten wurde. Auf den Bänken, den Wänden entlang, saßen alte Männer und tranken Bier, und auf der Diele gingen die Jungen umher und spielten und tanzten.
Torarin sah sogleich, daß hier niemand daran dachte, seine Waffen zu blutiger Tat zu bereiten. Er schlug die Türe wieder zu und wollte seiner Wege gehen, aber der Herr des Hauses kam ihm nach. Er bat Torarin, zu bleiben, da er nun einmal gekommen wäre, und zog ihn mit hinein in die Stube.
Torarin saß eine gute Weile in großem Behagen da und plauderte mit den Bauern. Sie waren sehr aufgeräumt, und Torarin war es zufrieden, sich alle düsteren Gedanken aus dem Sinne zu schlagen.
Aber Torarin war nicht der einzige, der an diesem Abend spät zum Gastmahl kam. Lange nachher traten ein Mann und eine Frau zur Türe herein. Sie waren dürftig gekleidet, und sie blieben verzagt in der Ecke zwischen der Tür und dem Herde stehen.
Der Wirt ging sogleich zu den beiden Gästen hin. Er nahm sie beide bei der Hand und führte sie hinauf in die Stube. Dann sagte er zu den übrigen. »Ist es nicht wahr, was man sagt: die, die den kürzesten Weg haben, kommen am spätesten ans Ziel? Dies sind meine nächsten Nachbarn. Es gibt keine anderen Ansiedler hier in Branehög, als sie und mich.«
»Sage lieber gleich, daß es keine gibt außer dir,« sagte der Mann. »Du kannst mich nicht einen Ansiedler nennen. Ich bin nur ein armer Köhler, den du auf deinem Boden bauen ließest.«
Der Mann setzte sich neben Torarin, und sie begannen miteinander zu sprechen. Der neue Ankömmling erzählte Torarin, warum er so spät zum Gastmahl käme. Das wäre, weil sie daheim in ihrer Hütte einen Besuch gehabt hätten, den sie nicht allein zu lassen wagten. Es wären drei Gerbergesellen, die den ganzen Tag bei ihnen verbracht hätten. Am Morgen, als sie gekommen wären, wären sie ermattet und krank gewesen. Sie hätten gesagt, sie seien eine ganze Woche im Walde umhergeirrt. Aber nachdem sie gegessen und geschlafen hätten, wären sie bald zu Kräften gekommen, und am Abend hätten sie gefragt, welches Gehöft das reichste und größte in der Gegend sei. Dorthin wollten sie gehen, um Arbeit zu suchen. Die Frau hätte ihnen geantwortet, daß der Pfarrhof, wo Herr Arne wohnte, das ansehnlichste Anwesen wäre. Da hätten sie alsogleich aus ihren Ränzeln lange Messer gezogen und angefangen, sie zu schleifen. Dies hätten sie eine gute Weile fortgesetzt, und dabei hätten sie so wild ausgesehen, daß der Köhler und sein Weib nicht gewagt hätten, das Haus zu verlassen. »Ich sehe sie noch vor mir, wie sie dasaßen und mit ihren Messern knirschten,« sagte der Mann. »Sie sahen furchtbar aus, sie hatten große Bärte, die sie so manchen Tag nicht gestutzt oder gepflegt hatten, und sie waren in zottige Fellröcke gekleidet, die zerfetzt und schmutzig waren. Ich glaubte, es seien zwei Werwölfe in die Stube gekommen. Ich war froh, als sie sich endlich trollten.«
Als Torarin dies hörte, erzählte er dem Köhler, was er selbst im Pfarrhof mitgemacht hatte.
»Also war es doch wahr, daß sie heute abend in Branehög Messer schliffen,« sagte Torarin und lachte. Er hatte viel getrunken, weil er so traurig und bedrückt auf den Hof gekommen war. Und so hatte er denn versuchen müssen, sich zu trösten, so gut er konnte. »Nun bin ich wieder froh,« sagte er, »da ich jetzt weiß, daß die Pfarrersfrau kein anderes Vorzeichen gehört hat als ein paar Gerber, die ihre Werkzeuge in Ordnung brachten.«
4
Lange nach Mitternacht traten ein paar Männer aus der Stube auf Branehög, um ihre Pferde anzuschirren und heimzufahren.
Als sie auf den Hof kamen, sahen sie im Norden eine Feuersbrunst zum Himmel flackern. Sie eilten sogleich in die Stube zurück und riefen: »Stehet auf! Stehet auf! Der Pfarrhof von Solberga steht in Flammen!«
Es waren viele Leute bei dem Gastmahl, und wer ein Pferd hatte, schwang sich darauf und eilte zum Pfarrhof, aber beinahe ebenso rasch kamen die ans Ziel, die auf ihren eigenen flinken Füßen hinlaufen mußten. Als die Leute zum Pfarrhof kamen, schien da kein Mensch auf zu sein, sondern alle schienen zu schlafen, obgleich das Feuer hoch zum Himmel loderte.
Aber es war keines der Häuser, das brannte, sondern ein großer Haufen Reisig und Stroh und Holz, der an der Wand des alten Pfarrhauses aufgeschichtet war. Er konnte noch nicht lange gebrannt haben. Die Flammen hatten gerade nur das gute Zimmerholz der Wand geschwärzt und den Schnee auf dem Strohdache zum Schmelzen gebracht. Jetzt war jedoch das Stroh des Daches im Begriffe anzubrennen. Alle begriffen sogleich, daß dies ein Mordbrand war. Sie fingen zu zweifeln an, ob Herr Arne und seine Hausgenossen wirklich schliefen, oder ob ein Unglück sie getroffen hätte.
Aber bevor die Retter in das Haus drangen, wälzten sie mit langen Stangen den brennenden Scheiterhaufen von der Hauswand fort und kletterten auf das Dach und rissen das Stroh ab, das zu rauchen begonnen hatte und nahe daran war, Feuer zu fangen.
Dann gingen ein paar Männer auf die Haustüre zu, um einzutreten und Herrn Arne zu wecken, aber als der, der voranging, zur Schwelle kam, wich er zur Seite und ließ einem den Vortritt, der nach ihm kam.
Dieser machte einen Schritt vorwärts, aber als er die Hand nach dem Türgriff ausstrecken wollte, ging er zurück und machte jenen Platz, die hinter ihm standen.
Es deuchte sie eine grausige Tür, die da zu öffnen war; denn es kam ein breiter Blutstrom unter der Schwelle hervorgerieselt, und der Türgriff war mit Blut besudelt.
Da ging die Türe vor ihnen auf, und Herrn Arnes Hilfsgeistlicher kam heraus. Er taumelte auf die Männer zu, er hatte eine tiefe Wunde im Kopfe und war blutüberströmt. Er stand einen Augenblick aufrecht und reckte seine Hand empor, um Schweigen zu gebieten. Dann sagte er mit röchelnder Stimme:
»In dieser Nacht ist Herr Arne und sein ganzes Haus von drei Männern ermordet worden, die durch den Windfang des Daches hereingeklettert kamen und in zottige Felle gehüllt waren. Sie stürzten sich über uns her wie wilde Tiere und töteten uns.«
Mehr vermochte er nicht zu sagen. Er fiel vor den Füßen der Männer hin und war tot.
Nun traten die Leute in das Haus und fanden alles so, wie der Hilfspfarrer gesagt hatte.
Die große Eichentruhe, in der Herr Arne sein Geld verwahrte, war verschwunden, und Herrn Arnes Pferd war aus dem Stalle genommen, und sein Schlitten aus dem Schuppen.
Es führten Schlittenspuren vom Hofe über die Pfarrhofwiesen hinab zum Meere, und ein Dutzend Männer eilten davon, um die Mörder zu greifen. Aber die Frauen mühten sich um die Toten und trugen sie aus der bluttriefenden Stube hinaus in den reinen Schnee.
Da fand man nicht alle von Herrn Arnes Hausgenossen, sondern einer fehlte. Es war die arme Jungfrau, die Herr Arne in sein Haus aufgenommen hatte. Da herrschte große Verwunderung, ob es ihr vielleicht geglückt wäre, zu entfliehen, oder ob die Räuber sie mitgenommen hätten.
Aber als sie das ganze Haus genau durchsuchten, fanden sie sie zwischen dem großen Ofen und der Wand versteckt. Sie hatte sich während des Kampfes dort verborgen gehalten und war ganz unversehrt. Aber sie war vom Schrecken so mitgenommen, daß sie nicht Rede noch Antwort stehen konnte.
Auf den Brücken
Die arme Jungfrau, die von dem Blutbade verschont geblieben war, hatte Torarin mit nach Marstrand genommen. Er hatte ein so großes Mitleid für sie gefaßt, daß er ihr angeboten hatte, in seiner engen Hütte zu wohnen und Speise und Trank mit ihm und seiner Mutter zu teilen.
Dies ist das einzige, was ich für Herrn Arne tun kann, dachte Torarin, zum Lohn für alle die vielen Male, wo er mir meine Fische abgekauft hat und mich an seinem Tische essen ließ.
So arm und gering ich auch bin, dachte Torarin, ist es doch besser für die Jungfrau, daß sie mit mir in die Stadt kommt, als wenn sie hier bei den Bauern bleibt. In Marstrand gibt es viele reiche Bürger, und die Jungfrau wird vielleicht bei einem von ihnen einen Dienst finden und so ihr gutes Auskommen haben.
In den ersten Tagen, nachdem die Jungfrau zur Stadt gekommen war, saß sie da und weinte vom Morgen bis zum Abend. Sie jammerte über Herrn Arne und sein Haus, und sie klagte, weil sie alle verloren hatte, die ihr nahe standen. Am meisten jedoch wehklagte sie über ihre Milchschwester und sagte, sie wünschte, sie hätte sich nicht an der Mauer versteckt, so daß sie ihr in den Tod hätte folgen können.
Torarins Mutter sagte nichts dazu, solange der Sohn daheim war. Aber als er wieder seine Fahrt angetreten hatte, sagte sie eines Morgens zu der Jungfrau:
»Ich bin nicht so reich, Elsalill, daß ich dir Nahrung und Kleidung geben kann, damit du hier mit den Händen im Schoße sitzest und deinen Kummer hütest. Komm du mit mir hinunter auf die Brücken und lerne Fische reinigen!«
Da ging Elsalill mit ihr hinunter auf die Brücken und stand den ganzen Tag unter den anderen Fischerinnen und arbeitete.
Aber die meisten Frauen auf den Brücken waren jung und frohgemut. Sie begannen mit Elsalill zu sprechen und fragten sie, warum sie so traurig und stumm wäre.
Da begann Elsalill ihnen zu erzählen, was für ein Abenteuer ihr vor nicht mehr als drei Nächten widerfahren war. Sie erzählte von den drei Räubern, die durch den Windfang des Daches in die Stube gedrungen waren und alle gemordet hatten, die ihr im Leben nahe standen.
Als Elsalill dies erzählte, fiel ein schwarzer Schatten auf den Tisch, an dem sie stand und arbeitete. Und als sie aufsah, standen vor ihr drei vornehme Herren, die breite Hüte mit großen Federn trugen und Samtkleider mit großen Puffen, die mit Seide und Gold bestickt waren.
Einer von ihnen schien der Vornehmste zu sein. Er war sehr bleich, sein Bart war geschoren, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Es hatte den Anschein, als wäre er jüngst krank gewesen. Aber sonst sah er aus wie ein fröhlicher und kühner Kavalier, der auf den besonnten Brücken umherging, um die Leute seine schönen Kleider und sein schönes Gesicht sehen zu lassen.
Elsalill hielt mit der Arbeit und mit der Erzählung inne. Sie stand mit offenem Munde und aufgerissenen Augen da und betrachtete ihn. Und er lächelte ihr zu.
»Wir sind nicht hergekommen, um dich zu erschrecken, Jungfrau,« sagte er, »und wir bitten dich, daß du auch uns gestattest, deiner Erzählung zu lauschen.«
Die arme Elsalill, niemals in ihrem ganzen Leben hatte sie einen solchen Mann gesehen. Sie vermeinte, vor ihm nicht sprechen zu können. Sie schwieg nur und sah hinunter auf ihre Arbeit.
Da begann der Fremde noch einmal: »Sei doch nicht bange, Jungfrau. Wir sind Schotten, die wohl an die zehn Jahre in den Diensten des Königs Johann von Schweden gestanden haben, aber jetzt haben wir Urlaub und wollen heimreisen. Wir sind nach Marstrand gekommen, um eine Fahrgelegenheit nach Schottland hinüber zu finden, aber als wir herkamen, lagen alle Sunde und Fjorde gefroren, und hier müssen wir nun bleiben und warten. Wir haben keinerlei Beschäftigung, und darum schlendern wir über die Brücken, um Leute zu treffen. Wir wären froh, Jungfrau, wenn du uns deine Geschichte hören ließest.«
Elsalill begriff, daß er so lange sprach, um ihr Zeit zu geben, ihre Fassung wiederzuerlangen. Endlich dachte sie bei sich selber: Du mußt doch wohl zeigen, daß du nicht zu gering bist, um mit einem hohen Herrn zu sprechen, Elsalill! Du bist doch eine Jungfrau von guter Geburt, und keine Fischerdirne!
»Ich sprach nur von dem großen Blutbade im Pfarrhofe von Solberga,« sagte Elsalill. »Es sind ihrer so viele, die davon zu erzählen wissen.«
»Ja,« sagte der Fremde, »aber ich wußte bis jetzt nicht, daß jemand von Herrn Arnes Leuten mit dem Leben davongekommen ist.«
Da erzählte Elsalill noch einmal von dem Eindringen der wilden Räuber. Sie erzählte, wie die alten Knechte sich um Herrn Arne geschart hatten, um ihn zu schützen, und wie Herr Arne selbst sein Schwert von der Wand gerissen hatte und auf die Räuber eingedrungen war, die aber hatten sie alle besiegt. Und die alte Pfarrersfrau hatte das Schwert ihres Mannes aufgehoben und war auf die Räuber losgegangen, aber sie hatten sie nur ausgelacht und sie mit einem Holzscheit zu Boden geschlagen. Und alle die anderen Frauen hatten sich auf die Ofenmauer verkrochen, aber als die Männer tot waren, kamen die Mörder und rissen sie herunter und mordeten sie. »Die letzte, die sie töteten,« sagte Elsalill, »war meine liebe Pflegeschwester. Sie bat so flehentlich um ihr Leben, und zwei von ihnen wollten es ihr schenken, aber der dritte sagte, alle müßten sterben, und stach ihr sein Messer ins Herz.«
Solange Elsalill von Mord und Blut sprach, standen die drei Männer vor ihr still. Sie tauschten keinen Blick miteinander, aber ihre Ohren wurden gleichsam lang vom Horchen, und ihre Augen funkelten, und zuweilen öffneten sich ihre Lippen, so daß die Zahnreihen hervorleuchteten.
Elsalill stand da, die Augen voll Tränen, nicht ein einzigesmal sah sie auf, während sie sprach. Sie sah nicht, daß der Mann vor ihr Augen und Zähne hatte wie ein Wolf. Erst als sie zu Ende gesprochen hatte, trocknete sie ihre Tränen und sah zu ihm auf.
Doch als er Elsalills Augen begegnete, veränderte sich sein Gesicht alsogleich.
»Da du die Mörder so gut gesehen hast, Jungfrau,« sagte er, »hättest du sie wohl sogleich wiedererkannt, wenn du ihnen begegnet wärest?«
»Hab' ich sie doch nicht anders gesehen als beim Schein der Kienspäne, die sie aus dem Herde rissen, um sich beim Morden zu leuchten,« sagte Elsalill, »aber dennoch würde ich sie mit Gottes Hilfe wohl wiedererkennen. Und ich bete alle Tage zu Gott, daß ich ihnen begegnen möchte.«
»Was meinst du damit, Jungfrau?« fragte der Fremde. »Ist es nicht wahr, daß die mörderischen Wanderer tot sind?«
»Ja, das weiß ich wohl,« sagte Elsalill. »Die Bauern, die ihnen nachjagten, verfolgten ihre Spuren vom Pfarrhofe bis zu einer Wake im Eise. Bis dorthin sahen sie auf dem blanken Eisspiegel Spuren von Schlittenkufen, Spuren von Pferdehufen, Fußstapfen von Menschen, die harte, eisenbeschlagene Schuhe getragen hatten. Aber von der Wake führten keine Spuren weiter über das Eis, und darum glaubten die Bauern, daß alle tot wären.«
»Glaubst du, Elsalill, denn nicht, daß sie tot sind?« fragte der Fremde.
»Doch, ich glaube wohl, daß sie ertrunken sind,« sagte Elsalill, »und dennoch bete ich jeden Tag zu Gott, daß sie entronnen sein möchten. Ich spreche so zu Gott: Laß es so sein, daß sie nur mit Pferd und Schlitten in die Wacke gefahren, daß sie selbst aber davongekommen sein möchten.«
»Warum wolltest du das, Elsalill?« fragte der Fremde.
Das zarte Mägdlein Elsalill, das warf den Kopf zurück, und ihre Augen leuchteten: »Ich wollte wohl, daß sie lebten, damit ich sie ausfindig machen und greifen könnte. Ich wollte, daß sie lebten, damit ich ihnen das Herz aus der Brust reißen könnte. Ich wollte, daß sie lebten, damit ich ihren Leib in vier Teile zerstückelt auf das Rad geflochten sähe.«
»Wie wolltest du dies alles bewerkstelligen?« sagte der Fremde. »Du bist ja nur so ein schwaches, kleines Jungfräulein.«
»Wenn sie lebten,« sagte Elsalill, »dann würde ich sie schon der Strafe zuführen. Lieber wollte ich selbst in den Tod gehen, als sie entrinnen lassen. Sie mögen wohl stark und gewaltig sein, das weiß ich, aber mir würden sie nicht entrinnen können.«
Da lächelte der Fremde, aber Elsalill stampfte mit dem Fuße.
»Wenn sie lebten, dann würde ich dessen wohl eingedenk sein, daß sie mir mein Heim genommen haben, so daß ich jetzt eine arme Dirne bin, die auf der kalten Brücke stehen und Fische schuppen muß. Ich würde mich dessen erinnern, daß sie alle getötet haben, die mir nahe standen. Und besonders würde ich mich seiner erinnern, der meine Milchschwester von der Mauer herunterzerrte und sie mordete, die mir so hold gesinnt war.«
Aber als die kleine zarte Jungfrau so großen Zorn zeigte, da begannen die drei schottischen Kriegsleute zu lachen. Sie waren so lachlustig, daß sie ihrer Wege gingen, damit Elsalill keinen Anstoß daran nähme. Sie gingen über den Hafen ein enges Gäßchen hinauf, das zum Marktplatz führte. Aber noch lange, nachdem sie verschwunden waren, hörte Elsalill, wie sie aus vollem Halse lachten, höhnisch und gellend.
Die Ausgesandte
Acht Tage nach seinem Tode wurde Herr Arne in der Kirche von Solberga beigesetzt, und an demselben Tage wurde auf dem Thingplatze von Branehög Untersuchung über den Mord gehalten.
Aber Herr Arne war ein wohlbekannter Mann in Bohuslän gewesen, und an seinem Begräbnistage kamen so viele Menschen, vom Festlande wie von den Schären, zusammen, daß es war, wie wenn ein Kriegsheer sich um seinen Anführer sammelt. Und über die Felder zwischen der Kirche von Solberga und Branehög wanderten so viele Leute, daß es am Abend keinen Zollbreit Schnee gab, der nicht von Menschen niedergetreten war.
Doch spät nachts, als alle diese Leute ihrer Wege gezogen waren, kam Torarin, der Fischkrämer, den Weg von Branehög herauf nach Solberga gefahren.
Torarin hatte im Laufe des Tages mit vielen Menschen gesprochen. Wieder und wieder hatte er von Herrn Arnes Tod erzählt. Er war auch auf dem Thingplatze wohl verpflegt worden und hatte so manchen Bierkrug leeren müssen, mit Wanderern, die von weither kamen.
Torarin fühlte sich schwer und träge, er hatte sich auf seiner Fuhre niedergelegt. Er war betrübt, daß Herr Arne dahingegangen war, und als er in die Nähe des Pfarrhofs kam, begannen ihn noch schwerere Gedanken zu quälen. »Grim, mein Hund,« sagte er, »wenn ich an dieses Vorzeichen mit den Messern geglaubt hätte, hätte ich das ganze Unheil abwehren können. Ich denke oft daran, Grim, mein Hund. Mir ist so ängstlich zumute, ganz, als hätte ich selbst mit dazu geholfen, Herrn Arne aus der Welt zu schaffen. Merke nun wohl, was ich sage: wenn ich das nächste Mal so etwas höre, werde ich es glauben und mich danach richten.«
Aber während Torarin auf dem Wagen lag und mit halbgeschlossenen Augen vor sich hindämmerte, ging sein Pferd, wie es ihm gefiel; und als es zum Pfarrhof von Solberga kam, da trabte es aus alter Gewohnheit in den Hof und ging bis zur Stalltüre. Torarin wußte von nichts. Erst als das Pferd stehen blieb, richtete er sich auf und sah sich um. Er schauderte zusammen, als er sah, daß er sich auf dem Hofe vor einem Hause befand, wo erst vor einer Woche so viele Menschen ermordet worden waren.
Er griff sogleich nach den Zügeln. Er wollte das Pferd umdrehen und wieder auf den Weg hinausfahren, aber in demselben Augenblick klopfte ihm jemand auf die Schulter, und er sah sich um. Da stand neben ihm der alte Olof, der Pferdeknecht, der im Pfarrhofe gedient hatte, solange Torarin überhaupt zurückdenken konnte.
»Hast du es so eilig, heute nacht vom Hofe wegzufahren, Torarin?« sagte der Alte. »Komm doch lieber ins Haus hinein! Herr Arne sitzt da und wartet auf dich.«
Torarin gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Er wußte nicht, ob er träumte oder wachte. Olof, den Pferdeknecht, den er frisch und lebend vor sich stehen sah, hatte er vor einer Woche tot neben den anderen liegen sehen, mit einer großen Wunde im Halse.
Torarin faßte die Zügel fester. Es deuchte ihn das Beste, rasch fortzukommen. Aber die Hand Olofs, des Pferdeknechts, lag noch auf seiner Schulter, und der Alte fuhr fort, in ihn zu dringen.
Torarin grübelte hin und her, um eine Ausflucht zu finden. »Es lag mir nicht im Sinn, Herrn Arne zu so später Stunde zu stören,« sagte er. »Das Pferd ist hergetrabt, ohne daß ich davon wußte. Ich will jetzt weiterfahren und mir eine Herberge für die Nacht suchen. Wenn Herr Arne mich sprechen will, kann ich wohl morgen wiederkommen.«
Damit beugte Torarin sich vor und schlug mit der Peitsche nach dem Pferde, damit es sich in Bewegung setze.
Allein im selben Augenblick stand der Pfarrhofknecht vorne beim Kopfe des Pferdes, faßte es am Zaumzeug und zwang es, still zu stehen. »Sei nicht halsstarrig, Torarin,« sagte der Knecht. »Herr Arne ist noch nicht zu Bett gegangen, er sitzt da und wartet auf dich. Und du mußt doch wissen, daß du hier ein ebenso gutes Nachtquartier finden kannst wie auf irgendeinem anderen Hofe im Kirchspiel.«
Da wollte Torarin antworten, daß er sich nicht damit begnügen könnte, in einem Hause ohne Dach zu wohnen. Aber bevor er etwas sagte, warf er einen Blick auf das Wohngebäude. Da sah er das alte Dach ebenso wohlbehalten und ansehnlich wie vor dem Brande dastehen. Und doch hatte Torarin noch an demselben Morgen den nackten Dachstuhl in die Luft ragen sehen.
Er schaute und schaute und rieb sich die Augen, aber das Pfarrhaus stand ganz gewiß unversehrt da, mit Stroh und Schnee auf dem Dache. Durch den Windfang sah er Rauch und Funken aufflattern. Und durch die wohlverschlossenen Fensterladen sah er den Lichtschein hinaus auf den Schnee fallen.
Wer weit auf der kahlen Landstraße umherzieht, weiß sich keinen traulicheren Anblick als den Lichtschein, der aus einer warmen Stube dringt. Aber Torarin wurde nur noch erschrockener, als er vorher gewesen war. Er peitschte das Pferd, so daß es sich bäumte und ausschlug. Aber nicht um einen Schritt brachte er es von der Stalltüre fort.
»Komm du nur mit herein, Torarin,« sagte der Stallknecht. »Ich dachte, du wolltest doch in dieser Sache nichts mehr zu bereuen haben.«
Nun kam es Torarin wieder in den Sinn, was er sich auf dem Wege gelobt hatte. Und während er eben noch mit hocherhobener Peitsche auf dem Wagen gestanden hatte, wurde er mit einem Male so zahm wie ein Lamm.
»Sieh her, Olof, hier bin ich also!« sagte er und sprang von der Fuhre hinunter. »Es ist wahr, daß ich in dieser Sache nichts zu bereuen haben will. Führe mich jetzt hinein zu Herrn Arne!«
Aber die schwersten Schritte, die Torarin noch gegangen war, waren die, die er über den Hof zum Hause hin machte.
Als die Tür aufging, schloß Torarin die Augen, um nicht in die Stube sehen zu müssen. Aber er suchte sich Mut zu machen, indem er an Herrn Arne dachte. »Er hat dir so manche gute Mahlzeit gegeben. Er hat deine Fische gekauft, wenn auch seine eigene Vorratskammer voll war. Er ist dir immer im Leben wohlgesinnt gewesen, und sicherlich will er dir auch nach seinem Tode nicht schaden. Vielleicht will er einen Dienst von dir verlangen. Du darfst nicht vergessen, Torarin, daß man Dankbarkeit zeigen muß, auch gegen die Toten.«
Torarin schlug die Augen auf und sah in die Stube. Da sah er den großen Raum, ganz wie er ihn immer gesehen hatte. Er erkannte den hohen gemauerten Ofen wieder und die gewebten Tücher, die die Wände bekleideten. Aber er schaute viele Male von Wand zu Wand und vom Boden zur Decke, bevor er sich ein Herz faßte und zu dem Tische und der Bank hinsah, wo Herr Arne immer gesessen hatte.
Aber endlich blickte er auch dorthin, und da sah er Herrn Arne selbst leibhaftig am Tische sitzen mit seiner Gattin und dem Hilfspastor zur Rechten und zur Linken, so wie er ihn vor acht Tagen gesehen hatte. Er schien eben seine Mahlzeit beendigt zu haben, er hatte den Teller zurückgeschoben, und der Löffel lag vor ihm auf dem Tische. Alle die alten Diener und Dienerinnen saßen am Tische, aber nur eine von den jungen Jungfrauen.
Torarin stand lange unten an der Tür und betrachtete die, die am Tische saßen. Sie sahen alle ängstlich und betrübt aus, und auch Herr Arne saß schwermütig da wie die anderen und stützte das Haupt in die Hand.
Endlich sah Torarin, daß Herr Arne den Kopf erhob.
»Bringst du jemand Fremdes mit in die Stube, Pferdeknecht Olof?«
»Ja,« antwortete der Knecht, »es ist Torarin, der Fischkrämer, der heute auf dem Thing in Branehög gewesen ist.«
Da schien Herr Arne fröhlicher auszusehen, und Torarin hörte ihn sagen. »Tritt näher, Torarin, und laß uns die Neuigkeiten vom Thing hören! Hier habe ich jetzt die halbe Nacht gesessen und auf dich gewartet!«
Das alles klang so wirklich und natürlich, daß Torarin anfing, sich immer beherzter zu fühlen. Er ging ganz mutig durch die Stube, auf Herrn Arne zu. Er fragte sich, ob es nicht ein böser Traum gewesen wäre, daß Herr Arne ermordet sei, und ob er nicht in Wahrheit lebte.
Aber während Torarin durch die Stube ging, warf er aus alter Gewohnheit einen Blick auf das Himmelbett, neben dem die große Geldtruhe zu stehen pflegte. Aber die eisenbeschlagene Truhe stand nicht mehr auf ihrem Platze, und als Torarin dies sah, durchlief ihn wieder ein Gruseln.
»Nun, Torarin, sage uns, wie es heute auf dem Thing abgelaufen ist,« hub Herr Arne an.
Torarin suchte so zu tun, wie ihm geheißen war, und erzählte vom Thing und von der Untersuchung, aber er konnte weder seiner Lippen noch seiner Zunge Herr werden, sondern sprach schlecht und stammelnd.
Herr Arne unterbrach ihn auch sogleich: »Sag' mir nur das Wichtigste, Torarin. Sind unsere Mörder gefunden und bestraft worden?«
»Nein, Herr Arne,« erkühnte sich da Torarin zu antworten. »Eure Mörder liegen auf dem Grunde des Hakefjords. Wie wollt ihr, daß jemand Rache an ihnen nehme?«
Als Torarin diese Antwort gab, schien in Herrn Arne wieder seine alte Laune zu fahren, und er schlug mit der Hand hart auf den Tisch. »Was sagst du da, Torarin? Der Amtmann auf Bohus wäre mit seinen Beiständen und Schreibern hier gewesen und hätte Thing gehalten, und da hätte ihm niemand sagen können, wo er meine Mörder finden soll?«
»Nein, Herr Arne,« antwortete Torarin, »das kann ihm niemand unter den Lebenden sagen.«
Herr Arne saß eine Weile mit gerunzelter Stirn und blickte düster vor sich hin. Dann wandte er sich noch einmal an Torarin.
»Ich weiß, daß du mir ergeben bist, Torarin. Kannst du mir sagen, wie ich Rache nehmen soll an meinen Mördern?«
»Ich kann es wohl verstehen, Herr Arne,« sagte Torarin, »daß Ihr wünschet, Euch an jenen zu rächen, die Euch so unsanft des Lebens beraubt haben. Aber es gibt niemand unter uns, die wir auf Gottes grüner Erde wandeln, der Euch da behilflich sein könnte.«
Als Herr Arne diese Antwort erhalten hatte, versank er in tiefes Grübeln.
Und es entstand ein langes Stillschweigen. Nach einer Weile wagte Torarin sich mit einer Bitte hervor.
»Ich habe nun Euren Wunsch erfüllt, Herr Arne, und Euch gesagt, wie es auf dem Thinge abgelaufen ist. Habt Ihr mich noch etwas zu fragen, oder wollt Ihr mich jetzt ziehen lassen?«
»Du sollst nicht gehen, Torarin,« sagte Herr Arne, »ehe du mir nicht noch einmal geantwortet hast, ob keiner der Lebenden uns rächen kann.«
»Nicht, wenn alle Männer aus Bohuslän und Norwegen zusammenkämen, um Rache an Euern Mördern zu nehmen, würden sie imstande sein, sie zu finden,« sagte Torarin.
Da sprach Herr Arne:
»Wenn die Lebenden uns nicht helfen können, müssen wir uns selber helfen.«
Damit begann Herr Arne mit lauter Stimme ein Vaterunser zu beten, aber nicht auf norwegisch, sondern auf lateinisch, wie es vor seiner Zeit im Lande der Brauch gewesen war. Und bei jedem Worte des Gebetes, das er aussprach, wies er mit dem Finger auf einen von denen, die mit ihm am Tische saßen. Er ging sie auf diese Weise mehrere Male durch, bis er zum Amen kam. Aber als er dieses Wort sagte, streckte er den Finger gegen das junge Jüngferchen aus, das seine Sohnestochter war.
Die junge Jungfrau erhob sich allsogleich von der Bank, und Herr Arne sagte zu ihr: »Du weißt, was du zu tun hast.«
Da klagte die junge Jungfrau gar sehr und sagte: »Sende mich nicht mit diesem Auftrag aus. Das ist ein zu schweres Beginnen für eine so schwache Jungfrau wie ich.«
»Ganz gewiß sollst du gehen,« sagte Herr Arne. »Es ist nur billig, daß du gehst, denn du hast am meisten zu rächen. Niemandem von uns sind so viele Jahre des Lebens geraubt worden wie dir, die die Jüngste unter uns ist.«
»Ich begehre nicht nach Rache an irgendeinem Menschen,« sagte die Jungfrau.
»Du sollst allsogleich gehen,« sagte Herr Arne, »und du wirst nicht alleine stehen. Du weißt, daß es unter den Lebenden zwei gibt, die vor acht Tagen hier mit uns an diesem Tische saßen.«
Aber als Torarin Herrn Arne dieses sagen hörte, glaubte er zu verstehen, daß Herr Arne ihn ausersähe, gegen Missetäter und Mörder zu kämpfen, und er rief:
»Um Gottes Barmherzigkeit willen beschwöre ich Euch, Herr Arne -- -- --«
Im selben Augenblick deuchte es Torarin, daß Herr Arne und der Pfarrhof in einen Nebel verschwänden, und er selbst sank tief hinab, als fiele er von einer schwindelnden Höhe, und damit verlor er das Bewußtsein.
Als er wieder zum Leben erwachte, begann der Morgen zu dämmern. Da sah er, daß er im Hofe des Solberger Pfarrhauses auf dem Boden lag. Das Pferd mit dem beladenen Wagen stand neben ihm, und Grim bellte und heulte über ihm.
»Es war alles nur ein Traum,« sagte Torarin, »nun sehe ich es ein. Der Hof ist öde und zerstört. Ich habe weder Herrn Arne gesehen noch irgendeinen andern. Aber ich habe mich im Traume so erschreckt, daß ich vom Wagen heruntergestürzt bin.«
Im Mondenschein
Als vierzehn Tage seit Herrn Arnes Tod verstrichen waren, kamen ein paar Nächte mit starkem, klarem Mondschein. Und eines Abends war Torarin unterwegs und fuhr durch den Mondschein. Einmal ums andre hielt er das Pferd an, als fiele es ihm schwer, den Weg zu finden. Und er fuhr doch durch keinen irrsamen Wald, sondern über etwas, was wie eine offene Ebene aussah, worauf sich steinige Hügel in Mengen erhoben.
Die ganze Gegend war von weißem, schimmerndem Schnee bedeckt. Er war bei gutem Wetter still und gleichmäßig gefallen, er lag nicht in Haufen oder Wirbeln. So weit das Auge reichte, gab es nichts anderes als die gleiche glatte Ebene und die gleichen steinigen Hügel.
»Grim, mein Hund,« sagte Torarin, »wenn wir dies heute abend zum ersten Male sähen, dann würden wir wohl glauben, daß wir über eine große Heide zögen. Aber wir würden uns wohl darüber verwundern, daß der Boden so eben ist und der Weg ohne Steine oder Gruben. Was ist dies für eine Gegend, würden wir sagen, wo es weder Gräben noch Zäune gibt, und wie kommt es, daß kein Strauch und kein Hälmchen aus dem Schnee hervorguckt? Und warum sehen wir keine Flüsse oder Bächlein, die doch sonst selbst in der strengsten Kälte ihre schwarzen Furchen durch die weißen Felder ziehen?«
Torarin ergötzte sich sehr an diesen Gedanken, und auch Grim fand Gefallen an ihnen. Er regte sich nicht von seinem Platz auf der Wagenladung, sondern lag still und blinzelte.
Aber gerade, als Torarin seine Rede geschlossen hatte, fuhr er an einer hohen Stange vorbei, an der ein Büschel festgebunden war.
»Wenn wir hier fremd wären, Grim, mein Hund,« sagte Torarin, »dann würden wir uns wohl fragen, was dies für eine Heide sei, wo sie dieselben Zeichen aufstellen, wie man sie auf dem Meere benutzt. Dies kann doch wohl nicht das Meer selber sein, würden wir schließlich sagen. Aber das würde uns wohl ganz unmöglich vorkommen. Was so stetig und sicher daliegt, sollte das bloßes Wasser sein? Und alle diese Felsenhügel, die da so fest vereint ruhen, sollten es nur Inseln und Schären sein, die durch wallende Wellen geschieden wären? Nein, wir können es nicht glauben, daß dieses möglich sei, Grim, mein Hund.«
Torarin lachte, und Grim lag noch immer still und regungslos. Torarin fuhr weiter, bis er um einen hohen Felsenhügel bog. Da stieß er einen Ausruf aus, als hätte er etwas Merkwürdiges gesehen. Er tat sehr erstaunt, zog die Zügel an und schlug die Hände zusammen.
»Grim, mein Hund, und du wolltest nicht glauben, daß dies das Meer sei! Jetzt siehst du doch, was es ist. Richte dich auf, dann wirst du sehen, daß hier vor uns ein großes Fahrzeug liegt. Du wolltest das Seezeichen nicht kennen, aber hierin kannst du dich nicht täuschen. Jetzt kannst du wohl nicht mehr leugnen, daß es das Meer selbst ist, worüber wir ziehen.«
Torarin blieb noch eine Weile stehen und betrachtete ein großes Fahrzeug, das im Eise eingefroren dalag. Es sah ganz verirrt aus, wie es da mit der glatten weißen Schneedecke um sich herum dalag.
Aber als Torarin sah, daß ein schwacher Rauch aus dem Hinterteil des Fahrzeugs aufstieg, fuhr er hin und rief den Schiffer an, um zu hören, ob er ihm Fische abkaufen wolle. Er hatte nur noch ein paar Dorsche auf dem Grunde seines Wagens, da er im Laufe des Tages zu allen den Schuten gefahren war, die in den Schären eingefroren lagen, und ihnen Fische verkauft hatte.
Da an Bord saß der Schiffer mit seinen Leuten in trübseligster Laune. Sie kauften dem Handelsmanne Fische ab, nicht weil sie sie gebraucht hätten, sondern um jemanden zu haben, mit dem sie sprechen könnten.
Als sie zu Torarin hinunter aufs Eis kamen, steckte dieser eine unschuldige Miene auf.
Er begann mit ihnen vom Wetter zu sprechen. »Seit Menschengedenken hat es kein so schönes Wetter gegeben wie heuer,« sagte Torarin. »Seit beinahe drei Wochen haben wir jetzt ruhige Luft und strenge Kälte. Das ist anders, als wir es sonst in den Schären gewohnt sind.«
Aber der Schiffer, der mit seiner Galeasse voll Heringstonnen dalag und in einer Bucht nahe bei Marstrand eingefroren war, gerade als er sich anschicken wollte, ins Meer hinaus zu steuern, sah Torarin ingrimmig an und antwortete:
»Ja so, das nennst du schönes Wetter?«
»Wie sollte ich es sonst nennen?« sagte Torarin. Er sah unschuldig aus wie ein Kind. »Der Himmel ist klar und ruhig und blau, und die Nacht ist ebenso schön wie der Tag. Nie zuvor habe ich es erlebt, daß ich so Woche für Woche auf dem Eise umherfahren konnte. Das Meer friert hier draußen nicht so häufig zu, und wenn es einmal einen Winter vereist war, so kam immer gleich ein Sturm und riß es in wenigen Stunden wieder auf.«
Der Schiffer stand finster und verdüstert da; er antwortete gar nicht auf Torarins Geschwätz. Da begann Torarin zu fragen, warum er sich nicht nach Marstrand hinein begebe. »Es ist ja eine Wanderung von nicht mehr als einer Stunde über das Eis,« sagte Torarin.
Darauf erhielt er auch keine Antwort. Torarin begriff, daß der Mann die Galeasse keinen Augenblick verlassen wollte, aus Furcht, nicht zur Stelle zu sein, wenn das Eis bräche. Selten habe ich jemanden mit so sehnsuchtskranken Augen gesehen, dachte Torarin.
Aber der Schiffer, der nun Tag für Tag zwischen den Schären eingeschlossen dagesessen hatte, ohne sein Segel hissen und ins Meer hinaussteuern zu können, hatte inzwischen mancherlei Gedanken gedacht, und er sagte zu Torarin:
»Du, der da überall herumzieht und von allem reden hört, was sich zuträgt, weißt du, warum Gott dieses Jahr die Wege ins Meer hinaus solange verschließt und uns alle in Gefangenschaft hält?«
Als er dies sagte, hörte Torarin zu lächeln auf, aber er stellte sich unwissend und sagte: »Jetzt weiß ich nicht, wie du dies meinst.«
»Je nun,« sagte der Schiffer, »ich lag einmal einen ganzen Monat im Hafen von Bergen, und es blies alle Tag Gegenwind, so daß kein Schiff in See stechen konnte. Aber an Bord von einem der Schiffe, die im Hafen eingeschlossen waren, war ein Mann, der in Kirchen gestohlen hatte, und er wäre entkommen, wenn der Sturm nicht gewütet hätte. Nun gelang es ihnen, auszukundschaften, wo er sich befand, und sobald er ans Land gebracht war, kam sogleich schönes Wetter und guter Wind. Verstehst du nun, was ich meine, wenn ich frage, ob du weißt, warum Gott die Pforten des Meeres verschlossen hält?«
Torarin stand nun eine Weile schweigend da. Es sah aus, als hätte er nicht übel Lust, mit ernsten Worten zu entgegnen. Aber er schlug es sich aus dem Sinn und sagte: »Du wirst ganz kopfhängerisch davon, daß du hier zwischen den Schären eingeschlossen dasitzest. Warum begibst du dich nicht nach Marstrand? Ich will dir sagen, daß dort ein fröhliches Leben geführt wird. Da gehen Hunderte von Fremden herum, die nichts anderes zu tun haben, als zu tanzen und zu trinken.«
»Warum geht es denn dort so fröhlich zu?« fragte der Schiffer.
»Ach,« sagte Torarin, »dort sind Seeleute, deren Schiffe eingefroren sind wie das deine. Da sind auch eine Menge Fischer, die eben ihren Heringfang beendigt hatten, als sie durch das Eis verhindert wurden, heimzufahren. Und da gehen vielleicht hundert schottische Söldlinge herum, die von ihrem Kriegsdienst beurlaubt sind und hier auf die Gelegenheit warten, heimzufahren nach Schottland. Glaubst du, daß alle diese die Köpfe hängen ließen und die Gelegenheit verabsäumten, sich frohe Tage zu machen?«
»Ja, es mag wohl sein, daß die Leute sich vergnügen können, aber mir ist es nun einmal am liebsten, hier zu warten,« sagte der Schiffer.
Torarin warf einen raschen Blick auf ihn. Der Schiffer war ein großer magerer Mann. Seine Augen waren hell und wasserklar, mit schwermütigem Blick. Diesen Mann kann ich nicht froh machen, und ein andrer auch nicht, dachte Torarin.
Noch einmal begann der Schiffer aus freien Stücken mit ihm zu sprechen. »Diese schottischen Krieger,« sagte er, »sind das ordentliche Leute?«
»Sollst du sie am Ende nach Schottland hinüberführen?« sagte Torarin.
»Ja,« sagte der Schiffer, »ich habe eine Ladung nach Edinburg, und einer von ihnen ist eben hier bei mir gewesen und hat mich gebeten, sie mitzunehmen. Aber ich liebe es nicht, mit solchen wilden Gesellen an Bord zu segeln, und ich habe ihn um Bedenkzeit gebeten. Hast du etwas über sie gehört? Glaubst du, daß ich es wagen kann, sie aufzunehmen?«
»Ich habe nichts anderes von ihnen gehört, als daß sie tapfere Leute sein sollen. Sicherlich kannst du sie mitnehmen.«
Aber in demselben Augenblick, wo Torarin dies sagte, richtete sich sein Hund auf dem Wagen auf, streckte die Schnauze in die Luft und begann zu heulen.
Torarin brach da sogleich das Lob der Schotten ab.
»Was hast du nur, Grim, mein Hund?« sagte er. »Findest du, daß ich gar zu lange auf dem Eise stille stände und die Zeit verschwätzte?«
Er machte sich bereit, weiterzufahren. »Ja, lebt wohl, hier draußen,« sagte er.
Torarin fuhr durch den schmalen Sund zwischen der Kleeinsel und der Kuhinsel nach Marstrand zu. Als er soweit gekommen war, daß er Marstrand sehen konnte, merkte er, daß er sich nicht allein auf dem Eise befand.
Im klaren Mondenschein sah er einen hohen Mann in stolzer Haltung über den Schnee wandern. Er sah, daß er einen federgeschmückten Hut und reich ausstaffierte Kleider mit weiten Puffen trug.
»Sieh da,« sagte Torarin zu sich selbst, »da geht Sir Archie, der Anführer der Schotten, der heute abend auf der Galeasse gewesen ist, um sich die Überfahrt nach Schottland zu sichern.«
Torarin war dem Manne so nahe, daß er schon seinen langen Schatten eingeholt hatte, der hinter ihm herglitt. Sein Pferd setzte gerade die Hufe auf die Hutfedern des Schattenbildes.
»Grim,« sagte Torarin, »sollen wir ihn fragen, ob er mit uns in die Stadt fahren will?«
Der Hund begann sich sogleich aufzurichten, aber Torarin legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Rücken. »Sei nur ruhig, Grim, mein Hund! Ich sehe, daß du die Schottischen nicht liebst!«
Sir Archie hatte nicht bemerkt, daß ihm jemand so nahe war. Er ging weiter, ohne sich umzusehen. Torarin bog ganz sachte zur Seite, um an ihm vorbeizukommen.
Aber im selben Augenblick gewahrte Torarin hinter dem schottischen Herrn etwas, was noch einem zweiten Schatten glich. Er sah etwas, was lang und dünn und grau war und über den Boden hinschwebte, ohne Fußspuren auf dem Wege zu hinterlassen und ohne den weißen Schnee zum Knirschen zu bringen.
Der Schotte ging mit großen Schritten vorwärts. Er sah sich weder nach rechts noch nach links um. Aber der graue Schatten glitt von rückwärts an ihn heran, so nahe, daß es aussah, als wollte er ihm etwas ins Ohr flüstern.
Torarin fuhr behutsam vorwärts, bis er in gleiche Linie mit ihnen beiden kam. Da sah er das Gesicht des Schotten im klaren Mondschein. Er ging mit zusammengezogenen Augenbrauen und sah unmutig aus, als würde er von einem Gedanken beschäftigt, der ihm Mißbehagen verursachte.
Gerade als Torarin an ihm vorbeifuhr, drehte er sich um und blickte hinter sich, als hätte er jemandes Anwesenheit bemerkt.
Torarin sah deutlich, daß hinter Sir Archie eine junge Jungfrau in schleppendem, grauem Gewande einherschlich, aber Sir Archie sah sie nicht. Als er den Kopf wandte, stand sie regungslos still, und Sir Archies eigener Schatten legte sich dunkel und breit über sie und verdeckte sie.
Sir Archie wandte sich sogleich um und setzte seine Wanderung fort, und wieder eilte die Jungfrau herbei und ging so, als ob sie ihm etwas ins Ohr flüstere.
Aber als Torarin dies sah, packte ihn ein Grauen, das er nicht zu bemeistern vermochte. Er schrie laut auf, und er hieb auf sein Pferd ein, so daß er in vollem Galopp mit der schweißtriefenden Mähre vor der Türe seiner Hütte anlangte.
Verfolgung
1
Auf jener Seite der Marstrandsinsel, die dem Schärenarchipel zugekehrt und von einem Kranz von Inselchen geschützt war, lag die Stadt mit allen ihren Häusern und Bauwerken. Da bewegten sich die Menschen in Straßen und Gäßchen, da lag der Hafen, der voll von Booten und Schiffen war, da wurden Heringe eingesalzen und Fische gereinigt, da lag die Kirche und der Kirchhof, da waren das Rathaus und der Marktplatz, und da stand mancher hohe Baum, der sich im Sommer grün belaubte.
Aber auf jener Hälfte der Marstrandsinsel, die vom offenen Meere umgeben und nicht von Inseln oder Schären geschützt wurde, gab es nichts anderes als einsame nackte Klippen und zerklüftete Bergvorsprünge, die ins Meer hineinragten. Da war Heidekraut mit braunen Köpfchen und stechendes Gestrüpp von Dornenbüschen, Höhlen für Ottern und Füchse, Nester für Eidergänse und Möwen, doch keine Wege, keine Häuser und keine Menschen.
Torarins Hütte aber lag hoch oben auf dem Kamme der Insel, so daß sie auf der einen Seite die Stadt hatte und auf der anderen die Wildnis. Und wenn Elsalill die Tür öffnete, lagen vor ihr breite nackte Felsenplatten, von denen sie weit nach Westen blicken konnte, bis zu dem dunkeln Rande, wo das Meer offen wogte.
Aber alle die Seeleute und Fischer, die in Marstrand eingefroren waren, pflegten an Torarins Hütte vorbeizugehen, um die Klippen zu ersteigen und zu sehen, ob Buchten und Sunde noch nicht angefangen hätten, ihre Eisdecke abzuwerfen.
Elsalill stand manches liebe Mal in der Haustür und sah ihnen nach, wie sie dort hinaufgingen. Sie war herzenstraurig nach dem großen Kummer, der sie getroffen hatte, und sie dachte: Mich dünkt, daß alle glücklich sind, die etwas haben, wonach sie sich sehnen können. Aber ich habe auf der weiten Welt nichts zu erwünschen.
Eines Abends sah Elsalill, wie ein hochgewachsener Mann, der einen breitrandigen Hut mit einer großen Feder trug, oben auf den Felsenplatten stand und nach Westen übers Meer hinausblickte wie alle die andern. Und Elsalill sah sogleich, daß der Mann Sir Archie war, der Anführer der Schotten, der unten auf der Brücke mit ihr gesprochen hatte.
Als er auf dem Heimwege zur Stadt an der Hütte vorbeikam, stand Elsalill noch immer in der Tür, und sie weinte.
»Warum weinst du?« fragte er und blieb vor ihr stehen.
»Ich weine, weil ich nichts habe, wonach ich mich sehnen kann,« sagte Elsalill. »Als ich Euch auf der Klippe stehen und über das Meer hinausblicken sah, da dachte ich: Sicherlich hat er dort oben auf der anderen Seite des Meeres ein Heim, wohin er nun fahren will.«
Da wurde es Sir Archie weich ums Herz, so daß er sagte: »Seit langen Jahren hat niemand mit mir von meinem Heim gesprochen. Weiß Gott, wie es auf meines Vaters Hof steht. Als ich siebzehn Jahre zählte, zog ich von dort fort, um in fremden Heeren zu dienen.«
Damit trat Sir Archie in die Hütte zu Elsalill, und er begann mit ihr von seinem Elternhause zu reden.
Und Elsalill saß stumm da und hörte Sir Archie lange und inbrünstig zu. Sie fühlte sich glücklich über jedes Wort, das sie Sir Archie sagen hörte.
Aber als die Zeit herankam, wo Sir Archie gehen wollte, bat er Elsalill, sie küssen zu dürfen.
Da sagte Elsalill nein und eilte fort zur Türe, aber Sir Archie stellte sich ihr in den Weg und wollte sie zwingen.
In demselben Augenblick ging die Tür der Hütte auf, und die Hausmutter kam sehr hastig herein.
Da wich Sir Archie von Elsalill zurück. Er bot ihr nur die Hand zum Abschied und eilte von dannen.
Aber Torarins Mutter sagte zu Elsalill: »Es war recht von dir, daß du mir Botschaft sandtest. Es ist nicht ziemlich für eine Jungfrau, mit einem solchen Manne wie Sir Archie allein in der Hütte zu sein. Das weißt du wohl: ein Söldling hat weder Ehre noch Gewissen.«
»Ich hätte Euch Botschaft gesandt?« sagte Elsalill erstaunt.
»Ja,« antwortete die Alte, »als ich auf der Brücke bei der Arbeit stand, kam ein kleines Jungfräulein, das ich nie zuvor gesehen habe, und sagte, du schicktest mir Grüße und bätest, ich solle heimkommen.«
»Wie sah die Jungfrau aus?« fragte Elsalill.
»Ich sah sie nicht so genau an, daß ich dir sagen könnte, wie sie aussah,« antwortete die Alte. »Aber eines merkte ich, sie ging so leicht über den Schnee, daß kein Laut vernehmbar war.«
Als Elsalill dies hörte, wurde sie ganz bleich, und sie sagte: »Dann war es wohl einer von Gottes Engeln, der Euch Kunde brachte und Euch nach Hause führte.«
2
Ein anderes Mal saß Sir Archie in Torarins Hütte und plauderte mit Elsalill.
Die beiden waren allein. Sie sprachen fröhlich miteinander und waren ganz vergnügt.
Sir Archie saß da und sprach mit Elsalill davon, daß sie ihn nach Schottland begleiten solle. Dort wolle er ihr ein Schloß bauen und sie zu einer vornehmen Burgfrau machen. Er sagte ihr, sie würde hundert Zofen unter sich haben und am Hofe des Königs tanzen.
Elsalill saß stumm da und lauschte jedem Worte, das Sir Archie zu ihr sagte, und sie glaubte sie alle. Und Sir Archie fand, daß er niemals ein Mägdlein getroffen hatte, das so leicht zu betören gewesen wäre wie Elsalill.
Plötzlich ward Sir Archie ganz stumm und sah hinab auf seine linke Hand.
»Was habt Ihr, Sir Archie, warum sprecht Ihr nicht weiter?« fragte Elsalill.
Sir Archie öffnete und schloß die Hand krampfhaft. Er wand sie hin und her.
»Was ist Euch, Sir Archie?« fragte Elsalill. »Ihr habt doch nicht am Ende Schmerzen in Eurer Hand?«
Da wendete sich Sir Archie mit verstörtem Gesicht Elsalill zu und sagte: »Siehst du das Haar, Elsalill, das sich um meine Hand schlingt? Siehst du die lichte Haarlocke?«
Als er zu sprechen begann, sah die junge Jungfrau nichts, aber noch ehe er geendet, sah sie, wie eine Schlinge aus hellem, feinem Haar sich ein paarmal um Sir Archies Hand ringelte.
Und die junge Jungfrau sprang entsetzt auf und rief: »Sir Archie, wessen Haar ist dies, das Ihr um Eure Hand geschlungen habt?«
Sir Archie blickte bestürzt und ratlos zu ihr hin. »Ich fühle, Elsalill, daß es wirkliches Haar ist. Es legt sich kühl und weich um die Hand. Aber wo ist es hergekommen?«
Die Jungfrau saß da und starrte die Hand mit Augen an, die ihr aus dem Kopfe zu treten schienen.
»So lag meiner Milchschwester Haar um die Hand dessen geschlungen, der sie tötete,« sagte sie.
Aber nun begann Sir Archie zu lachen. Rasch zog er seine Hand zurück.
»Sieh,« sagte er, »du und ich, Elsalill, wir lassen uns erschrecken wie kleine Kinder. Es war nichts anderes als ein paar starke Sonnenstrahlen, die durch das Fenster hereinfielen.«
Aber die junge Jungfrau brach in Tränen aus und sagte: »Nun dünkt mich, daß ich wieder auf der Ofenmauer läge und sähe die Mörder am Werk. Ach, ich hoffte doch bis zuletzt, daß sie meine allerliebste Milchschwester nicht finden würden, aber endlich kam doch einer von ihnen und zog sie von der Mauer herunter, und als sie entfliehen wollte, da wickelte er ihr Haar um seine Hand und hielt sie fest. Aber sie lag auf den Knien vor ihm und sagte: 'Sieh meine Jugend an. Verschone mich! Lasse mich wenigstens solange leben, daß ich begreifen lerne, warum ich zur Welt gekommen bin! Ich habe dir doch nichts zuleide getan, warum willst du mich töten? Warum willst du mir nicht das Leben gönnen?' Und er hörte nicht auf sie, sondern tötete sie.«
Als Elsalill dies sagte, stand Sir Archie mit gerunzelter Stirne da und blickte zur Seite.
»Ach, wenn ich dem Manne einmal begegnete!« sagte Elsalill. Sie stand mit geballten Fäusten vor Sir Archie.
»Du kannst dem Manne nicht begegnen,« sagte Sir Archie. »Er ist tot.«
Aber die Jungfrau warf sich auf die Bank und schluchzte. »Sir Archie, Sir Archie, warum habt Ihr mich dazu gebracht, an die Toten zu denken? Den ganzen Abend und die Nacht muß ich nun weinen. Geht von mir, Sir Archie, denn jetzt habe ich für nichts andres Sinn als für die Toten, nun muß ich an meine Milchschwester denken, daran, wie freundlich sie mir gewogen war.«
Und es gelang Sir Archie nicht, sie zu trösten, und er wurde von ihren Tränen und Klagen vertrieben und ging zu seinen Zechgenossen.
3
Sir Archie konnte nicht begreifen, warum sein Sinn stets von so trüben Gedanken erfüllt war. Er vergaß sie nicht, wenn er bei Elsalill saß und mit ihr plauderte, und nicht, wenn er bei seinen Kameraden war und mit ihnen trank. Wenn er auch die Nächte in den Seeschuppen durchtanzte, konnte er sich ihrer doch nicht entschlagen, und er entging ihnen nicht, wenn er gleich meilenlange Strecken über das gefrorene Meer wanderte.
»Warum muß ich stets dessen eingedenk sein, woran ich mich nicht erinnern will?« sagte Sir Archie zu sich selbst. »Es ist mir, als schliche jemand mir immer nach und flüsterte mir ins Ohr.«
»Es ist mir, als spönne jemand ein Netz um mich,« sagte Sir Archie, »um alle meine Gedanken einzufangen und mir diesen einzigen übrig zu lassen. Ich kann den Jäger nicht sehen, der das Netz auswirft, aber ich höre seine Schritte, wenn er mir nachschleicht.«
»Es ist mir, als ginge ein Maler vor mir her und bemalte alles, was ich betrachte, mit demselben Bilde,« sagte Sir Archie. »Ob ich die Blicke zum Himmel oder zur Erde wende, so sehe ich doch nichts anderes als eine einzige Sache.«
»Es ist mir, als säße ein Steinklopfer auf meinem Herzen und hämmerte einen einzigen Kummer hinein,« sagte Sir Archie »Ich kann den Steinklopfer nicht sehen, aber Tag und Nacht höre ich, wie sein Hammer klopft und schlägt. Du steinernes Herz, du steinernes Herz, sagt er, jetzt mußt du nachgeben. Jetzt will ich einen Kummer in dich hineinhämmern.«
Sir Archie hatte zwei Freunde, Sir Philip und Sir Reginald, die ihm allenthalben folgten. Es bekümmerte sie, daß er immer unfroh war und nichts ihm Glück zu bringen vermochte.
»Was fehlt dir?« pflegten sie zu sagen. »Warum sind deine Augen so brennend, und warum sind deine Wangen so bleich?«
Sir Archie wollte ihnen nicht sagen, was ihn quälte. Er dachte: »was würden meine Genossen von mir denken, wenn sie erführen, daß ich mich etwas Unmännlichem hingebe? Sie würden mir nicht mehr gehorchen, wenn sie wüßten, daß ich von Reue über eine Tat gemartert werde, die notwendig war.«
Doch als sie immer mehr in ihn drangen, sagte er zu ihnen, um sie auf falsche Fährte zu leiten:
»Es ergeht mir in diesen Tagen so wunderlich. Da ist eine Jungfrau, die ich erobern will, aber ich kann sie nicht erringen. Immer stellt sich mir etwas in den Weg.«
»Vielleicht liebt dich die Jungfrau nicht?« sagte Sir Reginald.
»Ich glaube sicher, daß ihr Sinn mir zugeneigt ist,« sagte Sir Archie, »aber es gibt etwas, was über ihr wacht, so daß ich sie nicht gewinnen kann.«
Da fingen Sir Reginald und Sir Philip zu lachen an, und sie sagten: »Die Jungfrau wollen wir dir schon verschaffen.« --
Am Abend kam Elsalill einsam durch das Gäßchen gegangen. Sie kam müde von der Arbeit, und sie dachte bei sich selbst: »Dies Leben ist hart, und es macht mir keine Freude. Es graut mir davor, den ganzen Tag dazustehen und den Fischgeruch zu spüren. Es graut mir, wenn ich die anderen Frauen mit so harten Stimmen lachen und scherzen höre. Es graut mir vor den hungrigen Möwen, die über die Tische fliegen und mir die Fischstücke aus den Händen reißen wollen. Wenn doch jemand kommen und mich von hier fortnehmen wollte! Ich würde ihm bis ans Ende der Welt folgen.«
Als Elsalill an der Stelle ging, wo das Gäßchen am finstersten war, traten Sir Reginald und Sir Philip aus dem Schatten und grüßten sie.
»Jungfrau Elsalill!« sagten sie. »Wir bringen dir Kunde von Sir Archie. Er liegt krank daheim in der Herberge. Er sehnt sich danach, mit dir zu sprechen, und bittet, daß du uns zu ihm nach Hause folgen mögest.«
Elsalill begann sich zu ängstigen, daß Sir Archie sehr krank sein könnte, und sie kehrte sogleich mit den beiden schottischen Herren um, die sie zu ihm führen wollten.
Sir Philip und Sir Reginald nahmen sie in die Mitte. Sie lächelten einander zu und dachten, daß nichts leichter sein könnte, als Elsalill zu betören.
Elsalill war in großer Hast und Eile. Sie lief beinahe das Gäßchen hinab. Sir Philip und Sir Reginald mußten gewaltig ausschreiten, um ihr folgen zu können.
Aber als Elsalill so rasch vorwärtseilte, begann vor ihrem Fuße etwas zu rollen. Es war etwas, was vor sie hingeworfen wurde, und sie wäre fast darüber gestolpert.
Was ist das, was vor meinen Füßen rollt? dachte Elsalill. Es muß ein Stein sein, den ich aus der Erde gelöst habe und der nun den Abhang hinunterrollt.
Sie hatte es so eilig, zu Sir Archie zu kommen, daß sie sich nicht von dem, was dicht vor ihren Füßen rollte, hindern lassen wollte. Sie stieß es beiseite, aber es kam alsogleich zurück und rollte vor ihr das Gäßchen hinunter.
Elsalill hörte, daß es wie Silber klang, als sie es fortstieß, und sie sah, daß es blinkte und schimmerte.
Das ist kein gewöhnlicher Stein, dachte Elsalill. Mich dünkt, es ist eine Silbermünze. Aber sie hatte es so eilig, zu Sir Archie zu kommen, daß sie sich nicht die Zeit nahm, sie von der Straße aufzulesen.
Aber wieder und wieder rollte das Ding vor ihre Füße, und sie dachte: Du kommst rascher vorwärts, wenn du dich bückst und es aufhebst. Du kannst es weit weg werfen, wenn es nichts ist.
Sie beugte sich hinunter und hob es auf. Es war eine große Silbermünze, die weiß in ihrer Hand leuchtete.
»Was ist es, was du da auf der Straße findest, Jungfrau?« sagte Sir Reginald. »Es leuchtet so weiß im Mondenschein.«
Sie gingen da gerade an einem der großen Seeschuppen vorbei, wo fremde Fischer wohnten, solange sie ihrer Beschäftigung wegen in Marstrand waren. Vor dem Eingang hing eine Hornlaterne, die einen schwachen Schein auf die Straße warf.
»Laß uns sehen, was du gefunden hast, Jungfrau,« sagte Sir Philip und blieb unter der Laterne stehen.
Elsalill hielt die Münze zum Laternenschein empor, und kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen, als sie schon ausrief: »Dies ist eines von Herrn Arnes Geldstücken! Ich erkenne es wieder. Dies ist eines von Herrn Arnes Geldstücken!«
»Was sagst du da, Jungfrau?« fragte Sir Reginald. »Warum sagst du, daß dies eines von Herrn Arnes Geldstücken sei?«
»Ich kenne es,« sagte Elsalill. »Ich habe oft gesehen, wie Herr Arne es in der Hand hielt. Ja, sicherlich ist dies eines von Herrn Arnes Geldstücken.«
»Rufe nicht so laut, Jungfrau!« sagte Sir Philip. »Hier kommen schon Leute, die herbeieilen, um zu hören, warum du so schreist.«
Aber Elsalill achtete nicht auf Sir Philip. Sie sah, daß die Türe zu dem Seeschuppen offen stand. Mitten im Raume brannte ein Feuer, und rings um die Flamme saßen eine Menge Männer in ruhigem, bedächtigem Gespräche.
Elsalill eilte zu ihnen hinein. Sie hielt die Münze hoch erhoben.
»Horchet auf, ihr Männer alle!« rief sie. »Jetzt weiß ich, daß Herrn Arnes Mörder am Leben sind. Seht her, ich habe eines von Herrn Arnes Geldstücken gefunden!«
Alle Männer wandten sich ihr zu. Da sah sie, daß Torarin, der Fischmakler, auch im Kreise saß.
»Womit kommst du da, Jungfrau, und was rufest du?« fragte nun Torarin. »Wie kannst du Herrn Arnes Geldstücke von anderen Münzen unterscheiden?«
»Ich muß wohl diese Münze von allen anderen unterscheiden können,« sagte Elsalill. »Sie ist alt und groß, und sie hat einen Ausschnitt am Rande. Herr Arne sagte, sie sei aus der Zeit der alten norwegischen Könige, und niemals trennte er sich von ihr, um einen Einkauf zu bezahlen.«
»Nun erzähle, wo du sie gefunden hast, Jungfrau,« sagte ein anderer Fischer.
»Ich habe sie auf der Straße gefunden, wo sie vor meinen Füßen rollte,« sagte Elsalill »Da hat sie wohl einer der Mörder fallen lassen.«
»Es mag wahr oder unwahr sein, was du sagst,« versetzte Torarin. »Aber was können wir dabei tun? Wir können die Mörder nicht dadurch finden, daß du weißt, daß sie durch eine unserer Gassen gegangen sind.«
Die Fischer fanden, daß Torarin klug gesprochen hatte. Und sie setzten sich wieder um das Feuer zurecht.
»Komm du mit mir heim, Elsalill,« sagte Torarin. »Dies ist keine Stunde, zu der eine Jungfrau auf Gassen und Märkten herumlaufen soll.«
Als Torarin dies sagte, sah Elsalill sich nach ihren Begleitern um. Aber Sir Reginald und Sir Philip hatten sich fortgeschlichen, ohne daß sie es gemerkt hatte.