»Warum?«

»Nun auf eine so dumme Frage wird er wohl nicht gefaßt gewesen sein.«

»Die Frage war gar nicht dumm; ich bin sie noch immer nicht los.«

»Ich meine es ja auch nicht so schlimm; nur für ihn wird sie dumm gewesen sein. Die lernen ihre Sachen gerade so auswendig wie der Pfaffe seinen Katechismus, und wenn man sie ein wenig außer der Reihe fragt, kommen sie immer in Verlegenheit.«

»Ach verlegen war der nicht um die Antwort. Er hat mich sogar nicht einmal ausreden lassen, so schnell hat er sie bei der Hand gehabt.«

»Und wie hat er die Geschichte erklärt?«

»Eigentlich gar nicht. Er hat gesagt, das könne ich jetzt noch nicht einsehen, das seien Denknotwendigkeiten, die erst demjenigen klar werden, der sich bereits eingehender mit diesen Dingen befaßt hat.«

»Das ist ja der Schwindel! Einem Menschen, der nichts wie vernünftig ist, vermögen sie ihre Geschichten nicht vorzuerzählen. Erst wenn er zehn Jahre hindurch mürbe gemacht wurde, geht es. Bis dahin hat er nämlich tausende Male auf diesen Grundlagen gerechnet und große Gebäude aufgeführt, die immer bis aufs letzte stimmten; er glaubt dann einfach an die Sache, wie der Katholik an die Offenbarung, sie hat sich immer so schön fest bewährt ... ist es dann eine Kunst einem solchen Menschen den Beweis aufzureden? Im Gegenteil, niemand wäre imstande ihm einzureden, daß sein Gebäude zwar steht, der einzelne Baustein aber zu Luft zerrinnt, wenn man ihn fassen will!«

Törleß fühlte sich durch die Übertreibung Beinebergs unangenehm berührt.

»So arg, wie du's hinstellst, wird es wohl nicht sein. Ich habe nie gezweifelt, daß die Mathematik recht hat, -- schließlich lehrt's doch auch der Erfolg, -- mir war vielmehr nur das sonderbar, daß die Sache mitunter so gegen den Verstand geht; und möglich wäre es immerhin, daß das nur scheinbar ist.«

»Nun du kannst ja die zehn Jahre abwarten, vielleicht hast du dann den richtig präparierten Verstand.... Aber ich habe auch darüber nachgedacht, seit wir letzthin davon sprachen, und ich bin ganz fest davon überzeugt, daß die Sache einen Haken hat. Übrigens hast du damals auch ganz anders gesprochen als heute.«

»O nein. Mir ist es ja auch heute noch bedenklich, nur will ich es nicht gleich so übertreiben wie du. Sonderbar finde ich das Ganze auch. Die Vorstellung des Irrationalen, des Imaginären, der Linien, die parallel sind und sich im Unendlichen -- also doch irgendwo -- schneiden, regt mich auf. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich betäubt, wie vor den Kopf geschlagen.« Törleß lehnte sich vor, ganz in den Schatten hinein, und seine Stimme umschleierte sich leise beim Sprechen. »In meinem Kopfe war vordem alles so klar und deutlich geordnet; nun aber ist mir, als seien meine Gedanken wie Wolken, und wenn ich an die bestimmten Stellen komme, so ist es wie eine Lücke dazwischen, durch die man in eine unendliche, unbestimmbare Weite sieht. Die Mathematik wird schon recht haben; aber was ist es mit meinem Kopfe und was mit all den anderen? Fühlen die das gar nicht? Wie malt es sich in ihnen ab? Gar nicht?«

»Ich denke, du konntest es an deinem Professor sehen. Du, -- wenn du auf so etwas kommst, schaust dich sofort um und fragst, wie stimmt das jetzt zu allem übrigen in mir? Die haben sich einen Weg in tausend Schneckengängen durch ihr Gehirn gebohrt und sie sehen bloß bis zur nächsten Ecke zurück, ob der Faden noch hält, den sie hinter sich herspinnen. Deswegen bringst du sie mit deiner Art zu fragen in Verlegenheit. Von denen findet keiner den Weg zurück. Wie kannst du übrigens behaupten, daß ich übertreibe? Diese Erwachsenen und ganz Gescheiten haben sich da vollständig in ein Netz eingesponnen, eine Masche stützt die andere, so daß das Ganze Wunder wie natürlich aussieht; wo aber die erste Masche steckt, durch die alles gehalten wird, weiß kein Mensch.

Wir zwei haben noch nie so ernst darüber gesprochen, schließlich macht man über solche Dinge nicht gern viel Worte, aber du kannst jetzt sehen, wie schwach die Ansicht ist, mit der sich die Leute über die Welt begnügen. Täuschung ist sie, Schwindel ist sie, Schwachköpfigkeit! Blutarmut! Denn ihr Verstand reicht gerade so weit, um ihre wissenschaftliche Erklärung aus dem Kopf herauszudenken, draußen erfriert sie aber, verstehst du? Ha ha! Alle diese Spitzen, diese äußersten, von denen uns die Professoren erzählen, sie seien so fein, daß wir sie jetzt noch nicht anzurühren vermögen, sind tot -- erfroren, -- verstehst du? Nach allen Seiten starren diese bewunderten Eisspitzen und kein Mensch vermag mit ihnen etwas anzufangen, so leblos sind sie!«

Törleß hatte sich längst wieder zurückgelehnt. Beinebergs heißer Atem fing sich in den Mänteln und erhitzte den Winkel. Und wie immer in der Erregung, wirkte Beineberg peinlich auf Törleß. Jetzt gar, wo er sich vorschob, so nahe heran, daß seine Augen unbeweglich, wie zwei grünliche Steine vor Törleß standen, während die Hände mit einer eigentümlich häßlichen Behendigkeit im Helldunkel hin und her zuckten.

»Alles ist unsicher, was sie behaupten. Alles geht natürlich zu, sagen sie; -- wenn ein Stein fällt, so sei das die Schwerkraft, warum soll es aber nicht ein Wille Gottes sein und warum soll derjenige, der ihm wohlgefällig ist, nicht einmal davon entbunden sein, das Los des Steines zu teilen? Doch wozu erzähle ich dir solches?! Du wirst doch immer halb bleiben! Ein wenig Sonderbares ausfindig machen, ein wenig den Kopf schütteln, ein wenig sich entsetzen -- das liegt dir: darüber traust du dich aber nicht hinaus. Übrigens ist das nicht mein Schade.«

»Der meine etwa? So sicher sind denn doch wohl auch deine Behauptungen nicht.«

»Wie kannst du das sagen! Sie sind überhaupt das einzig Sichere. Wozu soll ich mich übrigens mit dir darüber zanken?! Du wirst es schon noch sehen, mein lieber Törleß; ich möchte sogar wetten, daß du dich noch einmal ganz verflucht dafür interessieren wirst, was es damit für Bewandtnis hat. Beispielsweise, wenn es mit Basini so kommt, wie ich ....«

»Laß das, bitte« unterbrach ihn Törleß, »ich möchte das gerade jetzt nicht da hineinmengen.«

»O, warum nicht?«

»Nun so. Ich will einfach nicht. Es ist mir unangenehm. Basini und dies sind für mich zweierlei; und zweierlei pflege ich nicht im selben Topf zu kochen.«

Beineberg verzog es bei dieser ungewohnten Entschiedenheit, ja Grobheit seines jüngeren Kameraden vor Ärger den Mund. Aber Törleß fühlte, daß die bloße Nennung Basinis seine ganze Sicherheit untergraben hatte, und um dies zu verbergen, redete er sich in Ärger. »Überhaupt behauptest du Dinge mit einer Sicherheit, die geradezu verrückt ist. Glaubst du denn nicht, daß deine Theorien gerade so auf Sand gebaut sein können, wie die anderen? Das sind ja noch viel verbohrtere Schneckengänge, die noch weit mehr guten Willen voraussetzen.«

Merkwürdigerweise wurde Beineberg nicht böse; er lächelte nur -- zwar ein wenig verzerrt und seine Augen funkelten doppelt so unruhig -- und sagte in einem fort: »Du wirst schon sehen, du wirst schon sehen ...«

»Was werde ich denn sehen? Und meinetwegen, so werde ich es halt sehen; aber es interessiert mich blutwenig, Beineberg! Du verstehst mich nicht. Du weißt gar nicht, was mich interessiert. Wenn mich die Mathematik quält und wenn mich --« doch er überlegte sich's noch schnell und sagte nichts von Basini, »wenn mich die Mathematik quält, so suche ich dahinter ganz etwas anderes als du, gar nichts Übernatürliches, gerade das Natürliche suche ich -- verstehst du? gar nichts außer mir -- in mir suche ich etwas: in mir! etwas Natürliches! Das ich aber trotzdem nicht verstehe! Das empfindest du aber gerade so wenig wie der von der Mathematik .... ach laß mich mit deiner Spekulation für jetzt in Ruhe!«

Törleß zitterte vor Aufregung, als er aufstand.

Und Beineberg wiederholte in einem fort: »nun wir werden ja sehen, werden ja sehen ...«

* * * * *

Als Törleß abends im Bette lag, fand er keinen Schlaf. Die Viertelstunden schlichen wie Krankenschwestern von seinem Lager, seine Füße waren eiskalt, und die Decke drückte ihn anstatt ihn zu wärmen.

In dem Schlafsaale hörte man nur das ruhige und gleichmäßige Atmen der Zöglinge, die nach der Arbeit des Unterrichtes, des Turnens und des Laufens im Freien ihren gesunden, tierischen Schlaf gefunden hatten.

Törleß horchte auf die Atemzüge der Schlafenden. Das war Beinebergs, das Reitings, das Basinis Atem; welcher? Er wußte es nicht; aber einer von den vielen, gleichmäßigen, gleichruhigen, gleichsicheren, die wie ein mechanisches Werk sich hoben und senkten.

Einer der leinenen Vorhänge hatte sich nur bis zur halben Höhe herunterrollen lassen; darunter leuchtete die helle Nacht herein und zeichnete ein fahles, unbewegliches Viereck auf den Fußboden. Die Schnur hatte sich oben gespießt oder war ausgesprungen und hing in häßlichen Windungen herunter, während ihr Schatten auf dem Boden wie ein Wurm durch das helle Viereck kroch.

Dies alles war von einer beängstigenden, grotesken Häßlichkeit.

Törleß versuchte an etwas Angenehmes zu denken. Beineberg fiel ihm ein. Hatte er ihn nicht heute übertrumpft? Seiner Überlegenheit einen Stoß versetzt? War es ihm nicht heute zum erstenmal gelungen, seine Besonderheit gegen den anderen zu wahren? So hervorzuheben, daß dieser den unendlichen Unterschied an Feinheit der Empfindlichkeit fühlen konnte, der ihrer beiden Auffassungen voneinander trennte? Hat er denn noch etwas zu erwidern gewußt? Ja oder nein?..

Aber dieses: ja oder nein? schwoll in seinem Kopfe an wie aufsteigende Blasen und zerplatzte, und ja oder nein?... ja oder nein? schwoll es immer und immer wieder an, unaufhörlich, in einem stampfenden Rhythmus, wie das Rollen eines Eisenbahnzuges, wie das Nicken von Blumen an zu hohen Stengeln, wie das Klopfen eines Hammers, das man durch viele dünne Wände hindurch in einem stillen Hause hört ... Dieses aufdringliche, selbstgefällige ja oder nein? widerte Törleß an. Seine Freude war unecht, es hopste so lächerlich.

Und schließlich, als er auffuhr, schien es sein eigener Kopf zu sein, der da nickte, auf den Schultern rollte, oder im Takte auf und niederschlug ...

Endlich schwieg alles in Törleß. Vor seinen Augen war nur eine weite, schwarze Fläche, die sich kreisrund nach allen Seiten hin ausdehnte.

Da kamen ... weit vom Rande her ... zwei kleine, wackelnde Figürchen -- quer über den Tisch. Das waren offenbar seine Eltern. Aber so klein, daß er für sie nichts empfinden konnte.

Auf der anderen Seite verschwanden sie wieder.

Dann kamen wieder zwei; -- doch halt, da lief einer von rückwärts an ihnen vorbei -- mit Schritten, die doppelt so lang waren als sein Körper -- und schon war er hinter die Kante getaucht; war es nicht Beineberg gewesen? -- Nun die zwei, der eine von ihnen war ja doch der Mathematikprofessor? Törleß erkannte ihn an dem Sacktüchlein, das kokett aus der Tasche schaute. Aber der andere? Der mit dem sehr, sehr dicken Buch unter dem Arm, das halb so hoch war als er selbst? Der sich kaum damit schleppen konnte?... Bei jedem dritten Schritte blieben sie stehen und legten das Buch auf die Erde. Und Törleß hörte die piepsige Stimme seines Lehrers sagen: Wenn dem so sein soll, finden wir das richtige auf Seite zwölf, Seite zwölf verweist uns weiter an Seite zweiundfünfzig, dann gilt aber auch das, was auf Seite einunddreißig bemerkt wurde, und unter dieser Voraussetzung ... Dabei standen sie über das Buch gebückt und griffen mit den Händen hinein, daß die Blätter stoben. Nach einer Weile richteten sie sich wieder auf, und der andere streichelte fünf- oder sechsmal die Wangen des Professors. Dann kamen abermals ein paar Schritte nach vorwärts und Törleß hörte von neuem die Stimme, genau so, wie wenn sie im Mathematikunterricht einen Bandwurm von Beweis abfingerte. Solange, bis der andere wieder den Professor streichelte.

Dieser andere ...? Törleß zog die Brauen zusammen, um besser zu sehen. Trug er nicht einen Zopf? Und etwas altertümliche Kleidung? Sehr altertümliche? Seidene Kniehosen sogar? War das nicht ...? O! Und Törleß wachte mit einem Schrei auf: Kant!

Im nächsten Augenblicke lächelte er; es war ganz still umher, die Atemzüge der Schlafenden waren leise geworden. Auch er hatte geschlafen. Und in seinem Bette war es einstweilen warm geworden. Er dehnte sich behaglich unter der Decke entlang.

»Ich habe also von Kant geträumt,« dachte er, »warum nicht länger? Vielleicht hätte er mir doch etwas ausgeplaudert.« Er erinnerte sich nämlich, wie er einstens, in Geschichte nicht vorbereitet, während der ganzen Nacht so lebhaft von den betreffenden Personen und Ereignissen geträumt hatte, daß er am nächsten Tag davon erzählen konnte, als wäre er selbst mit dabei gewesen, und die Prüfung mit Auszeichnung bestand. Und nun fiel ihm auch Beineberg wieder ein, Beineberg und Kant -- das gestrige Gespräch.

Langsam zog sich der Traum von Törleß zurück -- langsam, wie eine seidene Decke, die über die Haut eines nackten Körpers hinuntergleitet, ohne ein Ende zu nehmen.

Aber doch wich sein Lächeln bald wieder einer sonderbaren Unruhe. War er denn in seinen Gedanken auch nur um einen Schritt wirklich weiter gekommen? Konnte er denn auch nur etwas aus diesem Buche ersehen, das die Lösung aller Rätsel enthalten sollte? Und sein Sieg? Gewiß, es war nur seine unerwartete Lebhaftigkeit gewesen, die Beineberg zum Schweigen gebracht hatte ...

Abermals bemächtigte sich eine tiefe Unlust und förmlich körperliche Übelkeit seiner. So lag er Minuten lang, vom Ekel ganz ausgehöhlt.

Dann aber trat plötzlich wieder die Empfindung in sein Bewußtsein, wie sein Körper an allen Stellen von der milden, lauwarmen Leinwand des Bettes berührt wurde. Behutsam, ganz langsam und behutsam drehte Törleß den Kopf. Richtig, dort lag noch das fahle Viereck auf dem Estrich -- mit ein wenig verschobenen Seiten zwar, aber noch kroch auch jener gewundene Schatten hindurch. Ihm war, als liege dort eine Gefahr gekettet, die er aus seinem Bette heraus, wie durch Gitterstäbe geschützt, mit der Ruhe der Sicherheit betrachten könne.

In seiner Haut, rings um den ganzen Körper herum, erwachte dabei ein Gefühl, das plötzlich zu einem Erinnerungsbilde wurde. Als er ganz klein war -- ja, ja, das war's, -- als er noch Kleidchen trug und noch nicht in die Schule ging, hatte er Zeiten, da in ihm eine ganz unaussprechliche Sehnsucht war, ein Mäderl zu sein. Und auch diese Sehnsucht saß nicht im Kopfe -- o nein -- auch nicht im Herzen -- sie kitzelte im ganzen Körper und jagte rings unter der Haut umher. Ja es gab Augenblicke, wo er sich so lebhaft als kleines Mädchen fühlte, daß er glaubte, es könne gar nicht anders sein. Denn er wußte damals nichts von der Bedeutung körperlicher Unterschiede und er verstand es nicht, warum man ihm von allen Seiten sagte, er müsse nun wohl für immer ein Knabe bleiben. Und wenn man ihn fragte, warum er denn glaube, lieber ein Mäderl zu sein, so fühlte er, daß sich das gar nicht sagen lasse ...

Heute spürte er zum ersten Male wieder etwas Ähnliches. Wieder nur so rings unter der Haut umher.

Etwas, das Körper und Seele zugleich zu sein schien. Ein Jagen und Hasten, das sich tausendfältig, wie mit samtenen Fühlfäden von Schmetterlingen an seinem Körper stieß. Und zugleich jenes Trotzen, mit dem kleine Mädchen flüchten, wenn sie fühlen, daß sie von den Erwachsenen ohnedies nicht verstanden werden, die Arroganz, mit der sie dann über die Erwachsenen kichern, diese furchtsame, stets wie zu schnellem Davonlaufen bereite Arroganz, die fühlt, daß sie sich jeden Augenblick in irgendein furchtbar tiefes Versteck in dem kleinen Körper zurückziehen könne ...

Törleß lachte leise vor sich hin und abermals dehnte er sich behaglich die Decke entlang.

Dieses wutzlige kleine Männchen, von dem er geträumt hatte, wie gierig es die Seiten unter den Fingern jagte! Und das Viereck dort unten? Ha, ha. Ob so gescheite Männchen wohl je in ihrem Leben so etwas bemerkt haben? Er kam sich unendlich gesichert gegen diese gescheiten Menschen vor und zum ersten Male fühlte er, daß er in seiner Sinnlichkeit -- denn daß es diese sei, wußte er nun schon lange -- etwas hatte, das ihm keiner zu nehmen vermochte, das auch keiner nachzumachen vermochte, etwas, das ihn wie eine höchste, versteckteste Mauer gegen alle fremde Klugheit schützte.

Ob so gescheite Männchen wohl je in ihrem Leben, spann er dies weiter, unter einer einsamen Mauer gelegen und bei jedem Rieseln hinter dem Mörtel erschrocken sind, als ob etwas Totes da Worte suche, um zu ihnen zu sprechen? Ob sie wohl je so die Musik, die der Wind in den herbstlichen Blättern anfacht, gefühlt haben, -- so durch und durch gefühlt haben, daß dahinter plötzlich ein Schreck stand, ... der sich langsam, langsam in eine Sinnlichkeit verwandelte? Aber in eine so merkwürdige Sinnlichkeit, die mehr wie ein Flüchten und dann wie ein Auslachen ist. O, es ist leicht gescheit zu sein, wenn man alle diese Fragen nicht kennt ...

Dazwischen aber schien immer wieder das kleine Männchen riesig zu wachsen, mit einem unerbittlich strengen Gesicht, und jedesmal zuckte es wie ein elektrischer Schlag schmerzhaft von Törleß' Gehirn durch den Körper. Der ganze Schmerz darüber, daß er noch immer vor einem verschlossenen Tore stehen müsse, das eben, was noch im Augenblick vorher die warmen Schläge seines Blutes weggedrängt hatten, -- erwachte dann wieder und eine wortlose Klage flutete durch Törleß' Seele, wie das Heulen eines Hundes, das über die weiten, nächtlichen Felder zittert.

So schlief er ein. Noch im Halbschlaf blickte er ein paarmal zu dem Fleck beim Fenster hinüber, so wie man mechanisch nach einem haltenden Seile greift, um zu fühlen, ob es noch gespannt sei. Dann tauchte unklar der Vorsatz auf, daß er morgen nochmals ganz genau über sich nachdenken werde -- am besten mit Feder und Papier -- dann, ganz zuletzt, war nur die angenehme, laue Wärme -- wie ein Bad und eine sinnliche Regung -- die ihm aber als solche gar nicht mehr zu Bewußtsein kam, sondern in irgendeiner durchaus unerkennbaren, aber sehr nachdrücklichen Weise mit Basini verknüpft war.

Dann schlief er fest und traumlos.

* * * * *

Und doch war dies das erste, womit er am nächsten Tage aufwachte. Nun hätte er gar zu gerne gewußt, was es eigentlich war, das er da zum Schlusse von Basini halb gedacht und halb geträumt hatte, aber er war nicht imstande sich darauf noch zu besinnen.

So blieb nur eine zärtliche Stimmung davon zurück, wie sie um die Weihnachtszeit in einem Hause herrscht, wo die Kinder wissen, daß die Geschenke schon da sind, aber noch dort hinter der geheimnisvollen Tür versperrt, durch deren Fugen man nur hie und da einen Strahl vom Lichterglanze dringen sieht.

Am Abend blieb Törleß in der Klasse; Beineberg und Reiting waren irgendwohin verschwunden, wahrscheinlich in die Kammer am Dachboden; Basini saß vorne auf seinem Platze, den Kopf mit beiden Händen über ein Buch gestützt.

Törleß hatte sich ein Heft gekauft und richtete sorgfältig Feder und Tinte zurecht. Dann schrieb er auf die erste Seite, nach einigem Zögern: =De natura hominum=; er glaubte den lateinischen Titel dem philosophischen Gegenstande schuldig zu sein. Dann zog er einen großen, kunstvollen Schnörkel um die Überschrift und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, um zu warten, bis diese trockne.

Aber dies war schon lange geschehen und er hatte noch immer nicht wieder zur Feder gegriffen. Etwas hielt ihn unbeweglich fest. Es war die hypnotische Stimmung der großen, heißen Lampen, der tierischen Wärme, die von dieser Masse von Menschen ausging. Er war immer empfänglich für diesen Zustand gewesen, der sich bei ihm bis zu körperlichem Fiebergefühle steigern konnte, das stets mit einer außerordentlichen Empfindlichkeit des Geistes verbunden war. So auch heute. Er hatte sich längst schon untertags zurechtgelegt, was er eigentlich notieren wolle: die ganze Reihe jener gewissen bisherigen Erfahrungen von dem Abend bei Bozena an bis zu jener unbestimmten Sinnlichkeit, die sich die letzten Male bei ihm eingestellt hatte. Wenn dann alles geordnet, Faktum für Faktum aufgezeichnet sein werde, hoffte er, werde sich auch die richtige, verstandesgesetzmäßige Fassung von selbst ergeben, wie die Form einer umhüllenden Linie aus dem wirren Bilde sich hundertfältig schneidender Kurven heraustritt. Und mehr wollte er nicht. Aber es war ihm bisher wie einem Fischer ergangen, der zwar am Zucken des Netzes fühlt, daß ihm eine schwere Beute ins Garn gegangen ist, aber trotz aller Anstrengungen nicht vermag, sie ans Licht zu heben.

Und nun begann Törleß doch noch zu schreiben, -- aber hastig und ohne mehr auf die Form zu achten. »Ich fühle«, notierte er, »etwas in mir und weiß nicht recht, was es ist.« Rasch strich er aber die Zeile wieder durch und schrieb an ihrer Stelle: »Ich muß krank sein -- wahnsinnig!« Hier überlief ihn ein Schauer, denn dieses Wort empfindet sich angenehm pathetisch. »Wahnsinnig, -- oder was ist es sonst, daß mich Dinge befremden, die den anderen alltäglich erscheinen? Daß mich dieses Befremden quält? Daß mir dieses Befremden unzüchtige Gefühle« -- er wählte absichtlich dieses Wort voll biblischer Salbung, weil ihn dunkler und voller dünkte, -- »erregt? Ich bin dem früher gegenübergestanden wie jeder junge Mann, wie alle meine Kameraden ...« Da stockte er aber. »Ist das denn auch wahr?« dachte er sich; »bei Bozena zum Beispiel war es doch schon so eigen; wann hat es also eigentlich angefangen?... Egal,« dachte er, »einmal jedenfalls.« Aber er ließ doch den Satz unvollendet.

»Welche Dinge sind es, die mich befremden? Die unscheinbarsten. Meistens leblose Sachen. Was befremdet mich an ihnen? Ein Etwas, das ich nicht kenne. Aber das ist es ja eben! Woher nehme ich dieses »Etwas«? Ich empfinde sein Dasein; es wirkt auf mich; so, als ob es sprechen wollte. Ich bin in der Aufregung eines Menschen, der einem Gelähmten die Worte von den Verzerrungen des Mundes ablesen soll und es nicht zuwege bringt. So, als ob ich einen Sinn mehr hätte als die anderen, aber einen nicht fertig entwickelten, einen Sinn, der da ist, sich bemerkbar macht, aber nicht funktioniert. Die Welt ist für mich voll lautloser Stimmen: bin ich daher ein Seher oder ein Halluzinierter?

Aber nicht nur das Leblose wirkt so auf mich; nein, was mich viel mehr in Zweifel stürzt, auch die Menschen. Vor einem gewissen Zeitpunkt sah ich sie, wie sie sich selbst sehen. Beineberg und Reiting zum Beispiel, -- sie haben ihre Kammer, eine ganz gewöhnliche, verborgene Bodenkammer, weil es ihnen Spaß macht, einen solchen Rückzugsort zu besitzen. Das eine tun sie, weil sie auf den zornig sind, das andere, weil sie dem Einflusse jenes zweiten bei den Kameraden vorbeugen wollen. Lauter verständliche klare Gründe. Heute aber erscheinen sie mir manchmal, als hätte ich einen Traum, und sie seien Figuren darin. Nicht ihre Worte, nicht ihre Handlungen allein, nein, alles an ihnen, verbunden mit ihrer körperlichen Nähe, wirkt mitunter so auf mich, wie es die leblosen Dinge tuen. Und doch höre ich sie nebenbei immer wieder genau so sprechen wie früher, sehe, daß ihre Handlungen und ihre Worte sich noch immer genau nach denselben Formen aneinanderreihen ... das will mich unaufhörlich belehren, daß gar nichts Außerordentliches vorgehe und ebenso unaufhörlich lehnt sich doch in mir etwas dagegen auf. Diese Veränderung begann, wenn ich mich genau erinnere, mit Basinis ...«

Hier sah Törleß unwillkürlich zu diesem hinüber.

Basini saß noch immer über sein Buch gestützt und schien zu lernen. Wie er ihn so da sitzen sah, schwiegen in Törleß die Gedanken, und er hatte Gelegenheit, die reizvollen Qualen, die er eben beschrieb, wieder am Werke zu fühlen. Denn so wie ihm zu Bewußtsein kam, wie ruhig und harmlos Basini vor ihm sitze, durch gar nichts von den andern rechts und links unterschieden, wurden die Erniedrigungen in ihm lebendig, die Basini erlitten hatte. Wurden in ihm lebendig: -- das heißt, daß er gar nicht daran dachte, mit jener gewissen Jovialität, die die moralische Überlegung im Gefolge hat, sich zu sagen, daß es in jedem Menschen liege, nach erduldeten Erniedrigungen möglichst schnell wenigstens nach der äußeren Haltung des Unbefangenen wieder zu trachten, sondern daß sich sofort in ihm etwas regte, wie eine wahnsinnig kreiselnde Bewegung, die augenblicklich das Bild Basinis zu den unglaublichsten Verrenkungen zusammenbog, dann wieder in nie gesehenen Verzerrungen auseinanderriß, so daß ihm selbst davor schwindelte. Dies waren allerdings nur Vergleiche, die er nachher erfand. Im Augenblicke selbst hatte er nur das Gefühl, daß etwas in ihm wie ein toller Kreisel aus der zusammengeschnürten Brust zum Kopfe hinaufwirble, das Gefühl seines Schwindels. Dazwischen hinein sprangen wie stiebende Farbenpunkte Gefühle, die er zu den verschiedenen Zeiten von Basini empfangen hatte.

Eigentlich war es ja immer nur ein und dasselbe Gefühl gewesen. Und ganz eigentlich überhaupt kein Gefühl, sondern mehr ein Erbeben ganz tief am Grunde, das gar keine merklichen Wellen warf und vor dem doch die ganze Seele so verhalten mächtig erzitterte, daß die Wellen selbst der stürmischsten Gefühle daneben wie harmlose Kräuselungen der Oberfläche erschienen.

Wenn ihm dieses eine Gefühl zu verschiedenen Zeiten dennoch verschieden zu Bewußtsein gekommen war, so hatte dies darin seinen Grund, daß er zur Ausdeutung dieser Woge, die den ganzen Organismus überflutete, nur über die Bilder verfügte, welche davon in seine Sinne fielen, -- so wie wenn von einer unendlich sich in die Finsternis hinein erstreckenden Dünung nur einzelne losgelöste Teilchen an den Felsen eines beleuchteten Ufers in die Höhe spritzen, um gleich darauf hilflos aus dem Kreise des Lichtes wieder zu versinken.

Diese Impressionen waren daher unbeständig, wechselnd, von einem Bewußtsein ihrer Zufälligkeit begleitet. Nie konnte Törleß sie festhalten, denn, wie er genauer zusah, fühlte er, daß diese Repräsentanten an der Oberfläche in gar keinem Verhältnis zu der Wucht der dunklen ungehobenen Masse standen, die zu vertreten sie vorgaben.

Nie »sah« er Basini irgendwie in körperlicher Plastik und Lebendigkeit irgendeiner Pose, nie hatte er eine wirkliche Vision: immer nur die Illusion einer solchen, gewissermaßen nur die Vision seiner Visionen. Denn immer war es in ihm, als sei soeben ein Bild über die geheimnisvolle Fläche gehuscht, und nie gelang es ihm, im Augenblicke des Vorganges selbst, diesen zu erhaschen. Daher war beständig eine rastlose Unruhe in ihm, wie man sie vor einem Kinematographen empfindet, wenn man neben der Illusion des Ganzen doch eine vage Wahrnehmung nicht loswerden kann, daß hinter dem Bilde, das man empfängt, hunderte von -- für sich betrachtet ganz anderen -- Bildern vorbeihuschen.

Wo aber in ihm diese illusionierende -- und doch stets um ein unmeßbar Kleines zu wenig illusionierende -- Kraft eigentlich zu suchen sei, wußte er nicht. Er ahnte nur dunkel, daß sie mit jener rätselhaften Eigenschaft seiner Seele zusammenhänge, auch von den leblosen Dingen, den bloßen Gegenständen mitunter wie von hundert schweigenden, fragenden Augen überfallen zu werden.

Törleß saß also ganz still und starr, sah unaufhörlich zu Basini hinüber und war ganz in dem tollen Wirbeln seines Inneren befangen. Und immer wieder tauchte daraus die eine Frage auf: Was ist das für eine besondere Eigenschaft, die ich besitze? Allmählich sah er weder Basini mehr, noch die heiß glosenden Lampen, noch fühlte er die tierische Wärme ringsumher, noch das Summen und Brausen, das aus einer Menge von Menschen, selbst wenn sie nur flüstern, aufsteigt. Wie eine heiße, dunkel glühende Masse schwang das alles ununterschieden im Kreise um ihn. Nur in den Ohren fühlte er ein Brennen und in den Fingerspitzen eine eisige Kälte. Er befand sich in jenem Zustande eines mehr seelischen als körperlichen Fiebers, den er sehr liebte. Immer mehr wuchs diese Stimmung, der auch zärtliche Regungen beigemengt waren, an. In diesem Zustande hatte er sich früher gerne jenen Erinnerungen hingegeben, welche das Weib hinterläßt, wenn sein warmer Atem zum ersten Male an solch einer jungen Seele vorbeistreift. Und auch heute erwachte in ihm jene müde Wärme. Da: eine Erinnerung ... Es war auf einer Reise ... in einer kleinen italienischen Stadt ... er wohnte mit seinen Eltern in einem Gasthofe nicht weit vom Theater. Jeden Abend gaben sie dort dieselbe Oper und jeden Abend hörte er jedes Wort und jeden Ton herüber. Aber er war der Sprache nicht mächtig. Und jeden Abend saß er dennoch am offenen Fenster und hörte zu. Auf diese Weise verliebte er sich in eine der Schauspielerinnen, ohne sie je gesehen zu haben. Er war nie vom Theater so ergriffen worden wie damals; er empfand die Leidenschaft der Melodien wie Flügelschläge großer dunkler Vögel, als ob er die Linien fühlen könnte, die ihr Flug in seiner Seele zog. Es waren keine menschlichen Leidenschaften mehr, die er hörte, nein, es waren Leidenschaften, die aus den Menschen entflohen, wie aus zu engen und zu alltäglichen Käfigen. Nie konnte er in dieser Erregung an die Personen denken, welche dort drüben -- unsichtbar -- jene Leidenschaften agierten; versuchte er sie sich vorzustellen, so schossen augenblicks dunkle Flammen vor seinen Augen auf oder unerhört gigantische Dimensionen, so wie in der Finsternis die menschlichen Körper wachsen und menschliche Augen wie die Spiegel tiefer Brunnen leuchten. Diese düstere Flamme, diese Augen im Dunkel, diese schwarzen Flügelschläge liebte er damals unter dem Namen jener ihm unbekannten Schauspielerin.

Und wer hatte die Oper geschaffen? Er wußte es nicht. Vielleicht war der Text ein fader, sentimentaler Liebesroman. Hatte sein Schöpfer gefühlt, daß er unter den Tönen zu etwas anderem wurde?

Ein Gedanke preßte Törleß am ganzen Körper zusammen. Sind auch die Erwachsenen so? Ist die Welt so? Ist es ein allgemeines Gesetz, daß etwas in uns ist, das stärker, größer, schöner, leidenschaftlicher, dunkler ist als wir? Worüber wir so wenig Macht haben, daß wir nur ziellos tausend Samenkörner streuen können, bis aus einem plötzlich eine Saat wie eine dunkle Flamme schießt, die weit über uns hinauswächst?... Und in jedem Nerv seines Körpers bebte ein ungeduldiges Ja als Antwort.

Törleß sah mit glänzenden Augen um sich. Noch immer waren die Lampen, die Wärme, das Licht, die emsigen Menschen da. Aber er kam sich unter all dem wie ein Auserwählter vor. Wie ein Heiliger, der himmlische Gesichte hat -- denn von der Intuition großer Künstler wußte er nichts.

Hastig, mit der Geschwindigkeit der Angst, griff er nach der Feder und notierte sich einige Zeilen über seine Entdeckung; noch einmal schien es in seinem Innern weithin wie ein Licht zu sprühen, -- -- -- -- -- dann brach ein aschgrauer Regen über seine Augen und der bunte Glanz in seinem Geiste erlosch.

* * * * *

... Aber die Episode mit Kant war nahezu gänzlich überwunden. Bei Tage dachte Törleß überhaupt nicht mehr daran; die Überzeugung, daß er selbst schon nahe der Lösung seiner Rätsel stehe, war viel zu lebhaft in ihm, als daß er sich noch um die Wege eines anderen bekümmert hätte. Seit dem letzten Abend war ihm, er habe den Griff zu der Türe, die hinüberführe, schon in der Hand gefühlt, nur sei er ihm wieder entglitten. Da er aber eingesehen hatte, daß er auf die Hülfe philosophischer Bücher verzichten müsse, und auch kein rechtes Vertrauen zu ihnen hatte, stand er ziemlich ratlos da, wie er ihn wiedergewinnen wolle. Er machte einige Male Versuche in seinen Aufzeichnungen fortzufahren, allein die geschriebenen Worte blieben tot, eine Reihe von grämlichen, längst bekannten Fragezeichen, ohne daß jener Augenblick wieder erwacht wäre, in dem er zwischen ihnen hindurch wie in ein von zitternden Kerzenflammen erhelltes Gewölbe geblickt hatte.

Daher beschloß er, so oft als möglich, immer und immer wieder die Situationen zu suchen, welche jenen für ihn so eigentümlichen Gehalt in sich trugen; und besonders häufig ruhte sein Blick auf Basini, wenn dieser, sich unbeobachtet glaubend, harmlos unter den anderen sich bewegte. »Einmal«, dachte sich Törleß, »wird es schon wieder lebendig werden und dann vielleicht lebhafter und klarer als bisher.« Und er wurde ganz beruhigt durch diesen Gedanken, daß man sich solchen Dingen gegenüber einfach in einem finsteren Raume befinde und einem nichts übrig bleibe, als, wenn man die richtige Stelle wieder unter den Fingern verloren hat, nochmals und nochmals aufs Geratewohl die dunklen Wände abzutasten.

In den Nächten jedoch verfärbte sich dieser Gedanke ein wenig. Es überkam ihn da doch eine gewisse Beschämung darüber, daß er sich an seinem ursprünglichen Vorsatze, aus dem Buche, das ihm sein Lehrer gezeigt hatte, sich die vielleicht doch darin enthaltene Erklärung zu holen, so vorbeigedrückt hatte. Er lag dann ruhig und horchte zu Basini hinüber, dessen geschändeter Körper friedlich wie die aller anderen atmete. Er lag ruhig, wie ein Jäger auf dem Anstande, mit dem Gefühle, daß die also verwartete Zeit ihren Lohn schon noch bringen werde. Sowie aber der Gedanke an das Buch auftauchte, nagte ein feinzahniger Zweifel an dieser Ruhe, eine Ahnung, daß er Unnützes tue, ein zögerndes Geständnis einer erlittenen Niederlage.

Sobald dieses unklare Gefühl sich geltend machte, verlor seine Aufmerksamkeit das Behagliche, mit dem man der Entwicklung eines wissenschaftlichen Experimentes zusieht. Ein körperlicher Einfluß schien dann von Basini auszugehen, ein Reiz, wie wenn man in der Nähe eines Weibes schläft, von dem man jeden Augenblick die Decke wegziehen kann. Ein Kitzel im Gehirn, der von dem Bewußtsein ausgeht, daß man nur die Hand auszustrecken brauche. Das, was junge Paare häufig zu Ausschweifungen treibt, die weit über ihr sinnliches Bedürfnis hinausgehen.

* * * * *

Je nach der Lebhaftigkeit, mit der ihm einfiel, daß sein Unterfangen ihm vielleicht lächerlich erscheinen müßte, wenn er das alles wüßte, was Kant, was sein Professor, was alle die wissen, welche mit ihren Studien fertig sind, je nach der Stärke dieser Erschütterung waren die sinnlichen Antriebe schwächer oder stärker, welche trotz der Stille des allgemeinen Schlafes seine Augen heiß und offen hielten. Ja zeitweilig loderten sie so mächtig in ihm empor, daß sie jeden anderen Gedanken erstickten. Wenn er sich in diesen Augenblicken halb willig, halb verzweifelt ihren Einflüsterungen hingab, so ging es ihm nur, wie es allen Menschen geht, die ja auch nie so sehr zu einer tollen, ausschweifenden, so sehr die Seele zerreißenden, mit wollüstiger Absicht zerreißenden, Sinnlichkeit neigen, als dann, wenn sie einen Mißerfolg erlitten haben, der das Gleichgewicht ihres Selbstbewußtseins erschüttert. -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Wenn er dann nach Mitternacht endlich in unruhigem Schlummer lag, schien ihm einige Male, daß jemand aus der Gegend um Reitings oder Beinebergs Bett aufstand, seinen Mantel nahm und zu Basini hintrat. Dann verließen sie den Saal.... ... Aber es konnte auch eine Einbildung gewesen sein. -- -- -- -- -- --

* * * * *

Es kamen zwei Feiertage; da sie auf einen Montag und Dienstag fielen, ließ der Direktor den Zöglingen schon den Samstag frei und es gab viertägige Ferien. Für Törleß war dies jedoch zu wenig, um die weite Reise nach Hause machen zu können; er hatte deswegen gehofft, daß wenigstens seine Eltern ihn besuchen würden, allein sein Vater wurde durch dringende Geschäfte im Ministerium festgehalten und die Mutter fühlte sich unwohl, so daß sie sich nicht allein den Anstrengungen der Reise aussetzen konnte.

Erst als Törleß den Brief erhielt, in dem ihm seine Eltern absagten und viele zärtliche Tröstungen hinzufügten, fühlte er, daß es ihm so eigentlich ganz recht sei. Er hätte es beinahe als eine Störung empfunden, -- zumindest hätte es ihn arg verwirrt, -- wenn er seinen Eltern im jetzigen Zeitpunkte hätte gegenübertreten müssen.

Viele Zöglinge erhielten Einladungen auf naheliegende Besitzungen. Auch Dschjusch, dessen Eltern eine Tagreise im Wagen von der kleinen Stadt entfernt ein schönes Gut besaßen, nahm Urlaub und Beineberg, Reiting, Hofmeier begleiteten ihn. Auch Basini war von Dschjusch eingeladen worden, allein Reiting hatte ihm befohlen abzulehnen. Törleß schützte vor, daß er nicht wisse, ob seine Eltern nicht doch noch kommen würden; er fühlte sich absolut nicht zu harmlos heiteren Festlichkeiten und Unterhaltungen gelaunt.

Samstag mittag schon lag das große Haus schweigend und nahezu verlassen da.

Wenn Törleß durch die Gänge schritt, so widerhallte es von einem Ende zum andern; kein Mensch bekümmerte sich um ihn, denn auch die meisten Lehrer waren zur Jagd oder sonst irgendwohin gefahren. Nur bei den Mahlzeiten, die jetzt in einem kleinen Zimmer neben dem verlassenen Speisesaale serviert wurden, sahen sich die wenigen zurückgebliebenen Zöglinge; nach Tisch zerstreuten sich ihre Schritte wieder in der weiten Flucht der Gänge und Zimmer, das Schweigen des Hauses verschlang sie gleichsam, und sie führten in der Zwischenzeit ein Leben, nicht mehr beachtet, als das der Spinnen und Tausendfüßer in Keller und Boden.

Von Törleß' Klasse waren nur er und Basini zurückgeblieben, einige andere ausgenommen, welche in den Krankenzimmern lagen. Beim Abschied hatte Törleß noch einige heimliche Worte mit Reiting gewechselt, welche sich auf Basini bezogen. Reiting fürchtete nämlich, daß Basini die Gelegenheit benützen könnte, um bei einem der Lehrer Schutz zu suchen, und er legte Törleß ans Herz, ihn sorgsam zu überwachen.

Es bedurfte dessen jedoch gar nicht, um Törleß' Aufmerksamkeit auf Basini zu sammeln.

Kaum hatte sich die Unruhe der vorfahrenden Wagen, der koffertragenden Diener, der mit Scherzen voneinander Abschied nehmenden Zöglinge aus dem Hause verloren, als das Bewußtsein seines Alleinseins mit Basini herrisch von Törleß Besitz ergriff.

Das war nach dem ersten Mittagmahle. Basini saß vorne auf seinem Platze und schrieb an einem Briefe; Törleß hatte sich in die hinterste Ecke des Zimmers gesetzt und versuchte zu lesen.

Es war zum ersten Male wieder das gewisse Buch und Törleß hatte sich die Situation sorgsam so ausgedacht gehabt: Vorne saß Basini, rückwärts er, mit den Augen ihn festhaltend, sich in ihn hineinbohrend. Und so wollte er lesen. Nach jeder Seite sich tiefer in Basini hineinsenkend. So mußte es gehen; so mußte er die Wahrheiten finden, ohne das Leben, das lebendige, komplizierte, fragwürdige Leben, aus den Händen zu verlieren ...

Aber es ging nicht. Wie immer, wenn er sich etwas allzu sorgfältig vorher ausdachte. Es war zu wenig unvermittelt und die Stimmung erlahmte rasch zu einer zähen, breiigen Langeweile, die sich eklig an jeden der viel zu absichtlich immer wieder erneuten Versuche klebte.

Törleß warf wütend das Buch zur Erde. Basini sah sich erschreckt um, fuhr aber gleich wieder hastig fort zu schreiben.

So krochen die Stunden der Dämmerung zu. Törleß saß ganz stumpfsinnig. Das einzige, was sich aus einem dumpfen, surrenden, brummenden Allgemeingefühle heraus in sein Bewußtsein hob, war das Ticken seiner Taschenuhr. Wie ein kleines Schwänzchen wackelte es hinter dem trägen Leib der Stunden her. Im Zimmer wurde es verschwommen ... Basini konnte doch längst nicht mehr schreiben ... »Ah, wahrscheinlich traut er sich nicht Licht zu machen«, dachte sich Törleß. Saß er aber überhaupt noch auf seinem Platze? Törleß hatte in die kahle, dämmerige Landschaft hinausgesehen und mußte sein Auge erst an das Dunkel des Zimmers gewöhnen. Doch. Dort, der unbewegliche Schatten, das wird er wohl sein. Ach, er seufzt ja sogar -- einmal, ... zweimal ... oder schläft er am Ende?

Ein Diener kam und zündete die Lampen an. Basini fuhr auf und rieb sich die Augen. Dann nahm er ein Buch aus der Lade und schien lernen zu wollen.

Törleß brannte es auf den Lippen ihn anzusprechen, und um dem vorzubeugen, verließ er hastig das Zimmer.

* * * * *

In der Nacht hätte Törleß beinahe Basini überfallen. Solch eine mörderische Sinnlichkeit war in ihm nach der Pein des gedankenlosen, stumpfsinnigen Tages erwacht. Zum Glück erlöste ihn noch rechtzeitig der Schlaf.

Der nächste Tag verging. Er hatte nichts als die gleiche Unfruchtbarkeit der Stille gebracht. Das Schweigen -- die Erwartung überreizten Törleß, -- die beständige Aufmerksamkeit verzehrte alle geistigen Kräfte, so daß er zu jedem Gedanken unfähig blieb.

Zerschlagen, enttäuscht, bis zu den ärgsten Zweifeln mit sich unzufrieden, legte er sich frühzeitig zu Bett.

Er lag schon lange in einem ruhelosen, erhitzten Halbschlafe, als er Basini kommen hörte.

Ohne sich zu regen, folgte er mit den Augen der dunklen Gestalt, die an seinem Bette vorbeischritt; er hörte das Geräusch, welches durch das Lösen der Kleidung verursacht wurde; dann das Knistern der über den Körper gezogenen Decke.

Törleß hielt den Atem an, dennoch vermochte er nichts mehr zu hören. Und doch verließ ihn nicht das Gefühl, daß Basini nicht schlafe, sondern ebenso angestrengt wie er durch das Dunkel horche.

So vergingen Viertelstunden -- Stunden. Hie und da nur durch das leise Geräusch der sich im Bette bewegenden Körper unterbrochen.

Törleß befand sich in einem eigentümlichen Zustande, der ihn wach erhielt. Gestern waren es sinnliche Bilder der Einbildungskraft gewesen, in denen er gefiebert hatte. Erst ganz zum Schlusse hatten sie eine Wendung zu Basini genommen, gleichsam sich unter der unerbittlichen Hand des Schlafes, der sie verlöschte, zum letzten Male aufgebäumt, und er hatte gerade daran nur eine ganz dunkle Erinnerung. Heute aber war es von Anfang an nichts als ein triebhafter Wunsch aufzustehen und zu Basini hinüber zu gehen. Solange er das Gefühl gehabt hatte, daß Basini wache und zu ihm herüber horche, war es kaum auszuhalten gewesen; und jetzt, da dieser doch wohl schon schlief, lag erst recht ein grausamer Kitzel darin, den Schlafenden wie eine Beute zu überfallen.

Törleß spürte schon die Bewegungen des Sichaufrichtens und aus dem Bette Steigens in allen Muskeln zucken. Trotzdem vermochte er aber noch nicht seine Reglosigkeit abzuschütteln.

»Was soll ich denn eigentlich bei ihm?« fragte er sich in seiner Angst fast laut. Und er mußte sich gestehen, daß die Grausamkeit und Sinnlichkeit in ihm gar kein rechtes Ziel hatte. Er wäre in Verlegenheit gekommen, wenn er sich wirklich auf Basini gestürzt hätte. Er wollte ihn doch nicht prügeln? Gott bewahre! Und in welcher Weise sollte sich denn seine sinnliche Erregung an ihm befriedigen? Er empfand unwillkürlich einen Abscheu, als er an die verschiedenen kleinen Knabenlaster dachte. Sich vor einem anderen Menschen so bloßstellen? Nie!...

In dem Maße aber, als dieser Abscheu wuchs, wurde auch der Antrieb stärker, zu Basini hinüber zu gehen. Schließlich war Törleß ganz von der Unsinnigkeit eines solchen Unterfangens durchdrungen, aber ein förmlich physischer Zwang schien ihn wie an einem Seile aus dem Bette zu ziehen. Und während alle Bilder aus seinem Kopfe wichen und er sich unaufhörlich sagte, daß es jetzt wohl am besten wäre, den Schlaf zu suchen, richtete er sich mechanisch von seinem Lager auf. Ganz langsam -- er fühlte ordentlich, wie dieser seelische Zwang nur Schritt für Schritt gegen die Widerstände Boden gewann -- richtete er sich auf. Erst einen Arm ... dann stützte er den Oberkörper auf, dann schob er ein Knie unter der Decke hervor ... dann ... doch plötzlich eilte er mit bloßen Füßen auf den Zehen zu Basini hinüber und setzte sich auf den Rand des Bettes.

Basini schlief.

Er sah ganz so aus, als ob er angenehm träumte.

Törleß war noch immer nicht Herr seiner Handlungen. Einen Augenblick saß er still und starrte dem Schlafenden ins Gesicht. Jene kurzen, abgerissenen, gleichsam nur den Situationsbefund konstatierenden Gedanken zuckten durch sein Gehirn, die man hat, wenn man ein Gleichgewicht verliert, stürzt oder wenn einem ein Gegenstand aus den Händen gerissen wird. Und ohne Besinnen faßte er Basini an der Schulter und rüttelte ihn wach.

Der Schläfer reckte sich einige Male träge, dann fuhr er auf und blickte Törleß mit schlafblöden Augen an.

Törleß erschrak; er war völlig verwirrt; seine Handlung kam ihm zum ersten Male zur Besinnung, und er wußte nicht, was er nun weiter tun solle. Er schämte sich furchtbar. Sein Herz klopfte hörbar. Worte der Erklärung, Ausreden drängten sich auf seine Zunge. Er wollte Basini fragen, ob er keine Streichhölzchen habe, ob er ihm nicht sagen könne, wie viel Uhr es sei ...

Basini glotzte ihn noch immer ohne Verständnis an.

Schon zog Törleß, ohne ein Wort hervorgebracht zu haben, den Arm zurück, schon glitt er von dem Bette herunter, um lautlos in das seine zurückzuschleichen, -- da schien Basini die Situation erfaßt zu haben und richtete sich mit einem Rucke auf.

Törleß blieb unschlüssig am Bettende stehen. Basini sah ihn noch einmal mit einem fragenden, prüfenden Blicke an, dann stieg er vollends aus dem Bette, schlüpfte in Mantel und Hausschuhe und ging mit schlurfenden Schritten voran.

Törleß wurde es mit einem Schlage klar, daß dies nicht zum erstenmal geschehe.

Im Vorbeigehen nahm er die Schlüssel zur Kammer, die er unter seinem Kopfkissen versteckt gehabt hatte, mit. -- -- -- -- -- -- -- --

Basini schritt geradenwegs zur Bodenkammer voraus. Er schien mit dem Wege, den man ihm damals doch noch verheimlicht hatte, inzwischen genau bekannt geworden zu sein. Er hielt die Kiste fest, als Törleß daraufstieg, er räumte die Kulissen zur Seite, umsichtig, mit diskreten Bewegungen, wie ein geschulter Lakai.

Törleß sperrte auf und sie traten ein. Er stand mit dem Rücken zu Basini und zündete die kleine Lampe an.

Als er sich umdrehte, stand Basini nackt vor ihm.

Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Der plötzliche Anblick dieses nackten, schneeweißen Körpers, hinter dem das Rot der Wände zu Blut wurde, blendete und bestürzte ihn. Basini war schön gebaut; an seinem Leibe fehlte fast jede Spur männlicher Formen, er war von einer keuschen, schlanken Magerkeit, wie der eines jungen Mädchens. Und Törleß fühlte das Bild dieser Nacktheit wie heiße, weiße Flammen in seinen Nerven auflodern. Er konnte sich der Macht dieser Schönheit nicht entziehen. Er hatte vorher nicht gewußt, was Schönheit sei. Denn was war ihm in seinem Alter Kunst, was kannte er schließlich davon?! Ist sie doch bis zu einem gewissen Alter jedem in freier Luft aufgewachsenen Menschen unverständlich und langweilig!

Hier aber war sie auf den Wegen der Sinnlichkeit zu ihm gekommen. Heimlich, überfallend. Ein betörender warmer Atem strömte aus der entblößten Haut, eine weiche, lüsterne Schmeichelei. Und doch war etwas daran, das zum Händefalten feierlich und bezwingend war.

Aber nach der ersten Überraschung schämte sich Törleß des einen wie des anderen. »Es ist doch ein Mann!« Der Gedanke empörte ihn, aber ihm war zumute, als ob ein Mädchen nicht anders sein könnte.

Beschämt herrschte er Basini an: »Was fällt dir denn ein?! Gleich wirst du wieder ..!!«

Nun schien dieser bestürzt; zögernd und ohne die Augen von Törleß zu lassen, nahm er den Mantel vom Boden auf.

»Da, setz dich!« wies Törleß Basini an. Dieser gehorchte. Törleß lehnte mit hinter dem Rücken gekreuzten Händen an der Wand.

»Warum hast du dich ausgezogen? Was wolltest du von mir?«

»Nun ich dachte ...«

Zögern.

»Was dachtest du?«

»Die anderen ...«

»Was die anderen?«

»Beineberg und Reiting ...«

»Was Beineberg und Reiting? Was taten sie? Du mußt mir alles erzählen! Ich will es so; verstehst du? Obwohl ich es schon von den andern gehört habe.« Törleß wurde bei dieser unbeholfenen Lüge rot. Basini biß sich die Lippen.

»Nun, wird's?!«

»Nein, verlange nicht, daß ich erzähle! Bitte, verlange es nicht! Ich will ja alles tun, was du willst. Aber laß mich nicht erzählen... O, du hast solch eine besondere Art mich zu quälen ..!« Haß, Angst und eine flehentliche Bitte kämpften in den Augen Basinis. Törleß lenkte unwillkürlich ein.

»Ich will dich gar nicht quälen. Ich will dich nur zwingen, selbst die volle Wahrheit zu sagen. Vielleicht in deinem Interesse.«

»Aber ich habe doch gar nichts getan, was besonderen Erzählens wert wäre.«

»So? Warum aber hast du dich dann ausgezogen?«

»Sie verlangten es so.«

»Und warum hast du getan, was sie verlangten? Du bist also feig? Erbärmlich feig?«

»Nein, ich bin nicht feig! Sag das nicht!«

»Wirst du den Mund halten! Wenn du ihre Prügel fürchtest, so könnten dir die meinen auch nicht schlecht bekommen!«

»Ich fürchte aber gar nicht ihre Prügel.«

»So? Was denn?«

Törleß sprach wieder ruhig. Seine rohe Drohung ärgerte ihn bereits. Aber unwillkürlich war sie ihm entschlüpft, lediglich weil ihm schien, daß sich Basini ihm gegenüber mehr herausnehme als gegen die anderen.

»Wenn du dich, wie du sagst, nicht fürchtest, was ist dann mit dir?«

»Sie sagen, wenn ich ihnen zu Willen sei, werde mir nach einiger Zeit alles verziehen werden.«

»Von ihnen beiden?«

»Nein, überhaupt.«

»Wie können sie das versprechen; ich bin doch auch noch da!«

»Hiefür werden schon sie sorgen, sagen sie!«

Dies gab Törleß einen Schlag. Beinebergs Worte, daß Reiting gegebenenfalls gegen ihn gerade so handeln würde wie gegen Basini, fielen ihm ein. Und wenn es wirklich zu einer Intrige gegen ihn käme, wie sollte er ihr begegnen? Er war den beiden in derlei nicht gewachsen, wie weit würden sie es treiben können? Wie mit Basini?... Alles in ihm lehnte sich gegen diesen hämischen Einfall auf.

Minuten verstrichen zwischen ihm und Basini. Er wußte, daß es ihm an Wagemut und Ausdauer zu derlei Ränken gebrach; aber nur deswegen, weil er sich zu wenig dafür interessierte, weil er nie seine ganze Persönlichkeit im Spiele fühlte. Er hatte immer mehr dabei zu verlieren als zu gewinnen gehabt. Käme dies aber einmal anders, so fühlte er, daß auch eine ganz andere Zähigkeit und Tapferkeit in ihm sein würde. Nur wissen müßte man, wann es Zeit sei, alles aufs Spiel zu setzen.

»Haben sie dir näheres gesagt?... wie sie sich das denken?... Das meinetwegen?«

»Näheres? Nein. Sie sagten nur, daß sie schon sorgen würden.«

Dennoch ... eine Gefahr lag nun da ... irgendwo im Versteck ... und lauerte auf Törleß ... jeder Schritt konnte in eine Fußangel fallen, jede Nacht konnte die letzte vor Kämpfen sein. Eine ungeheure Unsicherheit lag in diesem Gedanken. Das war kein lässiges Sichtreibenlassen mehr, kein Spielen mit rätselhaften Gesichten, -- das hatte harte Ecken und war fühlbare Wirklichkeit.

Das Gespräch fing wieder an.

»Und was tun sie mit dir?«

Basini schwieg.

»Wenn es dir mit deiner Besserung ernst ist, mußt du mir alles sagen.«

»Sie lassen mich auskleiden.«

»Ja, ja, das sah ich doch, ... und dann ....«

Eine kleine Weile verstrich und plötzlich sagte Basini:

»Verschiedenes.«

Er sagte es mit einer weibischen, buhlerischen Betonung.

»Du bist also ihre ... Mai...tresse?«

»O nein, ich bin ihr Freund!«

»Wie kannst du dich unterstehen, das zu sagen!«

»Sie sagen es selbst.«

»Was?...«

»Ja, Reiting.«

»So, Reiting?«

»Ja, er ist sehr freundlich zu mir. Meist muß ich mich ausziehen und ihm etwas aus Geschichtsbüchern vorlesen; von Rom und seinen Kaisern, von den Borgias, von Timur Chan ... na du weißt schon, lauter solch blutige, große Sachen. Dann ist er sogar zärtlich gegen mich.

* * * * *

Nur nachher schlägt er mich meistens ...«

»Wonach?!!...... Ach so!«

»Ja. Er sagt, wenn er mich nicht schlagen würde, so müßte er glauben, ich sei ein Mann, und dann dürfte er mir gegenüber auch nicht so weich und zärtlich sein. So aber sei ich seine Sache und da geniere er sich nicht.«

»Und Beineberg?«

»O Beineberg ist häßlich. Findest du nicht auch, daß er aus dem Munde riecht?«

»Schweig! Was ich finde, geht dich gar nichts an! Erzähle was Beineberg mit dir tut!«

»Nun, auch so wie Reiting, nur .... Aber du darfst mich nicht wieder gleich schimpfen ...«

»Vorwärts.«

»Nur ... auf einem anderen Umwege. Er hält mir erst lange Reden über meine Seele. Ich habe sie beschmutzt, aber gewissermaßen nur den ersten Vorhof derselben. Im Verhältnis zu dem Innersten sei dies etwas Nichtiges und Äußerliches. Nur müsse man es abtöten; so seien schon viele aus Sündern zu Heiligen geworden. Die Sünde sei daher in höherer Hinsicht gar nicht so schlecht; nur müsse man sie ganz auf die Spitze treiben, damit sie abbreche. Er läßt mich sitzen und ein geschliffenes Glas anstarren ...«

»Er hypnotisiert dich?«

»Nein, er sagt, er müsse nur alle Dinge, die an der Oberfläche meiner Seele umherschwimmen, einschläfern und kraftlos machen. Dann erst könne er mit meiner Seele selbst verkehren.«

»Und wie verkehrt er denn mit ihr?«

»Das ist ein Experiment, das ihm noch nie gelungen ist. Er sitzt, und ich muß mich auf die Erde legen, so daß er die Füße auf meinen Leib stellen kann. Ich muß von dem Glas recht träge und schläfrig geworden sein. Dann auf einmal befiehlt er mir zu bellen. Er beschreibt es mir ausführlich: -- leise, mehr winselnd, -- so wie ein Hund aus dem Schlafe heraus bellt.«

»Wozu das?«

»Man weiß nicht, wozu es gut ist. Er läßt mich auch grunzen wie ein Schwein und wiederholt mir in einem fort, ich habe etwas von diesem Tiere in mir. Aber nicht als ob er mich schimpfen wollte; er wiederholt es mir ganz leise und freundlich, um es -- wie er sagt -- fest in meine Nerven einzudrücken. Denn er behauptet, daß möglicherweise eine meiner früheren Existenzen so gewesen sei und daß man sie hervorlocken müsse, um sie unschädlich zu machen.«

»Und du glaubst ihm all das?«

»Gott bewahre; ich meine, er selbst glaubt nicht daran. Und dann ist er doch auch zum Schlusse immer ganz anders. Wie soll ich auch solche Dinge glauben?! Wer glaubt denn heute an eine Seele?! Und gar an eine solche Seelenwanderung?! Daß ich gefehlt habe, weiß ich ganz gut; aber ich habe immer gehofft, es wieder gut machen zu können. Da ist gar kein Hokuspokus nötig. Ich zerbreche mir auch gar nicht den Kopf darüber, wieso ich meinen Fehltritt begehen konnte. So etwas kommt so rasch, so von selbst; man merkt erst nachher, daß man etwas Unkluges getan hat. Wenn es ihm aber Vergnügen macht, etwas Übersinnliches dahinter zu suchen, so soll er meinetwegen. Vorläufig muß ich ihm ja doch zu Willen sein. Wenn er nur lieber unterlassen möchte, mich zu stechen ...«

»Was?«

»Ja, mit einer Nadel -- nun nicht heftig, nur um zu sehen, wie ich darauf reagiere ... ob sich nicht an irgendeiner Stelle des Körpers etwas bemerkbar mache. Aber weh tut es doch. Er behauptet nämlich, die Ärzte verstünden nichts davon, ich habe mir nicht gemerkt, womit er das beweisen will, ich erinnere mich nur, daß er viel von Fakiren spricht, die, wenn sie ihre Seele schauen, gegen körperliche Schmerzen unempfindlich sein sollen.«

»Nun ja, ich kenne diese Ideen; du sagtest aber doch selbst, daß dies nicht alles sei.«

»Gewiß nicht; ich sagte doch auch, daß ich dies nur für einen Umweg halte. Nachher kommen jedesmal Viertelstunden, wo er schweigt, und ich nicht weiß, was in ihm vorgeht. Danach aber bricht er plötzlich los und verlangt Dienste von mir -- wie besessen -- weit ärger als Reiting.«

»Und du tust alles, was man von dir verlangt?«

»Was bleibt mir übrig? Ich will wieder ein anständiger Mensch werden und meine Ruhe haben.«

»Was aber inzwischen geschehen ist, wird dir ganz gleich sein?«

»Ich kann mir ja nicht dagegen helfen.«

»Gib jetzt genau acht und beantworte meine Fragen: Wieso konntest du stehlen?«

»Wieso? Schau, ich brauchte das Geld dringend; ich hatte beim Traiteur Schulden und er wollte sich nicht mehr vertrösten lassen. Dann glaubte ich doch bestimmt, daß in jenen Tagen für mich Geld kommen werde. Von den Kameraden wollte mir keiner leihen: die einen hatten selbst keins und die Sparsamen freut es ja nur, wenn einer, der nicht so ist, gegen Monatsende in Verlegenheit kommt. Ich wollte gewiß niemanden betrügen; ich wollte es mir nur heimlich ausleihen ...«

»Nicht so meine ich es,« unterbrach Törleß ungeduldig diese Erzählung, die Basini offenbar erleichterte, »ich frage: wieso -- wie konntest du das tun, wie fühltest du dich? Was ging in jenem Augenblick in dir vor?«

»Nun ja -- gar nichts. Es war doch nur ein Augenblick, ich fühlte nichts, ich überlegte nichts, es war einfach plötzlich geschehen.«

»Aber das erstemal mit Reiting? Als er zum erstenmal jene Dinge von dir verlangte? Verstehst du ...?«

»O unangenehm war es mir schon. Weil es so auf Befehl geschehen sollte. Denn sonst ... denk nur, wie viele tun solche Sachen freiwillig zum Vergnügen, ohne daß die anderen davon wissen. Da ist es wohl nicht so arg.«

»Aber du hast es auf Befehl getan. Du hast dich erniedrigt. So wie wenn du in den Kot kriechen würdest, weil es ein anderer will.«

»Das gebe ich ja zu; aber ich mußte.«

»Nein, du mußtest nicht.«

»Sie hätten mich geprügelt, angezeigt; alle Schande wäre auf mich gekommen.«

»Nun meinetwegen, lassen wir das. Ich will etwas anderes von dir wissen. Höre, ich weiß, daß du viel Geld bei Bozena gelassen hast. Du hast vor ihr aufgeschnitten, dich in die Brust geworfen, mit deiner Männlichkeit geprahlt. Du willst also ein Mann sein? Nicht nur mit dem Mund und mit ... sondern mit der ganzen Seele? Nun sieh, da verlangt auf einmal einer von dir einen so erniedrigenden Dienst, du fühlst im selben Augenblick, daß du zu feig bist, um nein zu sagen: ging da nicht durch dein ganzes Wesen ein Riß? Ein Schreck -- unbestimmt -- als ob sich eben etwas Unsagbares in dir vollzogen hätte?«

»Gott, ich verstehe dich nicht; ich weiß nicht, was du willst; ich kann dir nichts, gar nichts sagen.«

»So paß auf; ich werde dir jetzt befehlen, dich wieder auszukleiden.«

Basini lächelte.

»Dich platt da vor mir auf die Erde zu legen. Lach nicht! Ich befehle es dir wirklich! Hörst du?! Wenn du nicht augenblicklich folgst, so wirst du sehen, was dir bevorsteht, wenn Reiting zurückkommt! So. Siehst du, jetzt liegst du nackt vor mir auf der Erde. Du zitterst sogar; es friert dich? Ich könnte jetzt auf deinen nackten Leib speien, wenn ich wollte. Drücke nur den Kopf fest auf die Erde; sieht der Staub am Boden nicht merkwürdig aus? Wie eine Landschaft voll Wolken und Felsblöcken so groß wie Häuser? Ich könnte dich mit Nadeln stechen. Da in der Nische, bei der Lampe liegen noch welche. Fühlst du sie schon auf der Haut?... Aber ich will nicht ... Ich könnte dich bellen lassen, wie es Beineberg getan hat, den Staub auffressen lassen wie ein Schwein, ich könnte dich Bewegungen machen lassen -- du weißt schon -- und du müßtest dazu seufzen: O meine liebe Mut ...« Doch Törleß hielt jäh in dieser Lästerung inne. »Aber ich will nicht, will nicht, verstehst du?!«

Basini weinte. »Du quälst mich ...«

»Ja, ich quäle dich. Aber nicht darum ist es mir; ich will nur eines wissen: Wenn ich all das wie Messer in dich hineinstoße, was ist in dir? Was vollzieht sich in dir? Zerspringt etwas in dir? Sag! Jäh wie ein Glas, das plötzlich in tausend Splitter geht, bevor sich noch ein Sprung gezeigt hat? Das Bild, das du dir von dir gemacht hast, verlöscht es nicht mit einem Hauche; springt nicht ein anderes an seine Stelle, wie die Bilder der Zauberlaternen aus dem Dunkel springen? Verstehst du mich denn gar nicht? Näher erklären kann ich's dir nicht; du mußt mir selbst sagen!...«

Basini weinte ohne aufzuhören. Seine mädchenhaften Schultern zuckten; er brachte immer nur dasselbe hervor. »Ich weiß nicht, was du willst; ich kann dir nichts erklären; es geschieht im Augenblicke; es kann dann gar nicht anders geschehen; du würdest ebenso handeln wie ich.«

Törleß schwieg. Er blieb erschöpft, reglos an der Wand lehnen und starrte vor sich hin, geradeaus ins Leere.

»Wenn du in meiner Situation wärest, würdest du geradeso handeln«, hatte Basini gesagt. Da war das Geschehene als eine einfache Notwendigkeit, ruhig und ohne Verzerrung.

Törleß' Selbstbewußtsein lehnte sich in heller Verachtung selbst gegen die bloße Zumutung auf. Und doch schien ihm diese Auflehnung seines ganzen Wesens keine befriedigende Gewähr zu bieten. »... ja, ich würde mehr Charakter haben als er, ich würde solche Zumutungen nicht ertragen -- aber ist dies auch von Belang? Ist es von Belang, daß ich aus Festigkeit, aus Anständigkeit, aus lauter Gründen, die mir jetzt ganz nebensächlich sind, anders handeln würde? Nein, nicht daran liegt's, wie ich handeln würde, sondern daran, daß ich, wenn ich einmal wirklich so handelte wie Basini, ebensowenig Außergewöhnliches dabei empfinden würde wie er. Dies ist das eigentliche: Mein Gefühl meiner selbst würde genau so einfach und von allem Fragwürdigen entfernt sein wie das seine ...«

Dieser Gedanke, welcher -- in abgerissenen, übereinander greifenden, immer wieder von vorne anfangenden Sätzen gedacht -- der Verachtung für Basini einen ganz intimen, leisen, aber weit tiefer als Moral an das innerste Gleichgewicht rührenden Schmerz hinzufügte, kam von der Erinnerung an eine kurz vorher gehabte Empfindung, die Törleß nicht losließ. Als ihm nämlich durch Basini die möglicherweise von Reiting und Beineberg drohende Gefahr zur Kenntnis kam, war er einfach erschrocken. Einfach erschrocken, wie bei einem Überfall, und hatte ohne Überlegen blitzschnell nach Paraden und Deckungen gesucht. Das war nun im Augenblicke einer wirklichen Gefahr gewesen; und die Empfindung, die er dabei gehabt hatte, reizte ihn. Diese raschen, gedankenlosen Impulse. Er versuchte ganz vergebens sie wieder in sich auszulösen. Aber er wußte, daß sie der Gefahr augenblicks alles Sonderbare und Zweideutige benommen hatten.

Und doch war es dieselbe Gefahr gewesen, die er vor einigen Wochen erst an derselben Stelle geahnt hatte. Damals, als er so eigens wegen der Kammer erschrocken war, die wie ein vergessenes Mittelalter abseits von dem warmen und hellen Leben der Lehrsäle lag, über Beineberg und Reiting, weil sie aus den Menschen, die sie dort waren, plötzlich etwas anderes, Düsteres, Blutgieriges, Personen in einem ganz anderen Leben geworden zu sein schienen. Damals war dies eine Verwandlung, ein Sprung für Törleß, als ob das Bild seiner Umgebung plötzlich in andere, aus hundertjährigem Schlafe erwachte Augen fiele.

Und doch war es dieselbe Gefahr gewesen ... Unaufhörlich wiederholte er sich dies. Und immer wieder versuchte er die Erinnerungen der beiden verschiedenen Empfindungen miteinander zu vergleichen .................

Basini hatte sich mittlerweile längst aufgerichtet; er bemerkte den stieren, geistesabwesenden Blick seines Gefährten, leise nahm er seine Kleider auf und schlich sich davon.

Törleß sah es -- wie durch einen Nebel hindurch -- aber er ließ es wortlos geschehen.

Seine Aufmerksamkeit war ganz durch das Bestreben gefesselt, jenen Punkt in ihm wieder aufzufinden, wo plötzlich jener Wechsel in der innerlichen Perspektive stattgefunden hatte.

Aber so oft er in dessen Nähe kam, erging es ihm wie einem, der Nahes mit Fernem vergleichen will: er erhaschte nie die Erinnerungsbilder beider Gefühle zugleich, sondern jedesmal ging wie ein leiser Knacks zwischendurch ein Gefühl, wie es im Körperlichen etwa den kaum merkbaren Muskelempfindungen entspricht, die das Einstellen des Blickes begleiten. Und jedesmal beanspruchte dies gerade im entscheidenden Momente die Aufmerksamkeit für sich, die Tätigkeit des Vergleiches drängte sich vor den Gegenstand des Vergleiches, es gab einen kaum fühlbaren Ruck -- und alles stand still.

Und immer wieder begann Törleß von neuem.

Dieser Prozeß von mechanischer Gleichmäßigkeit schläferte ihn in einen starren, wachen, eiskalten Schlaf, der ihn reglos an seinem Platze festhielt. Unbestimmt lange.

Erst ein Gedanke weckte Törleß auf wie die leise Berührung einer warmen Hand. Ein anscheinend so selbstverständlicher Gedanke, daß sich Törleß wunderte, nicht schon längst darauf verfallen zu sein.

Ein Gedanke, der gar nichts tat, als die eben gemachte Erfahrung registrieren: es kommt immer einfach, unverzerrt, in natürlichen, alltäglichen Proportionen, was von ferne so groß und geheimnisvoll aussieht. So als ob eine unsichtbare Grenze um den Menschen gezogen wäre. Was sich außerhalb vorbereitet und von ferne herannaht, ist wie ein nebliges Meer voll riesenhafter, wechselnder Gestalten; was an ihn herantritt, Handlung wird, an seinem Leben sich stößt, ist klar und klein, von menschlichen Dimensionen und menschlichen Linien. Und zwischen dem Leben, das man lebt, und dem Leben, das man fühlt, ahnt, von ferne sieht, liegt wie ein enges Tor die unsichtbare Grenze, in dem sich die Bilder der Ereignisse zusammendrücken müssen, um in den Menschen einzugehen.

* * * * *

Und doch, so sehr dies seiner Erfahrung entsprach, beugte Törleß nachdenklich den Kopf.

»Ein sonderbarer Gedanke -- -- -- --« fühlte er.

* * * * *

Endlich lag er in seinem Bett. Er dachte an gar nichts mehr, denn das Denken fiel so schwer und war so fruchtlos. Was er über die Heimlichkeiten seiner Freunde erfahren hatte, zog ihm zwar durch den Sinn, aber so gleichgültig und leblos wie eine Nachricht, die man in einer fremden Zeitung liest.

Von Basini war nichts mehr zu hoffen. Freilich, sein Problem! -- Aber es war so fraglich und er so müde und so zerschlagen. Eine Täuschung vielleicht -- das Ganze.

Nur der Anblick Basinis, seiner nackten, leuchtenden Haut, duftete wie ein Fliederstrauch in das Dämmern der Empfindungen, das dem Schlafe vorausging. Sogar aller moralische Abscheu verlor sich. Schließlich schlief Törleß ein.

* * * * *

Kein Traum zog durch seine Ruhe. Aber eine unendlich angenehme Wärme breitete weiche Teppiche unter seinen Leib. Schließlich wachte er darüber auf. Und beinahe hätte er einen Schrei ausgestoßen. An seinem Bette saß Basini! Und mit rasender Behendigkeit löste dieser im nächsten Augenblicke das Hemd von seinem Leibe, schmiegte sich unter die Decke und preßte seinen nackten, zitternden Leib an Törleß an.

Kaum hatte sich Törleß in diesem Überfalle zurechtgefunden, als er Basini von sich stieß.

»Was fällt dir denn ein ...?!«

Doch Basini bettelte. »O, sei nicht wieder so! So wie du ist keiner. Sie verachten mich nicht so wie du; sie tun dies nur scheinbar, damit sie dann desto anders sein können. Aber du? Gerade du ...?!... Du bist sogar jünger als ich, wenn du auch stärker bist; ... wir sind beide jünger als die anderen; ... du bist nicht so roh und prahlerisch wie sie; ... du bist sanft; ... ich liebe dich ...!«

»Was -- was sagst du? Was soll ich mit dir? Geh -- so geh doch weg!« Und Törleß stemmte gequält seinen Arm gegen Basinis Schulter. Aber die heiße Nähe der weichen, fremden Haut verfolgte ihn und umschloß ihn und erstickte ihn. Und in einem fort flüsterte Basini .. »Doch .. doch .. bitte .. o, es wäre mir ein Genuß, dir zu dienen.«

* * * * *

Törleß fand keine Antwort. Während Basini sprach, während der Sekunden des Zweifelns und Überlegens, war es wieder wie ein tief grünes Meer über seine Sinne gesunken. Nur Basinis bewegliche Worte leuchteten darinnen auf wie das Blinken silberner Fischchen.

Noch immer hielt er seine Arme gegen Basinis Körper gestemmt. Aber auf ihnen lag es wie eine feuchte, schwere Wärme; ihre Muskeln erschlafften; er vergaß ihrer ... Nur wenn ihn ein neues der zuckenden Worte traf, wachte er auf, weil er plötzlich fühlte -- wie etwas schrecklich Unfaßbares -- daß eben -- wie im Traum -- seine Hände Basini näher gezogen hatten.

Dann wollte er sich aufrütteln, sich zuschreien: Basini betrügt dich; er will dich nur zu sich hinabziehen, damit du ihn nicht mehr verachten kannst. Aber der Schrei erstickte; kein Laut lebte in dem weiten Hause; in allen Gängen schienen die dunklen Fluten des Schweigens unbeweglich zu schlafen.

Er wollte zu sich selbst zurückfinden: aber wie schwarze Wächter lagen sie vor allen Toren.

Da suchte Törleß kein Wort mehr. Die Sinnlichkeit, die sich nach und nach aus den einzelnen Augenblicken der Verzweiflung in ihn gestohlen hatte, war jetzt zu ihrer vollen Größe erwacht. Sie lag nackt neben ihm und deckte ihm mit ihrem weichen schwarzen Mantel das Haupt zu. Und sie raunte ihm süße Worte der Resignation ins Ohr und schob mit ihren warmen Fingern alle Fragen und Aufgaben als vergebens weg. Und sie flüsterte: in der Einsamkeit ist alles erlaubt.

Nur in dem Augenblicke, als es ihn fortriß, wachte er sekundenlang auf und klammerte sich verzweifelt an den einen Gedanken: Das bin nicht ich!... nicht ich!... Morgen erst wieder werde ich es sein!... Morgen ...

* * * * *

Dienstag abends kehrten die ersten Zöglinge zurück. Ein anderer Teil kam erst mit den Nachtzügen. Es war eine beständige Unruhe im Hause.

Törleß empfing seine Freunde unwirsch und verdrossen; er hatte nicht vergessen. Und dann brachten sie auch etwas so Frisches und Weltmännisches von außen mit. Das beschämte ihn, der jetzt die drückende Luft enger Stuben liebte.

Er schämte sich jetzt überhaupt häufig. Aber nicht eigentlich deswegen, wozu er sich hatte verführen lassen, -- denn dies ist in Instituten nichts so Seltenes, -- als weil er sich nun tatsächlich einer Art Zärtlichkeit für Basini nicht erwehren konnte und andererseits eindringlicher denn je empfand, wie verachtet und erniedrigt dieser Mensch war.

Er hatte des öfteren heimliche Zusammenkünfte mit ihm. Er führte ihn in alle Verstecke, die er durch Beineberg kannte, und da er selbst auf solchen Schleichwegen nicht geschickt war, fand sich Basini bald besser zurecht als er und wurde zum Führer.

Des Nachts aber ließ ihn eine Eifersucht, mit der er Beineberg und Reiting bewachte, nicht zur Ruhe kommen.

Die beiden hielten sich jedoch von Basini zurück. Vielleicht langweilte er sie bereits. Jedenfalls schien mit ihnen eine Veränderung vor sich gegangen zu sein. Beineberg war finster und verschlossen; wenn er sprach, so handelte es sich um geheimnisvolle Andeutungen von etwas Bevorstehendem. Reiting hatte sein Interesse scheinbar wieder anderen Dingen zugewandt; er flocht mit gewohnter Geschicklichkeit das Netz zu irgendeiner Intrige, indem er die einen durch kleine Gefälligkeiten zu gewinnen suchte und die anderen dadurch schreckte, daß er sich durch heimliche List zum Mitwisser ihrer Geheimnisse machte.

Wenn sie zu dritt beisammen waren, drangen die beiden darauf, daß Basini nächstens wieder in die Kammer oder auf den Boden befohlen werde.

Törleß suchte es durch allerhand Ausflüchte hinauszuschieben, litt dabei aber beständig unter dieser heimlichen Anteilnahme.

Vor wenigen Wochen noch hätte er einen solchen Zustand überhaupt nicht verstanden, denn schon von den Eltern her war er kräftig, gesund und natürlich.

Aber man darf auch wirklich nicht glauben, daß Basini in Törleß ein richtiges und -- wenn auch noch so flüchtig und verirrt -- wirkliches Begehren erregte. Es war allerdings etwas wie Leidenschaft in Törleß erwacht, aber Liebe war ganz gewiß nur ein zufälliger, beiläufiger Name dafür, und der Mensch Basini nicht mehr als ein stellvertretendes und vorläufiges Ziel dieses Verlangens. Denn wenn sich Törleß auch mit ihm gemein machte, sein Begehren sättigte sich niemals an ihm, sondern wuchs zu einem neuen, ziellosen Hunger über Basini hinaus.

* * * * *

Vorerst war es überhaupt nur die Nacktheit des schlanken Knabenkörpers gewesen, die ihn geblendet hatte.

Der Eindruck war nicht anders, als wäre er den nur schönen, von allem Geschlechtlichen noch fernen Formen eines ganz jungen Mädchens gegenüber gestanden. Eine Überwältigung. Ein Staunen. Und die Reinheit, die unwillkürlich von diesem Zustande ausging, war es, die den Schein einer Neigung, -- dieses neue wunderbar unruhige Gefühl in sein Verhältnis zu Basini trug. Alles andere aber hatte damit wenig zu tun. Dieses übrige des Begehrens war schon längst, -- war schon bei Bozena und noch viel früher dagewesen. Es war die heimliche, ziellose, auf niemanden bezogene, melancholische Sinnlichkeit des Heranreifenden, welche wie die feuchte, schwarze, keimtragende Erde im Frühjahr ist und wie dunkle unterirdische Gewässer, die nur eines zufälligen Anlasses bedürfen, um durch ihre Mauern zu brechen.

Der Auftritt, den Törleß erlebt hatte, war zu diesem Anlasse geworden. Durch eine Überraschung, ein Mißverständnis, ein Verkennen des Eindruckes wurden die verschwiegenen Verstecke, in denen sich alles Heimliche, Verbotene, Schwüle, Ungewisse und Einsame von Törleß' Seele gesammelt hatte, aufgestoßen und diesen dunklen Regungen die Richtung gegen Basini erteilt. Denn da stießen sie mit einem Male auf etwas, das warm war, atmete, duftete, Fleisch war, an dem diese unbestimmt schweifenden Träume Gestalt gewannen und Teil seiner Schönheit, statt der ätzenden Häßlichkeit, mit der sie Bozena in der Einsamkeit gestäupt hatte. Das riß ihnen mit einem Schlage ein Tor zum Leben auf und in dem entstehenden Zwielicht mengte sich alles, Wünsche und Wirklichkeit, ausschweifende Phantasien und Eindrücke, die noch die warmen Spuren des Lebens trugen, Empfindungen, die von außen einfielen und Flammen, die ihnen von innen entgegenloderten und sie bis zur Unkenntlichkeit einhüllten.

Aber dies alles war für Törleß selbst nicht mehr unterscheidbar und war für ihn in einem einzigen, unklaren, ungegliederten Gefühl vereint, das er in der ersten Überraschung wohl für Liebe nehmen mochte.

* * * * *

Bald aber lernte er es richtiger schätzen. Eine Unruhe trieb ihn von da an rastlos umher. Er legte jedes Ding, das er berührte, kaum ergriffen wieder weg. Er konnte kein Gespräch mit Kameraden führen, ohne grundlos zu verstummen oder zerstreut mehrmals den Gegenstand zu wechseln. Es kam auch vor, daß ihn mitten im Sprechen eine Welle der Scham überflutete, so daß er rot wurde, zu stottern begann, sich abwenden mußte ...

Er mied untertags Basini. Konnte er es nicht vermeiden ihn anzusehen, so packte ihn fast immer eine Ernüchterung. Jede Bewegung Basinis erfüllte ihn mit Ekel, die ungewissen Schatten seiner Illusionen machten einer kalten, stumpfen Helle Platz, seine Seele schien zusammenzuschrumpfen, bis nichts mehr übrig blieb als die Erinnerung an ein früheres Begehren, das ihm unsagbar unverständig und widerwärtig vorkam. Er stieß seinen Fuß gegen die Erde und krümmte seinen Leib zusammen, nur um sich dieser schmerzhaften Scham zu entwinden.

Er fragte sich, was die anderen zu ihm sagen würden, wenn sie sein Geheimnis wüßten, seine Eltern, seine Lehrer?

Mit dieser letzten Verwundung brachen seine Qualen aber regelmäßig ab. Eine kühle Müdigkeit bemächtigte sich seiner; die heiße und erschlaffte Haut seines Körpers spannte sich in einem wohligen Frösteln wieder an. Er ließ dann still alle Menschen an sich vorbei. Aber eine gewisse Mißachtung erfüllte ihn gegen alle. Im geheimen verdächtigte er jeden, mit dem er sprach, der ärgsten Dinge.

Und überdies glaubte er, bei ihnen die Scham zu vermissen. Er glaubte nicht, daß sie so litten, wie er es von sich wußte. Die Dornenkrone seiner Gewissensbisse schien ihnen zu fehlen.

Er aber fühlte sich wie ein aus einer tiefen Agonie Erwachter. Wie ein von den verschwiegenen Händen der Auflösung Gestreifter. Wie einer, der die stille Weisheit einer langen Krankheit nicht vergessen kann.

In diesem Zustande fühlte er sich glücklich und die Augenblicke kamen immer wieder, wo er sich nach ihm sehnte.

Sie begannen damit, daß er Basini wieder gleichgültig ansehen konnte und das Abscheuliche und Gemeine mit einem Lächeln aushielt. Dann wußte er, daß er sich erniedrigen werde, aber er unterschob dem einen neuen Sinn. Je häßlicher und unwürdiger das war, was ihm Basini bot, desto größer war der Gegensatz zu dem Gefühl einer leidenden Feinheit, das sich nachher einzustellen pflegte.

Törleß zog sich in irgendeinen Winkel zurück, von dem aus er beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Wenn er die Augen schloß, so stieg ein ungewisses Drängen in ihm auf, und wenn er die Augen öffnete, fand er nichts, was er damit hätte vergleichen können. Und dann wuchs plötzlich der Gedanke an Basini und riß alles an sich. Bald verlor er dabei alles Bestimmte. Er schien nicht mehr Törleß anzugehören und schien sich nicht mehr auf Basini zu beziehen. Er war ganz von Gefühlen umrauscht, wie von lüsternen Frauen in hochgeschlossenen Gewändern unter vorgebundenen Masken.

Törleß kannte kein einziges beim Namen, er wußte von keinem, was es barg; aber gerade darin lag die berauschende Verlockung. Er kannte sich selbst nicht mehr; und gerade daraus wuchs seine Lust zu wilder, verachtender Ausschweifung, wie wenn bei einem galanten Feste plötzlich die Lichter verlöschen und niemand mehr weiß, wen er zur Erde zieht und mit Küssen bedeckt.

* * * * *

Törleß wurde später, nachdem er die Ereignisse seiner Jugend überwunden hatte, ein junger Mann von sehr feinem und empfindsamem Geiste. Er zählte dann zu jenen ästhetisch intellektuellen Naturen, welchen die Beobachtung der Gesetze und wohl auch teilweise der öffentlichen Moral eine Beruhigung gewährt, weil sie dadurch enthoben sind, über etwas Grobes, von dem feineren seelischen Geschehen Weitabliegendes nachdenken zu müssen, die aber eine gelangweilte Unempfindlichkeit mit dieser großen äußeren, ein wenig ironischen Korrektheit verbinden, sobald man ein persönlicheres Interesse für deren Gegenstände von ihnen verlangt. Denn dieses wirklich sie selbst ergreifende Interesse sammelt sich bei ihnen einzig auf das Wachstum der Seele, des Geistes, oder wie immer man das benennen mag, was hie und da durch einen Gedanken zwischen den Worten eines Buches oder vor den verschlossenen Lippen eines Bildes in uns gemehrt wird; was manchmal erwacht, wenn irgendeine einsame, eigenwillige Melodie von uns fortgeht und -- ins Ferne schreitend -- mit fremden Bewegungen an dem dünnen, roten Faden zerrt, unseres Blutes, den sie hinter sich herzieht; das aber immer verschwunden ist, wenn wir Akten schreiben, Maschinen bauen, in den Zirkus gehen, oder den hundert anderen ähnlichen Beschäftigungen folgen. --

Diesen Menschen sind also die Gegenstände, welche nur ihre moralische Korrektheit herausfordern, höchst gleichgültig. Törleß bereute daher auch nie in seinem späteren Leben das damals Geschehene. Seine Bedürfnisse waren so einseitig schöngeistig zugeschärft, daß es, wenn man ihm etwa eine ganz ähnliche Geschichte von den Ausschweifungen eines Wüstlings erzählt hätte, gewiß völlig außerhalb seines Gesichtskreises gelegen wäre, seine Entrüstung gegen das Geschehene zu richten. Er hätte einen solchen Menschen gewissermaßen nicht deswegen verachtet, weil er ein Wüstling, sondern weil er nichts Besseres ist; nicht wegen seiner Ausschweifungen, sondern wegen des Seelenzustandes, der ihn diese begehen läßt; weil er dumm ist, oder weil seinem Verstande die seelischen Gegengewichte fehlen ...: immer also nur wegen des traurigen, beraubten, entkräfteten Anblicks, den er bietet. Und er hätte ihn gleicherweise verachtet, ob nun sein Laster in geschlechtlichen Ausschweifungen oder in zwanghaft entartetem Zigarettenrauchen oder Alkoholgenuß bestünde.

Und wie allen dermaßen auf die Steigerung ausschließlich ihrer Geistigkeit konzentrierten Menschen bedeutete auch ihm das bloße Vorhandensein schwüler und exzessiver Regungen noch wenig. Er liebte es damit zu rechnen, daß die Fähigkeit zu genießen, die künstlerischen Talente, das ganze verfeinerte Seelenleben ein Zierat sei, an dem man sich leicht verletze. Er betrachtete es als etwas Unumgängliches, daß ein Mensch von reichem und beweglichem Innenleben Augenblicke habe, um die andere nicht wissen dürfen, und Erinnerungen, die er in geheimen Fächern verwahrt. Und er verlangte von ihm nur, daß er nachträglich sich ihrer mit Feinheit zu bedienen verstehe.

So daß, als er einmal von jemandem, dem er die Geschichte seiner Jugend erzählt hatte, gefragt wurde, ob diese Erinnerung nicht doch manchmal beschämend sei, er lächelnd folgende Antwort gab: »Ich leugne ganz gewiß nicht, daß es sich hier um eine Erniedrigung handelte. Warum auch nicht? Sie verging. Aber etwas von ihr blieb für immer zurück: jene kleine Menge Giftes, die nötig ist, um der Seele die allzu sichere und beruhigte Gesundheit zu nehmen und ihr dafür eine feinere, zugeschärfte, verstehende zu geben.

Wollten Sie übrigens die Stunden der Erniedrigung zählen, die überhaupt von jeder großen Leidenschaft der Seele eingebrannt werden? Denken Sie nur an die Stunden der absichtlichen Demütigung in der Liebe! Diese entrückten Stunden, zu denen sich Liebende über gewisse tiefe Brunnen neigen oder einander das Ohr ans Herz legen, ob sie nicht drinnen die Krallen der großen, unruhigen Katzen ungeduldig an den Kerkerwänden hören? Nur um sich zittern zu fühlen! Nur um über ihr Alleinsein oberhalb dieser dunklen, brandmarkenden Tiefen zu erschrecken! Nur um jäh -- in der Angst der Einsamkeit mit diesen düsteren Kräften -- sich ganz ineinander zu flüchten!

Sehen Sie doch nur jungen Ehepaaren in die Augen. Du glaubst ...? steht darin, aber du ahnst ja gar nicht, wie tief wir versinken können! -- In diesen Augen liegt ein heiterer Spott gegen den, der von so vielem nichts weiß, und der zärtliche Stolz derer, die miteinander durch alle Höllen gegangen sind.

Und wie diese Liebenden miteinander, so bin ich damals mit mir selbst durch all dies hindurchgegangen.«

* * * * *

Dennoch, wenn Törleß auch später so urteilte, damals, als er sich in dem Sturme einsamer, begehrlicher Empfindungen befand, war diese des guten Endes überzeugte Zuversicht durchaus nicht immer in ihm. Von den Rätseln, die ihn erst vor kurzem gequält hatten, war noch eine unbestimmte Nachwirkung geblieben, die wie ein dunkler ferner Ton am Grunde seiner Erlebnisse klang. Gerade daran mochte er jetzt nicht denken.

Aber zeitweilig mußte er es. Und dann befiel ihn tiefste Hoffnungslosigkeit, und eine ganz andere, eine müde, zukunftslose Beschämung konnte ihn bei diesen Erinnerungen ergreifen.

Trotzdem vermochte er aber auch über diese nicht sich Rechenschaft zu geben.

Dies bewirkten die besonderen Verhältnisse im Institute. Dort, wo die jungen aufdrängenden Kräfte hinter grauen Mauern festgehalten wurden, stauten sie die Phantasie voll wahllos wohllüstiger Bilder, die manchem die Besinnung raubten.

Ein gewisser Grad von Ausschweifung galt sogar als männlich, als verwegen, als kühnes Inbesitznehmen vorenthaltener Vergnügungen. Zumal wenn man sich mit der ehrbar verkümmerten Erscheinung der meisten Lehrer verglich. Denn dann gewann das Mahnwort Moral einen lächerlichen Zusammenhang mit schmalen Schultern, mit spitzen Bäuchen auf dünnen Beinen und Augen, die hinter ihren Brillen harmlos wie Schäfchen weideten, als sei das Leben nichts als ein Feld voll Blumen ernster Erbaulichkeit.

Im Institute endlich hatte man noch keine Kenntnis vom Leben und keine Ahnung von allen jenen Abstufungen von Gemeinheit und Wüstheit bis zu Krankheit und Lächerlichkeit, die den Erwachsenen in erster Linie mit Widerwillen erfüllen, wenn er von solchen Dingen hört.

Alle diese Hemmnisse, deren Wirksamkeit wir gar nicht abzuschätzen vermögen, fehlten ihm. Er war förmlich naiv in seine Vergehen hineingeraten.

Denn auch die ethische Widerstandskraft, dieses empfindliche Fühlvermögen des Geistes, das er später so hoch schätzte, fehlte damals noch. Aber doch kündigte es sich schon an. Törleß irrte, er sah erst die Schatten, die etwas noch Unerkanntes in ihm in sein Bewußtsein warf, und er hielt sie fälschlich für Wirklichkeit: aber er hatte eine Aufgabe an sich selbst zu erfüllen, eine Aufgabe der Seele -- wenn er ihr auch noch nicht gewachsen war.

Er wußte nur, daß er etwas noch Undeutlichem auf einem Wege gefolgt war, der tief in sein Inneres führte; und er war dabei ermüdet. Er hatte sich gewöhnt, auf außerordentliche, verborgene Entdeckungen zu hoffen, und war dabei in die engen, winkligen Gemächer der Sinnlichkeit gelangt. Nicht aus Perversität, sondern infolge einer augenblicklich ziellosen geistigen Situation.

Und gerade diese Untreue gegen etwas Ernstes, Erstrebtes in sich erfüllte ihn mit einem unklaren Bewußtsein von Schuld; ein unbestimmter, versteckter Ekel verließ ihn niemals ganz und eine ungewisse Angst verfolgte ihn, wie einen, der im Dunkel nicht mehr weiß, ob er noch seinen Weg unter den Füßen hat oder wo er ihn verlor.

Er bemühte sich dann überhaupt nichts zu denken. Stumm und betäubt und aller früheren Fragen vergessend, lebte er dahin. Der feine Genuß an seinen Demütigungen wurde immer seltener.

Noch ließ er ihn nicht, aber doch setzte Törleß am Ende dieser Zeit keinen Widerstand mehr entgegen, als über Basinis Schicksal weiter beschlossen wurde.

* * * * *

Dies geschah einige Tage später, als sie zu dritt in der Kammer beisammen waren. Beineberg war sehr ernst.

Reiting fing zu sprechen an: »Beineberg und ich glauben, daß es auf die bisherige Weise mit Basini nicht mehr weiter geht. Er hat sich mit dem Gehorsam, den er uns schuldet, abgefunden und leidet nicht mehr darunter; er ist von einer frechen Vertraulichkeit wie ein Bedienter. Es ist also an der Zeit, mit ihm einen Schritt weiter zu gehen. Bist du einverstanden?«

»Ich weiß doch noch gar nicht, was ihr mit ihm tun wollt.«

»Das ist auch schwer zurecht gelegt. Wir müssen ihn noch weiter demütigen und herunterdrücken. Ich möchte sehen, wie weit das geht. Auf welche Weise, ist freilich eine andere Frage. Ich habe allerdings auch hierüber einige nette Einfälle. Wir könnten ihn zum Beispiel durchpeitschen und er müßte Dankpsalmen dazu singen; den Ausdruck dieses Gesanges anzuhören wäre nicht übel -- jeder Ton gewissermaßen von einer Gänsehaut überlaufen. Wir könnten ihn die unsaubersten Sachen apportieren lassen. Wir könnten ihn zu Bozena mitnehmen, dort die Briefe seiner Mutter vorlesen lassen, und Bozena möchte schon den nötigen Spaß dazu liefern. Doch das alles läuft uns nicht davon. Wir können es uns ruhig ausdenken, ausfeilen und Neues dazufinden. Ohne die entsprechenden Details ist es vorderhand noch langweilig. Vielleicht liefern wir ihn überhaupt der Klasse aus. Das wäre das gescheiteste. Wenn von so vielen jeder nur ein wenig beisteuert, so genügt es, um ihn in Stücke zu zerreißen. Überhaupt habe ich diese Massenbewegungen gern. Keiner will Besonderes dazu tun, und doch gehen die Wellen immer höher, bis sie über allen Köpfen zusammenschlagen. Ihr werdet sehen, keiner wird sich rühren, und es wird doch einen Riesensturm geben. So etwas in Szene zu setzen, ist für mich ein außerordentliches Vergnügen.«

»Was wollt ihr aber zunächst tun?«

»Wie gesagt, ich möchte mir das für später aufsparen, vorderhand würde es mir genügen, ihn soweit zu bringen -- durch Drohungen oder Prügel -- daß er wieder zu allem ja sagt.«

»Wozu?« entfuhr es Törleß. Sie sahen sich fest in die Augen.

»Ach verstell dich nicht; ich weiß sehr wohl, daß du davon unterrichtet bist.« Törleß schwieg. Hatte Reiting etwas erfahren?... Klopfte er nur auf den Strauch?

»... Doch noch von damals her; Beineberg hat dir doch gesagt, wozu sich Basini hergibt.«

Törleß atmete erleichtert auf.

»Na, mach nur nicht so erstaunte Augen. Damals hast du sie auch so aufgerissen, und es handelt sich doch um nichts gar so Arges. Übrigens hat mir Beineberg gestanden, daß er dasselbe mit Basini tut.« Dabei blickte Reiting mit einer ironischen Grimasse zu Beineberg hinüber. Das war so seine Art, einem anderen ganz öffentlich und ungeniert ein Bein zu stellen.

Aber Beineberg erwiderte nichts; er blieb in seiner nachdenklichen Stellung sitzen und schlug kaum die Augen auf.

»Na, möchtest du nicht mit deiner Sache herausrücken?! Er hat nämlich eine verrückte Idee mit Basini vor und will sie durchaus ausführen, ehe wir anderes unternehmen. Aber sie ist ganz amüsant.«

Beineberg blieb ernst; er sah Törleß mit einem nachdrücklichen Blicke an und sagte: »Erinnerst du dich, was wir damals hinter den Mänteln sprachen?«

»Ja.«

»Ich bin niemals mehr darauf zu sprechen gekommen, denn das bloße Reden hat ja doch keinen Zweck. Aber ich habe darüber nachgedacht -- du kannst mir glauben -- oft. Auch das, was Reiting dir eben gesagt hat, ist wahr. Ich habe dasselbe mit Basini getan wie er. Vielleicht noch einiges mehr. Deswegen, weil ich, wie ich schon damals sagte, des Glaubens war, daß die Sinnlichkeit vielleicht das richtige Tor sein könnte. Das war so ein Versuch. Ich wußte keinen anderen Weg zu dem, was ich suchte. Aber dieses Planlose hat keinen Sinn. Darüber habe ich nachgedacht -- nächtelang nachgedacht -- wie man etwas Systematisches an seine Stelle setzen könnte.

Jetzt glaube ich es gefunden zu haben und wir werden den Versuch machen. Jetzt wirst du auch sehen, wie sehr du damals im Unrecht warst. Alles ist unsicher, was von der Welt behauptet wird, alles geht anders zu. Das lernten wir damals gewissermaßen nur von der Kehrseite kennen, indem wir Punkte aussuchten, bei denen diese ganze natürliche Erklärung über die eigenen Füße stolpert, jetzt hoffe ich aber das Positive zeigen zu können -- das andere!«

Reiting verteilte die Teeschalen; dabei stieß er vergnügt Törleß an. »Gib gut acht. -- Das ist sehr fesch, was er sich ausgetiftelt hat.«

Beineberg aber drehte mit einer raschen Bewegung die Lampe aus. In dem Dunkel warf nur die Spiritusflamme des Kochers unruhige, bläuliche Lichter auf die drei Köpfe.

»Ich löschte die Lampe aus, Törleß, weil es sich so von solchen Dingen besser spricht. Und du, Reiting, kannst meinethalben schlafen, wenn du zu dumm bist, um Tieferes zu begreifen.«

Reiting lachte belustigt.

»Du erinnerst dich also noch an unser Gespräch. Du selbst hattest damals jene kleine Sonderbarkeit in der Mathematik heraus gefunden. Dieses Beispiel, daß unser Denken keinen gleichmäßig festen, sicheren Boden hat, sondern über Löcher hinweggeht. -- Es schließt die Augen, es hört für einen Moment auf zu sein und wird doch sicher auf die andere Seite hinübergetragen. Wir müßten eigentlich längst verzweifelt sein, denn unser Wissen ist auf allen Gebieten von solchen Abgründen durchzogen, nichts wie Bruchstücke, die in einem unergründlichen Ozean treiben.

Wir verzweifeln aber nicht, wir fühlen uns dennoch so sicher wie auf festem Boden. Wenn wir dieses sichere, gewisse Gefühl nicht hätten, würden wir uns aus Verzweiflung über unseren armen Verstand töten. Dieses Gefühl begleitet uns beständig, es hält uns zusammen, es nimmt unseren Verstand in jedem zweiten Augenblick schützend in den Arm wie ein kleines Kind. So wie wir uns dessen einmal bewußt geworden sind, können wir das Dasein einer Seele nicht mehr leugnen. So wie wir unser geistiges Leben zergliedern und das Unzureichende des Verstandes erkennen, fühlen wir es förmlich. Fühlen es -- verstehst du -- denn wenn dieses Gefühl nicht wäre, würden wir zusammenklappen wie leere Säcke.

Wir haben nur verlernt, auf dieses Gefühl zu achten, aber es ist eines der ältesten. Vor Tausenden von Jahren haben schon Völker, die tausende Meilen voneinander wohnten, darum gewußt. Wie man sich einmal damit befaßt, kann man diese Dinge gar nicht leugnen. Doch ich will dich nicht mit Worten überreden; ich werde dir nur das nötigste sagen, damit du nicht ganz unvorbereitet bist. Den Beweis werden die Tatsachen erbringen.

Nimm also an, die Seele existiere, dann ist es doch ganz selbstverständlich, daß wir kein heißeres Bestreben haben können, als den verloren gegangenen Kontakt mit ihr wieder herzustellen, mit ihr wieder vertraut zu werden, ihre Kräfte wieder besser ausnützen zu lernen, Teile der übersinnlichen Kräfte, die in ihrer Tiefe schlummern, für uns zu gewinnen.

Denn das alles ist möglich, es ist schon mehr als einmal gelungen, die Wunder, die Heiligen, die indischen Gottesschauer sind lauter Beglaubigungen für solche Geschehnisse.«

»Hör einmal,« warf Törleß ein, »du redest dich jetzt ein wenig in diesen Glauben hinein. Du hast dazu eigens die Lampe auslöschen müssen. Würdest du aber auch so sprechen, wenn wir jetzt unten zwischen den andern säßen, die Geographie, Geschichte lernen, Briefe nach Hause schreiben, wo die Lampen hell brennen und vielleicht der Präfekt um die Bänke geht? Kämen dir da nicht doch deine Worte etwas abenteuerlich vor, etwas anmaßend, als ob wir gar nicht zu denen gehörten, in einer anderen Welt lebten, achthundert Jahre vorher?«

»Nein, mein lieber Törleß, ich würde dasselbe behaupten. Übrigens ist es ein Fehler von dir, daß du immer nach den andern schielst; du bist zu wenig selbständig. Briefe nach Hause schreiben! Bei solchen Sachen denkst du an deine Eltern! Wer sagt dir, daß sie uns hier überhaupt nur zu folgen vermögen? Wir sind jung, eine Generation später, vielleicht sind uns Dinge vorbehalten, die sie nie in ihrem Leben geahnt haben. Ich wenigstens fühle es in mir.

Doch wozu lange reden; ich werde es euch ja beweisen.«

Nachdem sie einige Zeit geschwiegen hatten, sagte Törleß: »Wie willst du es denn eigentlich anpacken, deiner Seele habhaft zu werden?«

»Das will ich dir jetzt nicht auseinandersetzen, da ich es ohnedies vor Basini werde tun müssen.«

»Aber beiläufig kannst du es wenigstens sagen.«

»Nun ja. Die Geschichte lehrt, daß es hiezu nur einen Weg gibt: die Versenkung in sich selbst. Nur ist das eben das Schwierige. Die alten Heiligen zum Beispiel, zu der Zeit, wo die Seele sich noch in Wundern äußerte, konnten dieses Ziel durch inbrünstiges Gebet erreichen. Zu jener Zeit war eben die Seele von anderer Art, denn heute versagt dieser Weg. Heute wissen wir nicht, was wir tun sollen; die Seele hat sich verändert, und es liegen leider Zeiten dazwischen, wo man dem nicht die richtige Aufmerksamkeit gewidmet hat und der Zusammenhang unwiederbringlich verloren ging. Einen neuen Weg können wir nur durch sorgfältigste Überlegung finden. Hiemit habe ich mich während der letzten Zeit intensiv beschäftigt. Am nächsten dürfte man wohl mit Hilfe der Hypnose gelangen. Nur ist es noch nie versucht worden. Man macht da immer nur so alltägliche Kunststückchen, weswegen die Methoden noch nicht daraufhin erprobt sind, ob sie auch zu Höherem führen. Das letzte, was ich hierüber jetzt schon sage, ist, daß ich Basini nicht nach dieser landläufigen Art hypnotisieren werde, sondern nach meiner eigenen, die, wenn ich nicht irre, einer schon im Mittelalter angewandten ähnlich ist.«

»Ist dieser Beineberg nicht kostbar?« lachte Reiting. »Nur hätte er zur Zeit der Weltuntergangsprophezeiungen leben sollen, dann hätte er am Ende wirklich geglaubt, daß es seine Seelenmagie gewesen sei, deretwegen die Welt bestehen blieb.«

Als Törleß auf diesen Spott hin Beineberg ansah, bemerkte er, daß dessen Gesicht ganz starr wie in krampfhafter Aufmerksamkeit verzerrt war. Im nächsten Augenblick fühlte er sich von eiskalten Fingern gefaßt. Törleß erschrak über diese hochgradige Aufregung; dann löste sich die Spannung der ihn umklammernden Hand. »O es war nichts. Nur ein Gedanke. Mir war als sollte mir etwas Besonderes einfallen, ein Fingerzeig, wie es zu machen sei ...«

»Hörst du, du bist wirklich ein wenig angegriffen,« sagte Reiting in jovialer Weise, »sonst warst du doch ein eiserner Kerl und betriebst so etwas nur als Sport; jetzt aber bist du wie ein Frauenzimmer.«

»Ach was -- du hast eben keine Ahnung, was das heißt, solche Dinge in der Nähe zu wissen, jeden Tag schon vor ihrem Besitze zu stehen!«

»Streitet nicht,« sagte Törleß -- er war im Laufe der wenigen Wochen weit fester und energischer geworden -- »meinetwegen kann jeder machen, was er will; ich glaube an gar nichts. Weder deinen geriebenen Quälereien, Reiting, noch Beinebergs Hoffnungen. Und selbst weiß ich nichts zu sagen. Ich warte ab, was ihr herausbringt.«

»Wann also?«

Es wurde die zweitnächste Nacht bestimmt.

* * * * *

Törleß ließ sie widerstandslos an sich herankommen. In dieser neuentstandenen Situation war auch sein Gefühl für Basini völlig erkaltet. Das war sogar eine ganz glückliche Lösung, weil sie wenigstens mit einem Schlage von dem Schwanken zwischen Beschämung und Begierde befreite, aus dem Törleß durch eigene Kraft nicht herauskam. Jetzt hatte er wenigstens einen geraden, klaren Widerwillen gegen Basini, als ob die diesem zugedachten Demütigungen auch ihn beschmutzen könnten.

Im übrigen war er zerstreut und mochte an nichts ernst denken; am allerwenigsten an das, was ihn einst so beschäftigte.

Erst als er mit Reiting die Treppe zum Boden hinaufstieg, während Beineberg mit Basini schon vorausgegangen war, wurde die Erinnerung an das einst in ihm Gewesene lebhafter. Die selbstbewußten Worte wollten ihm nicht aus dem Kopfe, die er in dieser Angelegenheit Beineberg vorgeworfen hatte, und er sehnte sich diese Zuversicht wieder zu gewinnen. Zögernd hielt er auf jeder Stufe den Fuß zurück. Aber die alte Gewißheit kehrte nicht wieder. Er erinnerte sich zwar aller Gedanken, die er damals gehabt hatte, aber sie schienen ferne an ihm vorüberzugehen, als seien sie nur die Schattenbilder des einst Gedachten.

Schließlich, da er in sich nichts fand, richtete sich seine Neugierde wieder auf die Ereignisse, die von außen kommen sollten, und trieb ihn vorwärts.

Mit raschen Schritten eilte er hinter Reiting die übrigen Stufen hinauf.

Während sich die eiserne Tür knarrend hinter ihnen schloß, fühlte er seufzend, daß Beinebergs Vorhaben zwar auch nur ein lächerlicher Hokuspokus sei, aber doch wenigstens etwas Festes und Überlegtes, während in ihm alles in undurchsichtiger Verwirrung lag.

Auf einem querlaufenden Balken nahmen sie Platz -- in erwartungsvoller Spannung wie in einem Theater.

Beineberg war mit Basini schon da.

Die Situation schien seinem Vorhaben günstig. Das Dunkel, die abgestandene Luft, der faule, süßliche Geruch, der den Wasserbottichen entströmte, schufen ein Gefühl des Einschlafens, Nichtmehraufwachenkönnens, eine müde, lässige Trägheit.

Beineberg hieß Basini sich zu entkleiden. Die Nacktheit hatte jetzt in dem Dunkel einen bläulichen, faulen Schimmer und wirkte durchaus nicht erregend.

Plötzlich zog Beineberg den Revolver aus der Tasche und hielt ihn gegen Basini.

Selbst Reiting neigte sich da vor, um jeden Augenblick dazwischen springen zu können.

Aber Beineberg lächelte. Eigentümlich verzerrt; so als ob er es gar nicht wollte, sondern nur das Heraufdrängen irgendwelcher fanatischer Worte seine Lippen zur Seite geschoben hätte.

Basini war wie gelähmt in die Knie gesunken und starrte mit angstvoll aufgerissenen Augen die Waffe an.

»Steh auf«, sagte Beineberg, »wenn du alles genau befolgst, was ich dir sage, soll dir kein Leid geschehen, wie du mich aber durch den geringsten Widerspruch störst, schieße ich dich nieder. Merk dir das!

Ich werde dich allerdings auch so töten, aber du wirst wieder zum Leben zurückkommen. Das Sterben ist uns nicht so fremd, wie du meinst; wir sterben täglich -- im tiefen, traumlosen Schlafe.«

Wieder verzog das wirre Lächeln Beinebergs Mund.

»Knie dich jetzt da oben hin,« -- in halber Höhe lief ein breiter, wagrechter Balken, -- »so -- ganz aufrecht -- halte dich völlig gerade -- das Kreuz mußt du einziehen. Und jetzt schau fort da drauf; aber ohne zu blinzeln, die Augen mußt du so weit öffnen, als du nur kannst!«

Beineberg stellte eine kleine Spiritusflamme so vor ihn hin, daß er den Kopf ein wenig zurückbeugen mußte, um voll hineinzusehen.

Man konnte nicht viel wahrnehmen, aber nach einiger Zeit schien Basinis Körper zu beginnen, wie ein Pendel hin und her zu schwingen. Die bläulichen Reflexe bewegten sich auf seiner Haut auf und ab. Hie und da glaubte Törleß Basinis Gesicht mit einem ängstlich verzerrten Ausdrucke wahrzunehmen.

Nach einiger Zeit fragte Beineberg: »Bist du müde?«

Diese Frage war in der gewöhnlichen Weise der Hypnotiseure gestellt.

Dann begann er mit leiser, verschleierter Stimme zu erklären.

»Das Sterben ist nur eine Folge unserer Art zu leben. Wir leben von einem Gedanken zum andern, von einem Gefühl zum nächsten. Denn unsere Gedanken und Gefühle fließen nicht ruhig wie ein Strom, sondern sie 'fallen uns ein', fallen in uns hinein wie Steine. Wenn du dich genau beobachtest, fühlst du es, daß die Seele nicht etwas ist, das in allmähligen Übergängen seine Farben wechselt, sondern daß die Gedanken wie Ziffern aus einem schwarzen Loch daraus hervorspringen. Jetzt hast du einen Gedanken oder ein Gefühl und mit einem Male steht ein anderes da, wie aus dem Nichts gesprungen. Wenn du aufmerkst, kannst du sogar zwischen zwei Gedanken den Augenblick spüren, wo alles schwarz ist. Dieser Augenblick ist, -- einmal erfaßt, für uns geradezu der Tod.

Denn unser Leben ist nichts anderes als Marksteine setzen und von einem zum anderen hüpfen, täglich über tausend Sterbesekunden hinweg. Wir leben nur gewissermaßen in den Ruhepunkten. Deswegen haben wir auch eine so lächerliche Furcht vor dem unwiderruflichen Sterben, denn es ist das schlechthin Marksteinlose, der unermeßliche Abgrund, in den wir hineinfallen. Für diese Art zu leben ist es wirklich die völlige Verneinung.

Aber auch nur unter der Perspektive dieses Lebens, nur für den, der nicht anders gelernt hat sich zu fühlen, als von Augenblick zu Augenblick.

Ich nenne dies das hüpfende Übel, und das Geheimnis besteht darin es zu überwinden. Man muß das Gefühl seines Lebens als eines ruhig Gleitenden in sich erwecken. In dem Momente, wo dies gelingt, ist man dem Tode ebenso nah als dem Leben. Man lebt nicht mehr -- nach unseren irdischen Begriffen --, aber man kann auch nicht mehr sterben, denn mit dem Leben hat man auch den Tod aufgehoben. Es ist der Augenblick der Unsterblichkeit, der Augenblick, wo die Seele aus unserem engen Gehirn in die wunderbaren Gärten ihres Lebens tritt.

Folge mir also jetzt genau.

Schläfere alle Gedanken ein, starre in diese kleine Flamme; ... denke nicht von einem zum andern ... Konzentriere alle Aufmerksamkeit nach innen ... Starre die Flamme an ... dein Denken wird wie eine Maschine, die immer langsamer geht ... immer ... langsamer ... geht ... Starre nach innen ... so lange, bis du den Punkt findest, wo du dich fühlst, ohne einen Gedanken oder eine Empfindung zu fühlen ...

Dein Schweigen wird mir die Antwort sein. Wende den Blick nicht von innen weg ...« Minuten verstrichen ...

»Fühlst du den Punkt ...?«

Keine Antwort.

»Höre, Basini, ist es dir gelungen?«

Schweigen.

Beineberg stand auf, und sein hagerer Schatten richtete sich neben dem Balken in die Höhe. Oben schwang Basinis Körper, von der Dunkelheit trunken, merkbar hin und her.

»Dreh dich zur Seite«, befahl Beineberg. »Was jetzt gehorcht, ist nur mehr das Gehirn,« murmelte er, »das mechanisch noch eine Weile funktioniert, bis die letzten Spuren verzehrt sind, die ihm die Seele aufdrückte. Sie selbst ist irgendwo -- in ihrem nächsten Dasein. Sie trägt nicht mehr die Fesseln der Naturgesetze ...,« er wandte sich jetzt an Törleß, »sie ist nicht mehr zur Strafe verurteilt, einen Körper schwer zu machen, zusammenzuhalten. Neige dich vor, Basini -- so -- ganz allmählich ... immer weiter mit dem Körper hinaus ... Sowie die letzte Spur im Gehirn erloschen sein wird, werden die Muskeln nachlassen und der leere Körper in sich zusammenbrechen. Oder er wird schweben bleiben; ich weiß es nicht; die Seele hat eigenmächtig den Körper verlassen, es ist nicht der gewöhnliche Tod, vielleicht bleibt der Körper in der Luft schweben, weil nichts, keine Kraft des Lebens noch des Todes mehr, sich seiner annimmt ... Neige dich vor ... mehr noch.«

* * * * *

In diesem Augenblick polterte Basinis Körper, der aus Angst allen Befehlen gefolgt war, schwer aufschlagend Beineberg zu Füßen.

Vor Schmerz schrie Basini auf. Reiting begann laut zu lachen. Beineberg aber, der einen Schritt zurückgewichen war, stieß einen gurgelnden Wutschrei aus, als er den Betrug erfaßt hatte. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er seinen Ledergurt vom Leibe, faßte Basini bei den Haaren und peitschte wie rasend auf ihn ein. Die ganze ungeheure Spannung, unter der er gestanden war, strömte in diesen wütenden Schlägen aus. Und Basini heulte unter ihnen vor Schmerz, daß es wie die Klage eines Hundes in allen Winkeln zitterte.

* * * * *

Törleß war während des ganzen vorangegangenen Auftrittes ruhig geblieben. Er hatte im stillen gehofft, daß sich vielleicht doch etwas ereignen werde, das ihn wieder mitten in seinen verlorenen Empfindungskreis versetzen würde. Es war eine törichte Hoffnung, dessen blieb er sich stets bewußt, aber sie hatte ihn doch festgehalten. Nun schien ihm jedoch, daß alles vorbei sei. Die Szene widerte ihn an. Ganz gedankenlos; stummer, toter Widerwille.

Er erhob sich leise und ging ohne ein Wort zu sagen fort. Ganz mechanisch.

Beineberg schlug sich noch immer an Basini müde.

* * * * *

Als Törleß im Bette lag, fühlte er: ein Abschluß. Etwas ist vorbei.

Während der nächsten Tage oblag er ruhig seinen Arbeiten in der Schule; er kümmerte sich um nichts; Reiting und Beineberg mochten wohl einstweilen ihr Programm Punkt für Punkt in Szene setzen, Törleß ging ihnen aus dem Wege.

Da trat am vierten Tage, als gerade niemand zugegen war, Basini auf ihn zu. Er sah elend aus, sein Gesicht war bleich und abgemagert, in seinen Augen flackerte das Fieber einer beständigen Angst. Mit scheuen Seitenblicken, in hastigen Worten stieß er hervor: »Du mußt mir helfen! Nur du kannst es tun! Ich halte es nicht mehr länger aus, wie sie mich quälen. Alles Frühere habe ich ertragen, .. jetzt aber werden sie mich noch totschlagen!«

Törleß war es unangenehm, hierauf eine Antwort zu geben. Endlich sagte er: »Ich kann dir nicht helfen; du selbst bist an allem schuld, was mit dir geschieht.«

»Aber du warst doch vor kurzem noch so lieb zu mir.«

»Niemals.«

»Aber ...«

»Schweig davon. Das war nicht ich ... Ein Traum ... Eine Laune ... Es ist mir sogar recht, daß deine neue Schande dich von mir fortgerissen hat.... Es ist gut so für mich...«

Basini ließ den Kopf sinken. Er fühlte, daß ein Meer von grauer, nüchterner Enttäuschung sich zwischen ihn und Törleß geschoben hatte... Törleß war kalt, ein anderer.

Da warf er sich vor ihm in die Knie, schlug mit dem Kopf auf den Boden und schrie: »Hilf mir! Hilf mir!.. Um Gottes willen hilf mir!«

Törleß zauderte einen Augenblick. In ihm war weder der Wunsch, Basini zu helfen, noch genügend Empörung, um ihn von sich zu stoßen. So folgte er dem erstbesten Gedanken. »Komm heute Nacht auf den Boden, ich will noch einmal mit dir darüber sprechen.« Im nächsten Augenblick bereute er aber schon.

»Wozu nochmals daran rühren?« fiel ihm ein und er sagte überlegend: »Doch sie würden dich ja sehen; es geht nicht.«

»O nein, sie blieben die letzte Nacht bis zum Morgen mit mir auf -- sie werden heute schlafen.«

»Also meinetwegen. Aber erwarte nicht, daß ich dir helfen werde.«

* * * * *

Törleß hatte Basini die Zusammenkunft entgegen seiner eigentlichen Überzeugung bestimmt. Denn die war, daß alles innerlich vorbei sei und nichts mehr zu holen. Nur mehr eine Art Pedanterie, eine von vorneherein hoffnungslose, eigensinnige Gewissenhaftigkeit hatte ihm eingeblasen, nochmals an den Ereignissen herumzutasten.

Er hatte das Bedürfnis, es kurz zu machen.

Basini wußte nicht, wie er sich benehmen sollte. Er war so verprügelt, daß er sich kaum zu rühren getraute. Alles Persönliche schien aus ihm gewichen zu sein; nur in den Augen hatte sich ein Rest davon zusammengedrängt und schien sich angstvoll, flehend an Törleß zu klammern.

Er wartete, was dieser tun werde.

Endlich brach Törleß das Schweigen. Er sprach rasch, gelangweilt, so wie wenn man eine längst abgetane Sache der Form halber nochmals erledigen muß.

»Ich werde dir nicht helfen. Ich hatte allerdings eine Zeitlang ein Interesse an dir, aber das ist jetzt vorbei. Du bist wirklich nichts als ein schlechter, feiger Kerl. Gewiß nichts anderes. Was soll mich da noch an dich halten! Früher glaubte ich immer, daß ich für dich ein Wort, eine Empfindung finden müßte, die dich anders bezeichnete; aber es gibt wirklich nichts Bezeichnenderes, als zu sagen, daß du schlecht und feig bist. Das ist so einfach, so nichtssagend und doch alles, was man vermag. Was ich früher anderes von dir wollte, habe ich vergessen, seit du dich mit deinen geilen Bitten dazwischen gedrängt hast. Ich wollte einen Punkt finden, fern von dir, um dich von dort anzusehen ... das war mein Interesse an dir; du selbst hast es zerstört ... doch genug; ich bin dir ja keine Erklärung schuldig. Nur eines noch: Wie ist dir jetzt zumute?«

»Wie soll mir zumute sein? Ich kann es nicht länger ertragen.«

»Sie machen jetzt wohl sehr Arges mit dir, und es schmerzt dich?«

»Ja.«

»Aber so ganz einfach ein Schmerz? Du fühlst, daß du leidest, und du willst dem entgehen? Ganz einfach und ohne Komplikation?«

Basini fand keine Antwort.

»Nun ja, ich frage nur so nebenher, nicht genau genug. Aber das ist ja gleichgültig. Ich habe nichts mehr mit dir zu tun; ich sagte es schon. Ich vermag in deiner Gesellschaft nicht das geringste mehr zu fühlen. Mach, was du willst ...«

Törleß wollte gehen.

Da riß sich Basini die Kleider vom Leibe und drängte sich an Törleß heran. Sein Körper war von Striemen überzogen -- widerwärtig. Seine Bewegung elend wie die eines ungeschickten Freudenmädchens. Ekelnd wandte sich Törleß ab.

Er hatte aber kaum die ersten Schritte in das Dunkel hineingetan, als er auf Reiting stieß.

»Was ist das, du hast geheime Zusammenkünfte mit Basini?«

Törleß folgte dem Blicke Reitings und sah auf Basini zurück. Gerade an der Stelle, wo dieser stand, fiel von einer Dachlucke her ein breiter Balken Mondlicht ein. Die bläulich überhauchte Haut mit den wunden Malen sah darin aus wie die eines Aussätzigen. Unwillkürlich suchte sich Törleß für diesen Anblick zu entschuldigen.

»Er hat mich darum gebeten.«

»Was will er?«

»Ich soll ihn beschützen.«

»Na, da ist er ja an den Richtigen gekommen.«

»Vielleicht würde ich es doch tun, aber mir ist die ganze Geschichte langweilig.«

Reiting sah unangenehm betroffen auf, dann fuhr er zornig Basini an.

»Wir werden dich schon lehren, Heimlichkeiten gegen uns anzustiften! Dein Schutzengel Törleß wird selbst zusehen und sein Vergnügen daran haben.«

Törleß hatte sich bereits abgewandt gehabt, aber diese offenbar an seine Adresse gerichtete Bosheit hielt ihn, ohne daß er überlegte, zurück.

»Höre, Reiting, das werde ich nicht tun. Ich will nichts mehr damit zu schaffen haben; mir ist das Ganze zuwider.«

»Auf einmal?«

»Ja, auf einmal. Denn früher suchte ich hinter all dem etwas ...« Warum nur drängte sich ihm dies jetzt wieder beständig auf ...

»Aha, das zweite Gesicht.«

»Jawohl; jetzt aber sehe ich nur, daß du und Beineberg abgeschmackt roh seid.«

»O, du sollst sehen, wie Basini Kot frißt«, witzelte Reiting.

»Das interessiert mich jetzt nicht mehr.«

»Hat dich aber doch ...!«

»Ich sagte dir schon, nur solange mir Basinis Zustand dabei ein Rätsel war.«

»Und jetzt?«

»Ich weiß jetzt nichts von Rätseln. Alles geschieht: Das ist die ganze Weisheit.« Törleß wunderte sich, daß ihm auf einmal wieder Gleichnisse einfielen, die sich jenem verloren gegangenen Empfindungskreise näherten. Als Reiting spöttisch erwiderte, »nun diese Weisheit braucht man wohl nicht erst weit her zu holen,« schoß daher in ihm ein zorniges Gefühl der Überlegenheit empor und legte ihm harte Worte in den Mund. Für einen Augenblick verachtete er Reiting so sehr, daß er ihn am liebsten mit Füßen getreten hätte.

»Spotten magst du; was aber ihr jetzt treibt, ist nichts als eine gedankenlose, öde, ekelhafte Quälerei!«

Reiting warf einen Seitenblick auf den aufhorchenden Basini.

»Halte dich zurück, Törleß!«

»Ekelhaft, schmutzig -- du hast es gehört!«

Jetzt brauste auch Reiting auf.

»Ich verbiete dir, uns hier vor Basini zu beschimpfen!«

»Ach was. Du hast nichts zu verbieten! Die Zeit ist vorbei. Ich hatte einmal vor dir und Beineberg Respekt, jetzt sehe ich aber, was ihr gegen mich seid. Stumpfsinnige, widerwärtige, tierische Narren!«

»Halt deinen Mund, oder ...!!« Reiting schien auf Törleß zuspringen zu wollen. Törleß wich einen Schritt zurück und schrie ihn an: »Glaubst du, ich werde mich mit dir prügeln?! Dafür steht mir Basini nicht. Mach mit ihm, was du willst, aber laß mich jetzt vorbei!!«

Reiting schien sich eines besseren als seines Dreinschlagens besonnen zu haben und trat zur Seite. Nicht einmal Basini rührte er an. Aber Törleß, der ihn kannte, wußte nun, daß hinter seinem Rücken eine bösartige Gefahr drohe.

* * * * *

Schon am zweitnächsten Nachmittage traten Reiting und Beineberg auf Törleß zu.

Dieser bemerkte den bösen Ausdruck ihrer Augen. Offenbar trug Beineberg den lächerlichen Zusammenbruch seiner Prophezeiungen nun ihm nach und Reiting mochte ihn überdies bearbeitet haben.

»Wie ich hörte, hast du uns beschimpft. Noch dazu vor Basini. Weswegen?«

Törleß gab keine Antwort.

»Du weißt, daß wir uns solches nicht bieten lassen. Weil aber du es bist, dessen launenhafte Einfälle wir ja gewöhnt sind und nicht hoch anschlagen, wollen wir die Sache ruhen lassen. Nur eines mußt du tun.« Trotz dieser freundlichen Worte war etwas böse Wartendes in Beinebergs Augen.

»Basini kommt heute Nacht in die Kammer; wir werden ihn dafür züchtigen, daß er dich aufhetzte. Wenn du uns weggehen siehst, komme nach.«

Aber Törleß sagte nein: »... Ihr könnt machen, was ihr wollt; mich müßt ihr dabei aus dem Spiele lassen.«

»Wir werden heute Nacht Basini noch genießen, morgen liefern wir ihn der Klasse aus, denn er beginnt sich aufzulehnen.«

»Macht, was ihr wollt.«

»Du wirst aber dabei sein.«

»Nein.«

»Gerade vor dir muß Basini sehen, daß ihm nichts gegen uns helfen kann. Gestern weigerte er sich schon unsere Befehle auszuführen; wir haben ihn halbtot geschlagen und er blieb dabei. Wir müssen wieder zu moralischen Mitteln greifen, ihn erst vor dir, dann vor der Klasse demütigen.«

»Ich werde aber nicht dabei sein!«

»Warum?«

»Nein.«

Beineberg schöpfte Atem; es sah aus, als wolle er Gift auf seinen Lippen sammeln, dann trat er ganz nahe an Törleß heran.

»Glaubst du wirklich, daß wir nicht wissen, warum? Denkst du, wir wissen nicht, wie weit du dich mit Basini eingelassen hast?«

»Nicht weiter als ihr.«

»So. Und da würde er gerade dich zu seinem Schutzpatron erwählt haben? Was? -- Gerade zu dir würde ihn das große Zutrauen erfaßt haben? Für so dumm wirst du uns doch nicht halten.«

Törleß wurde zornig. »Wißt, was ihr wollt, mich aber laßt jetzt mit euren dreckigen Geschichten in Ruhe.«

»Wirst du schon wieder grob?!«

»Ihr ekelt mich an! Eure Gemeinheit ist ohne Sinn! Das ist das Widerwärtige an euch.«

»So höre. Du solltest uns für so manches zur Dankbarkeit verpflichtet sein. Wenn du glaubst, dich trotzdem jetzt über uns erheben zu können, die wir deine Lehrmeister waren, so irrst du dich arg. Kommst du heute abend mit oder nicht??«

»Nein!«

»Mein lieber Törleß, wenn du dich gegen uns auflehnst und nicht kommst, so wird es dir gerade so gehen wie Basini. Du weißt, in welcher Situation dich Reiting getroffen hat. Das genügt. Ob wir mehr oder weniger getan haben, wird dir wenig nützen. Wir werden alles gegen dich wenden. Du bist in solchen Dingen lange zu dumm und unentschlossen, um dagegen aufkommen zu können.

Wenn du dich also nicht rechtzeitig besinnst, stellen wir dich der Klasse als den Mitschuldigen Basinis hin. Dann mag er dich beschützen. Verstanden?«

Wie ein Unwetter war diese Flut von Drohungen, bald von Beineberg, bald von Reiting, bald von beiden zugleich hervorgestoßen, über Törleß weggerauscht. Als die beiden fort waren, rieb er sich die Augen, als hätte er geträumt. Aber Reiting kannte er; der war im Zorne der größten Niedertracht fähig und Törleß' Schimpf und Auflehnung schienen ihn tief verletzt zu haben. Und Beineberg? Er hatte ausgesehen, als zitterte er unter einem jahrelang verhaltenen Hasse ... und das doch nur, weil er sich vor Törleß böse blamiert hatte.

Doch je tragischer sich die Ereignisse über seinem Kopfe zusammenzogen, desto gleichgültiger und mechanischer schienen sie Törleß. Er hatte vor den Drohungen Angst. Das ja; aber weiter nichts. Die Gefahr hatte ihn mitten in das Wirbeln der Wirklichkeit gezogen.

Er legte sich zu Bett. Er sah Beineberg und Reiting weggehen und den müden Schritt Basinis vorbeischlürfen. Aber er ging nicht mit.

Doch marterten ihn schreckliche Vorstellungen. Zum ersten Male dachte er wieder mit einiger Innigkeit an seine Eltern. Er fühlte, daß er diesen ruhigen, gesicherten Boden brauche, um das zu festigen und auszureifen, was ihm bisher nur Verlegenheiten gebracht hatte.

Was aber war das? Er hatte keine Zeit darüber nachzudenken und über die Ereignisse zu grübeln. Nur eine leidenschaftliche Sehnsucht fühlte er, aus diesen wirren, trudelnden Verhältnissen herauszukommen, eine Sehnsucht nach Stille, nach Büchern war in ihm. Als sei seine Seele schwarze Erde, unter der sich die Keime schon regen, ohne daß man noch weiß, wie sie herausbrechen werden. Das Bild eines Gärtners drängte sich ihm auf, der jeden Morgen seine Beete begießt, mit gleichmäßiger, zuwartender Freundlichkeit. Dieses Bild ließ ihn nicht los, seine zuwartende Sicherheit schien alle Sehnsucht auf sich zu sammeln. Nur so darf es kommen! Nur so! fühlte Törleß und über alle Angst und alle Bedenken sprang die Überzeugung hinweg, daß er alles daran setzen müsse, diesen Seelenzustand zu erreichen.

Nur über das, was zunächst zu geschehen habe, war er sich noch nicht klar. Denn vor allen Dingen wurde durch diese Sehnsucht nach friedlicher Vertiefung sein Abscheu vor dem bevorstehenden Intrigenspiel nur noch verstärkt. Auch hatte er wirkliche Angst vor der ihm auflauernden Rache. Sollten die beiden wirklich versuchen, ihn vor der Klasse anzuschwärzen, so würde ihn die Gegenarbeit einen ungeheuren Aufwand von Energie kosten, um den es ihm gerade jetzt leid tat. Und dann, selbst wenn er nur an diesen Wirrwarr, an dieses jedes höheren Wertes bare Sichstoßen mit fremden Absichten und Willenskräften dachte, überlief ihn ein Ekel.

Da fiel ihm ein Brief ein, den er lange vorher von zu Hause erhalten hatte. Es war die Antwort auf einen von ihm an die Eltern gerichteten, in dem er damals, so gut es gehen mochte, von seinen sonderbaren Seelenzuständen berichtet hatte, bevor noch die Episode mit der Sinnlichkeit eingetreten war. Es war wieder eine recht hausbackene Antwort, voll rechtschaffener, langweiliger Ethik gewesen und riet ihm, Basini zu bewegen, daß er sich selbst stelle, damit dieser unwürdige, gefährliche Zustand seiner Abhängigkeit ein Ende finde.

Diesen Brief hatte Törleß später wieder gelesen, als Basini nackt neben ihm auf den weichen Decken der Kammer lag. Und es hatte ihm eine besondere Lust bereitet, diese schwerfälligen, einfachen, nüchternen Worte auf der Zunge zergehen zu lassen, während er sich dachte, daß seine Eltern wohl durch das allzu Taghelle ihres Daseins blind gegen das Dunkel seien, in dem seine Seele augenblicks wie eine geschmeidige Raubkatze kauerte.

Heute aber langte er ganz anders nach dieser Stelle, als sie ihm wieder einfiel.

Eine angenehme Beruhigung breitete sich über ihn, als hätte er die Berührung einer festen, gütigen Hand gefühlt. Die Entscheidung war in diesem Augenblick gefallen. Ein Gedanke war in ihm aufgeblitzt, und er hatte ihn bedenkenlos ergriffen, gleichsam unter dem Patronate seiner Eltern.

Er blieb wach liegen, bis die drei zurückkamen. Dann wartete er, bis er an den gleichmäßigen Atemzügen hörte, daß sie schliefen. Nun riß er hastig ein Blatt aus seinem Notizbuche und schrieb bei dem ungewissen Lichte der Nachtlampe in großen, schwankenden Buchstaben darauf:

'Sie werden dich morgen der Klasse ausliefern, und es steht dir Fürchterliches bevor. Der einzige Ausweg ist, daß du dich selbst dem Direktor anzeigst. Zu Ohren würde es ihm ja auch ohnedies kommen, nur daß man dich vorher noch halbtot prügeln würde.

Schiebe alles auf R. und B. und schweige von mir.

Du siehst, daß ich dich retten will.'

Diesen Zettel steckte er dem Schlafenden in die Hand.

Dann schlief auch er, von der Aufregung erschöpft, ein.

* * * * *

Den nächsten Tag schienen Beineberg und Reiting noch als Frist Törleß gewähren zu wollen.

Mit Basini wurde es jedoch Ernst.

Törleß sah, wie Beineberg und Reiting zu einzelnen hingingen, und wie sich dort um sie herum Gruppen bildeten, in denen eifrig geflüstert wurde.

Dabei wußte er nicht, ob Basini seinen Zettel gefunden habe, denn ihn zu sprechen fand sich keine Gelegenheit, da sich Törleß beobachtet fühlte.

Anfangs hatte er überhaupt Angst, daß es sich auch schon um ihn handle. Aber er war nunmehr im Angesichte der Gefahr von ihrer Widerwärtigkeit so gelähmt, daß er alles an sich hätte herankommen lassen.

Später erst mischte er sich zaghaft, gefaßt, daß sich augenblicks alle gegen ihn kehren würden, unter eine der Gruppen.

Aber man bemerkte ihn gar nicht. Es galt vorläufig erst Basini.

Die Aufregung wuchs. Törleß konnte es beobachten. Reiting und Beineberg mochten wohl noch Lügen hinzugetan haben ...

Erst lächelte man, dann wurden einige ernst, und böse Blicke glitten an Basini vorbei, endlich brütete es wie ein dunkles, heißes, von finsteren Gelüsten schwangeres Schweigen über der Klasse.

Zufällig war ein freier Nachmittag.

Alle versammelten sich hinten bei den Kästen; dann wurde Basini vorgerufen.

Beineberg und Reiting standen wie zwei Bändiger zu seinen Seiten.

Das probate Mittel des Entkleidens machte, nachdem man die Türen verschlossen und Posten ausgestellt hatte, allgemeinen Spaß.

Reiting hielt ein Päckchen Briefe von Basinis Mutter an diesen in seiner Hand und begann vorzulesen.

»Mein gutes Kind ...«

Allgemeines Gebrülle.

»Du weißt, daß ich von dem wenigen Gelde, über das ich als Witwe verfüge ...«

Unflätiges Lachen, zügellose Scherze flattern aus der Masse auf. Reiting will weiter lesen. Plötzlich stößt einer Basini. Ein anderer, auf den er dabei fällt, stößt ihn halb im Scherze, halb in Entrüstung zurück. Ein dritter gibt ihn weiter. Und plötzlich fliegt Basini, nackt, mit von der Angst aufgerissenem Munde, wie ein wirbelnder Ball, unter Lachen, Jubelrufen, Zugreifen aller im Saale umher -- von einer Seite zur andern -- stößt sich Wunden an den scharfen Ecken der Bänke, fällt in die Knie, die er sich blutig reißt -- und stürzt endlich blutig bestaubt, mit tierischen, verglasten Augen zusammen, während augenblicklich Schweigen eintritt und alles vordrängt, um ihn am Boden liegen zu sehen.

Törleß schauderte. Er hatte die Macht der fürchterlichen Drohung vor sich gesehen.

Und immer noch wußte er nicht, was Basini tun werde.

In der nächsten Nacht sollte Basini an ein Bett gebunden werden und man hatte beschlossen, ihn mit Florettklingen durchzupeitschen.

* * * * *

Aber zur allgemeinen Verwunderung erschien schon am frühen Morgen der Direktor in der Klasse. In seiner Begleitung der Klassenvorstand und zwei Lehrer. Basini wurde von der Klasse entfernt und in ein eigenes Zimmer gebracht.

Der Direktor aber hielt eine zornige Ansprache wegen der zutage getretenen Roheiten und ordnete eine strenge Untersuchung an.

Basini hatte sich selbst gestellt.

Jemand mußte ihn von dem ihm Bevorstehenden verständigt haben.

* * * * *

Gegen Törleß schöpfte niemand Verdacht. Er saß still und in sich gekehrt, als ginge ihn das Ganze gar nichts an.

Nicht einmal Reiting und Beineberg suchten in ihm den Verräter. Ihre Drohungen gegen ihn hatten sie selbst nicht ernst genommen; sie hatten sie um ihn einzuschüchtern, um ihre Überlegenheit fühlbar zu machen, vielleicht auch aus Ärger hervorgestoßen; jetzt, wo ihr Zorn vorüber war, dachten sie kaum mehr daran. Schon die Verbindlichkeiten gegen seine Eltern würden sie von einem Vorgehen gegen Törleß zurückgehalten haben. Das war ihnen so selbstverständlich, daß sie sich auch von seiner Seite nicht des geringsten versahen.

Törleß empfand über seinen Schritt keine Reue. Das Heimliche, Feige, das diesem anhaftete, kam gegenüber dem Gefühle einer gänzlichen Befreiung nicht zur Geltung. Nach all den Aufregungen war es in ihm wundersam klar und weit geworden.

Er beteiligte sich nicht an den erregten Gesprächen über das zu Erwartende, die allenthalben gepflogen wurden; er lebte den ganzen Tag ruhig vor sich hin.

Als es Abend wurde und die Lampen brannten, setzte er sich auf seinen Platz und das Heft, in dem jene flüchtigen Aufzeichnungen eingetragen waren, hatte er vor sich hingelegt.

Aber er las lange nicht darin. Er strich mit der Hand über die Seiten und ihm war, daß ein feiner Duft aus ihnen aufsteige, wie Lavendel aus alten Briefen. Es war die mit Wehmut gemischte Zärtlichkeit, die wir einer abgeschlossenen Vergangenheit entgegenbringen, wenn wir in dem zarten, blassen Schatten, der mit Totenblumen in den Händen aus ihr aufsteigt, vergessene Ähnlichkeiten mit uns wiederentdecken.

Und dieser wehmütige feine Schatten, dieser bleiche Duft schien sich in einem breiten, vollen, warmen Strom zu verlieren -- dem Leben, das nun offen vor Törleß lag.

Eine Entwicklung war abgeschlossen, die Seele hatte einen neuen Jahresring angesetzt, wie ein junger Baum, -- dieses noch wortlose, überwältigende Gefühl entschuldigte alles, was geschehen war.

Nun begann Törleß seine Erinnerungen durchzublättern. Die Sätze, in denen er hilflos das Geschehene -- dieses vielfältige Staunen und Betroffensein vom Leben -- konstatiert hatte, wurden wieder lebendig, schienen sich zu regen und gewannen Zusammenhang. Wie ein heller Weg lagen sie vor ihm, in den sich die Spuren seiner tastenden Schritte geprägt hatten. Aber noch schien ihnen etwas zu fehlen; kein neuer Gedanke, o nein; aber sie packten Törleß noch nicht mit voller Lebendigkeit.

Er fühlte sich unsicher. Und nun kam ihm die Angst, morgen vor seinen Lehrern zu stehen und sich rechtfertigen zu müssen. Womit?! Wie sollte er ihnen das auseinandersetzen? Diesen dunklen, geheimnisvollen Weg, den er gegangen. Wenn sie ihn fragen würden: warum hast du Basini mißhandelt? -- so könnte er ihnen doch nicht antworten: weil mich dabei ein Vorgang in meinem Gehirn interessierte, ein Etwas, von dem ich heute trotz allem noch wenig weiß, und vor dem alles, was ich darüber denke, mir belanglos erscheint.

Dieser kleine Schritt, der ihn noch von dem Endpunkte des geistigen Prozesses trennte, den er durchzumachen hatte, schreckte ihn wie ein ungeheurer Abgrund.

Und ehe es noch Nacht wurde, befand sich Törleß in einer fieberhaften, ängstlichen Aufregung.

* * * * *

Am nächsten Tage, als man die Zöglinge einzeln zum Verhöre rief, war Törleß verschwunden.

Man hatte ihn zuletzt am Abend, vor einem Hefte sitzend, gesehen, anscheinend lesend.

Man suchte im ganzen Institute, Beineberg sah heimlich in der Kammer nach, Törleß war nicht zu finden.

Da wurde klar, daß er aus dem Institute geflohen war, und man verständigte nach allen Seiten die Behörden, ihn mit Schonung einzubringen.

Die Untersuchung nahm mittlerweile ihren Anfang.

Reiting und Beineberg, welche glaubten, daß Törleß aus Angst vor ihrer Drohung, ihn hineinzulegen, geflohen sei, fühlten sich verpflichtet, nun jeden Verdacht von ihm abzulenken und traten kräftig für ihn ein.

Sie wälzten alle Schuld auf Basini und die ganze Klasse bezeugte es Mann für Mann, daß Basini ein diebischer, nichtswürdiger Kerl sei, der den wohlmeinendsten Versuchen, ihn zu bessern, nur mit neuen Rückfällen antworte. Reiting beteuerte, daß sie ja einsähen, gefehlt zu haben, es aber nur deswegen getan hätten, weil ihnen ihr Mitleid sagte, man solle einen Kameraden nicht eher der Strafe ausliefern, als man alle Mittel gütlicher Belehrung erschöpft habe, und wieder schwur die ganze Klasse, daß Basinis Mißhandlung nur ein Überschäumen war, weil Basini den ihn aus den edelsten Empfindungen Schonenden mit größtem, gemeinstem Hohne begegnet war.

Kurz es war eine wohlverabredete Komödie, von Reiting glänzend inszeniert, und alle ethischen Töne wurden zur Entschuldigung angeschlagen, welche in den Ohren der Erzieher Wert haben.

Basini schwieg stumpfsinnig zu allem. Vom vorgestrigen Tag her lag noch ein tödlicher Schreck auf ihm und die Einsamkeit seiner Zimmerhaft, der ruhige, geschäftsmäßige Gang der Untersuchung waren für ihn schon eine Erlösung. Er wünschte sich nichts als ein rasches Ende. Überdies hatten Reiting und Beineberg nicht verabsäumt, ihn mit der fürchterlichsten Rache zu bedrohen, falls er gegen sie aussage.

Da wurde Törleß eingebracht. Todmüde und hungrig hatte man ihn in der nächsten Stadt aufgegriffen.

Seine Flucht schien nun das einzig Rätselhafte in der ganzen Angelegenheit zu sein. Aber die Situation war ihm günstig. Beineberg und Reiting hatten gut vorgearbeitet, von der Nervosität gesprochen, die er in der letzten Zeit an den Tag gelegt haben sollte, von seiner moralischen Feinfühligkeit, die es sich schon zum Verbrechen anrechne, daß er, der von Anfang an um alles wußte, nicht gleich die Sache zur Anzeige gebracht habe und auf diese Weise die Katastrophe mit verschuldete.

Törleß wurde also schon mit einem gewissen gerührten Wohlwollen empfangen und die Kameraden bereiteten ihn rechtzeitig darauf vor.

Dennoch war er fürchterlich aufgeregt und die Angst, sich nicht verständlich machen zu können, erschöpfte ihn völlig ....

Die Untersuchung wurde aus Diskretion, da man doch etwaige Enthüllungen befürchtete, in der Privatwohnung des Direktors geführt. Zugegen waren außer diesem noch der Klassenvorstand, der Religionslehrer und der Mathematikprofessor, welchem es als dem Jüngsten des Lehrerkollegiums zugefallen war, die protokollarischen Notizen zu führen.

Um das Motiv seiner Flucht befragt, schwieg Törleß.

Allseitiges, verständnisvolles Kopfnicken.

»Nun gut,« sagte der Direktor, »wir sind hierüber unterrichtet. Aber sagen Sie uns, was Sie bewog, das Vergehen des Basini zu verheimlichen.«

Törleß hätte nun lügen können. Aber seine Scheu war gewichen. Es reizte ihn förmlich, von sich zu sprechen und seine Gedanken an diesen Köpfen zu versuchen.

»Ich weiß es nicht genau, Herr Direktor. Als ich das erstemal davon hörte, schien es mir etwas ganz Ungeheuerliches zu sein ... etwas gar nicht Vorstellbares ...«

Der Religionslehrer nickte Törleß befriedigt und aufmunternd zu.

»Ich ... ich dachte an Basinis Seele ...«

Der Religionslehrer strahlte über das ganze Gesicht, der Mathematiker putzte seinen Klemmer, rückte ihn zurecht, kniff die Augen zusammen ...

»Ich konnte mir den Augenblick nicht vorstellen, in dem eine solche Demütigung über Basini hereinbrach, und deswegen trieb es mich immer wieder in dessen Nähe ...«

»Nun ja -- Sie wollen wohl damit sagen, daß Sie einen natürlichen Abscheu vor dem Fehltritte Ihres Kameraden hatten und daß der Anblick des Lasters Sie gewissermaßen bannte, so wie man es von dem Blick der Schlangen ihren Opfern gegenüber behauptet.«

Der Klassenvorstand und der Mathematiker beeilten sich, ihre Zustimmung zu dem Gleichnis durch lebhafte Gesten zu erkennen zu geben.

Aber Törleß sagte: »Nein, es war nicht eigentlich ein Abscheu. Es war so: einmal sagte ich mir, er habe gefehlt und man müsse ihn denen überantworten, die ihn zu bestrafen haben ...«

»So hätten Sie auch handeln sollen.«

»... Dann aber erschien er mir wieder so sonderbar, daß ich gar nicht ans Strafen dachte, mich von einer ganz anderen Seite aus ihm gegenüber befand; es gab jedesmal in mir einen Sprung, wenn ich so an ihn dachte ...«

»Sie müssen sich deutlicher ausdrücken, mein lieber Törleß.«

»Das kann man nicht anders sagen, Herr Direktor.«

»Doch, doch. Sie sind aufgeregt; wir sehen es ja; verwirrt; -- was Sie eben sagten, war sehr dunkel.«

»Nun ja, ich fühle mich verwirrt; ich hatte einmal schon viel bessere Worte dafür. Aber es kommt doch immer auf dasselbe hinaus, daß etwas Wunderliches in mir war ...«

»Gut -- aber das ist doch wohl selbstverständlich bei dieser ganzen Angelegenheit.«

Törleß überlegte einen Augenblick.

»Vielleicht kann man es so sagen: Es gibt gewisse Sachen, die bestimmt sind, gewissermaßen in doppelter Form in unser Leben einzugreifen. Ich fand als solche Personen, Ereignisse, dunkle, verstaubte Winkel, eine hohe, kalte, schweigende, plötzlich lebendig werdende Mauer ...«

»Aber um Himmelswillen, Törleß, wohin verirren Sie sich?«

Aber Törleß bereitete es nun einmal Vergnügen, alles aus sich herauszureden.

»... imaginäre Zahlen ...«

Alle sahen bald einander, bald Törleß an. Der Mathematiker hüstelte:

»Ich muß da zu besserem Verständnis dieser dunklen Angaben hinzufügen, daß mich der Zögling Törleß einmal aufgesucht hat, um sich eine Erklärung gewisser Grundbegriffe der Mathematik -- so auch des Imaginären -- zu erbitten, die der ungeschulten Vernunft tatsächlich Schwierigkeiten bereiten können. Ich muß sogar gestehen, daß er hiebei unleugbaren Scharfsinn entwickelte, jedoch mit einer wahren Manie nur solche Dinge ausgesucht hatte, welche gewissermaßen eine Lücke in der Kausalität unseres Denkens -- für ihn wenigstens -- zu bedeuten schienen.

Erinnern Sie sich noch Törleß, was Sie damals sagten?«

»Ja. Ich sagte, daß es mir an diesen Stellen scheine, wir könnten mit unserem Denken allein nicht hinüberkommen, sondern bedürften einer anderen, innerlicheren Gewißheit, die uns gewissermaßen hinüberträgt. Daß wir mit dem Denken allein nicht auskommen, fühlte ich auch an Basini.«

Der Direktor wurde bei diesem philosophischen Ausbiegen der Untersuchung bereits ungeduldig, aber der Katechet war von Törleß' Antwort sehr befriedigt.

»Sie fühlen sich also«, fragte er, »von der Wissenschaft weg zu religiösen Gesichtspunkten gezogen? Offenbar war es wirklich auch Basini gegenüber ähnlich,« wandte er sich an die übrigen, »er scheint ein empfängliches Gemüt für das feinere, ich möchte sagen göttliche und über uns hinausgehende Wesen der Moral zu haben.«

Nun fühlte sich der Direktor doch verpflichtet darauf einzugehen.

»Hören Sie, Törleß, ist es so, wie Seine Hochwürden sagt? Haben Sie einen Hang hinter den Begebenheiten oder Dingen -- wie Sie sich ja ziemlich allgemein ausdrücken -- einen religiösen Hintergrund zu suchen?«

Er wäre selbst schon froh gewesen, wenn Törleß endlich bejaht hätte und ein sicherer Boden zu seiner Beurteilung gegeben gewesen wäre; aber Törleß sagte: »Nein, auch das war es nicht.«

»Nun, dann sagen Sie uns doch endlich klipp und klar,« platzte jetzt der Direktor los, »was es gewesen ist. Wir können uns doch unmöglich mit Ihnen hier in eine philosophische Auseinandersetzung einlassen.«

Doch Törleß war nun trotzig. Er fühlte selbst, daß er schlecht gesprochen hatte, aber den Widerspruch sowohl, wie die mißverständliche Zustimmung, die er gefunden hatte, gaben ihm das Gefühl einer hochmütigen Überlegenheit über diese älteren Leute, die von den Zuständen des menschlichen Inneren so wenig zu wissen schienen.

»Ich kann nicht dafür, daß es all das nicht ist, was Sie meinten. Ich kann aber selbst nicht genau schildern, was ich jedes einzelnemal empfand; wenn ich aber sage, was ich jetzt davon denke, so werden Sie vielleicht auch verstehen, warum ich so lange nicht davon loskonnte.«

Er hatte sich aufgerichtet, so stolz, als sei er hier Richter, seine Augen gingen geradeaus an den Menschen vorbei; er mochte diese lächerlichen Figuren nicht ansehen.

Draußen vor dem Fenster saß eine Krähe auf einem Ast, sonst war nichts als die weiße, riesige, Fläche.

Törleß fühlte, daß der Augenblick gekommen sei, wo er klar, deutlich, siegesbewußt von dem sprechen werde, das erst undeutlich und quälend, dann leblos und ohne Kraft in ihm gewesen war.

Nicht als ob ein neuer Gedanke ihm diese Sicherheit und Helle verschafft hätte, er ganz, wie er hoch aufgerichtet dastand, als sei um ihn nichts als ein leerer Raum, -- er, der ganze Mensch, fühlte es, so wie er es damals gefühlt hatte, als er die erstaunten Augen unter den schreibenden, lernenden, emsig schaffenden Kameraden hatte umherwandern lassen.

Denn mit den Gedanken ist es eine eigene Sache. Sie sind oft nicht mehr als Zufälligkeiten, die wieder vergehen, ohne Spuren hinterlassen zu haben, und die Gedanken haben ihre toten und ihre lebendigen Zeiten. Man kann eine geniale Erkenntnis haben und sie verblüht dennoch, langsam, unter unseren Händen, wie eine Blume. Die Form bleibt, aber die Farben, der Duft fehlen. Das heißt, man erinnert sich ihrer wohl Wort für Wort und der logische Wert des gefundenen Satzes bleibt völlig unangetastet, dennoch aber treibt er haltlos nur auf der Oberfläche unseres Inneren umher und wir fühlen uns seinethalben nicht reicher. Bis -- nach Jahren vielleicht -- mit einem Schlage wieder ein Augenblick da ist, wo wir sehen, daß wir in der Zwischenzeit gar nichts von ihm gewußt haben, obwohl wir logisch alles wußten.

Ja, es gibt tote und lebendige Gedanken. Das Denken, das sich an der beschienenen Oberfläche bewegt, das jederzeit an dem Faden der Kausalität nachgezählt werden kann, braucht noch nicht das lebendige zu sein. Ein Gedanke, den man auf diesem Wege trifft, bleibt gleichgültig wie ein beliebiger Mann in der Kolonne marschierender Soldaten. Ein Gedanke, -- er mag schon lange vorher durch unser Hirn gezogen sein, wird erst in dem Momente lebendig, da etwas, das nicht mehr Denken, nicht mehr logisch ist, zu ihm hinzutritt, so daß wir seine Wahrheit fühlen, jenseits von aller Rechtfertigung, wie einen Anker, der von ihm aus ins durchblutete, lebendige Fleisch riß ... Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns, zur andern Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten und sie ist vor allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt.

Nur einer Erschütterung der Seele hatte es für Törleß noch bedurft, um diesen letzten Trieb in die Höhe zu treiben.

Ohne sich um die betroffenen Gesichter ringsum zu kümmern, gleichsam nur für sich, knüpfte er hieran an und sprach, ohne abzusetzen, die Augen geradeaus gerichtet bis zu Ende:

»... Ich habe vielleicht noch zu wenig gelernt, um mich richtig auszudrücken, aber ich will es beschreiben. Eben war es wieder in mir. Ich kann es nicht anders sagen, als daß ich die Dinge in zweierlei Gestalt sehe. Alle Dinge; auch die Gedanken. Heute sind sie dieselben wie gestern, wenn ich mich bemühe einen Unterschied zu finden, und wie ich die Augen schließe, leben sie unter einem anderen Lichte auf. Vielleicht habe ich mich mit den irrationalen Zahlen geirrt; wenn ich sie gewissermaßen der Mathematik entlang denke, sind sie mir natürlich, wenn ich sie geradeaus in ihrer Sonderbarkeit ansehe, kommen sie mir unmöglich vor. Doch hier mag ich wohl irren, ich weiß zu wenig von ihnen. Ich irrte aber nicht bei Basini, ich irrte nicht, als ich mein Ohr nicht von dem leisen Rieseln in der hohen Mauer, mein Auge nicht von dem schweigenden Leben des Staubes, das eine Lampe plötzlich erhellte, abwenden konnte. Nein, ich irrte mich nicht, wenn ich von einem zweiten, geheimen, unbeachteten Leben der Dinge sprach! Ich -- ich meine es nicht wörtlich -- nicht diese Dinge leben, nicht Basini hatte zwei Gesichter -- aber in mir war ein zweites, das dies alles nicht mit den Augen des Verstandes ansah. So wie ich fühle, daß ein Gedanke in mir Leben bekommt, so fühle ich auch, daß etwas in mir beim Anblicke der Dinge lebt, wenn die Gedanken schweigen. Es ist etwas Dunkles in mir, unter allen Gedanken, das ich mit den Gedanken nicht ausmessen kann, ein Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt und das doch mein Leben ist ...

Dieses schweigende Leben hat mich bedrückt, umdrängt, das anzustarren trieb es mich immer. Ich litt unter der Angst, daß unser ganzes Leben so sei und ich nur hie und da stückweise darum erfahre ... o ich hatte furchtbare Angst ... ich war von Sinnen ...«

Diese Worte und Gleichnisse, die weit über Törleß' Alter hinausgingen, kamen ihm in der riesigen Erregung, in einem Augenblicke beinahe dichterischer Inspiration leicht und selbstverständlich über die Lippen. Jetzt senkte er die Stimme, und wie von seinem Leide ergriffen, fügte er hinzu:

»... Jetzt ist das vorüber. Ich weiß, daß ich mich doch geirrt habe. Ich fürchte nichts mehr. Ich weiß: die Dinge sind die Dinge und werden es wohl immer bleiben; und ich werde sie wohl immer bald so, bald so ansehen. Bald mit den Augen des Verstandes, bald mit den anderen ... Und ich werde nicht mehr versuchen, dies miteinander zu vergleichen ...«

Er schwieg. Er fand es ganz selbstverständlich, daß er nun gehen könne, und niemand hinderte ihn daran.

* * * * *

Als er draußen war, sahen sich die Zurückgebliebenen verdutzt an.

Der Direktor neigte unschlüssig den Kopf hin und her. Der Klassenvorstand fand als erster das Wort. »Ei, dieser kleine Prophet wollte uns wohl eine Vorlesung halten. Aber der Kuckuck mag aus ihm klug werden. Diese Erregung! Und dabei dieses Verwirren ganz einfacher Dinge!«

»Rezeptivität und Spontaneität des Denkens«, sekundierte der Mathematiker. »Es scheint, daß er zu großes Augenmerk auf den subjektiven Faktor aller unserer Erlebnisse gelegt hat und daß ihn das verwirrte und zu seinen dunklen Gleichnissen trieb.«

Nur der Religionslehrer schwieg. Er hatte aus den Reden Törleß' so oft das Wort Seele aufgefangen und hätte sich gerne des jungen Menschen angenommen.

Aber er wußte doch nicht recht, wie es gemeint war.

Der Direktor jedoch machte der Situation ein Ende. »Ich weiß nicht, was eigentlich in dem Kopfe dieses Törleß steckt, jedenfalls aber befindet er sich in einer so hochgradigen Überreizung, daß der Aufenthalt in einem Institute für ihn wohl nicht mehr der geeignete ist. Für ihn gehört eine sorgsamere Überwachung seiner geistigen Nahrung, als wir sie durchführen können. Ich glaube nicht, daß wir die Verantwortung weiter tragen können. Törleß gehört in die Privaterziehung; ich werde in diesem Sinne an seinen Vater schreiben.«

Alle beeilten sich, diesem guten Vorschlage des ehrlichen Direktors beizupflichten.

»Er war wirklich so eigentümlich, daß ich beinahe glaube, er hat Anlage zum Hysteriker«, sagte der Mathematiker zu seinem Nachbar.

* * * * *

Zu gleicher Zeit mit dem Briefe des Direktors traf ein solcher von Törleß bei seinen Eltern ein, in welchem er sie um seine Herausnahme bat, weil er sich in dem Institute nicht mehr auf seinem Platze fühle.

* * * * *

Basini war mittlerweile strafweise entlassen worden. In der Schule ging alles den gewohnten Gang.

Es war beschlossen, daß Törleß von seiner Mutter abgeholt werde. Er nahm gleichgültigen Abschied von seinen Kameraden. Beinahe begann er schon ihre Namen zu vergessen.

In die rote Kammer war er nie mehr hinaufgestiegen. Das schien alles weit, weit hinter ihm zu liegen.

Seit Basinis Entfernung war es tot. Fast so, als ob dieser Mensch, der alle diese Beziehungen an sich gekettet hatte, sie nun auch mit sich fortgenommen hätte.

Etwas Stilles, Zweifelndes war über Törleß gekommen, aber die Verzweiflung war weg. »Es waren wohl nur jene heimlichen Sachen mit Basini, die sie so gesteigert hatten«, dachte er sich. Sonst schien ihm gar kein Grund vorzuliegen.

Aber er schämte sich. So wie man sich am Morgen schämt, wenn man in der Nacht -- von einem Fieber gepeinigt -- aus allen Winkeln des dunklen Zimmers furchtbare Drohungen sich emportürmen sah.

Sein Verhalten vor der Kommission; es kam ihm ungeheuer lächerlich vor. Soviel Aufhebens! Hatten sie nicht recht gehabt? Wegen einer solch kleinen Sache! Jedoch es war etwas in ihm, das dieser Beschämung den Stachel nahm. »Gewiß gebärdete ich mich unvernünftig,« überlegte er, »jedoch scheint das Ganze überhaupt wenig mit meiner Vernunft zu tun gehabt zu haben.« Das war nämlich jetzt sein neues Gefühl. Er hatte die Erinnerung an einen fürchterlichen Sturm in seinem Innern, zu dessen Erklärung die Gründe, die er jetzt noch in sich dafür vorfand, bei weitem nicht ausreichten. »Also mußte es wohl etwas viel Notwendigeres und Tieferliegendes gewesen sein,« schloß er, »als was sich mit Vernunft und ähnlichen Begriffen beurteilen läßt ...«

Und das, was vor der Leidenschaft dagewesen war, was von ihr nur überwuchert worden war, das Eigentliche, das Problem, saß fest. Diese wechselnde seelische Perspektive je nach Ferne und Nähe, die er erlebt hatte. Dieser unfaßbare Zusammenhang, der den Ereignissen und Dingen je nach unserem Standpunkte plötzliche Werte gibt, die einander ganz unvergleichlich und fremd sind ..

Dies und alles andere -- er sah es merkwürdig klar und rein -- und klein. So wie man es eben am Morgen sieht, wenn die ersten reinen Sonnenstrahlen den Angstschweiß getrocknet haben und Tisch und Schrank und Feind und Schicksal wieder in ihre natürlichen Dimensionen zurück kriechen.

Aber wie da eine leise, grüblerische Müdigkeit zurückbleibt, so war es auch Törleß geschehen. Er wußte nun zwischen Tag und Nacht zu scheiden; -- er hatte es eigentlich immer gewußt und nur ein schwerer Traum war verwischend über diese Grenzen hingeflutet und er schämte sich dieser Verwirrung: aber die Erinnerung, daß es anders sein kann, daß es feine, leicht verlöschbare Grenzen rings um den Menschen gibt, daß fiebernde Träume um die Seele schleichen, die festen Mauern zernagen und unheimliche Gassen aufreißen, -- auch diese Erinnerung hatte sich tief in ihn gesenkt und strahlte blasse Schatten aus.

Er konnte nicht viel davon erklären. Aber diese Wortlosigkeit fühlte sich köstlich an, wie die Gewißheit des befruchteten Leibes, der das leise Ziehen der Zukunft schon in seinem Blute fühlt. Und Zuversicht und Müdigkeit mischten sich in Törleß ...

So kam es, daß er still und nachdenklich auf den Abschied wartete .......

Seiner Mutter, die geglaubt hatte, einen überreizten und verwirrten jungen Menschen zu finden, fiel seine kühle Gelassenheit auf.

Als sie zum Bahnhof hinausfuhren, lag rechts von ihnen der kleine Wald mit dem Hause Bozenas. Er sah so unbedeutend und harmlos aus, ein verstaubtes Geranke von Weiden und Erlen.

Törleß erinnerte sich da, wie unvorstellbar ihm damals das Leben seiner Eltern gewesen war. Und er betrachtete verstohlen von der Seite seine Mutter.

»Was willst du, mein Kind?«

»Nichts, Mama, ich dachte nur eben etwas.«

Und er prüfte den leise parfümierten Geruch, der aus der Taille seiner Mutter aufstieg.