Es schritt ein Jüngling die Schellingstraße hinan; er schritt,
umklingelt von den Radfahrern, in der Mitte des Holzpflasters der
breiten Fassade der Ludwigskirche entgegen. Sah man ihn an, so war es,
als ob ein Schatten über die Sonne ginge oder über das Gemüt eine
Erinnerung an schwere Stunden. Liebte er die Sonne nicht, die die
schöne Stadt in Festglanz tauchte? Warum hielt er in sich gekehrt und
abgewandt die Augen zu Boden gerichtet, indes er wandelte?
Er trug keinen Hut, woran bei der Kostümfreiheit der leichtgemuten
Stadt keine Seele Anstoß nahm, sondern hatte statt dessen die Kapuze
seines weiten, schwarzen Mantels über den Kopf gezogen, die seine
niedrige, eckig vorspringende Stirn beschattete, seine Ohren bedeckte
und seine hageren Wangen umrahmte. Welcher Gewissensgram, welche
Skrupeln und welche Mißhandlungen seiner selbst hatten diese Wangen so
auszuhöhlen vermocht? Ist es nicht schauerlich, an solchem Sonnentage
den Kummer in den Wangenhöhlen eines Menschen wohnen zu sehen? Seine
dunklen Brauen verdickten sich stark an der schmalen Wurzel seiner
Nase, die groß und gehöckert aus dem Gesichte hervorsprang, und seine
Lippen waren stark und wulstig. Wenn er seine ziemlich nahe
beieinanderliegenden braunen Augen erhob, bildeten sich Querfalten auf
seiner kantigen Stirn. Er blickte mit einem Ausdruck von Wissen,
Begrenztheit und Leiden. Im Profil gesehen, glich dieses Gesicht genau
einem alten Bildnis von Möncheshand, aufbewahrt zu Florenz in einer
engen und harten Klosterzelle, aus welcher einstmals ein furchtbarer
und niederschmetternder Protest gegen das Leben und seinen Triumph
erging...
Hieronymus schritt die Schellingstraße hinan, schritt langsam und
fest, indes er seinen weiten Mantel von innen mit beiden Händen
zusammenhielt. Zwei kleine Mädchen, zwei dieser hübschen, untersetzten
Wesen mit den Haarbandeaux, den zu großen Füßen und den unbedenklichen
Sitten, die Arm in Arm und abenteuerlustig an ihm vorüberschlenderten,
stießen sich an und lachten, legten sich vornüber und gerieten ins
Laufen vor Lachen über seine Kapuze und sein Gesicht. Aber er achtete
dessen nicht. Gesenkten Hauptes und ohne nach rechts oder links zu
blicken, überschritt er die Ludwigstraße und stieg die Stufen der
Kirche hinan.
Die großen Flügel der Mitteltür standen weit geöffnet. In der
geweihten Dämmerung, kühl, dumpfig und mit Opferrauch geschwängert, war
irgendwo fern ein schwaches, rötliches Glühen bemerkbar. Ein altes Weib
mit blutigen Augen erhob sich von einer Betbank und schleppte sich an
Krücken zwischen den Säulen hindurch. Sonst war die Kirche leer.
Hieronymus benetzte sich Stirn und Brust am Becken, beugte das Knie
vor dem Hochaltar und blieb dann im Mittelschiffe stehen. War es nicht,
als sei seine Gestalt gewachsen, hier drinnen? Aufrecht und
unbeweglich, mit frei erhobenem Haupte stand er da, seine große,
gehöckerte Nase schien mit einem herrischen Ausdruck über den starken
Lippen hervorzuspringen, und seine Augen waren nicht mehr zu Boden
gerichtet, sondern blickten kühn und geradeswegs ins Weite, zu dem
Kruzifix auf dem Hochaltar hinüber. So verharrte er reglos eine Weile;
dann beugte er zurücktretend aufs neue das Knie und verließ die Kirche.
Er schritt die Ludwigstraße hinauf, langsam und fest, gesenkten
Hauptes, inmitten des breiten, ungepflasterten Fahrdammes, entgegen der
gewaltigen Loggia mit ihren Statuen. Aber auf dem Odeonsplatze
angelangt, blickte er auf, so daß sich Querfalten auf seiner kantigen
Stirne bildeten, und hemmte seine Schritte: aufmerksam gemacht durch
die Menschenansammlung vor den Auslagen der großen Kunsthandlung, des
weitläufigen Schönheitsgeschäftes von M. Blüthenzweig.
Die Leute gingen von Fenster zu Fenster, zeigten sich die
ausgestellten Schätze und tauschten ihre Meinungen aus, indes einer
über des anderen Schulter blickte. Hieronymus mischte sich unter sie
und begann auch seinerseits alle diese Dinge zu betrachten, alles in
Augenschein zu nehmen, Stück für Stück.
Er sah die Nachbildungen von Meisterwerken aus allen Galerieen der
Erde, die kostbaren Rahmen in ihrer simplen Bizarrerie, die
Renaissanceplastik, die Bronzeleiber und Ziergläser, die schillernden
Vasen, den Buchschmuck und die Porträts der Künstler, Musiker,
Philosophen, Schauspieler, Dichter, sah alles an und wandte an jeden
Gegenstand einen Augenblick. Indem er seinen Mantel von innen mit
beiden Händen fest zusammenhielt, drehte er seinen von der Kapuze
bedeckten Kopf in kleinen, kurzen Wendungen von einer Sache zur
nächsten, und unter seinen dunklen, an der Nasenwurzel stark sich
verdichtenden Brauen, die er emporzog, blickten seine Augen mit einem
befremdeten, stumpfen und kühl erstaunten Ausdruck auf jedes Ding eine
Weile. So erreichte er das erste Fenster, dasjenige, unter dem das
aufsehenerregende Bild sich befand, blickte eine Zeitlang den vor ihm
sich drängenden Leuten über die Schultern und gelangte endlich nach
vorn, dicht an die Auslage heran.
Die große, rötlichbraune Photographie stand, mit äußerstem Geschmack
in Altgold gerahmt, auf einer Staffelei inmitten des Fensterraumes. Es
war eine Madonna, eine durchaus modern empfundene, von jeder Konvention
freie Arbeit. Die Gestalt der heiligen Gebärerin war von berückender
Weiblichkeit, entblößt und schön. Ihre großen, schwülen Augen waren
dunkel umrändert, und ihre delikat und seltsam lächelnden Lippen
standen halb geöffnet. Ihre schmalen, ein wenig nervös und krampfhaft
gruppierten Finger umfaßten die Hüfte des Kindes, eines nackten Knaben
von distinguierter und fast primitiver Schlankheit, der mit ihrer Brust
spielte und dabei seine Augen mit einem klugen Seitenblick auf den
Beschauer gerichtet hielt.
Zwei andere Jünglinge standen neben Hieronymus und unterhielten sich
über das Bild, zwei junge Männer mit Büchern unter dem Arm, die sie aus
der Staatsbibliothek geholt hatten oder dorthin brachten, humanistisch
gebildete Leute, beschlagen in Kunst und Wissenschaft.
»Der Kleine hat es gut, hol' mich der Teufel!« sagte der eine.
»Und augenscheinlich hat er die Absicht, einen neidisch zu machen«,
versetzte der andere... »Ein bedenkliches Weib!«
»Ein Weib zum Rasendwerden! Man wird ein wenig irre am Dogma von der
unbefleckten Empfängnis...«
»Ja, ja, sie macht einen ziemlich berührten Eindruck... Hast du das
Original gesehen?«
»Selbstverständlich. Ich war ganz angegriffen. Sie wirkt in der
Farbe noch weit aphrodisischer... besonders die Augen.«
»Die Ähnlichkeit ist eigentlich doch ausgesprochen.«
»Wieso?«
»Kennst du nicht das Modell? Er hat doch seine kleine Putzmacherin
dazu benützt. Es ist beinahe Porträt, nur stark ins Gebiet des
Korrupten hinaufstilisiert... Die Kleine ist harmloser.«
»Das hoffe ich. Das Leben wäre allzu anstrengend, wenn es viele
gäbe, wie diese mater amata...«
»Die Pinakothek hat es angekauft.«
»Wahrhaftig? Sieh da! Sie wußte wohl übrigens, was sie tat. Die
Behandlung des Fleisches und der Linienfluß des Gewandes ist wirklich
eminent.«
»Ja, ein unglaublich begabter Kerl.«
»Kennst du ihn?«
»Ein wenig. Er wird Karriere machen, das ist sicher. Er war schon
zweimal beim Regenten zur Tafel...«
Das letzte sprachen sie, während sie anfingen, voneinander Abschied
zu nehmen.
»Sieht man dich heute abend im Theater?« fragte der eine. »Der
dramatische Verein gibt Macchiavelli's 'Mandragola' zum besten.«
»Oh, bravo. Davon kann man sich Spaß versprechen. Ich hatte vor, ins
Künstlervarieté zu gehen, aber es ist wahrscheinlich, daß ich den
wackeren Nicolò schließlich vorziehe. Auf Wiedersehen...«
Sie trennten sich, traten zurück und gingen nach rechts und links
auseinander. Neue Leute rückten an ihre Stelle und betrachteten das
erfolgreiche Bild. Aber Hieronymus stand unbeweglich an seinem Platze;
er stand mit vorgestrecktem Kopfe, und man sah, wie seine Hände, mit
denen er auf der Brust seinen Mantel von innen zusammenhielt, sich
krampfhaft ballten. Seine Brauen waren nicht mehr mit jenem kühl und
ein wenig gehässig erstaunten Ausdruck emporgezogen, sie hatten sich
gesenkt und verfinstert, seine Wangen, von der schwarzen Kapuze halb
bedeckt, schienen tiefer ausgehöhlt als vordem, und seine dicken Lippen
waren ganz bleich. Langsam neigte sein Kopf sich tiefer und tiefer, so
daß er schließlich seine Augen ganz von unten herauf starr auf das
Kunstwerk gerichtet hielt. Die Flügel seiner großen Nase bebten.
In dieser Haltung verblieb er wohl eine Viertelstunde. Die Leute um
ihn her lösten sich ab, er aber wich nicht vom Platze. Endlich drehte
er sich langsam, langsam auf den Fußballen herum und ging fort.