Es war schwül geworden; der Himmel war fahl, und ein Gewitter
drohte. Wiederum belagerte viel Volks die Fenster der Kunsthandlung,
besonders aber dasjenige, in dem das Madonnenbild sich befand.
Hieronymus warf nur einen kurzen Blick dorthin; dann drückte er die
Klinke der mit Plakaten und Kunstzeitschriften verhangenen Glastür.
»Gott will es!« sagte er und trat in den Laden.
Ein junges Mädchen, das irgendwo an einem Pult in einem großen Buche
geschrieben hatte, ein hübsches, brünettes Wesen mit Haarbandeaux und
zu großen Füßen, trat auf ihn zu und fragte freundlich, was ihm zu
Diensten stehe.
»Ich danke Ihnen«, sagte Hieronymus leise und blickte ihr,
Querfalten in seiner kantigen Stirn, ernst in die Augen. »Nicht Sie
will ich sprechen, sondern den Inhaber des Geschäftes, Herrn
Blüthenzweig.«
Ein wenig zögernd zog sie sich von ihm zurück und nahm ihre
Beschäftigung wieder auf. Er stand inmitten des Ladens.
Alles, was draußen in einzelnen Beispielen zur Schau gestellt war,
es war hier drinnen zwanzigfach zu Häuf getürmt und üppig ausgebreitet:
eine Fülle von Farbe, Linie und Form, von Stil, Witz, Wohlgeschmack und
Schönheit. Hieronymus blickte langsam nach beiden Seiten, und dann zog
er die Falten seines schwarzen Mantels fester um sich zusammen.
Es waren mehrere Leute im Laden anwesend. An einem der breiten
Tische, die sich quer durch den Raum zogen, saß ein Herr in gelbem
Anzug und mit schwarzem Ziegenbart und betrachtete eine Mappe mit
französischen Zeichnungen, über die er manchmal ein meckerndes Lachen
vernehmen ließ. Ein junger Mensch mit einem Aspekt von
Schlechtbezahltheit und Pflanzenkost bediente ihn, indem er neue Mappen
zur Ansicht herbeischleppte. Dem meckernden Herrn schräg gegenüber
prüfte eine vornehme alte Dame moderne Kunststickereien, große
Fabelblumen in blassen Tönen, die auf langen, steifen Stielen senkrecht
nebeneinander standen. Auch um sie bemühte sich ein Angestellter des
Geschäfts. An einem zweiten Tische saß, die Reisemütze auf dem Kopfe
und die Holzpfeife im Munde, nachlässig ein Engländer. Durabel
gekleidet, glatt rasiert, kalt und unbestimmten Alters, wählte er unter
Bronzen, die Herr Blüthenzweig ihm persönlich herzutrug. Die ziere
Gestalt eines nackten kleinen Mädchens, welche, unreif und zart
gegliedert, ihre Händchen in koketter Keuschheit auf der Brust kreuzte,
hielt er am Kopfe erfaßt und musterte sie eingehend, indem er sie
langsam um sich selbst drehte.
Herr Blüthenzweig, ein Mann mit kurzem braunen Vollbart und blanken
Augen von ebenderselben Farbe, bewegte sich händereibend um ihn herum,
indem er das kleine Mädchen mit allen Vokabeln pries, deren er habhaft
werden konnte.
»Hundertfünfzig Mark, Sir«, sagte er auf englisch; »Münchener Kunst,
Sir. Sehr lieblich in der Tat. Voller Reiz, wissen Sie. Es ist die
Grazie selbst, Sir. Wirklich äußerst hübsch, niedlich und
bewunderungswürdig.« Hierauf fiel ihm noch etwas ein und er sagte:
»Höchst anziehend und verlockend.« Dann fing er wieder von vorne an.
Seine Nase lag ein wenig platt auf der Oberlippe, so daß er
beständig in einem leicht fauchenden Geräusch in seinen Schnurrbart
schnüffelte. Manchmal näherte er sich dabei dem Käufer in gebückter
Haltung, als beröche er ihn. Als Hieronymus eintrat, untersuchte Herr
Blüthenzweig ihn flüchtig in eben dieser Weise, widmete sich aber
alsbald wieder dem Engländer.
Die vornehme Dame hatte ihre Wahl getroffen und verließ den Laden.
Ein neuer Herr trat ein. Herr Blüthenzweig beroch ihn kurz, als wollte
er so den Grad seiner Kauffähigkeit erkunden, und überließ es der
jungen Buchhalterin, ihn zu bedienen. Der Herr erstand nur eine
Fayencebüste Piero's, Sohn des prächtigen Medici, und entfernte sich
wieder. Auch der Engländer begann nun aufzubrechen. Er hatte sich das
kleine Mädchen zu eigen gemacht und ging unter den Verbeugungen Herrn
Blüthenzweigs. Dann wandte sich der Kunsthändler zu Hieronymus und
stellte sich vor ihn hin.
»Sie wünschen...« fragte er ohne viel Demut.
Hieronymus hielt seinen Mantel von innen mit beiden Händen zusammen
und blickte Herrn Blüthenzweig fast ohne mit der Wimper zu zucken ins
Gesicht. Er trennte langsam seine dicken Lippen und sagte:
»Ich komme zu Ihnen wegen des Bildes in jenem Fenster dort, der
großen Photographie, der Madonna.«—Seine Stimme war belegt und
modulationslos.
»Jawohl, ganz recht«, sagte Herr Blüthenzweig lebhaft und begann,
sich die Hände zu reiben: »Siebenzig Mark im Rahmen, mein Herr. Es ist
unveränderlich ... eine erstklassige Reproduktion. Höchst anziehend und
reizvoll.«
Hieronymus schwieg. Er neigte seinen Kopf in der Kapuze und sank ein
wenig in sich zusammen, während der Kunsthändler sprach; dann richtete
er sich wieder auf und sagte:
»Ich bemerke Ihnen im voraus, daß ich nicht in der Lage, noch
überhaupt willens bin, irgend etwas zu kaufen. Es tut mir leid, Ihre
Erwartungen enttäuschen zu müssen. Ich habe Mitleid mit Ihnen, wenn
Ihnen das Schmerz bereitet. Aber erstens bin ich arm, und zweitens
liebe ich die Dinge nicht, die Sie feilhalten. Nein, kaufen kann ich
nichts.«
»Nicht ... also nicht«, sagte Herr Blüthenzweig und schnüffelte
stark. »Nun, darf ich fragen...«
»Wie ich Sie zu kennen glaube«, fuhr Hieronymus fort, »so verachten
Sie mich darum, daß ich nicht imstande bin, Ihnen etwas abzukaufen...«
»Hm ...« sagte Herr Blüthenzweig. »Nicht doch! Nur ...«
»Dennoch bitte ich Sie, mir Gehör zu schenken und meinen Worten
Gewicht beizulegen.«
»Gewicht beizulegen. Hm. Darf ich fragen ...«
»Sie dürfen fragen«, sagte Hieronymus, »und ich werde Ihnen
antworten. Ich bin gekommen, Sie zu bitten, daß Sie jenes Bild, die
große Photographie, die Madonna, sogleich aus Ihrem Fenster entfernen
und sie niemals wieder zur Schau stellen.«
Herr Blüthenzweig blickte eine Weile stumm in Hieronymus' Gesicht,
mit einem Ausdruck, als forderte er ihn auf, über seine abenteuerlichen
Worte in Verlegenheit zu geraten. Da dies aber keineswegs geschah, so
schnüffelte er heftig und brachte hervor:
»Wollen Sie die Güte haben, mir mitzuteilen, ob Sie hier in
irgendeiner amtlichen Eigenschaft stehen, die Sie befugt, mir
Vorschriften zu machen, oder was Sie eigentlich herführt...«
»O nein«, antwortete Hieronymus; »ich habe weder Amt noch Würde von
Staates wegen. Die Macht ist nicht auf meiner Seite, Herr. Was mich
herführt, ist allein mein Gewissen.«
Herr Blüthenzweig bewegte nach Worten suchend den Kopf hin und her,
blies heftig mit der Nase in seinen Schnurrbart und rang mit der
Sprache. Endlich sagte er:
»Ihr Gewissen ... Nun, so wollen Sie gefälligst ... Notiz davon
nehmen ... daß Ihr Gewissen für uns eine ... eine gänzlich belanglose
Einrichtung ist!«—
Damit drehte er sich um, ging schnell zu seinem Pult im Hintergrunde
des Ladens und begann zu schreiben. Die beiden Ladendiener lachten von
Herzen. Auch das hübsche Fräulein kicherte über ihrem Kontobuche. Was
den gelben Herrn mit dem schwarzen Ziegenbart betraf, so zeigte es
sich, daß er ein Fremder war, denn er verstand augenscheinlich nichts
von dem Gespräch, sondern fuhr fort, sich mit den französischen
Zeichnungen zu beschäftigen, wobei er von Zeit zu Zeit sein meckerndes
Lachen vernehmen ließ.—
»Wollen Sie den Herrn abfertigen«, sagte Herr Blüthenzweig über die
Schulter hinweg zu seinem Gehilfen. Dann schrieb er weiter. Der junge
Mensch mit dem Aspekt von Schlechtbezahltheit und Pflanzenkost trat auf
Hieronymus zu, indem er sich des Lachens zu enthalten trachtete, und
auch der andere Verkäufer näherte sich.
»Können wir Ihnen sonst irgendwie dienlich sein?« fragte der
Schlechtbezahlte sanft. Hieronymus hielt unverwandt seinen leidenden,
stumpfen und dennoch durchdringenden Blick auf ihn gerichtet.
»Nein«, sagte er, »sonst können Sie es nicht. Ich bitte Sie, das
Madonnenbild unverzüglich aus dem Fenster zu entfernen, und zwar für
immer.«
»Oh ... Warum?«
»Es ist die heilige Mutter Gottes...« sagte Hieronymus gedämpft.
»Allerdings ... Sie hören ja aber, daß Herr Blüthenzweig nicht
geneigt ist, Ihren Wunsch zu erfüllen.«
»Man muß bedenken, daß es die heilige Mutter Gottes ist«, sagte
Hieronymus, und sein Kopf zitterte.
»Das ist richtig.—Und weiter? Darf man keine Madonnen ausstellen?
Darf man keine malen?«
»Nicht so! Nicht so!« sagte Hieronymus beinahe flüsternd, indem er
sich hoch emporrichtete und mehrmals heftig den Kopf schüttelte. Seine
kantige Stirn unter der Kapuze war ganz von langen und tiefen
Querfalten durchfurcht. »Sie wissen sehr wohl, daß es das Laster selbst
ist, das ein Mensch dort gemalt hat ... die entblößte Wollust! Von zwei
schlichten und unbewußten Leuten, die dieses Madonnenbild betrachteten,
habe ich mit meinen Ohren gehört, daß es sie an dem Dogma der
unbefleckten Empfängnis irremache...«
»Oh, erlauben Sie, nicht darum handelt es sich«, sagte der junge
Verkäufer überlegen lächelnd. Er schrieb in seinen Mußestunden eine
Broschüre über die moderne Kunstbewegung und war sehr wohl imstande,
ein gebildetes Gespräch zu führen.
»Das Bild ist ein Kunstwerk«, fuhr er fort, »und man muß den Maßstab
daranlegen, der ihm gebührt. Es hat allerseits den größten Beifall
gehabt. Der Staat hat es angekauft...«
»Ich weiß, daß der Staat es angekauft hat«, sagte Hieronymus. »Ich
weiß auch, daß der Maler zweimal beim Regenten gespeist hat. Das Volk
spricht davon, und Gott weiß, wie es sich die Tatsache deutet, daß
jemand für ein solches Werk zum hochgeehrten Manne wird. Wovon legt
diese Tatsache Zeugnis ab? Von der Blindheit der Welt, einer Blindheit,
die unfaßlich ist, wenn sie nicht auf schamloser Heuchelei beruht.
Dieses Gebilde ist aus Sinnenlust entstanden und wird in Sinnenlust
genossen ... ist dies wahr oder nicht? Antworten Sie; antworten auch
Sie, Herr Blüthenzweig!«
Eine Pause trat ein. Hieronymus schien allen Ernstes eine Antwort zu
verlangen und blickte mit seinen leidenden und durchdringenden Augen
abwechselnd auf die beiden Verkäufer, die ihn neugierig und verdutzt
anstarrten, und auf Herrn Blüthenzweigs runden Rücken. Es herrschte
Stille. Nur der gelbe Herr mit dem schwarzen Ziegenbart ließ, über die
französischen Zeichnungen gebeugt, sein meckerndes Lachen vernehmen.
»Es ist wahr!« fuhr Hieronymus fort, und in seiner belegten
Stimme bebte eine tiefe Entrüstung ... »Sie wagen nicht, es zu leugnen!
Wie aber ist es dann möglich, den Verfertiger dieses Gebildes im Ernste
zu feiern, als habe er der Menschheit ideale Güter um eines vermehrt?
Wie ist es dann möglich, davor zu stehen, sich unbedenklich dem
schnöden Genüsse hinzugeben, den es verursacht, und sein Gewissen mit
dem Worte Schönheit zum Schweigen zu bringen, ja, sich ernstlich
einzureden, man überlasse sich dabei einem edlen, erlesenen und höchst
menschenwürdigen Zustande? Ist dies ruchlose Unwissenheit oder
verworfene Heuchelei? Mein Verstand steht still an dieser Stelle ... er
steht still vor der absurden Tatsache, daß ein Mensch durch die dumme
und zuversichtliche Entfaltung seiner tierischen Triebe auf Erden zu
höchstem Ruhme gelangen kann!... Schönheit ... Was ist Schönheit?
Wodurch wird die Schönheit zutage getrieben und worauf wirkt sie? Es
ist unmöglich, dies nicht zu wissen, Herr Blüthenzweig! Wie aber ist es
denkbar, eine Sache so sehr zu durchschauen und nicht angesichts ihrer
von Ekel und Gram erfüllt zu werden? Es ist verbrecherisch, die
Unwissenheit der schamlosen Kinder und kecken Unbedenklichen durch die
Erhöhung und frevle Anbetung der Schönheit zu bestätigen, zu
bekräftigen und ihr zur Macht zu verhelfen, denn sie sind weit vom
Leiden und weiter noch von der Erlösung! ...Du blickst schwarz,
antworten Sie mir, du, Unbekannter. Das Wissen, sage ich Ihnen, ist die
tiefste Qual der Welt; aber es ist das Fegefeuer, ohne dessen läuternde
Pein keines Menschen Seele zum Heile gelangt. Nicht kecker Kindersinn
und ruchlose Unbefangenheit frommt, Herr Blüthenzweig, sondern jene
Erkenntnis, in der die Leidenschaften unseres eklen Fleisches
hinsterben und verlöschen.«
Stillschweigen. Der gelbe Herr mit dem schwarzen Ziegenbart meckerte
kurz.
»Sie müssen nun wohl gehen«, sagte der Schlechtbezahlte sanft.
Aber Hieronymus machte keineswegs Anstalten, zu gehen. Hoch
aufgerichtet in seinem Kapuzenmantel, mit brennenden Augen stand er
inmitten des Kunstladens, und seine dicken Lippen formten mit hartem
und gleichsam rostigem Klange unaufhaltsam verdammende Worte...
»Kunst! rufen sie, Genuß! Schönheit! Hüllt die Welt in Schönheit ein
und verleiht jedem Dinge den Adel des Stiles! ...Geht mir, Verruchte!
Denkt man, mit prunkenden Farben das Elend der Welt zu übertünchen?
Glaubt man, mit dem Festlärm des üppigen Wohlgeschmacks das Ächzen der
gequälten Erde übertönen zu können? Ihr irrt, Schamlose! Gott läßt sich
nicht spotten, und ein Greuel ist in seinen Augen euer frecher
Götzendienst der gleißenden Oberfläche! ...Du schmähst die Kunst,
antworten Sie mir, du, Unbekannter. Sie lügen, sage ich Ihnen, ich
schmähe nicht die Kunst! Die Kunst ist kein gewissenloser Trug, der
lockend zur Bekräftigung und Bestätigung des Lebens im Fleische reizt!
Die Kunst ist die heilige Fackel, die barmherzig hineinleuchte in alle
fürchterlichen Tiefen, in alle scham-und gramvollen Abgründe des
Daseins; die Kunst ist das göttliche Feuer, das an die Welt gelegt
werde, damit sie aufflamme und zergehe samt all ihrer Schande und
Marter in erlösendem Mitleid! ...Nehmen Sie, Herr Blüthenzweig, nehmen
Sie das Werk des berühmten Malers dort aus Ihrem Fenster ... ja, Sie
täten gut, es mit einem heißen Feuer zu verbrennen und seine Asche in
alle Winde zu streuen, in alle vier Winde!...«
Seine unschöne Stimme brach ab. Er hatte einen heftigen Schritt
rückwärts getan, hatte einen Arm der Umhüllung des schwarzen Mantels
entrissen, hatte ihn mit leidenschaftlicher Bewegung weit hinausgereckt
und wies mit einer seltsam verzerrten, krampfhaft auf und nieder
bebenden Hand auf die Auslage, das Schaufenster, dorthin, wo das
aufsehenerregende Madonnenbild seinen Platz hatte. In dieser herrischen
Haltung verharrte er. Seine große, gehöckerte Nase schien mit einem
befehlshaberischen Ausdruck hervorzuspringen, seine dunklen, an der
Nasenwurzel stark sich verdickenden Brauen waren so hoch emporgezogen,
daß die kantige, von der Kapuze beschattete Stirn ganz in breiten
Querfalten lag, und über seinen Wangenhöhlen hatte sich eine hektische
Hitze entzündet.
Hier aber wandte Herr Blüthenzweig sich um. Sei es, daß die
Zumutung, diese Siebenzig-Mark-Reproduktion zu verbrennen, ihn so
aufrichtig entrüstete, oder daß überhaupt Hieronymus' Reden seine
Geduld am Ende erschöpft hatten: jedenfalls bot er ein Bild gerechten
und starken Zornes. Er wies mit dem Federhalter auf die Ladentür, blies
mehrere Male kurz und erregt mit der Nase in den Schnurrbart, rang mit
der Sprache und brachte dann mit höchstem Nachdruck hervor:
»Wenn Sie Patron nun nicht augenblicklich von der Bildfläche
verschwinden, so lasse ich Ihnen durch den Packer den Abgang
erleichtern, verstehen Sie mich?!«
»Oh, Sie schüchtern mich nicht ein, Sie verjagen mich nicht, Sie
bringen meine Stimme nicht zum Schweigen!« rief Hieronymus, indem er
oberhalb der Brust seine Kapuze mit der Faust zusammenraffte und
furchtlos den Kopf schüttelte... »Ich weiß, daß ich einsam und machtlos
bin, und dennoch verstumme ich nicht, bis Sie mich hören, Herr
Blüthenzweig! Nehmen Sie das Bild aus Ihrem Fenster und verbrennen Sie
es noch heute! Ach, verbrennen Sie nicht dies allein! Verbrennen Sie
auch diese Statuetten und Büsten, deren Anblick in Sünde stürzt,
verbrennen Sie diese Vasen und Zierate, diese schamlosen Wiedergeburten
des Heidentums, diese üppig ausgestatteten Liebesverse! Verbrennen Sie
alles, was Ihr Laden birgt, Herr Blüthenzweig, denn es ist ein Unrat in
Gottes Augen! Verbrennen, verbrennen, verbrennen Sie es!« rief er außer
sich, indem er eine wilde, weite Bewegung rings in die Runde
vollführte... »Diese Ernte ist reif für den Schnitter ... Die Frechheit
dieser Zeit durchbricht alle Dämme ... Ich aber sage Ihnen...«
»Krauthuber!« ließ Herr Blüthenzweig, einer Tür im Hintergrund
zugewandt, mit Anstrengung seine Stimme vernehmen... »Kommen Sie sofort
herein!«
Das, was infolge dieses Befehls auf dem Schauplatze erschien, war
ein massiges und übergewaltiges Etwas, eine ungeheuerliche und
strotzende menschliche Erscheinung von schreckeneinflößender Fülle,
deren schwellende, quellende, gepolsterte Gliedmaßen überall formlos
ineinander übergingen ... eine unmäßige, langsam über den Boden
wuchtende und schwer pustende Riesengestalt, genährt mit Malz, ein Sohn
des Volkes von fürchterlicher Rüstigkeit! Ein fransenartiger
Seehundsschnauzbart war droben in seinem Angesicht bemerkbar, ein
gewaltiges, mit Kleister besudeltes Schurzfell bedeckte seinen Leib,
und die gelben Ärmel seines Hemdes waren von seinen sagenhaften Armen
zurückgerollt.
»Wollen Sie diesem Herrn die Türe öffnen, Krauthuber«, sagte Herr
Blüthenzweig, »und, sollte er sie dennoch nicht finden, ihm auf die
Straße hinausverhelfen.«
»Ha?« sagte der Mann, indem er mit seinen kleinen Elefantenaugen
abwechselnd Hieronymus und seinen erzürnten Brotherrn betrachtete ...
Es war ein dumpfer Laut von mühsam zurückgedämmter Kraft. Dann ging er,
mit seinen Tritten alles um sich her erschütternd, zur Tür und öffnete
sie.
Hieronymus war sehr bleich geworden. »Verbrennen Sie...« wollte er
sagen, aber schon fühlte er sich von einer furchtbaren Übermacht
umgewandt, von einer Körperwucht, gegen die kein Widerstand denkbar
war, langsam und unaufhaltsam der Tür entgegengedrängt.
»Ich bin schwach...« brachte er hervor. »Mein Fleisch erträgt nicht
die Gewalt ... es hält nicht stand, nein ... Was beweist das?
Verbrennen Sie...«
Er verstummte. Er befand sich außerhalb des Kunstladens. Herrn
Blüthenzweigs riesiger Knecht hatte ihn schließlich mit einem kleinen
Stoß und Schwung fahren lassen, so daß er, auf eine Hand gestützt,
seitwärts auf die steinerne Stufe niedergesunken war. Und hinter ihm
schloß sich klirrend die Glastür.
Er richtete sich empor. Er stand aufrecht und hielt schwer atmend
mit der einen Faust seine Kapuze oberhalb der Brust zusammengerafft,
indes er die andere unter dem Mantel hinabhängen ließ. In seinen
Wangenhöhlen lagerte eine graue Blässe; die Flügel seiner großen,
gehöckerten Nase blähten und schlössen sich zuckend; seine häßlichen
Lippen waren zu dem Ausdruck eines verzweifelten Hasses verzerrt, und
seine Augen, von Glut umzogen, schweiften irr und ekstatisch über den
schönen Platz.
Er sah nicht die neugierig und lachend auf ihn gerichteten Blicke.
Er sah auf der Mosaikfläche vor der großen Loggia die Eitelkeiten der
Welt, die Maskenkostüme der Künstlerfeste, die Zierate, Vasen,
Schmuckstücke und Stilgegenstände, die nackten Statuen und
Frauenbüsten, die malerischen Wiedergeburten des Heidentums, die
Porträts der berühmten Schönheiten von Meisterhand, die üppig
ausgestatteten Liebesverse und Propagandaschriften der Kunst
pyramidenartig aufgetürmt und unter dem Jubelgeschrei des durch seine
furchtbaren Worte geknechteten Volkes in prasselnde Flammen aufgehen...
Er sah gegen die gelbliche Wolkenwand, die von der Theatinerstraße
heraufgezogen war und in der es leise donnerte, ein breites
Feuerschwert stehen, das sich im Schwefellicht über die frohe Stadt
hinreckte...
»Gladius Dei super terram...« flüsterten seine dicken Lippen, und in
seinem Kapuzenmantel sich höher emporrichtend, mit einem versteckten
und krampfigen Schütteln seiner hinabhängenden Faust, murmelte er
bebend: »Cito et velociter!«
* * * * *
Er stand vom Schreibtisch auf, von seiner kleinen, gebrechlichen Schreibkommode, stand auf wie ein Verzweifelter und ging mit hängendem Kopfe in den entgegengesetzten Winkel des Zimmers zum Ofen, der lang und schlank war wie eine Säule. Er legte die Hände an die Kacheln, aber sie waren fast ganz erkaltet, denn Mitternacht war lange vorbei, und so lehnte er, ohne die kleine Wohltat empfangen zu haben, die er suchte, den Rücken daran, zog hustend die Schöße seines Schlafrockes zusammen, aus dessen Brustaufschlägen das verwaschene Spitzenjabot heraushing, und schnob mühsam durch die Nase, um sich ein wenig Luft zu verschaffen; denn er hatte den Schnupfen wie gewöhnlich.
Das war ein besonderer und unheimlicher Schnupfen, der ihn fast nie völlig verließ. Seine Augenlider waren entflammt und die Ränder seiner Nasenlöcher ganz wund davon, und in Kopf und Gliedern lag dieser Schnupfen ihm wie eine schwere, schmerzliche Trunkenheit. Oder war an all der Schlaffheit und Schwere das leidige Zimmergewahrsam schuld, das der Arzt nun schon wieder seit Wochen über ihn verhängt hielt? Gott wußte, ob er wohl daran tat. Der ewige Katarrh und die Krämpfe in Brust und Unterleib mochten es nötig machen, und schlechtes Wetter war über Jena, seit Wochen, seit Wochen, das war richtig, ein miserables und hassenswertes Wetter, das man in allen Nerven spürte, wüst, finster und kalt, und der Dezemberwind heulte im Ofenrohr, verwahrlost und gottverlassen, daß es klang nach nächtiger Heide im Sturm und Irrsal und heillosem Gram der Seele. Aber gut war sie nicht, diese enge Gefangenschaft, nicht gut für die Gedanken und den Rhythmus des Blutes, aus dem die Gedanken kamen...
Das sechseckige Zimmer, kahl, nüchtern und unbequem, mit seiner geweißten Decke, unter der Tabaksrauch schwebte, seiner schräg karierten Tapete, auf der oval gerahmte Silhouetten hingen, und seinen vier, fünf dünnbeinigen Möbeln, lag im Lichte der beiden Kerzen, die zu Häupten des Manuskripts auf der Schreibkommode brannten. Rote Vorhänge hingen über den oberen Rahmen der Fenster, Fähnchen nur, symmetrisch geraffte Kattune; aber sie waren rot, von einem warmen, sonoren Rot, und er liebte sie und wollte sie niemals missen, weil sie etwas von Üppigkeit und Wollust in die unsinnlich-enthaltsame Dürftigkeit seines Zimmers brachten...
Er stand am Ofen und blickte mit einem raschen und schmerzlich angestrengten Blinzeln hinüber zu dem Werk, von dem er geflohen war, dieser Last, diesem Druck, dieser Gewissensqual, diesem Meer, das auszutrinken, dieser furchtbaren Aufgabe, die sein Stolz und sein Elend, sein Himmel und seine Verdammnis war. Es schleppte sich, es stockte, es stand—schon wieder, schon wieder! Das Wetter war schuld und sein Katarrh und seine Müdigkeit. Oder das Werk? Die Arbeit selbst? Die eine unglückselige und der Verzweiflung geweihte Empfängnis war?
Er war aufgestanden, um sich ein wenig Distanz davon zu verschaffen, denn so oft bewirkte die räumliche Entfernung vom Manuskript, daß man Übersicht gewann, einen weiteren Blick über den Stoff, und Verfügungen zu treffen vermochte. Ja, es gab Fälle, wo das Erleichterungsgefühl, wenn man sich abwendete von der Stätte des Ringens, begeisternd wirkte. Und das war eine unschuldigere Begeisterung, als wenn man Likör nahm oder schwarzen, starken Kaffee... Die kleine Tasse stand auf dem Tischchen. Wenn sie ihm über das Hemmnis hülfe? Nein, nein, nicht mehr! Nicht der Arzt nur, auch ein zweiter noch, ein Ansehnlicherer, hatte ihm dergleichen behutsam widerraten: der andere, der dort, in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte. Der war weise. Der wußte zu leben, zu schaffen; mißhandelte sich nicht; war voller Rücksicht gegen sich selbst...
Stille herrschte im Hause. Nur der Wind war hörbar, der die Schloßgasse hinuntersauste, und der Regen, wenn er prickelnd gegen die Fenster getrieben ward. Alles schlief, der Hauswirt und die Seinen, Lotte und die Kinder. Und er stand einsam wach am erkalteten Ofen und blinzelte gequält zu dem Werk hinüber, an das seine kranke Ungenügsamkeit ihn glauben ließ... Sein weißer Hals ragte lang aus der Binde hervor, und zwischen den Schößen des Schlafrocks sah man seine nach innen gekrümmten Beine. Sein rotes Haar war aus der hohen und zarten Stirn zurückgestrichen, ließ blaß geäderte Buchten über den Schläfen frei und bedeckte die Ohren in dünnen Locken. An der Wurzel der großen, gebogenen Nase, die unvermittelt in eine weißliche Spitze endete, traten die starken Brauen, dunkler als das Haupthaar, nahe zusammen, was dem Blick der tiefliegenden, wunden Augen etwas tragisch Schauendes gab. Gezwungen, durch den Mund zu atmen, öffnete er die dünnen Lippen, und seine Wangen, sommersprossig und von Stubenluft fahl, erschlafften und fielen ein...
Nein, es mißlang, und alles war vergebens! Die Armee! Die Armee hätte gezeigt werden müssen! Die Armee war die Basis von allem! Da sie nicht vors Auge gebracht werden konnte—war die ungeheure Kunst denkbar, sie der Einbildung aufzuzwingen? Und der Held war kein Held; er war unedel und kalt! Die Anlage war falsch, und die Sprache war falsch, und es war ein trockenes und schwungloses Kolleg in Historie, breit, nüchtern und für die Schaubühne verloren!
Gut, es war also aus. Eine Niederlage. Ein verfehltes Unternehmen. Bankerott. Er wollte es Körnern schreiben, dem guten Körner, der an ihn glaubte, der in kindischem Vertrauen seinem Genius anhing. Er würde höhnen, flehen, poltern—der Freund; würde ihn an den Carlos gemahnen, der auch aus Zweifeln und Mühen und Wandlungen hervorgegangen und sich am Ende, nach aller Qual, als ein weithin Vortreffliches, eine ruhmvolle Tat erwiesen hat. Doch das war anders gewesen. Damals war er der Mann noch, eine Sache mit glücklicher Hand zu packen und sich den Sieg daraus zu gestalten. Skrupel und Kämpfe? O ja. Und krank war er gewesen, wohl kränker als jetzt, ein Darbender, Flüchtiger, mit der Welt Zerfallener, gedrückt und im Menschlichen bettelarm. Aber jung, ganz jung noch! Jedesmal, wie tief auch gebeugt, war sein Geist geschmeidig emporgeschnellt, und nach den Stunden des Harms waren die anderen des Glaubens und des inneren Triumphes gekommen. Die kamen nicht mehr, kamen kaum noch. Eine Nacht der flammenden Stimmung, da man auf einmal in einem genialisch leidenschaftlichen Lichte sah, was werden könnte, wenn man immer solcher Gnade genießen dürfte, mußte bezahlt werden mit einer Woche der Finsternis und der Lähmung. Müde war er, siebenunddreißig erst alt und schon am Ende. Der Glaube lebte nicht mehr, der an die Zukunft, der im Elend sein Stern gewesen. Und so war es, dies war die verzweifelte Wahrheit: Die Jahre der Not und der Nichtigkeit, die er für Leidens-und Prüfungsjahre gehalten, sie eigentlich waren reiche und fruchtbare Jahre gewesen; und nun, da ein wenig Glück sich herniedergelassen, da er aus dem Freibeutertum des Geistes in einige Rechtlichkeit und bürgerliche Verbindung eingetreten war, Amt und Ehren trug, Weib und Kinder besaß, nun war er erschöpft und fertig. Versagen und verzagen—das war's, was übrigblieb.
Er stöhnte, preßte die Hände vor die Augen und ging wie gehetzt durch das Zimmer. Was er da eben gedacht, war so furchtbar, daß er nicht an der Stelle zu bleiben vermochte, wo ihm der Gedanke gekommen war. Er setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, ließ die gefalteten Hände zwischen den Knien hängen und starrte trüb auf die Diele nieder.
Das Gewissen... wie laut sein Gewissen schrie! Er hatte gesündigt, sich versündigt gegen sich selbst in all den Jahren, gegen das zarte Instrument seines Körpers. Die Ausschweifungen seines Jugendmutes, die durchwachten Nächte, die Tage in tabakrauchiger Stubenluft, übergeistig und des Leibes uneingedenk, die Rauschmittel, mit denen er sich zur Arbeit gestachelt—das rächte, rächte sich jetzt!
Und rächte es sich, so wollte er den Göttern trotzen, die Schuld schickten und dann Strafe verhängten. Er hatte gelebt, wie er leben mußte, er hatte nicht Zeit gehabt, weise, nicht Zeit, bedächtig zu sein. Hier, an dieser Stelle der Brust, wenn er atmete, hustete, gähnte, immer am selben Punkt dieser Schmerz, diese kleine, teuflische, stechende, bohrende Mahnung, die nicht schwieg, seitdem vor fünf Jahren in Erfurt das Katarrhfieber, jene hitzige Brustkrankheit, ihn angefallen—was wollte sie sagen? In Wahrheit, er wußte es nur zu gut, was sie meinte—mochte der Arzt sich stellen wie er konnte und wollte. Er hatte nicht Zeit, sich mit kluger Schonung zu begegnen, mit milder Sittlichkeit hauszuhalten. Was er tun wollte, mußte er bald tun, heute noch, schnell... Sittlichkeit? Aber wie kam es zuletzt, daß die Sünde gerade, die Hingabe an das Schädliche und Verzehrende ihn moralischer dünkte als alle Weisheit und kühle Zucht? Nicht sie, nicht die verächtliche Kunst des guten Gewissens waren das Sittliche, sondern der Kampf und die Not, die Leidenschaft und der Schmerz!
Der Schmerz... Wie das Wort ihm die Brust weitete! Er reckte sich auf, verschränkte die Arme; und sein Blick, unter den rötlichen, zusammenstehenden Brauen, beseelte sich mit schöner Klage. Man war noch nicht elend, ganz elend noch nicht, solange es möglich war, seinem Elend eine stolze und edle Benennung zu schenken. Eins war not: Der gute Mut, seinem Leben große und schöne Namen zu geben! Das Leid nicht auf Stubenluft und Konstipation zurückzuführen! Gesund genug sein, um pathetisch sein—um über das Körperliche hinwegsehen, hinwegfühlen zu können! Nur hierin naiv sein, wenn auch sonst wissend in allem! Glauben, an den Schmerz glauben können... Aber er glaubte ja an den Schmerz, so tief, so innig, daß etwas, was unter Schmerzen geschah, diesem Glauben zufolge weder nutzlos noch schlecht sein konnte. Sein Blick schwang sich zum Manuskript hinüber, und seine Arme verschränkten sich fester über der Brust... Das Talent selbst—war es nicht Schmerz? Und wenn das dort, das unselige Werk, ihn leiden machte, war es nicht in der Ordnung so und fast schon ein gutes Zeichen? Es hatte noch niemals gesprudelt, und sein Mißtrauen würde erst eigentlich beginnen, wenn es das täte. Nur bei Stümpern und Dilettanten sprudelte es, bei den Schnellzufriedenen und Unwissenden, die nicht unter dem Druck und der Zucht des Talentes lebten. Denn das Talent, meine Herren und Damen dort unten, weithin im Parterre, das Talent ist nichts Leichtes, nichts Tändelndes, es ist nicht ohne weiteres ein Können. In der Wurzel ist es Bedürfnis, ein kritisches Wissen um das Ideal, eine Ungenügsamkeit, die sich ihr Können nicht ohne Qual erst schafft und steigert. Und den Größten, den Ungenügsamsten ist ihr Talent die schärfste Geißel... Nicht klagen! Nicht prahlen! Bescheiden, geduldig denken von dem, was man trug! Und wenn nicht ein Tag in der Woche, nicht eine Stunde von Leiden frei war—was weiter? Die Lasten und Leistungen, die Anforderungen, Beschwerden, Strapazen gering achten, klein sehen,—das war's, was groß machte!
Er stand auf, zog die Dose und schnupfte gierig, warf dann die Hände auf den Rücken und schritt so heftig durch das Zimmer, daß die Flammen der Kerzen im Luftzuge flatterten... Größe! Außerordentlichkeit! Welteroberung und Unsterblichkeit des Namens! Was galt alles Glück der ewig Unbekannten gegen dies Ziel? Gekannt sein,—gekannt und geliebt von den Völkern der Erde! Schwatzet von Ichsucht, die ihr nichts wißt von der Süßigkeit dieses Traumes und Dranges! Ichsüchtig ist alles Außerordentliche, sofern es leidet. Mögt ihr selbst zusehen, spricht es, ihr Sendungslosen, die ihr's auf Erden so viel leichter habt! Und der Ehrgeiz spricht: Soll das Leiden umsonst gewesen sein? Groß muß es mich machen!...
Die Flügel seiner großen Nase waren gespannt, sein Blick drohte und schweifte. Seine Rechte war heftig und tief in den Aufschlag seines Schlafrockes geschoben, während die Linke geballt herniederhing. Eine fliegende Röte war in seine hageren Wangen getreten, eine Lohe, emporgeschlagen aus der Glut seines Künstleregoismus, jener Leidenschaft für sein Ich, die unauslöschlich in seiner Tiefe brannte. Er kannte ihn wohl, den heimlichen Rausch dieser Liebe. Zuweilen brauchte er nur seine Hand zu betrachten, um von einer begeisterten Zärtlichkeit für sich selbst erfüllt zu werden, in deren Dienst er alles, was ihm an Waffen des Talentes und der Kunst gegeben war, zu stellen beschloß. Er durfte es, nichts war unedel daran. Denn tiefer noch als diese Ichsucht lebte das Bewußtsein, sich dennoch bei alldem im Dienste vor irgend etwas Hohem, ohne Verdienst freilich, sondern unter einer Notwendigkeit, uneigennützig zu verzehren und aufzuopfern. Und dies war seine Eifersucht: daß niemand größer werde als er, der nicht auch tiefer als er um dieses Hohe gelitten.
Niemand!... Er blieb stehen, die Hand über den Augen, den Oberkörper halb seitwärts gewandt, ausweichend, fliehend. Aber er fühlte schon den Stachel dieses unvermeidlichen Gedankens in seinem Herzen, des Gedankens an ihn, den anderen, den Hellen, Tastseligen, Sinnlichen, Göttlich-Unbewußten, an den dort, in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte... Und wieder, wie stets, in tiefer Unruhe, mit Hast und Eifer, fühlte er die Arbeit in sich beginnen, die diesem Gedanken folgte: das eigene Wesen und Künstlertum gegen das des anderen zu behaupten und abzugrenzen... War er denn größer? Worin? Warum? War es ein blutendes Trotzdem, wenn er siegte? Würde je sein Erliegen ein tragisches Schauspiel sein? Ein Gott, vielleicht—ein Held war er nicht. Aber es war leichter, ein Gott zu sein als ein Held!—Leichter... Der andere hatte es leichter! Mit weiser und glücklicher Hand Erkennen und Schaffen zu scheiden, das mochte heiter und quallos und quellend fruchtbar machen. Aber war Schaffen göttlich, so war Erkenntnis Heldentum, und beides war der, ein Gott und ein Held, welcher erkennend schuf!
Der Wille zum Schweren... Ahnte man, wieviel Zucht und Selbstüberwindung ein Satz, ein strenger Gedanke ihn kostete? Denn zuletzt war er unwissend und wenig geschult, ein dumpfer und schwärmender Träumer. Es war schwerer, einen Brief des Julius zu schreiben, als die beste Szene zu machen,—und war es nicht darum auch fast schon das Höhere?—Vom ersten rhythmischen Drange innerer Kunst nach Stoff, Materie, Möglichkeit des Ergusses—bis zum Gedanken, zum Bilde, zum Worte, zur Zeile: welch Ringen! welch Leidensweg! Wunder der Sehnsucht waren seine Werke, der Sehnsucht nach Form, Gestalt, Begrenzung, Körperlichkeit, der Sehnsucht hinüber in die klare Welt des anderen, der unmittelbar und mit göttlichem Mund die besonnten Dinge bei Namen nannte.
Dennoch, und jenem zum Trotz: Wer war ein Künstler, ein Dichter gleich ihm, ihm selbst? Wer schuf, wie er, aus dem Nichts, aus der eigenen Brust? War nicht als Musik, als reines Urbild des Seins ein Gedicht in seiner Seele geboren, lange bevor es sich Gleichnis und Kleid aus der Welt der Erscheinungen lieh? Geschichte, Weltweisheit, Leidenschaft: Mittel und Vorwände, nicht mehr, für etwas, was wenig mit ihnen zu schaffen, was seine Heimat in orphischen Tiefen hatte. Worte, Begriffe: Tasten nur, die sein Künstlertum schlug, um ein verborgenes Saitenspiel klingen zu machen... Wußte man das? Sie priesen ihn sehr, die guten Leute, für die Kraft der Gesinnung, mit welcher er die oder jene Taste schlug. Und sein Lieblingswort, sein letztes Pathos, die große Glocke, mit der er zu den höchsten Festen der Seele rief, sie lockte viele herbei... Freiheit... Mehr und weniger, wahrhaftig, begriff er darunter als sie, wenn sie jubelten. Freiheit—was hieß das? Ein wenig Bürgerwürde doch nicht vor Fürstenthronen? Laßt ihr euch träumen, was alles ein Geist mit dem Worte zu meinen wagt? Freiheit wovon? Wovon zuletzt noch? Vielleicht sogar noch vom Glück, vom Menschenglück, dieser seidenen Fessel, dieser weichen und holden Verpflichtung...
Vom Glück... Seine Lippen zuckten; es war, als kehrte sein Blick sich nach innen, und langsam ließ er das Gesicht in die Hände sinken... Er war im Nebenzimmer. Bläuliches Licht floß von der Ampel, und der geblümte Vorhang verhüllte in stillen Falten das Fenster. Er stand am Bette, beugte sich über das süße Haupt auf dem Kissen... Eine schwarze Locke ringelte sich über die Wange, die von der Blässe der Perlen schien, und die kindlichen Lippen waren im Schlummer geöffnet... Mein Weib! Geliebte! Folgtest du meiner Sehnsucht und tratest du zu mir, mein Glück zu sein? Du bist es, sei still! Und schlafe! Schlag jetzt nicht diese süßen, langschattenden Wimpern auf, um mich anzuschauen, so groß und dunkel, wie manchmal, als fragtest und suchtest du mich! Bei Gott, bei Gott, ich liebe dich sehr! Ich kann mein Gefühl nur zuweilen nicht finden, weil ich oft sehr müde vom Leiden bin und vom Ringen mit jener Aufgabe, welche mein Selbst mir stellt. Und ich darf nicht allzusehr dein, nie ganz in dir glücklich sein, um dessentwillen, was meine Sendung ist...
Er küßte sie, trennte sich von der lieblichen Wärme ihres Schlummers, sah um sich, kehrte zurück. Die Glocke mahnte ihn, wie weit schon die Nacht vorgeschritten, aber es war auch zugleich, als zeigte sie gütig das Ende einer schweren Stunde an. Er atmete auf, seine Lippen schlossen sich fest; er ging und ergriff die Feder... Nicht grübeln! Er war zu tief, um grübeln zu dürfen! Nicht ins Chaos hinabsteigen, sich wenigstens nicht dort aufhalten! Sondern aus dem Chaos, welches die Fülle ist, ans Licht emporheben, was fähig und reif ist, Form zu gewinnen. Nicht grübeln: Arbeiten! Begrenzen, ausschalten, gestalten, fertig werden...
Und es wurde fertig, das Leidenswerk. Es wurde vielleicht nicht gut, aber es wurde fertig. Und als es fertig war, siehe, da war es auch gut. Und aus seiner Seele, aus Musik und Idee, rangen sich neue Werke hervor, klingende und schimmernde Gebilde, die in heiliger Form die unendliche Heimat wunderbar ahnen ließen, wie in der Muschel das Meer