Die Unbeseelten "Kommt nur wieder hervor, die Sonne scheint ja. Vor dem bischen Luftzug braucht ihr euch nicht zu verkriechen." Vorsichtig guckten die jungen Veilchen mit ihren violetten Koepfchen aus dem welken Laube am Wiesenrand heraus. "Aber ihr habt so fuerchterlich geraschelt, ihr braunen Blaetter!" sagte das aelteste der Veilchen am Stocke. "Was war denn los?" "Wir haben nur ein bischen musiziert," erwiederten die welken Blaetter --- sie sprachen immer gleichzeitig durcheinander --- "man muss sich's wahrnehmen, wenn gerade der Wind geht." "Und ich dachte wirklich schon, der Mensch kaeme." "Es ging auch einer da drueben. Ueber den machten wir uns eben lustig. So ein Ding in Kleidern, das von selbst umherlaeuft und schreit, ist es nicht zum Rascheln?" "Und ich habe mich so gefuerchtet," sagte das juengere Veilchen. "Fuerchtet ihr euch denn nicht? Der Wurzelstock hat uns gesagt, der Mensch ist das Schlimmste. Wenn er uns nicht tot tritt, so bricht er uns doch den Hals. Und das Beste ist die Biene," setzte es schuechtern hinzu. "Nun ja," meinten die Blaetter, "fuer so junge Dinger wie ihr, huebsch wie ihr seid, da ist freilich die Biene besser als der Mensch. Aber wir --- was soll der Mensch uns schaden? Wir halten zusammen. Er ist doch nur so ein geduldetes Naturprodukt." "Ich bin gar nicht mehr so jung," sprach das aeltere Veilchen. "Ich bin schon seit gestern aus der Knospe, und wenn die Biene nicht bald kommt --- meinetwegen mag der Mensch kommen --- zu irgend etwas wird er ja auch gut sein." "Aber ich fuerchte mich vor dem Menschen," sagte das juengere, "Er ist etwas so Unbestimmtes, Bewegliches, man fuehlt sein Nahen im Boden, dann wird es dunkel ueber uns, und dann, wenn er nach uns sucht" --- "Ach, suchen!" riefen die Blaetter. Da glaubt ihr wohl gar, er haette ein Bewusstsein von dem, was er tut? Etwa wie ihr, wenn ihr das Gesicht nach dem Lichte dreht? Der Mensch ist doch nicht beseelt! Er ist doch keine Pflanze! Hoechstens ein unruhiges Tier, das eben nimmt, was es erwischt." "Woher wisst ihr denn das?" "Das ist ja eine alte Geschichte. Die haette auch der Wurzelstock euch erzaehlen koennen. Freilich, wir wissen es genauer." "Aber seid ihr denn so alt? Eigentlich seid ihr doch gar nicht mehr lebendig, wenn ihr abfallt, und jeden Herbst fallen neue Blaetter" --- "O bitte, wir sind noch eine ganze Weile lebendig --- in uns ist es lebendig, bis uns der Bazillus erloest hat und wir wieder zu Erde geworden sind. Dann beginnt der Kreislauf von neuem. Aber die wir hier zusammenliegen, wir warten auf die neue Generation im Herbst, der teilen wir unsere Erfahrungen mit. Das ist sehr gemuetlich unterm Schnee. Wir welken Blaetter, wir sind eben die Literatur, wir sind im ewigen Wechsel das dauernde Gedaechtnis der Pflanzenwelt. Wir kannten den Menschen schon, als er noch halbnackt mit dem Knuettel umherkletterte, wir sahen die grossen Drachen die Baeume abnagen, laengst ehe es den Menschen gab. Wir wissen ---" "Na, na," brummte der Wurzelstock vom Boden her, "redet nicht so viel mit meinen Toechterchen. Die muessen aufpassen, ob die Biene kommt. Ihr wollt wohl hier die gesamte Pflanzengeschichte aufrollen bis zu unsern aeltesten Vorfahren --- schliesslich waere der Mensch noch entfernt mit uns verwandt --- ich danke!" "Das ist er ja nun auch leider. Ganz unten bei den Einzellern, ehe Pflanzen und Tiere sich trennten, haben wir gemeinsame Stammeltern. Wir wissen's, wir bewahren die Tradition. Aber der Mensch hat sein von der Mutter Erde mitbekommenes Bewusstsein nicht fortgebildet wie wir, sein Stamm hat sich eben nicht zur Pflanze entwickelt, sondern zum Tier, und so ist seine Seele verkuemmert." "Aber koennte er nicht doch eine Seele haben, wenn auch eine andere als wir?" fragte das aeltere Veilchen bescheiden. "Wir wurzeln ja in der Erde, aber wir wenden uns auf zum Licht, zur Sonne. Vielleicht hat der Mensch eine Seele vom Himmel?" "Da kommt doch auch die Biene her," sagte die Schwester. "Phantastisches Geschwaetz!" rauschten die Blaetter. "Wozu brauchte der Mensch herumzulaufen, wenn er die richtige Erdseele in sich haette! In der Jugend, ehe wir zur vollen Ausbildung gekommen sind, da kriechen wir Pflanzen als junge Keime auch umher oder lassen uns von Luft und Wasser tragen, und wir gebildeten Offenbluehenden reiten auf den abgerichteten Insekten. Aber sobald wir heranwachsen, bilden wir Wurzeln und sitzen fest. Denn wir haben's nicht noetig, ueberall herumzukundschaften, der Nahrung nachzulaufen und sie einzufangen. In der Erde stehen wir, und Luft und Wasser kommen zu uns. Und eben dadurch, dass wir am Boden haften, haben wir unsern Anteil am Erdbewusstsein, unsere Seele, die unsterblich ist wie die Erde selbst." "Ganz richtig!" sagte der Wurzelstock. "Und je mehr wir in der Erde stecken, um so klarer ist unsere Erderinnerung, um so feiner unser Seelenleben." "Na, darueber wollen wir hinwegrascheln," meinten die Blaetter. "Aber das ist doch zweifellos --- haette der Mensch eine Seele, so brauchte er nicht Arme und Beine, um nach aussen zu schweifen und zu greifen; dann haette er alles unmittelbar in sich wie wir. Aber weil er sich das Herumlaufen angewoehnt hat, so ist er ein Ding ohne Seele geworden." "Wieso?" fragten die Veilchen. "Seine Vorfahren waren zu faul, innerlich zu arbeiten. Statt sich selbst ein ordentliches Blattgruen zu bilden, um seine Nahrungsstoffe aus Luft, Wasser und Boden herauszuziehen und sich Staerke daraus zu machen, da stuerzte sich in jenen uralten Zeiten ein Teil der Lebewesen auf unsere braven Stammeltern, die sich muehsam von Luft und Wasser naehrten, und frass sie auf. Das war freilich bequemer, so die Staerke gleich fertig zu nehmen. Dafuer haben aber diese Schmarotzer nie gelernt, direkt von der Erde zu leben. Und so sind sie nun auf unsere Gnade angewiesen." "Wie so?" fragten die Veilchen noch einmal. "Weil Mensch und Tier nicht ohne uns leben koennen! Nicht einen Tag! Nicht ein Stueckchen Boden koennen sie verdauen. Alles, was sie geniessen wollen, muss erst durch die Pflanzen gegangen sein. Wir koennten sie aushungern, wollten wir uns nicht fressen lassen. Aber wir verzehren sie ja auch selber wieder, teils tot, teils lebendig. Und auch die Luft haette der Mensch nicht, wenn wir nicht immer wieder frische Atemluft aushauchten. Wir also ernaehren und erhalten den Menschen --- was braucht er da eine Seele? Wir sind der Erde treu geblieben, ihre unmittelbaren Kinder, ein sesshaftes Geschlecht mit dem Wahlspruch: Still und wuerdig. So sind wir bis zur Buche und zur Schlingpflanze aufgestiegen." "Und zum Veilchen," fuegte der Wurzelstock hinzu. "Die Tiere aber haben den Wahlspruch: Laut und zapplig! Und der Mensch ist ein Tier, also hat er keine Seele." "Aber," begann das aeltere Veilchen zweifelnd, "sollten die Tiere nicht doch auch etwas von sich wissen, obwohl sie nicht so besonnen sind wie wir? Der Mensch --- nun, es mag ja sein, dass er uns nicht versteht --- aber wir verstehen ihn vielleicht auch nicht. Und die Biene --- die Biene ist doch gut und besucht uns." --- --- "Na ja, sie verheiratet euch," brummte der Wurzelstock, "sie tauscht den Bluetenstaub zwischen euch." "Ach ja, wenn die Biene kommt!" fiel das juengere Veilchen ein. "Ist sie noch nicht da?" Es streckte das Koepfchen etwas weiter unter den Blaettern vor, dass ihm die Sonne freundlich auf die feinen, dunkelblauen Linien schien, die sich durch das weisse Saftmal kokett nach der Bluetenpforte hinzogen. "Die Biene," riefen die welken Blaetter, "mit deren Seele wird's auch nicht weit her sein. Abrichtung ist alles --- ihr habt's ihr eben anerzogen. Da habt ihr euch so einen schoenen Sporn angelegt, dass die Biene ihren Ruessel nach dem Honig so recht lang hineinstecken muss, und da" --- "Bitte" sagten die Veilchen, "wir wollen nichts mehr hoeren. Ihr werdet unschicklich." "Wir wollen weiter nichts sagen, als dass euch die Biene nur besucht, weil ihr der Honig schmeckt; aber ob sie euch damit eine Liebe antut, das ist ihr ganz gleichgueltig." "Ach, wenn die Biene kommt!" seufzte das zweite Veilchen wieder. "Dazu lebt man doch! Es muss etwas Schoenes sein um die Liebe!" "Freilich besser als abgerissen werden." "Wenigstens weiss man, was geschieht, wenn die Biene kommt; aber was uns nach dem Besuch des Menschen passiert, das weiss niemand." "Also kann man garnicht wissen, ob es so schlimm ist," bemerkte das aeltere Veilchen leise. "Ob die Biene auch zum Menschen kommt?" fragte das juengere. "Wenn er keine Seele hat, da waer's freilich nicht noetig --- aber eine Seele ohne Liebe, das ist doch traurig." "Mir will's nicht einleuchten," begann das aeltere wieder, "dass der Mensch nichts fuehlen sollte. Was haette er denn davon, uns mitzunehmen, wenn er uns nicht schoen faende und duftend? Und vielleicht auch wenn wir gepflueckt sind und beim Menschen weilen, vielleicht freut sich dann noch etwas in der Welt, wenn wir sterben." "Sei nicht so sentimental --- sieh dich lieber um," raunte der Wurzelstock. "Schliesslich bleibst du ja doch im Boden, alter Papa --- ---" "Aufgepasst!" raschelten die Blaetter. "Der Mensch kommt." Die Veilchen duckten sich, aber das aelteste nahm sich zu viel Zeit. Da rief eine froehliche Menschenstimme: "Ich seh' was! Da! Ein Veilchen! Das erste dieses Jahr im Freien! Und gerade am Ostersonntag. Das sollst du haben!" Und die frische Maedchengestalt bueckte sich zum Boden und schob die braunen und die gruenen Blaetter zur Seite. "O, da sind noch mehr!" Sie pflueckte das groesste Veilchen und streckte die Hand nach dem zweiten aus. Das seufzte: "O weh! Ich will nicht zu dem Menschen, der keine Seele hat, ich will mit der Erde leben." --- "Aufgepasst, die Biene!" riefen die Blaetter wieder. Die Biene summte --- das ging so schnell --- da war sie schon bei dem juengeren Veilchen und setzte sich auf das untere Kronblatt. Die Hand des Maedchens zuckte zurueck. "Eine Biene," rief es erschrocken und sprang auf. Ein Arm umfasste ihre Schulter, und eine tiefere Stimme sprach: "Eines genuegt. Wie es duftet!" "Und wie es ausschaut, als ob es etwas sagen wollte." "Was denn?" "Fruehling und" --- "Und?" "Hoffnung!" Kurd Lasswitz