-------------------------------- Auf der Ostsee und am Mittelmeer -------------------------------- Es ist der erste Oktober und ich bin eben an Bord der "Ophelia" gegangen. Ich erinnere mich nicht, jemals so wenige Passagiere an Bord gesehen zu haben. Unten auf dem Autodeck zaehle ich sieben Wagen. Als ich die Treppen hinaufsteige, um meinen Stammplatz in der Bar einzunehmen, lande ich vor verschlossener Tuer. "Die Bar ist geschlossen, es bedient Sie das Schnellrestaurant" steht auf einem Schild. Nun gut, was soll man machen? Das Schnellrestaurant unterscheidet sich im Grunde nur unwesentlich von der sogenannten Bar, es ist auf eine schwer zu beschreibende Weise einfach noch weniger einladend, noch billiger, noch plastikmaessiger. Auch dort sitzen, ueber den Raum verteilt nur etwa sechs Personen einzeln an Tischen, die immer fuer vier Personen vorgesehen sind. Wo sind die uebrigen? Ein Deck tiefer befindet sich ein weiteres Schnellrestaurant, noch eine Spur steriler und fuer mich ist es schwer vorstellbar, dass jemand sich dort freiwillig niederlassen wuerde, wenn er die freie Auswahl hat. Die Fahrt nach Rohukuela (dem gruenen Dorf) war entsetzlich. Ich hatte mich viel zu spaet auf den Weg gemacht und schon bald, als ich aus Tallinn heraus war, wurde es dunkel. (Um genau das zu vermeiden, hatte ich erst vor wenigen Tagen versucht, mir die genaue Zeit einzupraegen, zu der es draussen finster wird). Bei Gegenverkehr blenden die entgegenkommenden Fahrzeuge mich derart, dass ich nur, indem ich auf die weisse Linie am rechten Fahrbahnrand starre, muehsam die Fahrtrichtung einhalten kann. Doch ich hatte auf keinen Fall damit gerechnet, dass die Strassenbauarbeiten, die hier jeden Sommer vorgenommen werden, noch immer nicht beendet waren. Ein Teil der Strecke hatte noch immer nicht seine endgueltige Fahrbahndecke erhalten und es gab dort absolut keine Fahrbahnmarkierungen. Alles was ich tun konnte, war fluchen und wann immer mir Autos entgegenkamen das Lenkrad starr geradeaus halten in der Hoffnung, nicht im Strassengraben zu landen. Der Gegenverkehr schien ueberhaupt kein Ende zu nehmen. Kurz vor halb neun erreichte ich endlich den Hafen. Im Schnellrestaurant der "Ophelia" versuchte ich den Theroux zuendezulesen, den ich ja vor ueber einem Monat noch in A. angefangen hatte. "An den Gestaden des Mittelmeeres" - ich schaute zum Fenster hinaus aufs Meer, wo aber kaum mehr als einige Lichter des Hafens zu erkennen waren. Auch Theroux beschrieb immer wieder, wie er auf Faehren, die bestimmt kaum einladender gewesen waren als diese hier, im Winter, bei unwirtlicher Witterung zu Zielen unterwegs war, von denen er im Grunde nicht mehr wusste als deren Namen. Ich versuchte mir vorzustellen, was er an meiner Stelle ueber diese duestere Fahrt in sein Notizbuch notiert haette. Aber wie so oft kam mir meine eigene Situation viel absurder vor, viel unertraeglicher. Seit ungefaehr zweieinhalb Monaten war ich nicht mehr auf der Insel gewesen und ich fuerchtete mich regelrecht vor dem Anblick, der mich dort erwarten wuerde: kniehoch gewachsenes Gras, Teppiche von heruntergefallenen Aepfeln und Pflaumen unter den Obstbaeumen, Berge nassen, abgeworfenen Laubes, verstopfte Dachrinnen und Fensterrahmen, die schon seit Jahren auf den versprochenen und sie vielleicht noch rettenden Anstrich warteten. Ich versuchte an meinem Tisch mit der abwaschbaren Plastiktischplatte dieses Buch zu lesen, aber ich fuehlte mich einfach miserabel, rutschte ruhelos auf meinem Stuhl hin und her und hatte zu allem Uebel auch noch Hunger. Theroux war gerade in Syrien unterwegs, wo er sich die Kreuzritterburg Krac des Chevaliers angeschaut hatte, die auch von Lawrence von Arabien geruehmt wird, als dieser 1936 (war es nicht, um Material fuer seine Doktorarbeit zu sammeln?) solche Burgen und Festungen abklapperte. Jetzt machte er gerade mit Abdullah, seinem Taxifahrer aus, dass dieser ihn noch nach Damaskus bringen solle, eine Fahrt durch die Wueste, wenn auch nicht sehr weit. Das haette er lieber bleiben lassen: der Wagen bleibt bald mitten in der Wueste liegen und Abdullah haelt ein Auto an, um Ersatzteile holen zu gehen. "Da sass ich nun, froestelnd und unsicher, am Rande der Wueste, und fuehlte mich hereingelegt. Die erzwungene Isolation rief alle moeglichen Erinnerungen an erlittene Ungerechtigkeiten wach, an Herabsetzungen, Missverstaendnisse, ungeklaerte Streitigkeiten, beleidigende Aeusserungen, an Unhoeflichkeit und Ausseinandersetzungen, die ich verloren hatte, an Demuetigungen. Manches davon lag viele Jahre zurueck. Aus unerfindlichen Gruenden fiel mir auf einmal alles ein, was jemals in meinem Leben schief gegangen war. Ich versuchte mich selbst mit 'Was soll's?' und 'Mach' dir nichts draus' zu troesten, aber es half nichts; der quaelende Bewusstseinsstrom liess sich nicht aufhalten. Von Zeit zu Zeit amuesierte ich mich ueber den Gedanken, wie weit ich damit geistig von Syrien entfernt war, aber dann kam ich zu dem Schluss, dass es wohl daran liegen musste, dass ich hier in der Mitte der Wueste sass. Es war stockdunkel und totenstill, ausser wenn gelegentlich ein Laster vorbeidonnerte. Ich hatte wohl einfach Angst und aergerte mich. Ich mochte die Wueste nicht." Ich versuchte noch einmal zum Fenster hinauszusehen, aber draussen war es so dunkel, dass das Fenster zum Spiegel wurde; ich sah nur mich selbst. Offensichtlich ging es Theroux auf seiner Reise manchmal doch noch schlechter als mir. Diese seine Reise wird in ihrem zweiten Teil allmaehlich immer planloser. Ihm macht das nichts aus, er hat ja gar keinen Plan, behauptet er immer wieder. Zum Teil liegt es aber auch einfach nur an der politischen Situation in den arabischen Laendern; er muss jetzt zum ersten mal Laender auf seinem Weg einfach auslassen. Den Libanon zum Beispiel. Der Suedlibanon wird wieder einmal von Israel bombadiert und die Palaestinenser koennten einen Amerikaner schnell gefangennehmen. Auch Libyen umgeht er und Algerien, in dem immer wieder alleinreisende Touristen gekidnapt werden. Syrien gefaellt ihm sehr gut. Man fragt sich nur, warum eigentlich. Er findet dort die verdrecktesten Straende, auf den Maerkten versucht man ihn mehrfach uebers Ohr zu hauen und die Bewohner wollen partout nicht mit ihm ueber die eigenartige Diktatur Assads reden. Aber das Essen ist gut. Am schlechtesten kommen auf seiner Reise Griechenland und Israel weg. Griechenland bereist er auch nur sehr oberflaechlich und man wird das Gefuehl nicht los, als habe er sich ueber die Griechen schon im Vorhinein ein Urteil gebildet, gegen das die wirkliche Erfahrung auch nichts vermag. In Israel - wo ich ja selber noch nie gewesen bin - scheint er mir dagegen einige schlichte Wahrheiten zu entdecken, die mir sofort einleuchten. Die Israelis schildert er als muerrische, unzufriedene Zeitgenossen mit "ruppigem, ungehobeltem Benehmen". Nie habe er auf seiner gesamten Reise so wenige Menschen lachen sehen. Die Menschen in Israel scheinen permanent angespannt und ein Opfer ihrer Staatsideologie, die sie dazu verdammt, in allen ringsum Feinde zu sehen. Ich selbst habe mich eigentlich immer schon gefragt, wie es nur Leute gibt, die in einem so jaemmerlichen Land leben moechten, aber das kann man vermutlich nur verstehen, wenn man selbst Jude und es ein fuer alle mal Leid ist, als der Fremde zu leben (aber geht es mir denn anders? Und trotzdem wuerde ich nicht unter "meinem Volk" leben wollen.) Ein bisschen geht es mir mit dem Buch so, wie den sprichwoertlichen Rundreisenden, die bald schon nicht mehr wissen, in welchem Land sie eigentlich gestern waren. Die Laender folgen auch bei Theroux so schnell aufeinander, dass man sich muehsam in Erinnerung rufen muss, wie man denn nun dorthingekommen ist. Theroux hat fuer seine Reise anderthalb Jahre gebraucht, ich zum Lesen aber auch schon ueber einen Monat; manche Episoden habe ich schon jetzt wieder vergessen. Aber so ist das Lesen des Buches auch selbst wie eine Reise, auf der man sich immer wieder sagt, dass man an bestimmte Orte unbedingt noch einmal zurueckkommen muss. Ich werde dieses Buch im Verlauf der naechsten Jahre gewiss wieder einmal lesen muessen. Ich freue mich sogar schon darauf.