---------------------- Paris 2005. Eindruecke ---------------------- Noch sind fuer mich die Regeln nicht auszumachen, nach denen in Paris manche Plaetze in zuckerigem Touristenkitsch versinken, waehrend andernorts (und alles in allem erstaunlich vielerorts) die Besuchermassen ihm offenbar nichts anhaben koennen. Mir erscheinen die Seinequais mit den Bouquinisten wie Relikte aus einer Zeit vor dem Informationszeitalter. Werden die Kaesten aufgeschlossen, so kommen in vielen vor allem die Memorabilien der Kulturindustrie zum Vorschein - Marilyn Monroe-Photographien, Toulouse Lautrec-Plakate und Che Guevara-Postkarten - allesamt schon recht angejahrte Ikonen, auf deren vergilbten Konterfeien sich der Staub niedergelassen hat und deren Raender sich unter dem jahrelangen Einfluss der Sonne aufgebogen haben. Man mag diesen Ramsch aber niemandem uebelnehmen, man empfindet sogar so etwas wie Sympathie fuer die Verkaeufer, die offenbar zusammen mit ihrer Ware, mit der sie sich dazumal allzu ueppig eingedeckt haben, hinter der Zeit zurueckgeblieben sind und nun mit diesem Plunder hier ausharren, bis das, was sich augenblicklich ein wenig laecherlich ausnimmt, wieder in Mode kommt. Trotzdem werden gleich daneben auch wunderschoen in Leder gebundene Baende angeboten, ernstzunehmende antiquarische Ware, zu vergleichsweise ueberhoehten Preisen vielleicht, aber kaum eine Schande fuer eine ganz gewoehnliche Privatbibliothek. Und auch wer einfach nur lesen moechte und auf preiswerte aber unversehrte Ausgaben der NRF hofft, wird ohne weiteres fuendig. Zwar ahnt man nicht, welche Schaetze sich hier vor - sagen wir - sechzig Jahren gefunden haben moegen, doch ist man ja auch schon zufrieden nicht fuer dumm verkauft und zu einem ehrlichen Handel eingeladen zu werden. (Das koennte ueberhaupt die Formel fuer das heutige Paris sein: man erhaelt, was einem versprochen wurde und dass man allein dies schon fuer ein Glueck zu halten geneigt ist, sagt genug aus ueber die Zeit in der wir leben). Wie anders aber dann eben wieder an Orten wie Montmartre. Es sind noch keine hundert Jahre vergangen, dass dieser Teil Paris' als eine Wiege der Kunst galt, aufregend, unangepasst, verrucht, lebendig. Aber was vor einem Jahrhundert der Lieblingsort der Avantgarde war, muss jetzt - nach welcher stupiden Gerechtigkeit? - die unbarmherzige Rache des Spiessertums erdulden. Man wagt sich nicht in Erinnerung zu rufen, wer alles hier froehlich gezecht haben mag um das Magma fluessig zu halten aus dem am naechsten Tag wieder Bilder geformt werden wollten, wenn man jetzt die Shortstraeger mit Blick auf die Place du Tertre ihre Fritten vertilgen sieht, einem Platz, zugehaengt mit dem Talmi der Strassenkuenstler unter denen schon als Meister gelten muss, wer es versteht einen Stil wenigstens sachkundig zu kopieren. Oder liegt es einfach nur daran, dass ich diesem rustikalen Charme auf den Schultern der Boulevards, diesen Gaesschen und Treppchen mit ihren in satten Lackfarben erstrahlenden Lokalen, die sich ausnehmen, wie das Knusperhaeuschen im Maerchenwald auch zu ihrer Bluetezeit schon nicht getraut haette? Wenn Grosstadt, dann eben richtig und nicht diese Vorgartenbukolik als idyllische Kulisse fuer genialische Ausschweifungen. Verblueffend trotz allem der kleine Weinberg an der Rue Cortot. Durch Eisengitter geschuetzt, ist er der einzige authentische Zeuge fuer ein Paris, das ich ansonsten nur fuer die dumme Erfindung des Nachkriegstourismus gehalten haette. Sacre Coeur passt dabei ganz gut in diesen Plunder. Ihre bleiche, ein wenig zu glatte Fassade, wie sie aufragt ueber dem ungluecklich dimensionierten Aufgang und ihre Kuppel wie ein gigantisches Fruehstuecksei praesentiert. Seit wann genau betrachtet man eigentlich Kirchen als Kulturdenkmaeler und abstrahiert von ihrem kultischen Verwendungszweck? Und seit wann machen die Kirchen dies mit? Waehrend unten in der Stadt die Vermarktung ruecksichtslos ist, hat man sich hier in Sacre Coeur entschlossen, einen innersten Bezirk vor den Touristen zu schuetzen und den Glaeubigen vorzubehalten. Schon am Eingang zischt einem ein agiler junger Kirchendiener seine Mahnung zur Stille entgegen - worauf zwar auch schriftlich hingewiesen wird, jedoch nur in franzoesischer Sprache, was die Durchschlagskraft dieses Hinweises dann doch ganz erheblich schmaelert. Und er verfolgt sogar die zahlreichen Bilderjaeger mit ihren Digitalkameras und die Handyknipser die sich ueber das Verbot hinwegsetzen, bis weit in das Innere der Kathedrale und fuehrt die stoerrischen Suender am Arm hinter sich herziehend, davon. Das verdutzte Erstaunen der so Ertappten kann man sich nicht grotesk genug vorstellen: da fuer sie alle das Speichern der Pixl laengst der eigentliche Grund fuer ihren Kirchenbesuch geworden ist, kommt ein Photographierverbot einem Platzverweis gleich. Am Aermel sanft vom Ort ihrer Verfehlung fortgefuehrt, folgen sie widerstrebend, nicht, ohne hilfesuchend um sich zu blicken, wie Kinder, die, sich keiner Schuld bewusst, unter den Umstehenden nach den Augen der Mutter suchen.