------------------------ Wohnen in alten Haeusern ------------------------ An einem Abend Ende Juli sitzen wir mit einigen der Teilnehmer des Seminars "Globalization in Plurals" an einem Ort, den Restaurant zu nennen falsche Vorstellungen erwecken wuerde: es handelt sich eher um eine umzaeunte Freiflaeche, eine Bauluecke, die wahrscheinlich durch den Abriss einiger baufaelliger Haeuser in dieser Gegend entstanden ist. Die Inhaber dieses Etablissements, das man in Deutschland vielleicht "Schnellimbiss" nennen wuerde, sind Armenier und auf der Speisenkarte stehen Schaschlikgerichte aus verschiedenen Fleischsorten, die in einem alten, noch aus der Sowjetzeit stammenden, eingeschossigen, barackenaehnlichen Gebaeude auf Holzkohlefeuer gegrillt werden. An diesem Ort sind Ablagerungen aus verschiedenen Epochen uebereinandergewachsen: der Holzzaun ist in der traditionellen Weise der estnischen Bauernhoefe errichtet, die Tische, die auf dem hartgetrockneten Lehmboden aufgestellt sind, stammen dagegen aus Sowjetzeiten, doch um diese alten Tische, die - so abgenutzt und schaebig sie auch erscheinen, doch nun schon so etwas wie einen nolstalgischen Charme verbreiten - stehen die notorischen weissen Monoblockplastikstuehle, die man an allen Orten der Welt, von Asien ueber Afrika bis an diese kleinen Flecken inmitten eines mehr oder weniger prosperierenden Europas findet, dort, wo die Moderne zwar Einzug gehalten, aber nie auch nur einen Hauch von Wohlstand hinterlassen hat. Diese Stuehle stehen fuer die Abwesenheit jeglichen (aesthetischen) Anspruchs, in die sich die Betreiber des Restaurants mit ihren schmudelligen Jogginghosen oder den ueber die Fettbaeuche nach unten gezogenen, billigen T-Shirts nahtlos einpassen. Ich habe immer eine grosse Sympathie fuer diese Art von Orten gehabt und es zeigt sich, dass auch um uns herum vor allem Touristen an den wackeligen Tischchen Platz genommen haben, denen, so stelle ich mir vor, solche Orte vertraut sind von frueheren Reisen, nach Aegypthen z.B. oder in die Tuerkei, nach Indien oder vielleicht sogar in den Kaukasus. Trotzdem frage ich mich, wie die uebrigen Teilnehmer diesen Ort wahrnehmen, von denen einige hochbezahlte Fachkraefte in der Computerbranche sind, Universitaetsprofessoren oder einfach nur an einen gewissen Luxus gewohnte, berufsmaessige Vortragsreisende. Zu Nick, einem in England geborenen, in Amerika aufgewachsenen, inzwischen laengst wieder an einer englischen Universitaet unterrichtenden (marxistischen) Literaturwissenschaftler spreche ich ueber die Architekturgeschichte dieses besonderen Viertels, in dem eine ganze Reihe kostspielig renovierter Holzhaeuser aus dem 19. Jahrhundert zu finden sind und das folglich ein Beispiel fuer jene laengst zu einem allgemein bekannten Phaenomen gewordene Gentrifizierung ist und Nick weist mich auf ein unrenoviert gebliebenes Haus am Ende der Strasse hin, das ich von meinem Platz aus gar nicht sehen konnte, mit vorspringenden Erkern, Alkoven, verfallendem Dach, von dessen Fassade die verblichene, rissig gewordene, gruene Farbe bereits durch eine konservierende Schicht Staubs vor dem weiteren Abblaettern geschuetzt scheint. Nick gesteht mir, dass diese Ruinen, denen man in Tallinn noch auf Schritt und Tritt begegnet, einen besonderen Reiz auf ihn ausueben und das bringt auch mir in Erinnerung, wie ich vor mehr als fuenfzehn Jahren durch das Ruinoese und den Verfall des verottenden Holzes vollkommen fasziniert war und mir das Durchstreifen dieser Strassen das Gefuehl vermittelte, der (heimliche) Protagonist eines nur mir bekannten Filmes zu sein. Allerdings, so gestehe ich Nick, verfliegt der "thrill", so druecke ich mich ihm gegenueber aus, erstaunlich schnell, wenn man wirklich in einem solchen Haus zu Wohnen beginnt. Innerhalb weniger Tage verwandelt es sich in ein ganz normales Haus und die Atmosphaere, die einen noch vor kurzem so angezogen hat, verfluechtigt sich auf unbegreifliche Weise. In Wirklichkeit wuerde ich eine Wohnmaschine im Le Corbusierschen Sinne vorziehen, eine Wohnumgebung, die mir mehr Zeit geben wuerde, mich auf mich selbst zu konzentrieren. Das Wohnen in diesen alten Haeusern, sage ich zu Nick, ist "too time absorbing". "Denk nur an all diese Magazine und Zeitschriften fuer Innenarchitektur, Dekoration und Lifestyle, ueber denen ein ganzes Leben vergehen kann auf der Suche nach den richtigen Stuehlen, der Farbe der Tapeten und der Gardinen und den Kunstwerken, die spaeter die Waende schmuecken sollen, nicht zu reden von Unmengen von Accessoires, die gebraucht werden, will man Freunde einladen, sie bewirten, in der eigenen Kueche." Wahrscheinlich, so meine ich abschliessend zu Nick, ist meine Phantasie einfach zu maechtig, die mich, wenn ich in einem kahlen Raum sitze und eigentlich nur die nackten Betonwaende anstarren muss, ohne weiteres vorstellen laesst, wie ich in einem solchen Haus mit allen Merkmalen des Anheimelnden und dem nolstalgischen Flair wohnte, so plastisch, dass es mir gar nicht mehr erstrebenswert erscheint, diese Vorstellung jemals verwirklicht zu sehen. Jede Verwirklichung koennte gegenueber einer solchen Vorstellung nur eine Enttaeuschung bedeuten.