# taz.de -- Kommentar Istanbul-Proteste: Ein irres Land > Alle, die dabei waren, sind sich einig: Die Türkei wird nie mehr so sein > wie vor den Protesten. Doch was wirklich zählt, ist der Augenblick. (IMG) Bild: Selbst Menschen, denen diese Nationalmeierei stets peinlich war, können beim Protest Fahnen nun wenigstens tolerieren. Dieses Land ist komplett irre. Wenn die Entwicklungen der vergangenen zwei Wochen etwas endgültig bewiesen haben, dann das. Dieses Land ist komplett irre. Gäbe es ein internationales Ranking sinnloser Tötungsdelikte, der Türkei wäre ein vorderer Platz sicher. („Was guckst du so?“ − „Was sagst du da?“ − Zack!) Auch in Sachen [1][Gewalt gegen Frauen] geben die Türken noch immer eine beschämende Figur ab. Und zugleich sind die Menschen in der Lage, einander mit der größten Zärtlichkeit und Höflichkeit zu begegnen. Wer in diesen Tagen im Gezi-Park sieht, wie sie sich bei dem kleinsten Zusammenstoß über Gebühr entschuldigen, wer in einer flüchtenden Masse erlebt, wie sich die unterschiedlichsten Menschen umeinander kümmern, kann davon viel eher Tränen in die Augen bekommen als durch das Gas der Polizei. Dieses Land ist komplett irre. Menschen, die noch vor ein paar Wochen füreinander Verachtung verspürten, stehen plötzlich Schulter an Schulter. Linksradikale und Liberale, Kurden und Kemalisten, Schwule, Lesben und – ja, auch das – gläubige Muslime und Anhänger der ultrarechten MHP („Graue Wölfe“), die Ultras der großen Istanbuler Clubs. Banker sind dabei, Arbeiter, viele, sehr viele Frauen. Sie alle führen einen gemeinsamen Kampf. [2][Das Bild der Woche:] Ein Mann mit der Fahne der kurdischen BDP und eine Frau mit einer türkischen Fahne samt Atatürk-Konterfei flüchten eingehakt vor einem Wasserwerfer. Daneben steht ein Mann, der Finger zum Gruß der „Grauen Wölfe“ spreizt. Zerrissen war die Gesellschaft immer nur auf politischer Ebene. Individuell sah die Sache anders aus. Kaum ein Linker, der keinen ultrafrommen Verwandten hätte, kein Kemalist ohne liberale Nachbarn. Wohl deshalb ist es möglich, dass Polizisten und Demonstranten [3][spätnachts auf dem Taksim-Platz freundlich miteinander reden können]: Reste feudaler Strukturen sind in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht immer schlecht. ## Ein Land ohne Furcht Dieses Land ist komplett irre. Weil es furchtlos ist. Bis vor ein paar Wochen tat man der Türkei kein Unrecht, sie als Land ohne Opposition zu bezeichen. Die Linken schwach und größtenteils von gestern, die Kemalisten zu elitär, der Rest, allen voran die Jugend, zu passiv. Und plötzlich entsteht eine Bewegung, die auf jede Gewalttat der Polizei damit reagiert, dass [4][tags darauf noch mehr Menschen in den Gezi-Park] strömen. Dieses Land ist komplett irre. Wer mit den Hoteliers spricht, die den Protestierenden im Notfall Zuflucht geben, mit Businessleuten aus den umliegenden Büros, die dort zur Hilfe kommen, wo sie können, bekommt noch vor aller Kritik an der Erdogan-Regierung eines zu hören: Es geht um Menschlichkeit. Eine Phrase, unerträglich banal. Aber manchmal wahr. Dieses Land ist komplett irre. Für einen Teil, einen großen sogar, war die Fahne immer schon das zweitgrößte Heiligtum nach der Jungfräulichkeit der eigenen Töchter. Doch auf einmal empfinden auch Menschen, denen diese neurotische Nationalmeierei stets peinlich war, so etwas wie Stolz und können Hymne und Fahne zumindest tolerieren. ## Plötzlich entstanden, plötzlich verschwunden Dieses Land ist komplett irre. Weil es so vergesslich ist. Knapp 17 Jahre ist es her, als nach dem Susurluk-Skandal, der weitreichende Verbindungen zwischen Politik, Sicherheitskräften, rechtsextremen Killern und Verbrechern an den Tag spülte, eine ähnlich spontane wie zivile Protestbewegung entstand, die das damalige Establishment in den Grundfesten erschütterte. Doch so plötzlich diese Bewegung entstanden war, verschwand sie auch wieder. Bis vor ein paar Wochen konnte man ohne weiteres behaupten, dass die Erinnerung an die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 in der Gesellschaft präsenter ist als die Erinnerung an Susurluk. Auch jetzt sagt ausnahmslos jeder, der in den vergangenen Wochen in Istanbul, Ankara oder Kayseri auf der Straße war oder mit Töpfen und Pfannen in der Hand aus dem Wohnzimmer heraus protestiert hat, diesen Satz: Dieses Land wird nicht mehr dasselbe sein. Schön wär‘s. Aber man weiß nie. Denn dieses Land ist komplett irre. 14 Jun 2013 ## LINKS (DIR) [1] /!89390/ (DIR) [2] http://image.haber7.com/haber/haber7/archive/basliksiz_3jpg_h981.jpg (DIR) [3] /!118162/ (DIR) [4] /!118047/ ## AUTOREN (DIR) Deniz Yücel ## TAGS (DIR) Resistanbul (DIR) Taksim-Platz (DIR) Istanbul (DIR) Gezi-Park (DIR) Protest (DIR) Proteste in der Türkei (DIR) Schwerpunkt Türkei (DIR) Schwerpunkt Protest in der Türkei (DIR) Schwerpunkt Türkei (DIR) Besser (DIR) Gezi-Park (DIR) Gezi-Park (DIR) Carsi (DIR) Schwerpunkt AKP (DIR) Schwerpunkt Deniz Yücel (DIR) Schwerpunkt Türkei (DIR) Schwerpunkt Türkei (DIR) Schwerpunkt Türkei (DIR) Istanbul (DIR) Taksim-Platz (DIR) Istanbul (DIR) Recep Tayyip Erdoğan (DIR) Istanbul (DIR) Taksim-Platz (DIR) Taksim-Platz (DIR) Schwerpunkt Deniz Yücel ## ARTIKEL ZUM THEMA (DIR) Türkische Großmannssucht: Erdogan sucht den Super-Muslim Kein Tag vergeht, an dem der Präsident nicht irgendeinen Blödsinn erzählt. Doch neu ist nicht der Größenwahn, sondern der Rückgriff auf den Islam. (DIR) Kolumne Besser: Liebe Kurden, seid nett zur Autobahn Die kurdische Bewegung steht vor einer historischen Chance, die langersehnte Anerkennung zu erfahren. Aber weiß sie das eigentlich? (DIR) Fan-Doku „Istanbul United“: Erstaunliche Verschmelzung Ambivalente Gewalt: „Istanbul United“ zeigt eindrucksvoll, wie Ultras, die einander spinnefeind sind, durch den politischen Protest geeint werden. (DIR) Tod eines 15-Jährigen in der Türkei: Ein Gefühl der Hilflosigkeit Mögen die, die für den Tod von Berkin Elvan verantwortlich sind, zum Teufel gejagt werden. Möge die Türkei aufhören, jener Staat zu sein, der er ist. (DIR) Kolumne Besser: Danke, Bayer AG! Lachen. Über Graffiti. Über Demoparolen. Brüllen. Singen. Sprühen. Lachen. Eine Stadt. Im Ausnahmezustand. Der Abschied von der Republik Gezi. (DIR) Proteste in der Türkei: In der Höhle des Tigers Aufstrebend, fromm, konservativ: Das zentralanatolische Kayseri gilt als Hochburg der Erdogan-Partei AKP. Doch es gibt Ausnahmen. (DIR) Kolumne Besser: Warum ich in Istanbul bin Die Proteste in der Türkei vereinen Bänker, Anarchisten und Feministinnen. Das ist schöner und demokratischer als der Bürokratenverein namens EU. (DIR) Proteste in Istanbul: Tränengas im Foyer Gaswolken, tränende Augen, verätzte Haut, schreiende Menschen. Wie unsere Autorin die Nacht in einem Hotel neben dem Gezi-Park erlebt hat. (DIR) Räumung des Gezi-Parks: „Verbrechen gegen Menschlichkeit“ Durch das brutale Vorgehen der Polizei soll es hunderte Verletzte gegeben haben. Für Sonntag ruft das Protestbündnis zu einer Massendemo in Istanbul auf. (DIR) Proteste in Istanbul: Polizei räumt gewaltsam Protestlager Am Abend stürmen Sicherheitskräfte den Gezi-Park. Sie setzen Wasserwerfer und Tränengas ein. Es gibt mehrere Verletzte. Augenzeugen berichten von dramatischen Szenen. (DIR) Demonstranten im Gezi-Park: Erste Risse im Bündnis Radikal oder gemäßigt? Basisdemokratie oder Delegierte? Maximal- oder Minimalforderungen? Das Protestbündnis ist uneins, wie der Widerstand fortgesetzt werden soll. (DIR) Kommentar Proteste in Türkei: Weiter, was denn sonst? Die Besetzer des Gezi-Parks bleiben, denn Erdogan hat keine Zugeständnisse gemacht. Sie haben viel erreicht - und dafür bezahlt. Jetzt müssen sie sich auf Minimalziele einigen. (DIR) Proteste in der Türkei: Sie wollen bleiben Die Demonstranten widersetzen sich der Forderung von Erdogan. Sie wollen im Gezi-Park ausharren. Der Konflikt droht sich erneut zu verschärfen. (DIR) Bauarbeiten im Gezi-Park gestoppt: Erdogan sagt: Raus aus dem Park Der türkische Premier Erdogan hat das Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park vorerst gestoppt. Nun sollten die Demonstranten aber auch gehen, fordert er. (DIR) Die Nacht in Istanbul: Gruppentherapie am Taksim Trotz Erdogans Ultimatum bleiben die Demonstranten auf dem Taksim-Platz, die Polizei verhält sich ruhig. Zeit für Gespräche und für Musik. (DIR) Die Nacht von Taksim: Feiern, Rennen, Bluten Gewaltsam geht die Polizei gegen die Demonstranten vor. Ein Protokoll dessen, was unsere Autoren in der Nacht erlebt haben, als der Taksim-Platz geräumt wurde. (DIR) Die Bewegung rund um den Taksim-Platz: Da bleibt kein Auge trocken Jetzt geht die Polizei gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Die Bewegung hat jedoch etwas, was sie von früheren Protestgenerationen unterscheidet: Humor. (DIR) Kolumne Besser: Der Aufstand der Weißen Die Demokratisierung des politischen Islams ist gescheitert. Siebeneinhalb Thesen zum Aufstand gegen die Erdogan-Regierung.