# taz.de -- Die Wahrheit: An einem müßigen Morgen
       
       > Prokrastination für Fortgeschrittene mit der Eichhorn-Methode.
       
 (IMG) Bild: Dinge, auf die der Handelnde keinen originären Einfluss hat: Weckerklingeln
       
       Sobald meine beiden Kerkerkügelchen in den Kindergarten und die Grundschule
       gerollt sind, bieten sich mir an einem müßigen Morgen in der Wohnung genau
       zwei Möglichkeiten.
       
       Erstens kann ich die Zeitung unaufgeschlagen sowie das Radio abgeschaltet
       lassen und die Eichhörnchen im Innenhof beobachten. Spalier stehen dort
       sieben Fichten, in denen ein ganzer Pulk von Sciurus vulgaris sein
       niedliches Wesen treibt. Haben sie in den Wipfeln zu tun, kann ich in der
       Küche ihrem äffchenhaften Geturne aus einer geradezu zoologischen
       Entfernung von nur drei Metern beiwohnen.
       
       Hin und wieder nimmt mich ein Eichhorn ins Visier seiner glänzenden
       schwarzen Knopfaugen, während der buschige Schwanz, nur zart vom Wind
       zerzaust, wie ein Baldachin über seinem Kopf mit den Pinselohren steht. Sie
       sind immer da, sommers wie winters. Noch vor Sonnenaufgang scharrende
       Geräusche außen an der Hauswand, da beklettern die ersten Kundschafter ihr
       Revier, senkrecht den Putz hoch und runter.
       
       Sehr früh am Morgen sieht man sie über die Schindeln und das Wellblech
       benachbarter Häuser flitzen, als wären sie auf dringender Mission, was sie
       wahrscheinlich auch sind. Bei Sonnenaufgang verharrt das kräftigste
       Exemplar manchmal auf dem kargen Grat der Brandmauer gegenüber. Die
       Silhouette eines wachsamen Indianers vor dem blutorangen Glanzlack des
       Himmels, aus dem sich jetzt die diamantenen Frontscheinwerfer der ersten
       Asienflieger zur Landung in Frankfurt abfädeln wie von einer Kette.
       
       Später werden die grellgrünen Sittiche durch diesen Himmel sicheln wie
       Jagdflieger, danach eine ruhig rudernde Formation von Störchen, zuletzt
       immer zwei Gänsesäger mit ihrem hektischen Flügelschlag. Beim Umtopfen auf
       dem Balkon finden wir Walnüsse, Haselnüsse und Eicheln, sorgsam in der
       weichen Blumenerde verscharrt von hamsternden Eichhörner. Oft sehe ich sie
       tödliche Abgründe überspringen, von schaukelnden Ästen aus, zögernd, den
       richtigen Winkel erahnend und dann – jetzt! – mit ausgestreckten Krallen
       hinüber zur Mauer und von dort ohne Innehalten weiter.
       
       So sichtbar die Tiere, so unsichtbar sind ihre Kobel. Es gibt Nester zum
       Schlafen und zum Rasten, alle haben sie mindestens einen Notausgang für die
       schnelle Flucht, die bei uns aber nicht nötig ist. Die einzige Katze im
       Haus ist eine adipöse Schande ihrer Gattung. Breitbäuchig vertrödelt sie
       ihre Tage auf den Sonnenflecken im Hof, allein der Gedanke an etwas so
       Abwegiges wie eine Jagd lässt sie schwerer atmen.
       
       Ganz anders die Eichhörnchen, deren jede sehnige Bewegung an Zeiten
       erinnert, da sie noch von Wipfel zu Wipfel und von Generation zu Generation
       den borealen Nadelwald wie einen zusammenhängenden Dschungel bevölkerten,
       von Wladiwostok bis Santiago de Compostela, ohne jemals den Boden zu
       berühren. Ihr Epos müsste mal geschrieben werden, als Mischung aus „Herr
       der Ringe“ und „Watership Down“ …
       
       Zweitens könnte ich die Zeitung aufschlagen und das Radio einschalten. Aber
       warum sollte ich das tun?
       
       27 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Arno Frank
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Baum
 (DIR) Eichhörnchen
 (DIR) Natur
 (DIR) Die Wahrheit
 (DIR) Eichhörnchen
 (DIR) Unfall
 (DIR) Dichter
 (DIR) Costa Concordia
 (DIR) Ausgrenzung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Der Tag der unverrichteten Dinge
       
       Wie sieht’s aus, heute schon was geschafft? Ein Beitrag zur dringenden
       Feier der Prokrastination am „Tag der unverrichteten Dinge“.
       
 (DIR) Eichhörnchen-Skandal im Pott: Verdammte Idylle!
       
       In Bottrop hat ein Eichhörnchen eine Frau sehr hartnäckig verfolgt, bis sie
       die Polizei rief. Diese nahm das Tier dann in Gewahrsam.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Das war's mit dem Fahrrad!
       
       Nach dem vierten oder fünften Unfall ist es genug. Ich habe keine Lust
       mehr, mich karatemäßig über die küchengroßen Kühler von Geländewagen
       abzurollen.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Schießt Poeten ins All!
       
       Warum suchen die Raumfahrtbehörden eigentlich immer nur Wissenschaftler und
       Techniker fürs Weltall? Lasst Dichter hinauf zu den Sternen.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Der nasse Capitano
       
       Der Kapitän der im Jahr 2012 verunglückten „Costa Concordia“ wurde jetzt
       schuldig gesprochen. Aber ist er das auch? Versuch einer Ehrenrettung.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Dick, fett und sexy wie Schweißfüße
       
       Die Gesellschaft weigert sich, schnaufende Anwärter auf Arthrose,
       Arteriosklerose oder Herzkasper als „awesome“ wahrzunehmen.