# taz.de -- Der Fall des Rubel: Russen im Kaufrausch
       
       > Die Krise treibt die Leute in die Geschäfte. Die Preise für Luxusgüter
       > und Lebensmittel steigen. Für die Jungen ist das eine ganz neue
       > Erfahrung.
       
 (IMG) Bild: Jetzt aber schnell: Der Rubel muss raus, bevor er gar nichts mehr wert ist.
       
       MOSKAU taz | Sorgfältig studiert Olga Pawlowna die Preisschilder in der
       Supermarktkette „Pjatjorotschka“. Auf einen derart rapiden Preisanstieg war
       die Rentnerin nicht vorbereitet. Bereits kleinere Preissteigerungen haben
       immer ein Loch in ihr knappes Budget gerissen. „Wir Orthodoxe haben derzeit
       Fastenzeit. Deswegen kaufe ich natürlich nichts, was ich in der Fastenzeit
       nicht zu mir nehmen darf, keine Milch, keine Eier und kein Fleisch.
       Glücklicherweise habe ich mir einen Vorrat an Buchweizen angelegt. Der ist
       in der Fastenzeit erlaubt.“
       
       Seit Oktober hat sich in Russland der Preis für das beliebte Getreide fast
       verdoppelt. Mancherorts ist es sogar völlig aus den Regalen verschwunden.
       Der tiefe Fall des Rubels in der vergangenen Woche wird als „schwarze
       Woche“ noch lange in Erinnerung bleiben. Er ist ein sicherer Vorbote für
       weiterer Preissteigerungen.
       
       Am 16. Dezember, dem „schwarzen Dienstag“, wurde eine psychologische
       Schwelle überschritten. Der Euro, der noch zu Jahresbeginn bei 45,05 Rubel
       lag, überwand die 100-Rubel-Marke. Auch der Dollar, noch zu Jahresbeginn
       für 32,65 Rubel zu erwerben, war bei einem neuen Hoch von 80 Rubel
       angelangt. An diesem Dienstag fuhr niemand nach der Arbeit sofort nach
       Hause. Alle hetzten in die Einkaufszentren, um ihre Rubel in Waren
       umzusetzen, kauften Fernseher, Computer und Mobiltelefone, oder auch Möbel
       und haltbare Lebensmittel.
       
       Die Hautärztin Oxana, die mit ihrer Tochter in Moskau lebt, kaufte sich
       eine ganze Einbauküche. Gern hätte sie diese bei Ikea gekauft. Doch dort
       war schon fast alles ausverkauft. Alle wollten der von Ikea für Donnerstag,
       den 18. Dezember, angekündigten Preiserhöhung zuvorkommen. Wer konnte,
       erwarb schnell ein Auto, am besten einen Importwagen.
       
       Nur die Tourismusbranche konnte von der Bereitschaft, Geld auszugeben,
       nicht profitieren. Wegen des hohen Dollar- und Eurokurses hat sich die Zahl
       der verkauften Reisen in diesem Jahr halbiert. Vorbei sind die Jahre, in
       denen man sich nach Europa aufmachte, um dort Kleidung und andere Waren
       einzukaufen, und sich bei der Rückreise noch die Mehrwertsteuer ausbezahlen
       lassen konnte. Shopping in Europa lohnt sich nicht mehr.
       
       ## Geld unter Matrazen
       
       Wieder bilden sich Schlangen im Land, vor den Banken und Supermärkten. Die
       Menschen wollen ihre Rubel gegen eine stabile Währung oder Waren
       eintauschen. Dass man sich ausgerechnet in die Währung des Landes stürzt,
       das man als Schuldigen allen Leids in Russland ausgemacht hat, stört
       niemanden.
       
       Sie habe gerade noch 400 Dollar vorrätig, berichtete eine Angestellte der
       Sberbank am „schwarzen Dienstag“. Schuld daran sei ein Kunde, der sich
       schon am Vormittag 100.000 Dollar von seinem Devisenkonto hatte auszahlen
       lassen. Doch der Mann scheint eher eine Ausnahme gewesen zu sein. Viele
       vertrauen auch heute noch in Russland ihr Geld lieber ihrer Matratze als
       einer Bank an. Wer steinreich ist, hat vorgesorgt, sein Finanzvermögen zum
       größten Teil auf eine westliche Bank gebracht. Viele Banken hatten in der
       letzten Woche plötzlich selbst keine Devisen mehr. Andere, insbesondere
       kleinere Banken zahlten keine Devisen mehr aus, wegen „Eigenbedarf“.
       
       Angesichts der Schwäche des Rubels ist es für die Banken profitabler, wenn
       ihre Kunden in Devisen zahlen. Russen, die Hypotheken in ausländischer
       Währung aufgenommen haben, riskieren nicht nur den Verlust bereits
       geleisteter Ratenzahlungen, sondern bald auf der Straße zu landen.
       
       2010 nahm Tatjana Pogosjan bei der Russischen Kommerzbank einen Kredit in
       Höhe von 121.000 US-Dollar auf, um sich in dem Moskauer Vorort Chimki eine
       Wohnung zu kaufen. Zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses kostete ein Dollar
       31 Rubel. Am 19. Dezember gab die Russische Zentralbank den Kurs mit 59,60
       Rubel an. Bereits im vergangenen Monat hatte Tatjana die Bank um eine
       Refinanzierung des Hypothekenkredits und dessen Umstellung auf Rubel
       gebeten.
       
       Nach der Ablehnung der Bank suchte sie in den sozialen Netzwerken nach
       Leidensgenossen – das heißt anderen Devisen-Schuldnern, mit denen sie vor
       der Russischen Zentralbank demonstrierte. An der Aktion am 12. Dezember
       nahmen einige Dutzend Menschen teil. „Jetzt gehören unserer Internet-Gruppe
       „Russische Bewegung der Devisen-Schuldner“ bereits mehr als 3.000 Personen
       an“, sagt Tatjana.
       
       Sollten die Banken nicht zu Kompromissen bereit sein, kann sie bereits im
       Januar ihren Kredit nicht mehr bedienen. Wovon sie sich dann ernähren soll,
       weiß sie nicht. Jetzt läuft die junge Frau Gefahr, nicht nur die Wohnung an
       die Bank zu verlieren. „Das ist noch nicht alles, ich bleibe Schuldnerin
       der Bank“, sagt sie und fügt hinzu, dass ihre Schulden, bei dem neuen Kurs,
       den Preis der Wohnung übersteigen.
       
       Tatjana und die anderen Aktivisten sind der Meinung, dass die Banken die
       Kredite auf den Kurs umstellen sollten, der zum Zeitpunkt des
       Vertragsabschlusses oder am 1. Januar 2014 galt – das heiß bevor der Westen
       Sanktionen gegen Russland verhängte.
       
       ## Neue Erfahrung für die Jungen
       
       Tatjana hofft auch auf die Hilfe der russischen Regierung. Sie sei
       Patriotin, sagt sie. Ihre Antwort auf die Frage, warum der Westen
       Sanktionen gegen Russland verhängt habe, lautet: „Wenn es nicht die Krim
       oder die Situation in der Ukraine gewesen wären, wären die Sanktionen
       trotzdem gekommen. Da hätte sich schon ein anderer Vorwand gefunden. Denn
       Russland ist wieder auf die Beine gekommen und stärker geworden.“
       
       Die jetzige Krise, die sich im nächsten Jahr fortsetzen dürfte, ist der
       erste ernsthafte wirtschaftliche Schock für die Generation der 20-jährigen
       Russen, die kurz vor beziehungsweise kurz nach dem Zusammenbruch der
       Sowjetunion geboren wurden.
       
       Vera, eine 23-jährige Moskauerin, hat vor Kurzem ein Studium an einer
       russischen Eliteuniversität abgeschlossen. So schnell, wie sich ihr Gehalt
       in den vergangenen Monaten reduzierte, konnte sie gar nicht gucken – von
       1.000 auf jetzt 300 Euro. Die Wirtschaftskrisen 1998 und 2008 hat Vera gar
       nicht registriert. 2014, dem Jahr des Beginns ihrer beruflichen Karriere,
       hat sich Vera erst einmal mit Vorräten an Buchweizengrütze eingedeckt. Sie
       bereitet sich jetzt auf eine Verschlechterung nicht nur der
       wirtschaftlichen, sondern auch der politischen Situation vor. „Ich hätte
       nie gedacht, dass es 2014 so schlimm kommt. Früher haben wir Geld verloren,
       jetzt jedoch verlieren wir auch noch unsere Freiheit“, sagt Vera.
       
       Am „schwarzen Dienstag“ kauften Moskauer im Kaufhaus am Blumenboulevard wie
       die Irren importierte Kosmetik, Designerkleidung und Computer. In nicht
       einmal 24 Stunden zwischen dem Absturz des Rubels und den folgenden
       Preiserhöhungen konnte man Artikel von Apple in Moskau um 80 bis 100 Euro
       billiger kaufen als in amerikanischen oder europäischen Geschäften. Unter
       den Käufern waren viele junge Leute, die in den fetten Jahren hoher
       Ölpreise und einer stabilen Herrschaft Wladimir Putins aufgewachsen waren.
       
       Russlands Jugend verfolgt Nachrichten vor allem in den sozialen Netzen und
       über Mobiltelefone. Deshalb darf man diese Menschen nicht als „apolitisch“
       bezeichnen. Dennoch entscheidet sich die Mehrheit für eine „innere
       Immigration“.
       
       Vera, die gegen die Annektion der Krim und die russische Aggression
       gegenüber der Ukraine ist, weiß nicht, wie sie mit der Krise umgehen soll.
       Trotz ihrer politischen Haltung hat sie ein Praktikum beim Staatssender
       Russia Today absolviert, um zumindest ein stabiles Einkommen zu haben. Doch
       auch beim Propagandasender des Kreml macht sich der schwache Rubel
       bemerkbar. Während die Ausgaben für Sendungen in Devisen anfallen, bekommt
       der Sender seine Einnahmen in Rubel – aus dem Staatshaushalt. Vera wurde
       dort übrigens nicht für einen festen Job übernommen. „Aber“, sagt sie „wer
       weiß, wofür das gut ist.“
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel und Bernhard Clasen
       
       19 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Roman Oscharow
       
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