# taz.de -- Russische Avantgarde in Berlin: Ein Jahrzehnt der Utopie
       
       > Abheben war erwünscht, Mut zur Abweichung auch. In Berlin erinnert eine
       > Ausstellung an „WChUTEMAS“, ein Labor der Moderne in Moskau.
       
 (IMG) Bild: Ein Entwurf von A.Wesnin zur Fassadengestaltung des WChUTEMAS-Gebäudes am 10. Jahrestag der Oktoberrevolution (Ausschnitt).
       
       Eine „Fliegende Stadt“ in den Wolken, ein 56-stöckiges Hochhaus, das als
       „Denkmal für Ch. Kolumbus in Santo Domingo“ gedacht war, oder auch die
       „Architektonische Erscheinung eines Gemeinschaftshauses“, das sich in
       verwickelter Schachtelung wie eine Sichel in den Himmel bäumt. Solch
       fantastische Visionen einer neuen Architektur konnten ab 1920 nur in
       Russland erdacht werden.
       
       Das postrevolutionäre Land der Sowjets war auf Utopie gepolt und einer
       hoffnungsfrohen Zukunft zugewandt. Der gesellschaftliche Umbruch erzeugte
       eine geradezu überschäumende Fantasie bei Architekten und
       Architekturschülern. Alles schien möglich, irgendwann, irgendwie – selbst
       eine Stadt in den Wolken.
       
       Der Ort, wo diese kühnen Visionen eines neuen Bauens entwickelt wurden,
       hieß WChUTEMAS. Es ist die Kurzformel für „Höhere Künstlerisch-technische
       Werkstätten“. 1920 durch Dekret der Sowjetregierung in Moskau gegründet,
       sammelte sich an der Schule so gut wie alles, was in der russischen
       Avantgarde Rang und Name hatte: El Lissitzky, Naum Gabo, Moissej Ginsburg,
       Gustav Klucis, Wassily Kandinsky, Ljubow Popowa, Alexander Rodtschenko,
       Wladimir Tatlin oder Alexander Wesnin und andere mehr.
       
       ## Architekten der Zukunft
       
       Die WChUTEMAS gliederten sich in acht Fakultäten. Der Martin-Gropius-Bau in
       Berlin zeigt nun Einblicke in die Architekturausbildung. Die Entwürfe – vor
       allem Zeichnungen und einige Modelle – stammen aus dem Staatlichen
       Schtschussew-Museum für Architektur in Moskau. Hier wurde die Ausstellung
       entwickelt. Auch der Namensgeber des Museums, Alexej Schtschussew, der
       Schöpfer des Lenin-Mausoleums, unterrichtete an den WChUTEMAS.
       
       Die Ausrichtung der Schulen war nicht durchweg aufs Avantgardistische oder
       streng Konstruktivistische festgelegt. Vielmehr gab es permanent Streit,
       welche Rolle die Kunst in der neuen Gesellschaftsordnung denn nun haben
       sollte. Die Fronten liefen zwischen den Anhängern der Produktionskunst, die
       die Totalgestaltung der Umwelt als Aufgabe sahen, und den Vertretern der
       „reinen“ Kunst.
       
       ## Zehnmal größer als das Bauhaus
       
       Die WChUTEMAS sind immer wieder mit dem deutschen Bauhaus verglichen
       worden. Der Vergleich hinkt, aber beiden Schulen gemeinsam ist, dass es
       einen für alle Studenten gemeinsamen ein- bis zweijährigen Grundkurs gab,
       bevor es sich zu spezialisieren galt. Anders als beim Bauhaus, waren die
       WChUTEMAS eine ungleich größere Institution. Mit 2.000 Studenten fing der
       Unterricht an, in Weimar am Bauhaus waren es 1919 gerade einmal 120.
       Außerdem fanden die WChUTEMAS in der Sowjetunion bald Nachahmer – etwa in
       St. Petersburg (Leningrad).
       
       Die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau zeigt vor allem Schülerarbeiten. Doch
       sind diese Materialien aus dem Unterricht – ob abstrakte Übungen zu Farbe
       und Form, Volumen und Gewicht oder die ausgefeilten Diplomarbeiten – von
       erstaunlicher Qualität und Eingebungsgabe. Die Arbeiten der Lehrer fallen
       in ihrer Machart sicher professioneller aus, haben aber nicht die Fantastik
       der Schüler, die bisweilen Architekturen und Städte entwerfen, die sich um
       ihre Unbaubarkeit nicht scheren und – etwa bei G. Krutikow – wie
       Raumschiffe im All schweben.
       
       Zwar entstanden auch an den WChUTEMAS recht traditionelle Entwürfe zu
       Gartenstädten oder klassizistischen Prunkbauten. Aber den Avantgardisten
       unter den Lehrern ging es mit Radikalität darum, die Grundlagen des Bauens
       neu zu entdecken. Dementsprechend hieß ein von Nikolaj Ladowski
       entwickeltes Propädeutikum an der Architekturfakultät auch schlicht „Raum“.
       
       ## Sport und Propaganda
       
       Von den Grundlagen bis zu Planungen für konkrete Bauaufgaben durch die
       Studenten reichte die Spanne der Entwicklung innerhalb der Ausbildung an
       den WChUTEMAS. Das Paradebeispiel in der Ausstellung ist das Bauprojekt
       „Internationales Rotes Stadion“ an den Moskauer Sperlingsbergen (später
       Leninbergen), eines der ambitioniertesten Projekte für Sport, Volksfeste
       und Propaganda während der 20er Jahre in Russland. Am siegreichen
       Wettbewerbsentwurf von Nikolaj Ladowski hatten seine Studenten
       mitgearbeitet.
       
       Ein interessanter Aspekt am Projekt des Roten Stadions ist, wie die
       Studentenarbeiten bewertet wurden. Exemplarisch zeigen die ausgestellten
       Unterlagen des Studenten Michail Petrowitsch Korshew, dass sein Entwurf im
       Kollektiv diskutiert und beurteilt wurde. Das frühere
       Meister-Schüler-Verhältnis der Akademieausbildung wurde also vom
       kollektiven Urteil der Lehrer abgelöst. Korshews Entwürfe sind recht
       geometrisch vom Grundriss her gedacht. Details und Wirkung auf die Massen
       sind zu wenig bedacht, erfährt man aus den dokumentierten Protokollen der
       Diskussionen.
       
       Das Stadion wurde schließlich nie gebaut. Der unsichere Baugrund und
       Geldprobleme stoppten das Projekt. Auch die WChUTEMAS (ab 1927 WChUTEIN,
       -IN für Institut) wurden 1930 aufgelöst und die Fakultäten auf andere
       Schulen verteilt. Fortan war der stalinistische Zuckerbäckerstil im Bauen
       oberste Maxime. Ähnlich wie beim Bauhaus war es die Politik, die den
       WChUTEMAS den Garaus machte. Die Architekturentwürfe an den WChUTEMAS
       zeigen jetzt noch einmal, was alles möglich ist, wenn man Architektur sich
       neu erfinden lässt.
       
       8 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ronald Berg
       
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