# taz.de -- Die Wahrheit: Der Großneffe und das dritte Auge
       
       > Scooterman: Wenn man zum vierten Mal in einer Woche aus dem
       > Elektroscooter stürzt, sollte man ins Krankenhaus. Nur, wo wird man
       > aufgenommen?
       
 (IMG) Bild: „Wenn man überall gewesen ist, sollte man vielleicht dahin zurückkehren, wo es am schönsten ist“: Meinte die Frau etwa Cuxhaven?
       
       „Komm jetzt. Nicht aufgeben!“ Mein Elektroscooter Harry stand im Dunkeln
       mit der linken Seite auf einer Bürgersteigkante, direkt vor meinem Haus.
       Weil ich beim Absteigen mal wieder den Halt verloren hatte, lag ich neben
       ihm und versuchte, mich irgendwie an ihm hochzuziehen.
       
       „Verdammt! Noch mal. Jetzt aber.“ Mit einer Hand erreichte ich die
       Lenkstange. Der Rest war Routine: zehn Minuten Schwitzen, Wimmern, mein
       Schicksal verfluchen – und schon war ich oben. „Und jetzt ab ins Bett!“ –
       „So willst du in deine Wohnung?“, knurrte Harry. „Das war der vierte Sturz
       in einer Woche.“ – „Ja“, stammelte ich, „aber jetzt …“ – „… kommst du ins
       Krankenhaus. Hab die Schnauze voll von dem Kokolores. Gib Strom.“
       
       Es dauerte drei Stunden, bis ich ein Krankenhaus fand, das mich als
       Notaufnahme akzeptierte. Ohne Überdosis. Ohne offene Wunde. Oder zumindest
       einen zünftigen Herzanfall. Dann saß ich in einem weiß gestrichenen
       Krankenhausflur. Geschlossene Psychiatrie. Denn nur da war noch ein Bett
       frei. Aber kein Platz für Harry, der vor der Stationstür geparkt wartete.
       „Warten Sie ein bisschen“, waren die Worte des Pflegers vor einer Stunde
       gewesen.
       
       Es dürfte zwei Uhr nachts gewesen sein, als eine Frau von vielleicht
       siebzig Jahren über den Flur geisterte. Bekleidet mit Krankenhauskittel und
       Jogginghose starrte sie mich lange an. „Sie haben doch bestimmt ein Handy“,
       sagte sie. „Ja?“ – „Ich brauche ein Handy. Die haben mich hier 1964
       eingesperrt. Ich darf nicht mal in den Garten. Ich darf nicht mal vor …“
       Sie erstarrte. Mir wurde mulmig. Wo blieb eigentlich der Pfleger?
       
       „Ich kenne Sie.“ Plötzlich glühte sie vor Aufregung. „Meine Tante Heidi lag
       in den sechziger Jahren auch im Krankenhaus. Da hat sie was mit einem
       Pfleger angefangen und ein Kind bekommen.“ Plötzlich streichelte sie mir
       über den Kopf. „Wurde natürlich totgeschwiegen. Der Pfleger entlassen, und
       das Kind verschwand. Aber Heidi hatte genau dieselben Augen wie Sie. Sie
       sind mein …“ Ich rechnete nach. „Großneffe?“ – „Ja“, ächzte sie. „Mein
       Großneffe.“
       
       In diesem Moment tauchte endlich der Pfleger auf und nahm die Frau fest am
       Arm. „So, Frau Wichert. Jetzt lassen Sie mal schön die anderen Patienten in
       Ruhe.“ Er flößte ihr eine Tablette ein. „Lass mich los, du Lakai der
       Macht!“, höhnte sie. Doch ihre Bewegungen wurden schon langsamer.
       
       „Ihr Zimmer ist übrigens die 314“, sagte mir der Pfleger. „Kann ich hier
       einfach wieder raus?“ – „Bedaure. Erst nach einem Arztgespräch morgen.“
       Dann war er weg. Und ich beschloss, meinen Tag in Zimmer 314 zu beenden.
       Auf einem der zwei Betten saß schon ein Mann im Schneidersitz. „Hallo“,
       grüßte er freundlich. „Ich bin Alex. Wenn es da draußen endlich ruhig ist,
       mache ich mit den Übungen für mein drittes Auge weiter.“
       
       Dann klopfte er sich auf die Nasenwurzel. „Das ist hier drin. Du hast auch
       eins. Soll ich dir zeigen, wie man damit sieht?“ Ich ließ mich auf das
       andere Bett fallen und bedeckte zwei meiner Augen mit dem Kissen. „Bin
       müde“, knurrte ich, um den Rest der Nacht schlaflos zu verbringen.
       
       12 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Knud Kohr
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Krankenhäuser
 (DIR) Multiple Sklerose
 (DIR) Scooterman
 (DIR) Cuxhaven
 (DIR) Scooter
 (DIR) Psychiatrie
 (DIR) Potsdamer Platz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Neue Karambolagen
       
       Der Scooterman ist wieder da! Und reitet auf seinem nagelneuen Alpine Comet
       mit elf Stundenkilometern Spitzengeschwindigkeit durch Berlin.
       
 (DIR) Zurück an die Nordsee: Wo es am schönsten ist
       
       Jeder wird irgendwo geboren. Doch viele halten es da nicht aus und fliehen
       in die großen Städte. Unser Autor ging nach Berlin und blickt zurück.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Hysterisch wie James Bond
       
       Neues aus dem Scooterman-Universum: Elektromobile, die auf den Spuren von
       Freud tuckern, liefern luzide Anamnesen.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Staubsauger auf dem Sitz
       
       Scooterman sitzt auf eigene Veranlassung fest. Am elften Tag beschließt er,
       jetzt dann doch mal dringend etwas zu tun.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Ist es ein Vogel? Ist es ein Flugzeug?
       
       Scooterman: Wenn ein MS-Held unverschuldet in brenzlige Situationen gerät,
       eilt ihm Kollege Superman mit wehendem Kittel zu Hilfe.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Augen auf beim Drogenkauf
       
       Neues vom Scooterman: Langweilige Sonntagnachmittage samt Vehikel Harry
       lassen am Potsdamer Platz tief in die Gesellschaft blicken.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Der hundertjährige Hund
       
       Beim Kirchenbesuch wird nicht nur verschüttet geglaubtes Wissen
       freigesetzt. Auch die Vornamen der Konfirmanden wissen zu erheitern.