# taz.de -- Kampfbegriff „Neurussland“: Die Erfindung eines Staates
       
       > Jüngst forderte Putin die „Eigenstaatlichkeit“ der Ostukraine. In
       > Erklärungen des Kreml wird das Gebiet schon länger „Neurussland“ genannt.
       
 (IMG) Bild: Separatisten zum Anfassen: „Spielzeugsoldaten Neurusslands“ bei einer Ausstellung in Moskau.
       
       BERLIN taz | Wladimir Putins Appell ließ aufhorchen: Vergangenen Sonntag
       forderte Russlands Präsident die Kiewer Regierung auf, mit den Rebellen im
       Osten des Nachbarlands über eine „Staatlichkeit“ der von den Aufständischen
       kontrollierten ukrainischen Gebiete zu verhandeln.
       
       Schon seit April hatte Russland eine „Föderalisierung“ der Ukraine
       gefordert. Den Begriff Staatlichkeit aber erwähnte Putin in der
       Öffentlichkeit jetzt zum ersten Mal. Sein Pressesprecher Dmitri Peskow nahm
       die Aussage seines Chefs tags darauf zurück: Der Präsident hätte Kiew
       lediglich zu Gesprächen mit den Aufständischen aufgerufen. Von einer
       eigenen Staatlichkeit der Regionen Donezk und Lugansk sei nie die Rede
       gewesen.
       
       Dabei hatte sich Putin bereits in der Woche zuvor ähnlich geäußert.
       Vergangenen Freitag veröffentlichte der Kreml auf seiner offiziellen Seite
       einen Aufruf des Präsidenten an die Rebellen in der Ostukraine, in dem er
       sie dazu aufrief, einen humanitären Korridor für abziehende ukrainische
       Soldaten zu schaffen.
       
       Auffällig an dem Text war weniger sein Inhalt als die Überschrift: „Der
       Präsident Russlands, Wladimir Putin, wendet sich an die Aufständischen
       Neurusslands“.
       
       ## Vokabular der Rebellen
       
       Putin bediente sich also der Sprache der Separatisten, die die
       international nicht anerkannten „Volksrepubliken“ in Donezk und Lugansk als
       Teil des Territoriums „Neurussland“ (Russisch: „Novorossija“) betrachten –
       eines Gebildes, dass es derzeit nicht einmal als Regionalbezeichnung gibt,
       geschweige denn als Staat.
       
       Auch hier ruderte Pressesprecher Dmitri Peskow zurück: Neurussland sei
       einfach die russische Bezeichnung für ein historisches Gebiet. Die Frage,
       ob Moskau dieses als eigenständig anerkenne, überging Peskow.
       
       Tatsächlich bezeichnete der Begriff Neurussland Mitte des 18. Jahrhunderts
       das sehr dünn besiedeltes Steppengebiet zwischen Bessarabien (heute Moldau)
       bis zum Asowschen Meer, das zum Khanat der Krimtataren gehörte. Nachdem
       sich Polen/Litauen und das Osmanische Reich lange um die Region gestritten
       hatten, fiel sie in Folge der Russisch-Türkischen Kriege 1768–1774 an
       Russland. Katharina die Große, die Eroberin des Schwarzmeerraums und der
       Krim, gründete 1764 dort das „Gouvernement Neurussland“ und ernannte ihren
       Exgeliebten und Vertrauten, Fürst Grigori Potemkin, zum Verwalter.
       
       Später wurde Potemkin Generalgouverneur des Gebiets. Er ebnete dem
       Zarenreich den Weg nach Süden und baute die Schwarzmeerflotte auf, gründete
       viele Städte, darunter Simferopol, Sewastopol, Jekaterinoslaw (heute
       Dnjepropetrowsk), Mykolajiw, Cherson, und lockte Kolonisten in das Gebiet.
       Neurussland wurde ein Schmelztiegel verschiedenster Kulturen. Dort lebten
       Russen, Ukrainer, Tataren, Armenier, Franzosen, Deutsche, Juden, Kosaken
       und viele andere. Für die Kernukraine setzte sich in Abgrenzung zu
       Neurussland der Begriff „Malorossija“ (Kleinrussland) durch.
       
       Das alles war schon zu Sowjetzeiten Geschichte und spielte für die Menschen
       in den postsowjetischen Staaten keinerlei Rolle – bis prorussische
       Separatisten am 24. Mai 2014 im Osten der Ukraine eine „Union der
       Volksrepubliken Donezk und Lugansk“ gründeten, die sie nach dem
       historischen Gebiet Neurussland benannten.
       
       Die selbst ernannten „Regierungschefs“ der beiden „Republiken“ erklärten,
       dass sich der Union weitere Gebiete Neurusslands anschließen könnten.
       Voraussetzung dafür sei eine Volksabstimmung.
       
       ## Terminologie der Zaren
       
       Den Begriff Neurussland hatte Wladimir Putin bereits im April 2014 in einem
       Interview mit dem russischen TV erklärt: „Ich bediene mich hier der
       Terminologie aus Zarenzeiten. Neurussland, das sind Charkow, Lugansk,
       Donezk, Cherson, Nikolaew, Odessa – diese Städte gehörten zur Zarenzeit
       nicht zur Ukraine. Die Sowjetregierung übergab diese Gebiete erst in den
       1920er Jahren der Ukraine. Gott weiß, warum sie das tat. […] Aus
       unerfindlichen Gründen ist das Territorium zur Ukraine übergegangen, die
       Menschen aber sind dort geblieben. Heute sind sie Bürger der Ukraine, aber
       sie müssen gleichberechtigte Bürger sein.“
       
       Die US-amerikanische Journalistin und ehemalige Moskau-Korrespondentin des
       Guardian, Miriam Elder, schrieb vergangene Woche in einem Artikel auf der
       Internetseite „BuzzFeed“, dass Putins Thesen zur Ukraine in vielen Punkten
       mit denen des antikommunistischen Dissidenten und
       Literaturnobelpreisträgers Alexander Solschenizyn (1918–2008)
       übereinstimmten.
       
       ## Solschenizyns Neurussland
       
       1990, ein Jahr vor dem Zerfall der Sowjetunion, entwickelte Solschenizyn in
       einem Essay mit dem Titel „Der Wiederaufbau Russlands“ die Idee einer
       „orthodoxen Russischen Union“, die die Ukraine, Weißrussland, Russland und
       Nordkasachstans vereinen solle. Laut Solschenizyn gehören die Ukraine und
       Russland zusammen, ebenso wie die „Gebiete, die nie Teil der alten Ukraine
       waren … Neurussland, die Krim, der Donbass und das Territorium um das
       Kaspische Meer“.
       
       Ein Jahr vor Solschenizyns Tod im Jahr 2008 besuchte Wladimir Putin ihn zu
       Hause, um einen Staatspreis für humanitäre Hilfe zu überreichen. Schon
       möglich, dass Putin Solschenizyn gelesen hat. Fakt aber ist, dass er in
       Bezug auf die Ostukraine nicht vom Donbass spricht, sondern von
       Neurussland.
       
       Damit legitimiert er die Forderungen der Separatisten nach einem eigenen
       Staat – und lässt offen, ob noch weitere Gebiete hinzukommen sollen.
       
       3 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ljuba Naminova
       
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