# taz.de -- Katastrophale Heimatlosigkeit: Tödliche Schweizer Krankheit
       
       > Christoph Marthaler inszeniert Karl Jaspers’ Doktorarbeit „Heimweh und
       > Verbrechen“ am Schauspielhaus in Hamburg.
       
 (IMG) Bild: Inszeniert nach 15 Jahren zum ersten Mal wieder am Hamburger Schauspielhaus: Christoph Marthaler.
       
       HAMBURG taz | Als generierte Christoph Marthalers Rückkehr nach 15 Jahren
       ans Deutsche Schauspielhaus nicht schon genug Spektakelpotenzial,
       spendieren seine Landsleute seiner Uraufführung von „Heimweh und
       Verbrechen“ weitere Aufmerksamkeit. Will der Theaterpoet doch laut
       Vorankündigung „La maladie suisse“, „Die Schweizer Krankheit“, inszenieren
       – nachdem die Eidgenossen gerade per Volksabstimmung für eine Begrenzung
       der Zuwanderung gestimmt haben.
       
       EU-Freunde erwarten also mit zornesrot unterlaufenen Augen die Vivisektion
       einer Volksseele und die theaterpoetische Analyse des alpenländischen
       Heimatgefühls. Auch wenn eher mit philosophischer Sanftmut zu rechnen ist.
       Denn durch die Vorabinformationen schimmert die anthropologische Frage
       einer grundlegenden Unverortetheit des Menschen und die daraus
       resultierende Sehnsucht nach Heimat. Kann sie Abschottungsaktivitäten wie
       in der Schweiz aktivieren? Heimweh?
       
       In unseren Zeiten extremer Mobilität ist dieses vage Gefühl zwar Jungs und
       Mädchen während einer Grundschulklassenfahrt gestattet, sind die Tränen
       aber weggewischt, wird das Thema als historisch überholtes Phänomen gering
       geschätzt.
       
       Noch im 17., 18. Jahrhundert war das anders: Heimweh galt als schwere
       Krankheit. Beschrieben wurden Fälle von Dienstmägden, die in ihrer Obhut
       befindliche Kinder erstachen, erstickten, ertränkten oder das Haus ihrer
       Herrschaft in Brand setzten – aus heiterem Himmel, so schien es. Der in
       Oldenburg geborene Karl Jaspers (1883–1969) sammelte in seiner Dissertation
       „Heimweh und Verbrechen“ (Heidelberg, 1909) solche Fallbeispiele, die
       Marthaler nun auf die Bühne bringen will.
       
       Zitiert wird beispielsweise das 15-jährige Kindermädchen Eva B.: „Es gefiel
       mir nicht bei den fremden Leuten. Ich glaubte, wenn das mir anvertraute
       Kind tot sei, würde ich nicht mehr gebraucht und dürfe wohl wieder nach
       Hause. Mit der linken Hand hielt ich dem Kinde den Mund zu, während ich mit
       der rechten ihm die Kehle zudrückte.“
       
       Diese Krankheit zum Töten scheint nicht mit Pillen oder Pülverchen heilbar
       zu sein. Sie äußert sich durch Traurigkeit, Weh- und Schwermut, wütende
       Bedrücktheit – eine Störung, die zu Depressionen und Wahnsinn und eben auch
       zu Gewaltverbrechen wie Mord und Brandstiftung führen kann.
       
       Jaspers konstatierte, die Täterinnen seien durch wirtschaftliche Not in
       ungewollte Verhältnisse gezwungen worden. Enthaust, entwurzelt,
       gemütsverwirrt. Jedenfalls konnten sie Milde beanspruchen: Wer zum
       Tatzeitpunkt als heimwehkrank eingestuft wurde, galt nur als teilweise
       zurechnungs- und schuldfähig.
       
       Laut Jaspers drückt sich bei den Mädchen eine Mischung aus Idealisierung
       ihrer fernen Heimat und Verdrängung der gegenwärtigen Alltagsrealität aus –
       und das gewinne besondere Brisanz bei intellektuell und sozial niedriger
       gestellten Bevölkerungsschichten. Dort mangele es an Bildung, die es
       ermöglichen könnte, konstruktiv mit dem Dasein in der Fremde umzugehen und
       sich an das neue Umfeld zu gewöhnen.
       
       Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen fragte angesichts dessen, ob
       nicht jeder Heimatlosigkeit ein Gewaltpotenzial innewohne. Es schaffe die
       Möglichkeit, zum Sehnsuchtsort zurückzugelangen – der aber ja nur in der
       eigenen Fantasie existiert.
       
       Warum das Phänomen „La maladie suisse“ (wissenschaftlich: Morbus
       Helveticus) genannt wird? Weil es dort erfunden/entdeckt wurde. 1678
       veröffentlichte der Schweizer Arzt Johann Hofer seine Doktorarbeit „De
       Nostalgia oder Heimwehe“. Verantwortlich für diese Krankheit wurde
       beispielsweise die Luft in den engen Tälern gemacht, wie 1705 die
       „Seltsamen Naturgeschichten des Schweizerlandes“ erklärten: „Die Schweizer
       beispielsweise leben in den Bergen in feiner, leichter Luft. Ihre Speisen
       und Getränke bringen auch in den Körper diese feine Luft hinein. Kommen sie
       nun in das Flachland, so werden die feinen Hautfäserchen zusammengedrückt,
       das Blut wird gegen Herz und Hirn getrieben, sein Umlauf verlangsamt und,
       wenn die Widerstandkraft des Menschen den Schaden nicht überwindet, Angst
       und Heimweh hervorgerufen.“
       
       Später wurden Hirtenmusik und der Alphorn-Klang als hochgradig ansteckende
       Heimweherreger identifiziert. Tatsächlich litten etliche Schweizer Soldaten
       so sehr an Heimweh, dass Ärzte ermatteten Herzschlag, Leichenblässe, müde
       Glieder, zusammengeschrumpfte Mägen und sogar Seelenqualen mit Todesfolge
       feststellten. Desertieren war Lebensrettung. Offiziere verboten daher das
       Singen und Musizieren unter Androhung der Todesstrafe.
       
       Erst die Freunde der Romantik deuteten Heimweh-Symptome mit wohliger
       Melancholie positiv um: als schmerzhafte Erinnerung an noch
       Unverarbeitetes, utopisch Gedachtes, Elementares. Angesichts der
       Heimatverlorenheit durch weltweite Migration und damit einhergehenden
       Identitätsverlusten gewinnt das Thema an Aktualität und existenzieller
       Schärfe – und durch Marthalers Übersetzung in musikdramatische Kunst sicher
       auch an menschlicher Wärme und metaphorischer Kraft.
       
       Denn auch die Bühnenbildnerin Anna Viebrock ist wieder dabei. Sie wird
       ihrem Ruf als Baumeisterin von schmuddelig veredelten Kathedralen der
       Erinnerung gerecht werden wollen.
       
       ## Termine: Fr, 21. 2., 20 Uhr; Do, 27. 2., 20 Uhr; So, 2. 3., 16 Uhr; Fr,
       21. 3., 20 Uhr; Mi, 26. 3., 20 Uhr
       
       18 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Fischer
       
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