# taz.de -- Boxschule für Sinti und Roma: Der Kampf für seine Leute
       
       > Mit seiner Boxschule setzt sich Oswald Marschall gegen die
       > Benachteiligung von Sinti- und Roma-Kindern ein. Lehrer geben
       > Sprachförderung und Hausaufgabenhilfe.
       
 (IMG) Bild: Trainer Oswald Marschall: „Ich will die Kinder von der Straße holen.“
       
       Immer dieses „ihr“, mit dem er angeredet wird. Alles andere als ein
       Pluralis Majestatis: Ihr seid ja nicht sesshaft. Ihr arbeitet ja nicht.
       Euer Clan hält doch zusammen. „Wieso eigentlich ’ihr‘?“, fragt sich Oswald
       Marschall. „Da muss ich mich immer umdrehen. Die sprechen mich so an,
       obwohl ich da alleine sitze.“ Mit „ihr“ sind Sinti und Roma gemeint.
       
       So empfindet es Marschall. Manchmal redet er sich in Rage, wird wütend,
       wenn er auf die öffentliche Meinung über Sinti und Roma zu sprechen kommt:
       „Da dreht sich einem zum Teil der Magen um, wenn man spürt, welche
       Vorurteile da noch existieren“, sagt er, „aber ich werde weiterkämpfen.“
       
       Der Kampf gehört zu Oswald Marschalls Leben. Er war in den 70ern Boxer der
       deutschen Nationalmannschaft. Später eröffnete er eine Boxschule in seiner
       Heimatstadt Minden. „Ich bin Boxfanatiker“, sagt er. In den vergangenen
       Jahren aber hat Marschall noch einen anderen Kampf entdeckt: jenen um
       Gerechtigkeit für die Sinti und Roma.
       
       Mit seiner Initiative „Echt clever!“ will er die Bildungschancen
       verbessern. In Veranstaltungen und Ausstellungen erinnert er an den
       Völkermord der Nazis, die etwa eine halbe Million Sinti und Roma ermordet
       haben. Marschall ist heute auch im Vorstand des Zentralrats Deutscher Sinti
       und Roma.
       
       ## „Alltagsrassismus gegenüber Sinti und Roma“
       
       Er weiß, wie wichtig es ist, dass die Integrationsarbeit die Basis – in
       Sportvereinen, Schulen, Jugendzentren – erreicht. So wie in Marschalls
       Boxverein, wo der 58-Jährige Bildungsarbeit für Sinti- und Roma-Kinder
       leistet und Aufklärungsarbeit für die übrige Bevölkerung. „Überall in
       Europa gibt es Alltagsrassismus gegenüber Sinti und Roma“, sagt Marschall,
       „den wir in fehlendem Zugang zu Bildungsinstitutionen, zu Wohnraum, zu
       Gesundheitsdienstleistungen, zum Arbeitsmarkt erfahren.
       
       In den ost- und südosteuropäischen Ländern erlebt man manifesten Rassismus:
       In den vergangenen Jahren sind Menschen getötet und Häuser angezündet
       worden.“ Brandanschläge und Übergriffe gab es innerhalb der letzten beiden
       Jahre aber genauso in Gelsenkirchen und in einigen sächsischen Städten.
       
       Jemand wie Marschall käme den meisten Deutschen wohl kaum in den Sinn, wenn
       von Sinti die Rede ist. Geboren 1954 in Minden, in einer Familie, die seit
       mehreren Generationen in der Kleinstadt an der Weser lebt. Hier wurde
       Marschall groß, hier entdeckte er seine Leidenschaft für den Boxsport.
       
       Als Neunjähriger stand er zum ersten Mal im Ring. Er boxte als junger Mann
       in der Bundesliga in Hannover, 1971 startete er erstmals für Deutschland.
       Während seine Eltern in Deutschland noch Schulverbot hatten, genoss er
       immerhin Volksschulbildung. Das Boxen wurde zu seinem Leben. Mit 22 Jahren
       aber hörte er auf – auch weil er sich nicht gleichberechtigt im deutschen
       Team fühlte.
       
       ## Mehr Bildung für die Kinder
       
       Mit 29 gründete Marschall seinen eigenen Boxverein, 2005 begann er mit der
       Bildungsarbeit. „Ich will erreichen, dass Sinti- und Roma-Kindern mehr
       Bildung zuteil wird. Ich will die Kinder von der Straße holen. Ich
       versuche, den Familien zu vermitteln, wie wichtig Bildung und Teilhabe ist.
       Sie können sich nur für ihre Rechte einsetzen, wenn sie sich bilden.“
       
       In Deutschland ging man 2011 davon aus, dass hier etwa 80.000 bis 120.000
       deutsche Staatsangehörige mit Sinti- und Roma-Hintergrund sowie weitere
       50.000 Flüchtlinge lebten. Schon eine Studie Anfang der 1980er konstatierte
       eine „desolate Bildungssituation“ der deutschen und der hier lebender Sinti
       und Roma.
       
       Und eine Studie von 2011, durchgeführt von RomnoKher, einem Haus für
       Kultur, Bildung und Antiziganismusforschung in Mannheim, kommt zu kaum
       anderen Befunden: 13 Prozent der in der Langzeitstudie befragten Sinti und
       Roma hatten keinerlei Schule besucht, 10 Prozent die Förderschule (doppelt
       so viele wie in der Mehrheitsbevölkerung), auf das Gymnasium gingen ganze
       2,3 Prozent. Die Bildungsmisere, so die Studie, setze sich über
       Generationen hinweg fort.
       
       Marschalls Frau Carmen holt Textblätter aus dem Arbeitszimmer in ihrem
       Haus, einem gewöhnlichen Backsteingebäude in einer Mindener Wohnsiedlung.
       Es sind Erfahrungen und Gedanken, die ihr Mann niedergeschrieben hat. Sie
       lesen sich wie Pamphlete gegen Stigmata und Vorurteile, etwa gegen die
       Asylbewerber des Volkes, dem er angehört: „Gegen diese Menschen bringt man
       sofort Hetzkampagnen in Gang, wenn es Probleme gibt“, schreibt Marschall.
       
       ## Zehn unterschiedliche Nationalitäten
       
       Marschalls Eltern hatten Schulverbot. Später waren sie Zwangsarbeiter,
       durften Minden nicht verlassen. Man weiß nun, warum er so viel von
       „Integration durch Teilhabe und Bildung“ spricht. Sprachförderung,
       Hausaufgabenhilfe, Freizeitangebote, Erziehungsberatung: Marschall hat sich
       Lehrer und Lehrerinnen mit ins Boot geholt, die seine boxenden Kids
       unterrichten und fördern.
       
       Der Boxsport ist das verbindende Element: „An erster Stelle stehen Fairness
       und Kameradschaft“, sagt Marschall, „die Kids feuern sich gegenseitig an.
       Kann man fast stolz drauf sein.“ Er hat etwa zehn unterschiedliche
       Nationalitäten bei sich im Boxstudio. „Das ist Integrationsarbeit!“, betont
       Marschall. Er erzählt auch von einem russischen Boxer: „Bei dem sah es so
       aus, als habe er eine Gettokarriere vor sich. Heute studiert er.“
       
       Redet Marschall über „seine Leute“, wie er die Sinti nennt, dann sagt er
       auch oft: „Da stehen dir die Tränen in den Augen.“ Dazu brauche er nur
       Fernsehen zu schauen, sagt er. Der bayerische Innenminister Joachim
       Herrmann (CSU) parlierte bei Maischberger Ende November über die
       Einwanderung von Sinti und Roma, als seien fast alle Asylbewerber aus
       Mazedonien und Serbien Sozialschmarotzer.
       
       Kurz zuvor hatte ein serbischer Asylbewerber berichtet, wie Roma-Baracken
       in Serbien Ziel von Brandanschlägen wurden. Herrmann sagt in dieser
       Sendung, man solle nur jenen Asyl gewähren, die „wirklich verfolgt werden“.
       Schätzungen zufolge sind es gerade mal 7.000 Roma, die innerhalb von zwei
       Jahren nach Deutschland kamen.
       
       Als der Besuch wieder abreist, gibt Marschall noch einen Wunsch mit auf den
       Weg: „Aber fair bleiben!“ Fairness – ein Sinto in Deutschland erlebt diese
       im täglichen Leben nur selten. Fairness kennt Marschall vor allem aus dem
       Ring – wo die Voraussetzungen für alle gleich sind.
       
       12 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Uthoff
 (DIR) Jens Uthoff
       
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