# taz.de -- Kunstfest Weimar: Der vernünftige Weltgeist
       
       > Stéphane Hessel eröffnete mit einer Rede das Kunstfest Weimar. Seinen
       > zornigen Blick hielt er mehr auf die Gegenwart als auf die Vergangenheit
       > gerichtet.
       
 (IMG) Bild: "Habt Mut, habt Vertrauen, damit eine neue Welt aufgebaut werden kann": Stéphane Hessel sprach in Weimar.
       
       Bis heute betritt man Weimar gewissermaßen durch eine Falltür. Nicht die
       Olympier der Weimarer Klassik, Goethe und Schiller, begegnen dem Besucher,
       wenn er vom Bahnhofsplatz in die Stadt hinunter steigt. Ernst Thälmann
       stellt sich einem nach ein paar Metern überlebensgroß in den Weg. Das 1958
       von den DDR-Oberen eingeweihte massige Denkmal erinnert an den im August
       1944 von den Nazis im nahen Konzentrationslager Buchenwald ermordeten
       KPD-Vorsitzenden und Arbeiterführer. Neben seiner Geschichte als
       kulturelles Zentrum Deutschlands im 18. und 19. Jahrhundert steht Weimar
       auch synonym für den Schreckensort KZ Buchenwald auf dem Ettersberg. Das
       ist nicht neu. Ein Rätsel bleibt, warum das Weimarer Paradoxon von Kunst
       hier, Mord und Totschlag dort sich weiter derart brachial im Stadtbild
       kundtun kann.
       
       Seit 2004 thematisiert auch das Kunstfest Weimar "pèlerinages" diese
       spezifische Dualität in seinem Programm. Manchen kam die künstlerische
       Intervention zu spät; statt des tradierten antifaschistischen
       Erinnerungsbetriebs hätten der Stadt viel eher neue Gedenkformen und ein
       wirklicher Diskurs gutgetan. Dennoch, den Auftakt des internationalen
       Musik- und Tanzfestivals, das 2011 zugleich den 200. Geburtstag des
       Komponisten Franz Liszt und die Choreografin Pina Bausch feiert, bildet ein
       Konzert der Reihe "Gedächtnis Buchenwald" und ein sich anschließender
       Gedenkvortrag.
       
       Es gibt mittlerweile keine Zweifel, dass dieses "notwendigste Konzert des
       Kunstfestes", wie Nike Wagner, künstlerische Leiterin, zur Eröffnung am
       Wochenende sagte, das Festival und die Weimar-Buchenwald-Rezeption
       bereichert. Das Young Philharmonic Orchestra Jerusalem-Weimar unter der
       Leitung von David Afkham spielte Viktor Ullmanns Sonate "Thema, Variationen
       und Fuge über ein hebräisches Volkslied", die in Theresienstadt 1944, kurz
       vor Ullmanns Ermordung in Auschwitz, entstanden war. Das traurig-schöne
       Requiem rief die 60.000 Toten und das Elend der 250.000 NS-Häftlinge auf
       dem Ettersberg mehr in die Erinnerung als hundert Bronze-Thälmänner.
       
       Fragen lassen muss sich allerdings die künstlerische Leiterin des
       Kunstfestes, ob es eine gute Entscheidung war, in diesem Jahr Stéphane
       Hessel für die Gedenkworte verpflichtet zu haben. Sollten diese doch auch
       einen Blick auf die Bedeutung Buchenwalds heute werfen. Ivan Ivanji, Elie
       Wiesel oder Jorge Semprún haben das in den Vorjahren klug vorgemacht und
       das "Gedächtnis Buchenwald" erweitert. Die Rolle des KZ wurde um die
       Dimension eines internationalen Häftlingslagers erweitert, die Nazis hatten
       dort, neben den prominenten ausländischen Politikern und Schriftstellern
       wie Léon Blum oder Imre Kertész und Jean Améry auch kanadische und
       englische Soldaten und Offiziere gefangen gehalten. Aktuell richtet sich
       der Blick auf die Zwangsarbeiter und Opfer der Außenlager Mittelbau-Dora,
       Nordhausen und Salza, die Rolle der Gewerkschafter im Lager und die
       Funktion der Gedenkstätte.
       
       ## Ein großer Erzähler
       
       Grundsätzlich ist der Franzose Stéphane Hessel dafür der richtige Mann: Der
       1917 als Sohn der Malerin Helene Grund und des Schriftstellers Franz Hessel
       in Berlin geborene Stéphane spricht noch immer perfekt Deutsch, ist ein
       großer Erzähler, von ausgesuchter Höflichkeit und einer fast beklemmend
       scharfen Weitsicht. Es gibt wenige Autoren, die wie er ein ganzes
       Welttheater bespielen können. In Hessels Memoiren "Tanz mit dem
       Jahrhundert" (1997) geht es dem Leser beinahe so wie Gil Pender in Woddy
       Allens neuestem Film "Midnight in Paris". Picasso, Man Ray, die Golden
       Twenties, de Gaulle, Truffaut, Semprún, Mao oder die Kennedys und viele
       andere mehr ziehen wie selbstverständlich an uns vorbei, sie alle waren mit
       Hessel befreundet. Der Exdiplomat, der Pariser und Weltbürger, Mitautor der
       UN-Menschenrechtserklärung von 1948 funktioniert noch immer wie ein
       lebendiges offenes Buch in Sachen Buchenwald - und wie ein spannendes dazu.
       In seinem Essay "Wie ich Buchenwald und andere Lager überlebte" (2011)
       beschreibt er den Terror, die Gewalt und den Tod im Konzentrationslager
       Buchenwald, aber ebenso die Menschlichkeit in der Entmenschlichung. Das KZ
       ist für Hessel ein Un-Ort, voller unglaublicher menschlicher
       Grenzerfahrungen bis hin zur existenziellen Identität von Tätern und
       Opfern.
       
       "Meine Existenz", erzählt Hessel, der in der Résistance gegen Hitler
       kämpfte, gefangen genommen wurde und im KZ umgebracht werden sollte,
       "verdanke ich einem finsteren und brutalen Kapo des Konzentrationslagers."
       Während andere von diesem misshandelt und totgeschlagen wurden, half er
       Hessel, als fingierter toter Typhuskranker an den Wachen und der SS vorbei
       dem Tod zu entkommen. Nichts ist wichtiger als das Recht auf Leben, ist
       seither eine Maxime des linken Humanisten. Nichts muss mehr verteidigt
       werden.
       
       Hessel ist einer der letzten Zeitzeugen des vergangenen "totalitären
       Jahrhunderts". In seiner frei gehaltenen Gedenkrede in der Weimarhalle ließ
       er in einem kurzen Moment die Bedeutung und den Verlust der KZ-Generation
       aufblitzen. "Dass mein Freund und Mithäftling Semprún gestorben ist, wiegt
       schwer und macht mich traurig. Was wird von uns und Buchenwald bleiben, was
       wird Buchenwald einmal bringen? Weimar ist ein Kommunikationsort für alle
       Fragen." Es hätten große Gedanken werden können über zentrale Fragen in der
       deutschen Gedenkkultur: Welche Wege müssen wir in der Erinnerungsdebatte
       ohne die KZ-Überlebenden einmal suchen? Wo sind die Leerstellen in der
       Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit?
       
       Der Zeitzeuge Hessel ist diese Antworten in Weimar schuldig geblieben. Was
       schade war, geht er doch sonst brisanten Themen wenig aus dem Weg.
       
       Das von Nike Wagner angekündigte "Hoffnungswesen dieser Tage" machte denn
       auch, was es in den vergangenen Wochen und Monaten immer und am besten tat.
       Hessel gab den zornigen alten Mann aus Paris, der alle Welt derzeit
       gleichermaßen begeistert. Seine kleine millionenfach verkaufte
       Streitschrift "Empört euch!" (2010) hat ihn zum Liebling der Linken und
       Bürgerlichen, aber eben auch der Event-Veranstalter aufsteigen lassen. Sein
       aktuelles Büchlein, "Engagiert euch!" (2011) macht ihn erneut zum
       moralischen Gewissen und vernünftigen Weltgeist, der angesichts der
       Umweltkatastrophen, neuer Kriege und Ausbeutung, der zunehmenden
       Missachtung der Menschenrechte und immer wieder drohender Barbarei
       pathetisch zum "Widerstand" aufruft.
       
       Das Programm und die Werte der Résistance in Frankreich, des Nationalen
       Widerstandsrats von 1941 bis 1945, haben für Hessel "nichts von ihrer
       Aktualität" eingebüßt. "Sich zur Wehr zu setzen, sich aufzulehnen darf
       natürlich nicht beim Nachdenken oder Benennen aufhören, sondern muss in
       Aktion münden." So reden alte (und junge) Revoluzzer, so reden aber auch
       alte Männer.
       
       Es gehört derzeit nicht viel dazu, sich ein Bild von Europa am Ende des
       Regenbogens zu machen. Der Kontinent taumelt finanziell und wirtschaftlich
       am Abgrund, Staaten sind bankrott oder auf dem besten Wege dahin. Während
       die Aktien fallen, steht bei Kulturpessimisten wie bei Revoluzzern
       gleichermaßen die Tragödie Europa ganz hoch im Kurs. So auch bei Hessel.
       
       ## Das gemeinsame Europa
       
       Wissen muss man, dass Europa schon immer das große Thema Stéphane Hessels
       bildete. Im Lager haben er und andere das gemeinsame Europa beschworen, das
       als Widerpart zum Nationalismus erzwungen werden muss. Jorge Semprún hat
       diesen Gedanken 2005, zum 60. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds,
       aufgerufen: "Es mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, aber in
       gewisser Weise entstand in den Lagern der Nazis zum ersten Mal so etwas wie
       ein europäischer Geist." Hessel hat diesen Gedanken verlängert, als er
       schrieb, dass Buchenwald "der Anfang von Europa war". Für Hessel sind
       Europa und ein europäisches Handeln Verpflichtung: Wir befinden uns in
       einer gefährlichen Zeit, "in einem schlimmen Moment", weil unsere Einheit
       vom Finanzkapital und falschen Propheten bedroht wird, rief Hessel in die
       Weimarhalle. Europa ist ein Patient geworden, der Hilfe benötigt. Diese
       muss jetzt "die junge Generation" organisieren. "Überall kommen neue Kräfte
       hervor, diese Kräfte müssen zusammenarbeiten, damit die Welt vorankommt.
       Habt Mut, habt Vertrauen, damit eine neue Welt aufgebaut werden kann."
       
       Das war natürlich starker Tobak. Stéphane Hessel wurde dafür in Weimar mit
       Standing Ovations gefeiert. Nike Wagner hatte einen Volltreffer zum Beginn
       des Kunstfestes gelandet. Denn irgendwie ist immer richtig, was Hessel
       beschwört. Da sieht man dem Alten gerne nach, das Thema des Abends und die
       Perspektiven in Richtung Buchenwald sowie die zukünftige Auseinandersetzung
       mit der Geschichte eines KZ nahe der Goethe-Stadt Weimar etwas außer Acht
       gelassen zu haben.
       
       21 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rolf Lautenschläger
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Ivan Ivanji
       
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