# taz.de -- Kunst: Sehen was die anderen sehen
       
       > Die Hamburger Deichtorhallen zeigen mit "I Want to See How You See" einen
       > Ausschnitt aus der Sammlung von Julia Stoschek. Die Videos und
       > Installationen stellen Wahrnehmungen und Bedeutungen auf den Kopf und
       > zwingen dazu, sich eine eigene Sichtweise zu erarbeiten.
       
 (IMG) Bild: Terence Koh: "The Camel was God, the Camel Was Shot, 2007" - cast of artists body, bronze, white patina.
       
       Ein alter 16mm-Projektor wirft sein Licht durch einen dunklen Raum. Es ist
       zu sehen, wie sich ausgehend von einem Punkt langsam ein Kreis aufbaut.
       Aber nicht so sehr darauf kommt es an, sondern auf die Figur, die das Licht
       im Zwischenraum zwischen Filmmaschine und Leinwand formt: Durch Wolken von
       Kunstnebel sichtbar gemacht, entsteht bei der 1973 erstmals gezeigten
       minimalistischen Installation "Line Describing a Cone" von Anthony McCall
       eine von den Besuchern beeinflussbare Lichtskulptur.
       
       Am anderen Ende der Ausstellungshalle dann ein völlig anderes Verständnis
       von Medien-Dekonstruktion: Schlingensief lässt Rhesus-Äffchen mit dem
       Hitlerbild spielen, und Adam McEwen hat das Bild von den 1945 kopfüber zur
       Schau aufgehängten Leichen von Clara Petacci und Benito Mussolini, das aus
       allen Geschichtsbüchern bekannt ist, vergrößert und auf den Kopf gestellt.
       So wird aus der teuflischen Strafe eine mit dem normalen Blick
       unerklärliche Himmelfahrt: Ein simpler Kunstgriff stellt die visuelle
       Wahrnehmung auf den Kopf - und die sicher geglaubten Bedeutungszuweisungen
       gleich mit.
       
       Solche Verschiebungen finden sich oft in der Medienkunst-Präsentation der
       Sammlung Stoschek in den Hamburger Deichtorhallen. Bei einem frühen
       Klassikern des Genres, dem 1975 erstellten autoaggressiven
       Performance-Video "Art Must be Beautiful / Artist Must be Beautiful", kämmt
       sich Marina Abramovic blutig. Auch bei den brutalen Knetfiguren-Animationen
       der auf der letzten Venedig-Biennale ausgezeichneten Nathalie Djurberg geht
       es um das Frauenbild, während Wolfgang Tillmans einem stoischen Blick auf
       kochende Erbsen Intensität abgewinnt.
       
       Black Boxes und Großprojektionen, Fotografie und einige skulpturale
       Kommentare sind vereint zu einem so informativen wie vergnüglichen Parcours
       durch die abgedunkelte Halle, in der selbst der Mond seinen Auftritt hat.
       Allerdings trudelt der entgegen aller Himmelsmechanik wie betrunken in
       seiner Koje herum: Heike Baranowsky hat ihn von Bord eines Schiffes in
       hoher See gefilmt.
       
       Doch nicht nur die wohl beste Ausstellung medienbasierter Kunst in den
       Deichtorhallen seit der "Mediale" von 1993 verdient Beachtung, sondern auch
       die Sammlerin Julia Stoschek selbst, die gerne für Fotografen posiert: Das
       Ausstellungsplakat zeigt sie mit Kapitänsmütze, bewusst die Klischees
       auskostend, die solche Kostümierung aufruft. 1975 geboren, ist Stoschek
       Gesellschafterin in einem Familienunternehmen der Automobilzulieferbranche.
       2001 hat sich die Betriebswirtin der Kunst verschrieben: Die Initialzündung
       dazu gab ausgerechnet ein Besuch in Hamburg und zwar in der hier immer noch
       nicht genug geschätzten Sammlung Falckenberg.
       
       Inzwischen umfasst ihre Sammlung etwa 400 Arbeiten, über ein Drittel davon
       von Künstlerinnen, ein unüblich hoher Prozentsatz. In einer zu einem
       Privatmuseum umgebauten alten Rahmenfabrik in Düsseldorf-Oberkassel ist
       ständig auf zwei Etagen eine Auswahl der Arbeiten zu sehen. Da dort aber
       zurzeit eine groß angelegte Performance-Retrospektive veranstaltet wird,
       wurde die umfangreiche Ausleihe von 65 Arbeiten von 54 Künstlerinnen und
       Künstlern nach Hamburg möglich.
       
       Julia Stoschek liebt nicht nur den intensiven Kontakt mit den Künstlerinnen
       und Medienmachern, sie ist auch an einigen Schaltstellen des Kunstbetriebs
       tätig: Seit 2004 gehört sie dem Direktoren-Board der KW-Institute for
       Contemporary Art in Berlin an, und 2007 wurde sie gar als jüngstes Mitglied
       in das Trustee Committee on Media and Performance Art des Museum of Modern
       Art in New York aufgenommen.
       
       Die in der Tradition großer Sammlungspräsentationen stehende Ausstellung in
       den Deichtorhallen hat mit "I want to see how you see" einen sehr schönen,
       aus einem 2003 gedrehten psychodelischen Video der Schweizerin Pipilotti
       Rist ausgeliehenen Titel. Der passt sehr gut, wenn Christian Jankowski 2004
       in New York gleich vor dem Kino Besucher befragt, was ihnen vom Film denn
       nun in Erinnerung geblieben ist - und ebenso persönliche wie seltsam
       unspezifische Antworten erhält.
       
       Der Titel "Ich will sehen, wie Du siehst" lässt sich auf beides beziehen:
       Auf das Interesse einer Sammlerin an Medienkunst ebenso wie auf das
       Interesse des Publikums an der Sammlerin und der von ihr
       zusammengetragenen, also vorgefilterten, vorgesehenen Kunst. Wer je über
       eine Kunstmesse ging, wer auch nur ahnt, was alles in den Archiven der
       Museen lagert, wird eine persönlich bestimmte Auswahl zu schätzen wissen.
       Vielleicht ist überhaupt diese individuelle, manchmal, wie bei Harald
       Falckenberg, sogar obsessive Auswahl das Eigentliche, was sammlerbestimmte
       Ausstellungen und Museen auszeichnet.
       
       Doch selbst bei dieser von Dirk Luckow, dem Intendanten der Deichtorhallen
       noch einmal reduzierten Auswahl der Sammlerin, ist es ganz unmöglich, alles
       zu sehen. Es liegt im Wesen der so genannten "Time-based Media Art", viel
       zeitliche Zuwendung zu brauchen. Wenn der New Yorker Paul Pfeiffer aus
       einem Archivserver von 14 Festplatten heraus in Echtzeit den Bau eines
       Wespennestes dokumentarisch projiziert, bräuchte es zur kompletten
       Zurkenntnisnahme rund 2.400 Stunden.
       
       Nicht das "was" scheint also wichtig beim Sehen, sondern das "wie": Wo es
       offensichtlich unmöglich wird, alles vollständig wahrzunehmen, wird es
       entscheidend, ausgehend vom medialen Blick eine eigene, individuelle
       Sichtweise auszubilden.
       
       Julia Stoschek Collection - "I Want to See How You See", Hamburger
       Deichtorhallen, bis 25. Juli
       
       6 Jul 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hajo Schiff
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Bildende Kunst
 (DIR) Kunst
       
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