# taz.de -- Debatte Unterschichtenernährung: Das Essen der Anderen
       
       > Ist falsche Ernährung mit Chips und Cola der Grund für die Misere der
       > Unterschicht? Solche Erklärungen sind populär geworden. Wissenschaftlich
       > haltbar sind sie nicht.
       
 (IMG) Bild: Coca-Cola-Produktion in Indonesien
       
       In kurzer Folge debattierte der Bundestag jüngst zwei Berichte, die auf den
       ersten Blick wenig miteinander zu tun haben: den dritten Armuts- und
       Reichtumsbericht sowie die Ergebnisse der zweiten Nationalen
       Verzehrsstudie. Während der Armutsbericht deutlich machte, dass die
       Kinderarmut in diesem Land weiter ansteigt, beschäftigte sich die Nationale
       Verzehrsstudie damit, wie sich Armut auf das Ernährungsverhalten der
       Menschen auswirkt. Das Ergebnis: Einkommensschwache konsumieren weniger
       Obst, Wein und Fruchtsäfte - und dafür mehr Fleisch, Bier und Limonade.
       
       Ein Viertel der Kinder in Deutschland leben in Armut, stellt der
       Armutsbericht fest. Die Benachteiligungen, die daraus resultieren, sind
       vielfältig: Isolation, psychische Probleme, schlechter Gesundheitszustand,
       schlechte Schulleistungen, geringe Aufstiegschancen. Nahe liegend wäre es,
       den schlechteren Ernähungszustand von Kindern aus Armutshaushalten als eine
       Folge ihres gesellschaftlichen Ausschlusses zu sehen.
       
       Doch offensichtlich lässt sich der Sachverhalt auch umgekehrt
       interpretieren. "Sozialhilfeempfänger sehen ihren Lebenssinn darin,
       Kohlenhydrate oder Alkohol in sich hinein zu stopfen, vor dem Fernseher zu
       sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen. Die
       wachsen dann verdickt und verdummt auf", gab das frisch gebackene
       CDU-Mitglied Oswald Metzger zum Besten. Er lieferte damit eine Erklärung
       für soziale Ungleichheit, die die Sozialpolitik entlastet.
       
       Nicht die Gesellschaft, die das Auseinanderdriften von Arm und Reich
       zulässt, ist für die rekordverdächtige Kinderarmut verantwortlich: Die
       Armen selbst haben das Elend in Form von Chips und Cola in ihre Kinder
       hineingestopft! Wodurch sie, so Metzgers Konsequenz, jeden moralischen
       Anspruch auf eine materielle Verbesserung ihrer Lage verwirkt haben.
       
       Verhaltensweisen von armen Menschen zur Ursache ihrer Armut zu erklären,
       ist seit einigen Jahren wieder populär. "Nicht Armut ist das Hauptproblem
       der Unterschicht, sondern der massenhafte Konsum von Junk Food und TV",
       meinte schon 2003 Paul Nolte, selbsternannter Vordenker in Sachen
       Unterschichtskultur. "Früher glaubten wir, die Lebensformen der
       Unterschicht seien die Folge ihrer Armut. Das Gegenteil ist richtig: Die
       Armut ist Folge ihrer Verhaltensweisen, eine Folge der
       Unterschichtskultur", legte die ehemalige Verbraucherschutzministerin
       Künast 2005 nach.
       
       Besonders emotional wird der Zusammenhang von Verhalten und Armut derzeit
       am Beispiel der Ernährung diskutiert. Doch obwohl die Vertreter der
       "Unterschichtskultur" falsche Ernährung für eine zentrale Ursache von Armut
       halten, stehen für die Betroffenen selbst meist dringlichere
       Alltagsprobleme im Vordergrund. Wer nicht weiß, wie er die nächste
       Stromrechnung bezahlen soll, hat andere Sorgen, als seinen
       Cholesterinspiegel oder seinen Vitaminhaushalt ins Lot zu bringen. Zudem
       sind die Ausgaben für Ernährung - im Gegensatz zu vielen anderen
       Haushaltsposten - dehnbar und werden entsprechend als Puffer eingesetzt.
       Arme Menschen bemühen sich darum, die Umwelt ihre missliche Lage nicht
       anmerken zu lassen. Kleidung, Handy und die Teilhabe an sozialen
       Ereignissen haben Vorrang vor Ausgaben für Lebensmittel.
       
       Hungern muss niemand in Deutschland. Falsche Ernährung sei daher vorrangig
       eine Frage des Bewusstseins, und an dem mangele es den Betroffenen,
       monieren Kritiker eines vermeintlich zu generösen Sozialstaats. Doch auch
       diese Behauptung hält der Überprüfung nicht stand. Wahr ist nur der erste
       Satz - und auch nur für Erwachsene.
       
       Der Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin stellte dies kürzlich
       unfreiwillig unter Beweis. Nach den aktuellen Hartz-IV-Regelsätzen sind für
       Ernährung pro Tag für einen Erwachsenen 4,28 Euro vorgesehen. Um zu
       demonstrieren, wie üppig man mit diesen 4,28 Euro den Esstisch füllen kann,
       legte Sarrazin einen Speiseplan vor. Zum Frühstück empfahl er zwei
       Brötchen, eines mit Marmelade und eines mit Käse, dazu einen Apfel. Mittags
       Spaghetti Bolognese (125g) und abends eine Scheibe Leberkäse, 200g
       Kartoffelsalat und eine halbe Gurke. Als Zwischenmahlzeit hatte er eine
       Tasse Kaffee und einen Fruchtjoghurt vorgesehen.
       
       Von Sarrazins Menu mag ein Erwachsener gerade so satt werden, von
       ausgewogener Ernährung kann aber keine Rede sein. Nimmt man nämlich hierfür
       die von der Bundesregierung empfohlene "Optimierte Mischkost" zum Maßstab,
       wird deutlich, dass die Hartz-IV-Sätze weder für Erwachsene und erst recht
       nicht für Heranwachsende ausreichen, wie das Kinderforschungsinstitut
       Dortmund vorrechnete. Unbeantwortet lässt Sarrazin außerdem die Frage, wie
       er von 2,71 Euro - dem derzeitigen Satz für Kinder bis 14 Jahren - einen
       Teenager satt bekommen will.
       
       Die Ernähungsgewohnheiten der Unterschicht haben nicht allein materielle
       Gründe. Was als wissenschaftlich neutrale Ernährungsempfehlung gilt,
       entspricht den Geschmacksvorlieben der Mittel- und Oberschicht. Statt auf
       Üppigkeit und Sättigung wird dabei auf Leichtigkeit, Abwechslung und eine
       gewisse Askese Wert gelegt. Angepriesen wird diese mutmaßlich gesündere
       Kost mit martialischem Vokabular. "Wenn ihr so weiter macht, bringt ihr
       eure Kinder um", warf der britische Star-Koch Jamie Oliver renitenten
       Müttern vor, die ihre Kinder darin bestärkten, sein Schulessen zu
       verweigern. Und der Fernsehsender RTL II nannte seine Familien-Abspeckshow
       schlicht: "Liebling, wir bringen die Kinder um".
       
       Diese "Totschlagargumente" vermitteln den Eindruck, es handle sich bei den
       ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen um belastbares Faktenwissen.
       Tatsächlich aber ist die Debatte um die richtige Ernährung häufig von
       Vorstellungen geleitet, die wenig mit Wissenschaft, aber viel mit dem
       Wunsch nach Distinktion zu tun haben. Unser Verdauungssystem unterscheidet
       nun mal nicht zwischen Fischstäbchen und Kaviar - und unter
       ernährungsphysiologischen Gesichtspunkten ist ein Big Mac einem mit Rucola
       und Parmaschinken belegtem Ciabatta ebenbürtig.
       
       Wer glaubt, die materiellen und soziokulturellen Probleme von Arbeitslosen
       und prekär Beschäftigten durch die Umstellung ihrer Ernährungsweise lösen
       zu können, verwechselt Ursache und Wirkung. Umgekehrt gilt: Erst wenn
       soziale Ungleichheit schwindet, werden sich auch die Ernährungsgewohnheiten
       einander stärker angleichen.
       
       Dann wird möglicherweise auch stärker wahrgenommen, was die zweite
       nationale Verzehrsstudie schon jetzt deutlich zeigt: dass nämlich die
       Ernährungsunterschiede zwischen den Geschlechtern viel größer sind als
       zwischen den Schichten. Denn ginge es allein nach der Empirie, müsste es -
       frei nach Oswald Metzger - heißen: "Männer sehen ihren Lebenssinn darin,
       Kohlenhydrate oder Alkohol in sich hineinzustopfen, vor dem Fernseher zu
       sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen."
       
       4 Aug 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Friedrich Schorb
       
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