# taz.de -- Ab in die Sommerfrische: Sonnenbrille auch nach Mitternacht
       
       > Schwarze Berge, blendend weiße Gletscher: Der Spitzbergen-Archipel ist
       > eine der bestzugänglichen Regionen der gesamten Hocharktis.
       
 (IMG) Bild: Im Magdalenenfjord
       
       Schon die Reise ist ein Erlebnis. Auf dem Nachtflug von Oslo lassen wir
       bald die Dunkelheit Südnorwegens hinter uns, und die Maschine fliegt exakt
       nach Norden in Richtung Polarkreis - in den vollen Schein der
       Mitternachtssonne hinein. Als sich das Flugzeug Spitzbergen nähert
       (norwegisch: Svalbard), der größten Insel des gleichnamigen Archipels,
       schauen wir auf schwarze vulkanische Berge und blendend weiße Gletscher.
       Von diesem weit nördlichen Punkt aus - 78 Grad nördliche Breite - könnte
       das Flugzeug in gut einer Stunde den Nordpol erreichen. Aber die Piloten
       ändern den Kurs für den Anflug auf Longyearbyen, der Hauptsiedlung
       Spitzbergens.
       
       Obwohl ich an lange schottische Sommernächte gewöhnt bin, bin ich auf die
       24 Stunden Sonnenlicht, die es hier mindestens vier Monate im Jahr gibt,
       keineswegs vorbereitet. Wir landen kurz nach Mitternacht, doch es hätte
       ebenso Mittag sein können. Sobald ich mein Gepäck vom Band genommen habe,
       greife ich als Erstes nach meiner Sonnenbrille.
       
       Ich will an einer zehntägigen Gletscherexpedition teilnehmen und bin ein
       paar Tage vor dem Rest der 13-köpfigen Gruppe angekommen, um mich in
       Longyearbyen und Umgebung umzusehen, bevor sich der Treck auf den Weg
       macht. Die Stadt erinnert an ein Goldgräbercamp im kanadischen Klondike,
       wirkt aber zugleich aufstrebend und kosmopolitisch. Umweltforscher aus
       aller Welt drängen sich in den Kneipen und Cafés mit Touristen, Studenten
       und Reiseleitern von Abenteuerreisen.
       
       Es gibt eine Schule, ein paar Museen, Läden für Outdoorausrüstung,
       Touristenshops, Restaurants, einen Supermarkt, ein Postamt, Krankenhaus,
       Sportcenter, Kino und eine Universität. Sogar ein Paar 5-Sterne-Hotels gibt
       es für alle, die einen Hauch von Luxus vor und nach der Exkursion in die
       arktische Wildnis bevorzugen. Ein Schild an der einzigen Bank der Stadt
       weist die Kunden an, die Gewehre doch bitte draußen zu lassen.
       
       Inmitten der Stadt kann man Rentiere sehen, die um die leuchtend bunten
       Holzhäuser herum grasen - und Polarfüchse, die unter dem Netzwerk von
       Rohrleitungen durchhuschen, das alle Gebäude mit dem zentralen, vom
       örtlichen Kohlebergwerk betriebenen Heizungssystem verbindet. Der starke
       Permafrost erfordert, dass sanitäre Anlagen grundsätzlich über dem Boden
       installiert werden.
       
       Der Rest der Gruppe - eine Mischung aus Paaren und Singles von Mitte
       vierzig bis Anfang sechzig - kommt am nächsten Tag an. Wir besteigen ein
       Boot für die vierstündige Fahrt nach Petuniabukta, in das Herz von
       Spitzbergen, wo wir unser Basislager aufschlagen werden. Unterwegs sehen
       wir zahlreiche Seevögel, die wir schon aus Schottland kennen: Lummen,
       Möwen, Papageientaucher, Dreizehenmöven, Eissturmvögel,
       Schmarotzerraubmöven, Seeschwalben und Eiderenten.
       
       Vom Boot werden wir mitsamt der schweren Ausrüstung mit einem Schlauchboot
       an Land gebracht. Sobald die Zelte aufgestellt sind, installieren unsere
       Führer Kristin und Henrik einen Stolperdraht um das Lager herum und
       instruieren uns, was zu tun ist, wenn nachts ein hungriger Eisbär
       auftaucht. Der Draht soll einen Alarm auslösen, der den Eindringling
       verschreckt und in die Flucht schlägt. Für den Fall, dass das nicht
       funktioniert, sind die Reiseleiter mit Großkaliberbüchsen ausgerüstet, die
       sie auch benutzen, wenn es nötig sein sollte. Es soll über 3.000 Eisbären
       auf Spitzbergen geben - das ist mehr als die menschliche Bevölkerung von
       2.500. Doch in den Sommermonaten folgen sie ihrer natürlichen
       Nahrungsquelle, den Robben, nah beim Treib- und Packeis an den nördlichen
       und östlichen Küsten der Insel. Wir haben keinen gesehen, aber am letzten
       Abend der Reise wurde ein ausgewachsener Eisbär etwa 30 Kilometer von
       unserem Lager entfernt von einem Reiseführer erschossen, nachdem dieser
       sich gefährlich einer Gruppe von Tagesausflüglern eines Kreuzfahrtschiffes
       näherte. Ein Foto des blutigen 700-Kilo-Kadavers war auf dem Titelblatt der
       örtlichen Postille Svalbardposten zu sehen. Da Eisbären zu den geschützten
       Arten gehören, wurde eine polizeiliche Untersuchung eingeleitet.
       
       Um uns für die viertägige Expedition über den Mittag-Leffler-Breen, einen
       der größten Gletscher Spitzbergens, vorzubereiten, wandern wir von unserem
       Basislager aus jeden Tag etwa zwölf Stunden. Das Terrain ist schwer
       zugänglich und erfordert fast täglich mühsame Gletscher- und
       Flussüberquerungen.
       
       Die tief liegende Tundra um unser Lager ist unerwartet fruchtbar und
       farbenfroh. Ein freundliches Ren verbringt viel Zeit damit, leuchtendes
       Moos zu kauen. Die Steine sind mit hellem Grün, orangefarbenen Flechten und
       purpurnem Steinbrech bedeckt.
       
       Eine der einfacheren Touren führt zu der verlassenen russischen
       Kohlebergbausiedlung Pyramiden - benannt nach dem pyramidenförmigen Berg,
       der über ihr liegt. Heute ist die Siedlung, einst Heimat von mehr als
       tausend Minenarbeitern, mit verrosteten Bergbauutensilien übersät. Im Jahr
       1998 wurde die Mine geschlossen und die gesamte Bevölkerung nach Russland
       evakuiert. Die desolate Geisterstadt ähnelt Barentsburg, der anderen
       Bergbausiedlung Spitzbergens. Die ist derzeit noch bewohnt und in Betrieb.
       Aber Gerüchten in der norwegischen Community zufolge soll Barentsburg nicht
       mehr wirtschaftlich sein und von den russischen Behörden nur wegen
       territorialer Ansprüche betrieben werden.
       
       Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt Norwegen durch den Spitzbergenvertrag die
       Souveränität über den Archipel - und die Sowjetunion das Recht,
       Bodenschätze abzubauen. Wenn sich Russland einmal komplett zurückziehen
       würde, wäre es sehr schwierig, das wieder aufzubauen.
       
       Der Verlust an Arbeitsplätzen in der Kohlemine wird durch die Eröffnung
       einer großen neuen, von den Norwegern betriebenen Mine in Sveagruva
       kompensiert. Da das Schmelzen der polaren Eiskappe zum mächtigsten Symbol
       der globalen Erderwärmung geworden ist, ist es schon ein merkwürdiges
       Paradox, dass die Haupterwerbsquelle auf Spitzbergen im Abbau fossiler
       Energien besteht.
       
       Die strengen arktischen Winter haben während der letzten zehn Jahre an den
       Gebäuden von Pyramiden ihre Spuren hinterlassen, und Eismöwen nutzen die
       Fenstersimse der verwahrlosten Wohnungen im sowjetischen Stil als
       Nistplätze. Der Ort hatte einen eigenen Kindergarten, eine Grundschule, ein
       Katzengrab, Gewächshäuser, ein Kulturzentrum und eine Lenin-Statue sowie
       den nördlichsten Swimmingpool der Welt. Doch die ganze Siedlung ist in
       Gefahr, von der Flut weggespült zu werden. Die Schottermauern, die die
       Flüsse um die Siedlung leiteten, haben die Ufer zerstört, und es gibt
       niemand, der sie in Ordnung bringt.
       
       Der Tag vor unserer Expedition zum Mittag-Leffler-Breen ist als Ruhetag
       geplant, und unsere Reiseleiter bestehen darauf, dass eine Sauna die beste
       Art der Vorbereitung auf die Strapazen ist. Wir suchen die Küste an der
       Bucht nach Holz ab und finden schließlich genug, um ein Lagerfeuer zu
       machen. Mehrere Stunden lang wird ein großer Felsbrocken stark erhitzt, bis
       er vorsichtig in eines der Zelte transportiert werden und als improvisierte
       Sauna dienen kann. Das Wasser spritzt und zischt, als es auf den Stein
       geschöpft wird, und ein nach Schwefel riechender Dampf füllt das Zelt. Als
       die Hitze unerträglich wird, stürzen wir uns mit unseren pochierten und
       kribbelnden Körpern in das eiskalte Wasser des Billefjorden. Der
       Temperaturunterschied zwischen der dampfenden Sauna und dem fast
       gefrierenden Meerwasser ist ein Schock - aber wir laufen vergnügt zurück
       und wiederholen die Prozedur noch mehrere Male. Eine Sauna mitten in der
       arktischen Tundra ist eine elementare und wahrhaft erfrischende Erfahrung.
       
       Am nächsten Tag machen wir uns mit schwerem Gepäck auf den Weg zum
       Mittag-Leffler-Gletscher. Es soll der Höhepunkt der Tour sein, aber tiefe
       Wolken hängen über uns, als wir Ragnarbreen erreichen, den ersten der
       Gletscher, die wir an diesem Tag überqueren. Es wird noch schlimmer: Eine
       Frau aus der Gruppe, die nicht an das Tragen von Steigeisen gewöhnt ist,
       bekommt Fußschmerzen und ist am Ende ihrer Kraft.
       
       Wir haben gerade den Mittag-Leffler-Breen erreicht, da spüre ich einen
       scharfen Ruck am Seil. Die Frau vor mir fällt durch eine Schneebrücke in
       eine Gletscherspalte. Erfolglos versuche ich, meinen Eispickel ins harte
       Eis zu rammen, doch das Seil mit dem Gewicht von 13 Leuten daran ist zu
       schwer. Eine Viertelstunde später, nachdem ein ausgeklügelter
       Zugmechanismus konstruiert ist, gelingt es Kristin und Henrik, eine
       verletzte und zitternde Gillian aus der Gletscherspalte zu ziehen, und wir
       zockeln weiter über den Gletscher.
       
       Nachdem wir zwölf Stunden durch den frostigen Nebel gelaufen sind, klettern
       wir schließlich auf einen Nunatak, einen Felsen namens Heclastakken in der
       Mitte des Gletschers, wo wir ein Lager aufschlagen. Die Felsnase befindet
       sich in der Mitte eines fünf Meilen weiten Eismeers, das von dunklen Bergen
       umgeben ist. Als sich der Nebel lichtet, erhaschen wir einen flüchtigen
       Blick auf die Berge, deren eigenartig geschichtete und spitze Gipfel
       Spitzbergen seinen Namen geben. In der Ferne sieht man Newtontoppen, der
       mit 1.717 Metern höchste Berg der gesamten Inselgruppe.
       
       Der Plan war, in den nächsten Tagen einige Gletscher „einzusacken“, aber
       Marisas Fuß zeigt am Tag darauf keine Anzeichen der Besserung. Unsere
       Führer rufen mit einem Satellitentelefon einen Hubschrauber, doch der
       dichter werdende Nebel macht eine Rettungsaktion unmöglich. Wir
       entscheiden, die Expedition abzubrechen. Wir packen die Zelte und folgen
       unseren Spuren zurück über den Gletscher ins Basislager, wo wir kurz vor
       Mitternacht ankommen. Das Abendessen wird am frühen Morgen serviert.
       
       Einige Tage später kommt das Schiff in die Bucht von Longyearbyen, um uns
       zurück in die Zivilisation zu bringen. Nach zehn Tagen in der Wildnis
       erscheint uns die Vorstellung einer heißen Dusche als betörendes Vergnügen.
       Sobald wir an Bord der Langøysund geklettert sind, bereitet uns die Crew
       ein delikates Barbecue mit norwegischen Pfannkuchen und Eiskrem zum
       Dessert. Auf dem Weg nach Longyearbyen kommt unser Boot am riesigen
       Nordenskiöld-Gletscher vorbei, der sich von der unserem Lager
       gegenüberliegenden Seite der Bucht in den Fjord hineinschiebt. Als sich das
       Schiff der 30 Meter hohen Eismauer des Gletschers nähert, zerreißt ein
       gedämpftes Krachen die Luft, und ein ansehnlicher Brocken Eis vom Gletscher
       donnert in die See. Der Barmann schöpft einige der tausend Jahre alten
       Eisstücke aus der See und mixt damit Abendcocktails, um das Ende der Tour
       zu feiern.
       
       Während die Eissturmvögel den Bugwellen unseres Schiffes folgen, genießen
       wir unseren Gin mit Tonic und stoßen auf unsere Reiseleiter an, die uns an
       diesen magischen Ort gebracht haben.
       
       Aus dem Englischen von Petra Zornemann
       
       30 Jul 2008
       
       ## AUTOREN
       
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