# taz.de -- Arzt über Testosteron bei Sportlerinnen: „Der Grenzwert ist willkürlich“
       
       > Deutlich erhöhte Testosteronwerte wirken nicht leistungssteigernd, sagt
       > Hormonspezialist Stalla. Und die Sportverbände können keinen Gegenbeweis
       > erbringen.
       
 (IMG) Bild: Darf wieder laufen: die indische Leichtathletin Dutte Chand.
       
       Seit den spektakulären Auftritten der südafrikanischen 800-Meter-Läuferin
       Caster Semenya wurde in der Öffentlichkeit und in den Gremien des
       Internationalen Leichtathletikverbandes IAAF wieder verstärkt über das
       Thema Intersexualität bei Sportlerinnen und Sportlern diskutiert. 
       
       Die Athletin wurde untersucht und mutmaßlich festgestellt, dass sie
       genetisch ein Mann, phänotypisch aber, also vom Erscheinungsbild her, eine
       Frau ist. Um das festzustellen, mussten Athletinnen in der Vergangenheit
       oft demütigende und invasive Tests und Prozeduren überstehen. 
       
       Deswegen entschied das Internationale Olympische Komitee 2010 in Lausanne,
       künftig nur noch einen Grenzwert bei mutmaßlich intersexuellen Athletinnen
       als Grundlage der Beurteilung hinzuzuziehen: zehn Nanonmol Testosteron pro
       Liter Blut – für Frauen ein extrem hoher Wert des vermännlichenden
       Sexualhormons, der im Normalfall nicht erreicht werden kann. 
       
       Doch die indische Leichtathletin Dutee Chand übersprang diesen Grenzwert –
       und wurde gesperrt. Sie wollte sich nicht hormonell behandeln lassen, weil
       sie sich als normale und gesunde Frau empfindet. Ergebnisse einer
       genetischen Untersuchung sind nicht bekannt. Sie zog vor den
       Sportgerichtshof CAS in Lausanne – und bekam recht. 
       
       Die Sperre der 19-Jährigen wurde in dieser Woche aufgehoben. Die IAAF muss
       nun innerhalb von zwei Jahren nachweisen, dass Frauen mit erhöhtem
       endogenen Testosteronwert tatsächlich einen Leistungsvorteil haben. Gelingt
       dies nicht, ist die Ära der Geschlechtstests wohl vorbei. Wir haben darüber
       mit dem Münchner Hormonspezialisten Günter Stalla gesprochen, der auch die
       Nationale Anti-Doping-Agentur (Nada) in Deutschland in kniffligen Fällen
       berät. 
       
       taz: Herr Stalla, sind Ihnen Studien bekannt, die so einen Leistungsvorteil
       belegen? 
       
       Günter Stalla: Es gibt überhaupt keine Evidenz, dass es einen
       Leistungsvorteil bei einer Geschlechtsentwicklungsstörung (Intersexualität)
       gibt, auch keine Studien. Der Fall der indischen Leichtathletin ist aus der
       Ferne allerdings schwer zu beurteilen. Es wäre schon interessant zu wissen,
       ob man bei ihr eine verstärkte Körperbehaarung als Vermännlichungseffekt
       findet. Hat sie eine normale Periode, hat sie eine vergrößerte Klitoris
       oder einen erhöhten Hämatokritwert, ist also der Anteil der roten
       Blutkörperchen erhöht? Leidet sie an einem androgenitalen Syndrom? Ist sie
       genetisch Frau oder Mann?
       
       Spielt das denn eine Rolle? 
       
       Im Endeffekt nicht, denn wäre sie genetisch ein Mann und phänotypisch eine
       Frau, dann hätte das Testosteron in ihrem Blut gar keinen biologischen
       Effekt. Am häufigsten bei der Intersexualität ist ja ein
       Androgenrezeptor-Defekt: Bereits im Ungeborenen hat Testosteron keine
       Wirkung. Das ist genetisch ein Mann, phänotypisch ein Frau. In den Leisten
       sitzen zumeist die nicht außenliegenden Hoden und bilden eine abstrus hohe
       Menge Testosteron, das aber biologisch keinen Effekt hat. Es wirkt also
       nicht leistungssteigernd. Aus dem hohen Testosteron entsteht durch eine
       sogenannte Aromatisierung das weibliche Sexualhormon Östradiol, das für die
       Entwicklung zur Frau verantwortlich ist.
       
       Wird es dem Internationalen Leichtathletikverband IAAF möglich sein, so
       einen Effekt dennoch nachzuweisen? 
       
       Man könnte die häufigsten Krankheitsbilder, die natürlich auch Sportler
       haben, genauer untersuchen. Aber die Fälle sind so wahnsinnig selten, dass
       es schwierig wird, ein allgemeingültiges Statement abzugeben.
       
       Als Laie würde man annehmen, Testosteron hat auf jeden Fall einen Effekt
       auf die Leistungsfähigkeit? 
       
       Ja, aber nur, wenn es einer gesunden Frau von außen zugeführt wird. In der
       speziellen Konstellation von Chand trifft das wahrscheinlich nicht zu. Es
       könnte sogar so sein, dass ihr ein wichtiges Hormon fehlt, das Kortisol,
       was einen Menschen auf Angriff oder Flucht stimuliert und wichtig ist für
       die Regulation des Zuckerstoffwechsels, wie es beim adrenogenitalem Syndrom
       der Fall ist.
       
       Welchen Sinn hat der Grenzwert von zehn Nanomol pro Liter Testosteron? 
       
       Zunächst einmal erstaunt mich der hohe Wert, denn er ist sehr nah dran an
       einem Männerwert.
       
       Nur 0,1 Prozent der Frauen erreichen überhaupt einen Wert von drei in einer
       bestimmten Zyklusphase. 
       
       Es ist klar, dass die indische Sprinterin ein gesundheitliches Problem hat.
       Wenn so eine Frau mit diesem Wert zu mir kommt, dann suche ich zuerst einen
       Tumor, der Testosteron bildet, etwa in der Nebennierenrinde.
       
       Noch einmal: Ist so ein Grenzwert sinnvoll? 
       
       Dieser Grenzwert ist willkürlich. Ich kenne keine Studie, die irgendeinen
       Zusammenhang zwischen Grenzwert und Leistungssteigerung gezeigt hat. Außer
       ich spreche von Doping. Wenn ich einer gesunden Frau Testosteron bis zu
       diesem Grenzwert verabreiche, dann hat sie natürlich einen Vorteil, weil
       sie einen Zuwachs an Muskelmasse haben kann.
       
       Wie im DDR-Sport geschehen. 
       
       Ja, aber da war man teilweise noch cleverer, weil sie Hormonvorstufen
       verwendet haben, Androstendion zum Beispiel, die man damals nicht
       nachweisen konnte.
       
       Warum hat die IAAF den Grenzwert überhaupt festgelegt? 
       
       Das Dilemma ist ja: Wenn sich eine Athletin nicht untersuchen lässt, dann
       kann man auch nichts über eine zugrundeliegende Erkrankung sagen. Wobei man
       grundsätzlich sagen muss: Jede Erkrankung führt eher zu einer
       Leistungseinschränkung.
       
       Die IAAF wird also scheitern vor dem CAS? 
       
       Ich rechne damit. Es gibt ja noch nicht einmal eine Studie, die belegt, ob
       eine Frau, die mit der Antibabypille ein bestimmtes Gelbkörperhormon
       einnimmt, einen Vorteil gegenüber Frauen hat, die ein anderes Präparat
       einnehmen zur Empfängnisverhütung. Das interessiert offensichtlich
       niemanden – zu meiner eigenen Überraschung.
       
       2 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Markus Völker
       
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