# taz.de -- Wer pinkeln will, muss zahlen. Fatal!: Verpiss dich!
       
       > Immer häufiger muss mann fürs Urinieren bezahlen. Wildpinkeln ist deshalb
       > weit verbreitet, auch in Hamburg. Leider.
       
 (IMG) Bild: Der darf das: Manneken Piss in Brüssel.
       
       HAMBURG taz | Bei meinen Großeltern hing im kleinen Gästeklo ein gerahmter
       Cartoon von Till Mette, den mein Opa irgendwann mal aus dem Stern
       rausgetrennt hat. Zwei Steinzeit-Männer hat Mette gezeichnet, einer sitzt
       entspannt vor seinem Höhleneingang, der andere pinkelt gegen einen Fels
       neben dem Eingang, lächelt und sagt: „Toll eure neue Wohnung und ’ne
       Toilette habt ihr auch schon!“
       
       Ja, toll so eine Toilette! Ein stilles Örtchen eben. Aber irgendwie ist die
       Freude über einen privaten Ort fürs Urinieren, die Idee davon, dass es gut
       ist, nicht überall hin zu pissen, verloren gegangen. Auf Klo gehen? Wozu,
       wenn man – oder nein, in diesem Fall wirklich einmal Mann – das doch
       einfach an einem öffentlichen Ort unter freiem Himmel erledigen kann. Haben
       die Pinkler erst mal ein Revier ausgemacht und es ein paar Mal markiert,
       fallen schnell alle Hemmungen. Da kommt es vor, dass man mit den Nachbarn
       vorm Haus im Hamburger Karolinen-Viertel sitzt, vielleicht glüht der Grill
       und der Tisch ist gedeckt, und dann stellt sich jemand unmittelbar daneben
       und pisst in die Hecke zu den angrenzenden U-Bahngleisen. Stopft erst im
       Umdrehen alles wieder zurück in die Hose, zieht den Reißverschluss hoch,
       vielleicht werden noch kurz die Hände an der Hose abgewischt. Wirklich
       seltsam.
       
       Und ich rede hier nicht nur von Betrunkenen, die nicht mehr bis fünf zählen
       können. Die gibt es natürlich auch, wochenends vor allem. Aber es kommen
       auch viele Touristenfamilien ohne Sauf-Absichten, Besucher aus anderen
       Stadtteilen oder die Verkäufer vom nahe gelegenen Flohmarkt. Letztere
       kommen jeden Samstag, pissen in die Hecke oder an die davor parkenden Autos
       oder ans Fahrradhäuschen – gern auch gegen das Schild mit dem
       durchgestrichenen Manneken Piss drauf. Sie pinkeln, schütteln im Gehen ab,
       gehen zurück zu ihren Flohmarktständen und verkaufen weiter. Und irgendwie
       wiegt es doch noch schwerer, sich bei vollem Bewusstsein dafür zu
       entscheiden, Leuten vor die Tür zu pinkeln.
       
       ## Wie der Vater, so der Sohn
       
       Wie neulich der Mittdreißiger mit seinem etwa fünfjährigen Sohn. Wir kamen
       gerade von einem Ausflug zurück und wollten vorm Haus parken. Da standen
       Mann und Sohn im Rinnstein und machten nur murrend Platz. „Was soll denn
       das?“, fragte er als wir aus dem fertig geparkten Wagen stiegen. „Mein Sohn
       wollte hier gerade hinmachen.“ Da fällt einem wenig zu ein – zumal keine
       zehn Meter weiter ein Café ist, mit Toiletten, die benutzt werden dürfen.
       Mit Kindern sowieso. Wir haben jedenfalls den Wagen nicht mehr umgeparkt,
       damit er seinen Sohn in Ruhe vor unsere Tür pissen lassen konnte. Dieser
       Sohn wird sich vermutlich nie schämen, anderen Leuten – zumindest im
       städtischen Kontext – vor die Tür zu pinkeln, wurde ihm das schließlich als
       normales Verhaltensmuster beigebracht.
       
       ## Es ist ihnen nicht peinlich
       
       Meinem Opa war das Pinkeln an öffentlichen Orten immer unangenehm. Er war
       der leidenschaftlichste Radfahrer, den ich kenne. Und dazu ein akribischer
       Dokumentar. Jeden Tag saß er im Sattel und er sagte mal, er sei
       kilometermäßig bis zum Mond gefahren – ein Leben Zeit für 384.400
       Kilometer. Nachgerechnet habe ich es nie, auch wenn ich es gekonnt hätte,
       weil er sich jeden Tag in einem Heft die gefahrenen Kilometer, die Strecke,
       das Wetter (mit kleinen Symbolen) und Besonderheiten notierte. Und nach
       über 80 Jahren waren das am Ende viele solcher Hefte. Schwierig wurde es
       für ihn, als er an der Prostata erkrankte, mit der Folge, dauernd und dann
       auch sofort überall Wasser lassen zu müssen. „Da ich so alt bin, denken die
       Leute zum Glück, dass ich krank oder verrückt bin und lassen mich in Ruhe
       an den Baum pinkeln“, sagte er mal zu mir und grinste dazu. Aber es war ihm
       peinlich, alter Mann hin oder her. Da war es fast schon eine Erleichterung,
       als er einen künstlichen Blasenausgang bekam und nicht mehr an jedem Busch
       halten musste. Den Männern, denen ich von meinem Balkon aus zusehen muss,
       ist das Pinkeln unter Beobachtung nicht peinlich. So gar nicht.
       
       ## Männer können überall
       
       Interessant ist doch, dass sich vor Frauenklos immer und überall eine
       Schlange bildet, vor dem Männerklo muss man eigentlich nie anstehen. Eine
       gängige Erklärung ist, dass Frauen eben einfach häufiger müssen, das Gerede
       von der obligatorischen schwachen Blase und so. Das ist aber schlicht
       Unsinn, wie ich heute weiß. Denn Frauen sind in der öffentlichen
       Pinkel-Szene quasi nicht vorhanden. Frauen sind sich nämlich nicht zu
       schade, ein Klo zu benutzen, vielleicht auch mal zu fragen, ob sie eines
       benutzen dürfen. Männer machen das nicht, einfach weil sie überall können.
       
       In Köln etwa haben sie dem nun Rechnung getragen. In einem im Mai neu
       aufgestellten Klohäuschen pinkeln Männer im Stehen kostenlos, nur wer
       sitzen will, zahlt 50 Cent. Frauen zahlen also immer. Die Erklärung, warum
       die Urinale kostenlos benutzt werden dürfen, ist simpel: Kostet es was,
       erleichtern sich die Männer lieber unentgeltlich im Freien. Dabei ist die
       Wildpinkelei sogar recht teuer, wie aus dem vor einem Jahr veröffentlichten
       Wildpinkel-Bußgeld-Atlas hervorgeht, den die Adamus Group veröffentlicht
       hat, die eine mobile Mini-Toilette für den Mann – also so was wie eine
       Punica-Flasche aus Plastik – vertreibt. In den meisten Städten kostet
       wildes Pinkeln zwischen 35 und 75 Euro. In Hannover sogar bis zu 5.000 Euro
       – das ist hier die Höchststrafe und wird nur „in schwerwiegenden Fällen“
       erhoben, heißt es bei der Stadt. Normalerweise werde öffentliches
       Wasserlassen nur mit 35 Euro geahndet.
       
       So richtig zieht das Bußgeld aber nicht, gerade in Großstädten wie Hamburg.
       Der Zurück-Pinkel-Lack auf St. Pauli, den eine Werbeagentur und
       Geschäftsleute vor einiger Zeit auf einige Wände im Viertel strichen, war
       eine Reaktion auf die nicht enden wollende Pinkelei. Die Aktion „Wir
       pinkeln zurück!“ schaffte es in die überregionalen Medien, irgendwie
       beschäftigt das Pinkel-Problem die Leute wohl doch. Aber dass nun in St.
       Pauli einige Wände mit dem superhydrophoben Lack gestrichen wurden, mit
       einem Lack also, der so wasserabweisend ist, dass Flüssigkeiten von der
       Oberfläche abprallen, ist dann doch eher ein Gag als die Lösung des
       Problems. Denn dieser „Ultra-Ever Dry“ Lack, der 2012 von der
       US-amerikanischen Firma Resource Energy Group entwickelt wurde, ist zu
       teuer für den einzelnen Pinkelgegner, muss einmal im Jahr wieder
       aufgetragen werden – und stinken tut die Pinkelei trotzdem.
       
       ## Pisst einer, kommen andere nach
       
       Es ist ja ein nachvollziehbares Problem, jeder muss mal und nicht immer ist
       ein Klo da. Soweit so in Ordnung. Aber in einer Stadt, noch dazu in einem
       Stadtteil wie St. Pauli mit einer derart hohen Bar-, Kneipen, Café- und
       damit auch Klodichte, muss es möglich sein, Leuten nicht vor die Tür zu
       pinkeln. Denn: Es kommt ja eben nicht nur der eine Mann in Not. Benimmt
       sich einer daneben, folgen viele nach. Das erinnert ein wenig an den
       kriminalgeografischen Ansatz der US-amerikanischen Sozialwissenschaftler
       James Q. Wilson und George L. Kelling. Mit ihrer 1982 veröffentlichten
       Broken-Windows-Theorie beschreiben sie, dass eine kaputte Fensterscheibe,
       die nicht ersetzt wird, Auslöser für weitere Zerstörung ist. Wird einer
       nicht am Pissen gehindert, pissen bald alle.
       
       Nun könnte man natürlich wegziehen und den wilden Pissern das Feld
       überlassen. Man kann sagen, wer in der Stadt wohnt, muss eben damit leben,
       dass andere Menschen kommen und sich gehen lassen, leben und leben lassen
       und so. Aber so richtig einleuchten will mir das nicht. Ich fahre ja auch
       nicht nach Bad Segeberg, Winterhude oder Pinneberg und pinkle dort auf die
       Gehsteige oder lasse meinen Neffen vor Wohnungstüren pissen, wie es die Bad
       Segeberger, Winterhuder oder Pinneberger, die gerade jetzt wieder zum
       Volksfest Dom nach Hamburg kommen, bei uns machen.
       
       ## Nur ein klägliches „He!“
       
       Wenn die Stadt hier jemanden zum Kontrollieren abstellte, käme viel Geld
       zusammen. An einem Samstag, an dem es nicht in Strömen gießt, Flohmarkt,
       Dom und Heimspiel des FC St. Pauli sind, kommen da gern mal ein paar
       hundert Leute zusammen. An einem normalen Samstag ohne Heimspiel und Dom
       auch schon Dutzende. Summiert sich, aber es kontrolliert niemand. Und unser
       klägliches „He!“ vom Balkon bringt natürlich gar nichts.
       
       Den ganzen Schwerpunkt zur Pinkel-Kultur lesen Sie in der gedruckten
       Norddeutschland-Ausgabe der taz.nord oder [1][hier]
       
       31 Jul 2015
       
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