# taz.de -- Konferenz zum Erdmanagement: „Kein Cockpit für die Steuerung“
       
       > Systemwissenschaftler diskutieren über Dürre, Klimawandel und
       > Meeresvermüllung – und sind sich bei der Problemlösung uneins.
       
 (IMG) Bild: In Kalifornien fehlt es an Wasser
       
       Das Anthropozän ist der Zeitabschnitt, in dem der Mensch zu einem der
       wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und
       atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. Und es ist der
       Zeitabschnitt, in dem unter anderem der Umgang mit Wasser neu gelernt
       werden muss. Singapur und Kalifornien stehen für zwei völlig
       unterschiedliche Systemansätze, deren teils dramatische Folgen sich schon
       heute besichtigen lassen.
       
       Der Stadtstadt Singapur konnte seine Bürger mangels eigener Quellen bisher
       über Trinkwasser-Importe aus dem Nachbarland Malaysia versorgen. Seitdem
       aber politische Spannungen die Lieferung gefährden, hat Singapur einen
       „Wasser-Unabhängigkeitsplan“ gestartet, der voll auf die Nutzung von
       Regenwasser, Meerwasser-Entsalzung und Recycling von „Grauwasser“ setzt.
       Inzwischen ist Singapur nicht nur Weltmeister in Sachen Wasser-Technologie.
       Auch beim Ansatz, die Bevölkerung zum sparsamen Umgang mit dem kostbaren
       Nass zu bewegen, werden Maßstäbe gesetzt. „Wasser ist in Singapur ein
       Gesellschaftsthema ersten Ranges“, hat der Wissenschaftler Noam Cook von
       der kalifornischen San Jose State University festgestellt.
       
       Völlig anders der Wasser-Umgang in Cooks Heimatland: 80 Prozent der
       Wasserförderung fließen in die kalifornische Landwirtschaft mit ihren
       riesigen Monokultur-Plantagen an Obst und Gemüse. Der Rest des Landes
       trocknet in der aktuellen Folge von Hitzejahren aus, Flüsse und Stauseen
       sind auf Niedrigstpegel, große Waldbrände sind kaum mehr einzudämmen. „Aber
       die Bevölkerung ist weitgehend ignorant und senkt ihren Wasserverbrauch
       nicht“, beklagt Cook. „Das ist das größte Problem“.
       
       Mangelndes Systemdenken verschärft die Probleme. „In Singapur weiß jedes
       Schulkind, wo Wasser herkommt und warum es so wertvoll ist“, so der
       US-Wissenschaftler. Die Umweltbildung der Kleinen ist Teil eines
       umfassenden Systemmanagements im Umgang mit Wasser, das in der Politik zu
       Spargesetzen (Regenwasser ist in Singapur kein Privatbesitz, sondern
       Gemeingut) und in der Wirtschaft zu technischen Effizienzlösungen führt.
       
       ## Keine Steuerung von oben
       
       Um den globalen Umweltproblemen wie dem Klimawandel und der
       Meeresvermüllung wirksam begegnen zu können, reichen die Lösungen einzelner
       Wissenschaftsdisziplinen nicht mehr aus. Das neue Erdzeitalter mit dem
       geowissenschaftlichen Namen „Anthropozän“, in dem der Mensch mit seiner
       industriellen Wirtschaftsweise die stärkste Kraft in der Beeinflussung des
       Planeten geworden ist, fordert auch die Wissenschaft in neuer Weise heraus.
       Davon sind gerade die sogenannten Systemforscher überzeugt, die sich auf
       die Suche nach übergreifenden Mustern und Wirkungsmechanismen in den
       unterschiedlichsten Gebieten, ob Natur oder Gesellschaft, begeben haben.
       
       „Das Anthropozän zu regieren“ stelle die größte Herausforderung an die
       praktischen Systemwissenschaften dar, war daher auch das zentrale Motto der
       Jahreskonferenz der International Society for the System Sciences (ISSS),
       die vor Kurzem in Berlin stattfand.
       
       Umstritten ist allerdings, wie das künftige Erdmanagement auszusehen hat.
       Der britische Nachhaltigkeitsforscher Andy Stirling von der Universität
       Sussex warnt eindringlich vor Fantasien, das Anthropozän als eine Mission
       zur „planetaren Kontrolle und Steuerung“ zu verstehen. Vertreter dieser
       Auffassung sehen die langfristige Bestimmung des Menschen darin, die
       Herrschaft über die Natur zu erreichen. „Doch der Irrtum ist: Es gibt kein
       Cockpit, von dem aus diese Steuerung möglich wäre“, so Stirling.
       
       ## Veränderung von unten
       
       Die Rettung des Planeten kann für ihn nicht durch eine Führungscrew von
       oben gelingen, sondern nur durch Graswurzelprozesse der Transformation an
       der gesellschaftlichen Basis. „Alle großen Transformationen der
       Vergangenheit sind nie von oben, sondern nur von unten zustande gekommen“,
       erklärt Systemforscher Stirling. Vielleicht könne man den neuen
       Change-Modus „Transilienz“ nennen: Veränderung plus widerständige
       Resilienz.
       
       Auch wenn die Systemwissenschaftler das große Ganze im Blick haben, in der
       realen Wissenschaftswelt fristen sie eher ein Nischendasein. „Wir bräuchten
       eigentlich in jeder Universität eine Fakultät für Interdisziplinarität“,
       bemerkt ein Wiener Teilnehmer der Tagung. In Deutschland ist die
       Systemforschung als Lehrstuhl an keiner Universität präsent. Die meisten
       ISSS-Mitglieder gehören disziplinären Einrichtungen an.
       
       „Mit dem Begriff Systemwissenschaft operieren wir seit 60 Jahren“,
       erläutert ISSS-Präsident Ray Ison, Systemprofessor an der britischen Open
       University. Eine breitere Wahrnehmung stellte sich im Zuge der Bankenkrise
       nach 2008 ein, bei der „systemrelevante“ Geldinstitute mit
       Milliardenbeträgen gerettet werden mussten. Seitdem werde „systemisch“
       häufig mit „nicht kontrollierbar“ gleichgesetzt, bedauert Ison.
       
       „Expanding the context“, die Zusammenhänge erweitern und verstehen, das ist
       für Michael Lissack, Präsident der amerikanischen Gesellschaft für
       Kybernetik, das Wesensmerkmal der Systemwissenschaft. Zur Illustration
       ihrer politischen Wirksamkeit springt er ins Jahr 1962: Raketenkrise auf
       Kuba, die Welt am Rande des Atomkriegs. Erst die Überwindung des Denkens
       nur in eigenem System und die Erweiterung um Sichtweisen des Gegners sowie
       der negativen Folgen hätten den Schlagabtausch verhindert. Lissack: „Die
       Politik spielt gern Poker, die Systemwissenschaft Schach“.
       
       ## Hilfe von der Zivilgesellschaft
       
       Eine neue Tendenz sieht der Bostoner Kybernetiker an einem wachsenden
       außerwissenschaftlichen Interesse: „Die Zivilgesellschaft nähert sich
       zunehmend den Systemwissenschaften an.“ Den Grund dafür sieht er darin,
       dass die Zivilgesellschaft der Ort sei, „wo ernsthaft über Alternativen
       nachgedacht wird“.
       
       Die deutsche Landschaft der Systemwissenschaft hat eine Traditionslinie in
       der Kybernetik, der Regeltechnik, die in den 60er Jahren großen Einfluss
       hatte. Eine weitere Prägung ging von der Systemtheorie des Bielefelder
       Soziologen Niklas Luhmann aus. Der bekannteste deutsche Systemforscher war
       bis in die 90er Jahre Frederic Vester, der mit seinen Anwendungen etwa im
       Verkehrsbereich den Nutzwert systemischen Denkens verdeutlichen konnte. Die
       Bedeutung des Fachs ist hierzulande geschrumpft. Von den 240 Teilnehmern
       des Berliner Kongresses der Systemforscher kamen allerdings lediglich 30
       aus Deutschland.
       
       In Berlin finden sich am agrarwissenschaftlichen Thaer-Institut der
       Humboldt-Universität vereinzelte Projekte mit systemwissenschaftlicher
       Ausrichtung. Ein radikaler Systemdenker der Uni, der DDR-Dissident Rudolf
       Bahro, ist indes völlig in der Versenkung verschwunden. Sein Archiv befinde
       sich zwar noch immer in der Berliner Humboldt-Uni, „es ist aber sehr
       gefährdet“, berichtete eine HU-Wissenschaftlerin auf der Tagung. Nötig sei
       die Finanzierung einer Stelle zur Sicherung und Aufarbeitung des
       Bahro-Nachlasses.
       
       18 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Manfred Ronzheimer
       
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