# taz.de -- Deutsche Flüchtlingspolitik in Afghanistan: „Haben Sie sich das gut überlegt?“
       
       > Die deutsche Botschaft versucht, Afghanen mit einer Plakatkampagne von
       > der Flucht nach Europa abzuhalten. Sie geht an der Realität vorbei.
       
 (IMG) Bild: „Sie verlassen Afghanistan? Sind Sie sicher?“ heißt es auf einem Plakat in Kabul.
       
       KABUL taz | Im Sommer erzählte Khatera (Name geändert), dass ihre zwei
       Söhne, 16 und 17 Jahre alt, sich auf den Weg nach Europa gemacht hätten.
       Keine guten Worte der Familie habe sie aufhalten können und keine
       Drohungen. Ein paar Wochen später kam ein Anruf aus einem iranischen
       Gefängnis nahe der Grenze zur Türkei. Den Jungs ging es miserabel. Sie
       froren und hungerten.
       
       Die Polizei hätte ihnen 24 Stunden nichts zu essen gegeben und gesagt, sie
       hätten ja nicht kommen müssen. Dann brach das Gespräch ab; der Akku des
       Telefons war am Ende. Khatera aber war froh, dass beide lebten. Sie wären
       nicht die ersten Afghanen gewesen, die beim illegalen Versuch, über die
       iranisch-türkische Grenze zu kommen, erschossen worden wären.
       
       Mit Schilderungen wie von Khateras Söhnen warnt nun die deutsche Botschaft
       in der Hauptstadt Kabul seit einigen Tagen junge Afghanen, es sich noch
       einmal zu überlegen, ob sie sich wirklich auf solch einen gefährlichen Weg
       machen wollen. Über 150.000 Afghanen sind in diesem Jahr in Europa
       angekommen, schätzt das Flüchtlingshilfswerk UNHCR, die Hälfte davon in
       Deutschland.
       
       „Afghanistan verlassen – haben Sie sich das gut überlegt?“, heißt es auf
       riesigen Plakaten in den Hauptsprachen Paschto und Dari. Von dort kann man
       per QR-Code mit dem Smartphone gleich auf die Facebook-Seite „Gerüchte über
       Deutschland“ gehen. Die warnt: „Viele Afghanen in Deutschland, die
       unqualifiziert sind oder kein Deutsch sprechen, sind arbeitslos.“
       
       Die deutsche Anti-Flucht-Kampagne ist in Afghanistan nicht gut angekommen.
       Im Parlament und in sozialen Medien gab es Entrüstung. Selbst der deutsche
       Botschafter Markus Potzel sagte in einem Interview, Deutschland verstehe,
       warum so viele Afghanen flöhen: „Schlechte Sicherheit, schlechte
       Wirtschaft[slage], schlechte Aussichten, kein Vertrauen in die nationale
       Einheitsregierung“. Damit stellt sich das SPD-geführte Auswärtige Amt gegen
       die viel positiveren Einschätzungen der Abschiebungsfraktion in CDU/CSU.
       
       ## Afghanistans Armutsrate liegt seit Jahren bei 36 Prozent
       
       Auch Afghanistans Regierung agiert uneinheitlich. Der zuständige Minister,
       ein schiitischer Geistlicher, kündigte zunächst empört an, man werde keine
       Abgeschobenen aufnehmen. Dann pfiff ihn Präsident Aschraf Ghani nach einem
       Telefonat mit Angela Merkel zurück. Als Außenminister Salahuddin Rabbani am
       Sonntag westliche Botschafter empfing, hieß es, Afghanistan werde seine
       vertraglichen Pflichten zur Rücknahme erfüllen, erwarte aber, dass
       afghanische Asylbewerber „entsprechend der Situation in Afghanistan
       behandelt“ würden. Ghani entsandte seine Frau nach Europa, um für
       Verständnis zu werben.
       
       Im Hintergrund sollen die Geberländer mit der Kürzung der
       Entwicklungszusammenarbeit drohen, erkläre sich Afghanistan sich nicht
       prinzipiell zur Rücknahme bereit. Denn dann müssten für das Land bestimmte
       Mittel in Europa zur Integration der Flüchtlinge eingesetzt werden. Bei
       Kooperation sei man hingegen bereit, am Hindukusch Arbeitsprogramme zu
       fördern. So soll es neue Ruhestandsregelungen für Beamte geben, damit die
       Regierung besser qualifizierte Jüngere einstellen könne. Das hilft aber
       nicht den Ärmsten. Afghanistans Armutsrate liegt seit Jahren bei 36
       Prozent.
       
       Mohsen (Namen geändert), Vater von fünf Kindern, bewacht seit fünf Jahren
       für 150 Dollar monatlich einen Supermarkt gegenüber einem der deutschen
       Plakate. Sie mögen den einen oder anderen beeinflussen, räumt er ein. „Aber
       die meisten gehen ja nicht aus reiner Freude, sondern weil es hier wegen
       des Kriegs keine Arbeit gibt.“ Khateras Söhne haben nach ihrer Rückkehr
       nach Kabul eine Nacht zu Hause verbracht – und sich sofort wieder
       aufgemacht.
       
       Als Khatera das erzählt, steht ihr die Verzweiflung in den Augen. Die
       deutschen Plakate haben die beiden sicher nicht gesehen. Sie sind
       Analphabeten.
       
       19 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Ruttig
       
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