# taz.de -- Dokufilm von Geflüchteten: Selfie von der Flucht
       
       > „#MyEscape“ ist ein 90-minütiger Zusammenschnitt von Handyvideos
       > Geflüchteter. Die WDR-Produktion kommt ihnen so nah wie kaum eine Doku
       > bisher.
       
 (IMG) Bild: Ich. Hier. Auf der Flucht
       
       Eigentlich sei das kein Ort, an dem man sich freuen kann, sagt der Eritreer
       Simon. Aber als sie endlich in Europa waren, konnten sie nicht anders, als
       ein Selfie zu machen. Fünf junge Leute, jubelnd, froh, dass ihre Flucht bis
       hierher geglückt ist. Das Foto stellten sie auf Facebook und teilten es
       über Handy-Messenger. Jetzt ist es Teil einer Dokumentation geworden, in
       der Simon seine Geschichte erzählt.
       
       Ein Team aus WDR und Deutscher Welle hat Ende vergangenen Jahres in
       Flüchtlingsheimen Handyvideos von Geflüchteten gesammelt. Entstanden ist
       „#myEscape“, eine 90-minütige Montage aus den Amateuraufnahmen. Arte hatte
       2014 die ganz ähnlich gemachte Doku „[1][Selbstportrait Syrien]“ gezeigt.
       Man hat solche Handyschnipsel schon oft gesehen, auf YouTube, Facebook und
       in den Nachrichten. Aber zusammengeschnitten, dramaturgisch auf 90 Minuten
       arrangiert, ergibt sich ein noch viel bedrückenderes Bild.
       
       Die Geflüchteten, deren Videos in der Doku laufen, kommen auch persönlich
       zu Wort. In Interviewsequenzen erzählen sie von ihrer Heimat und Flucht.
       Sie sind 15, 21, 25 und 28 Jahre alt; Syrer, Afghanen und Eritreer. In
       ihren Ländern waren sie Sänger, Soldaten, Reporter und Dokumentarfilmer.
       Geflohen sind sie alle aus denselben Gründen: Krieg und Terror.
       
       Es gab in der letzten Zeit viele Dokumentationen über Flucht. Aber so
       direkt und unmittelbar wie die WDR-Produktion das Fliehen zeigt, tat das
       bisher keine: Die Handykamera läuft, als ein Afghane und sein Neffe
       eingepfercht im Benzintank eines Transporters fahren. Sie begleitet eine
       Gruppe Eritreer, die tagelang ohne Wasser durch die Sahara fährt,
       überfallen und ausgeraubt wird.
       
       Die Kamera ist auch dabei, als zwei junge Syrer sich an der Mittelmeerküste
       die Rettungswesten umschnallen und Boote besteigen. Einer lächelt und
       fragt: „Meinst du, die werden uns retten, wenn wir kentern?“ „Natürlich
       nicht“, klingt es aus dem Off zurück. Reporterteams nehmen für solche
       Bilder aus nächster Nähe große Mühen auf sich. Hier flackern sie einfach
       so, ein bisschen zittrig, über Handybildschirme.
       
       ## Die Flüchtlingsindustrie floriert
       
       Neben den Strapazen und den Ängsten der Flüchtlinge zeigt die Doku, welche
       Industrie rund um die Flucht entstanden ist: Mitten in der afghanischen
       Wüste stehen Zelte, aus denen Essen und Wasser an die Flüchtenden verkauft
       werden. Im türkischen Izmir zählt ein Schlepper elektronisch das Geld, das
       er von den Flüchtlingen bekommt. Die Maschine rattert und rattert. Zwei
       Millionen US-Dollar hätten da auf dem Tisch gelegen, erinnert sich der
       Syrer Hamber Alissa in der Doku: „wie Western Union, nur inoffiziell“.
       
       Zwischenzeitlich muss man unweigerlich an Alf denken, und das ist natürlich
       zynisch. Aber die verwackelten Handyvideos von Himmel, Staubboden, Straßen
       und Mauern erinnern an die schwankende Hand des Außerirdischen, der im
       Vorspann der Fernsehserie mit einer Videokamera ziellos durch die Wohnung
       läuft.
       
       Und dann wirken die Bilder wieder wie auf Klassenfahrt aufgenommen:
       Hunderte wandern querfeldein über den Balkan, das Handy immer in
       Selfie-Position. Doch der nächste O-Ton einer afghanischen Mutter erinnert
       wieder daran, dass das hier kein Abenteuer ist: „Du darfst nicht stehen
       bleiben. Du müsstest vielleicht dein Kind füttern oder wickeln, aber du
       musst weiterlaufen.“
       
       Was wurde geschimpft über Flüchtlinge und ihre Smartphones – wer sich ein
       teures Handy leisten kann, könne nicht arm sein, hieß es unter rechten
       Hetzern. „#MyEscape“ zeigt nun einmal mehr, dass die Smartphones für
       Flüchtende kein Spielzeug sind, sondern [2][Fluchthelfer], Wegweiser,
       Informationsquelle, Tagebuch und Verbindung in die alte und die neue
       Heimat.
       
       10 Feb 2016
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Arte-Doku-ueber-Konflikt-in-Syrien/!5033210
 (DIR) [2] /Auf-der-Flucht/!5237990
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anne Fromm
       
       ## TAGS
       
 (DIR) TV-Dokumentation
 (DIR) Flucht
 (DIR) Geflüchtete
 (DIR) Selfie
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) ZDF
 (DIR) Syrien
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Syrien
 (DIR) TV-Dokumentation
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) ARD-Film über Flucht und Neonazis: Du bist der Flüchtling!
       
       Nazis übernehmen Europa, Tausende Menschen fliehen nach Afrika: Der
       ARD-Film „Aufbruch ins Ungewisse“ ist ein didaktischer Perspektivwechsel.
       
 (DIR) Selbstbestimmtes Radio von Geflüchteten: Stimme und Ohr zugleich
       
       Viele Medien haben Geflüchtete als Zielgruppe entdeckt. Die meisten
       berichten über sie. Das Refugee Radio Network macht es anders.
       
 (DIR) ZDF-Serie „Familie Braun“: Ich bin zwar Nazi, aber...
       
       Das ZDF will mit einer neuen Web-TV-Serie über eine Neonazi-WG lustig sein.
       Was herauskommt, ist aber höchstens verstörend niedlich.
       
 (DIR) Auf der Flucht: Der Speicher eines Lebens
       
       Was macht eine syrische Band, wenn ihre Mitglieder fluchtbedingt in
       verschiedenen Ländern leben? Sie proben online.
       
 (DIR) „Abenteuer Türkei“-Doku: Jenseits von Erdogan
       
       Eine Arte-Dokureihe erkundet die türkische Gesellschaft im Spagat zwischen
       dem Erbe Atatürks und der heutigen islamistischen Regierung.
       
 (DIR) Arte-Doku über Konflikt in Syrien: Ein Kino der Opfer und der Poesie
       
       Oussama Mohammads Dokumentation „Selbstporträt Syrien“ gelingt etwas
       Besonderes: Der Film bleibt nicht bei der Gewalt stehen.
       
 (DIR) TV-Doku über Abschiebung: Wie ein nüchterner Faustschlag
       
       „Tod nach Abschiebung - Wadim“ erzählt die Geschichte eines Suizids. Die
       Doku ist von 2011, das Erste zeigt sie erst jetzt – ein Armutszeugnis.