# taz.de -- Getötete Oppositionelle in Russland: Morde ohne Auftraggeber
       
       > Mörder verhaftet, Hintermänner unklar. So war es bei Kreml-Kritiker Boris
       > Nemzow, aber auch anderen getöteten Oppositionellen in Russland.
       
 (IMG) Bild: Nemzow starb - wie vor ihm schon andere Menschenrechtler und Oppositionelle.
       
       MOSKAU taz | Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990 Jahre
       herrschte in Russland ein raues gesellschaftliches Klima. In den
       Verteilungsschlachten um die Bestände der sozialistischen Wirtschaft wurde
       mit allen Mitteln gekämpft. Morde aus wirtschaftlichen Motiven waren damals
       an der Tagesordnung. Sie wurden zwar zur Kenntnis genommen, die
       Gesellschaft reagierte jedoch eher gleichgültig. Die Schicksale der oftmals
       skrupellosen reichen Russen weckten selten Mitleid.
       
       In der Ära Präsident Wladimir Putins traten unterdessen spektakuläre
       politische Morde in den Vordergrund, die meist eines gemeinsam haben:
       Auftraggeber und Hintermänner wurden nur selten ermittelt. Abgeurteilt
       werden einfache Kriminelle, die die Taten ausgeführt hatten. Wie beim
       Kreml-Kritiker [1][Boris Nemzow, der vor einem Jahr auf offener Straße
       ermordet wurde]. Wie bei vielen vor ihm.
       
       Im September 1999 explodierten in Moskau und im südrussischen Wolgodonsk
       mehrere Wohnhäuser. Hunderte Tote waren zu beklagen. Die vermeintliche Spur
       führte zu Tätern aus dem Nordkaukasus, die später auch verurteilt wurden.
       In Moskau herrschte jedoch Misstrauen. Verdachtsmomente, dass der
       Geheimdienst FSB dahinterstecke, konnten nie ausgeräumt werden.
       
       Wladimir Putin war damals gerade zum Premierminister gewählt worden und
       bereitete sich auf das Präsidentenamt vor. Er nahm die Häusersprengungen
       zum Anlass, im Oktober 1999 einen zweiten Tschetschenienkrieg vom Zaun zu
       brechen, mit dem er sich in die Herzen vieler Bürger bombte.
       
       ## Vergiftet: Schtschechotschichin, Litwinenko
       
       Eine parlamentarische Untersuchungskommission nahm dennoch Ermittlungen
       auf. Sergej Juschenkow, stellvertretender Kommissionsvorsitzender und
       liberaler Abgeordneter, wurde 2003 vor seinem Haus in Moskau
       niedergeschossen. Der Mord wurde nie aufgeklärt.
       
       Jurij Schtschechotschichin, ebenfalls Duma-Abgeordneter und
       Ausschussmitglied starb noch im selben Jahr an einer mysteriösen
       Vergiftung, die sich über einige Wochen hinzog. Die russischen Behörden
       lehnten die Autopsie seiner Leiche jedoch ab. Angehörigen gelang es
       dennoch, in London eine Hautprobe untersuchen zu lassen. Die Diagnose
       lautete auf Thallium. Ein Gift, das der sowjetische Geheimdienst KGB
       bevorzugt einsetzte.
       
       Als der ehemalige russische Geheimdienstler Alexander Litwinenko im
       November 2006 in London einer Vergiftung erlag, wurde zunächst auch
       Thallium als Mordwaffe vermutet. Putin-Gegner Litwinenko war jedoch durch
       das seltenere Polonium zur Strecke gebracht worden. Auch Litwinenko hatte
       Nachforschungen über die Häusersprengungen im Herbst 1999 angestellt, bevor
       er nach Großbritannien floh.
       
       Auch der Tschetschenienkrieg forderte an der Heimatfront im russischen
       Kernland Opfer. Allein im Jahr 2000 starben fünf oppositionelle
       Journalisten, die über Gräueltaten der Armee und Menschenrechtsverletzungen
       in Tschetschenien berichtet hatten. Ihre Namen kennen nur wenige: Igor
       Domnikow, Sergej Nowikow, Iskandar Chatloni, Sergej Iwanow und Adam
       Tepsurgajew.
       
       ## Im Fahrstuhl erschossen: Journalistin Politkowskaja
       
       Der Mord an der Oppositionellen und Journalistin Anna Politkowskaja im
       Oktober 2006 sorgte hingegen für Aufsehen. Die Journalistin der
       oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta war im Fahrstuhl ihres Wohnhauses im
       Moskauer Zentrum kaltblütig hingerichtet worden. Sie hatte als moralische
       Anwältin Tschetscheniens viele Feinde in Russland. Die russische
       Öffentlichkeit hatte sich damals bereits verändert. Kaum jemand verurteilte
       den neuen Tschetschenienkrieg, anders als noch in den 1990er-Jahren.
       
       Die Handlanger stammten aus Tschetschenien. Erst 2014 verurteilte ein
       Moskauer Gericht sie zu langen Haftstrafen. Auftraggeber und Hintermänner
       blieben im Dunkeln. Allerdings wurde ein Mitarbeiter der russischen
       Sicherheitsorgane als Mitorganisator zur Rechenschaft gezogen. Das war ein
       Novum. Auch im Fall Politkowskaja wurde vermutet, dass der tschetschenische
       Verwaltungschef, Ramsan Kadyrow, im Hintergrund die Strippen zog.
       
       Die furchtlose Journalistin war am Geburtstag Wladimir Putins beseitigt
       worden. Sollte die Ausschaltung der unliebsamen Oppositionellen eine
       Opfergabe für den Kremlchef gewesen sein? Nach dem Krieg behandelte
       Wladimir Putin Kadyrow wie einen Ziehsohn. Er sollte den Platz seines
       ermordeten Vaters, Achmat Kadyrow, in Grosny einnehmen.
       
       Ähnlich wie beim Attentat auf Boris Nemzow ließen die Mörder viele Spuren
       am Tatort zurück. Beobachter werteten die Fahrlässigkeit denn auch als
       Hinweis, dass die Täter nicht mit einer Verfolgung rechneten. Auch Nemzows
       Mörder hätten sich in der Sicherheit gewähnt, einen „Auftrag des
       Vaterlandes“ auszuführen, schloss die Nowaja Gaseta.
       
       ## Auf offener Straße erschossen: Anwalt Markelow
       
       Stanislaw Markelow war Anwalt und Menschenrechtler. Er vertrat die Familie
       einer ermordeten 18-jährigen Tschetschenin. Ihr Mörder, der russische
       Offizier Jurij Budanow, war frühzeitig aus der Haft entlassen worden.
       Markelow kündigte auf einer Pressekonferenz an, dass er dagegen Klage
       erheben werde. Kurz danach wurde er auf offener Straße in Moskau
       hinterrücks erschossen.
       
       Mit ihm starb im Januar 2009 auch die junge Journalistin Anastasija
       Baburowa von der Nowaja Gaseta. Markelow war auch für die
       Menschenrechtsorganisation Memorial tätig. Er leuchtete als einer der
       wenigen die rechtsradikale Szene Russlands aus. Diesmal konnten die Täter
       überführt werden. Sie stammten aus einer faschistischen Organisation.
       
       ## Tot im Straßengraben: Menschenrechtlerin Estemirowa
       
       Markelow arbeitete auch häufig für die tschetschenische Menschenrechtlerin
       Natalja Estemirowa. Die Geschichtslehrerin aus Grosny klärte Entführungen
       auf, kümmerte sich um Folteropfer und klagte Gewalttaten der neuen
       Herrscher in Tschetschenien an. Auch sie arbeitete für Memorial. Nach dem
       Mord an Anna Politkowskaja übernahm sie auch deren Rolle noch als
       journalistische Aufklärerin über Menschenrechtsverletzungen in der
       nordkaukasischen Republik.
       
       Sie machte russische Sicherheitskräfte und die berüchtigten Todeskommandos
       des kremltreuen Republikchefs Ramsan Kadyrow für Entführungen und
       Rechtsverletzungen verantwortlich. Im Juli 2009 wurde sie selbst Opfer
       eines Attentats. Sie wurde vor ihrem Haus in Grosny verschleppt und Stunden
       später in der Nachbarrepublik Inguschetien in einem Straßengraben tot
       aufgefunden. Die eingeleitete Großfahndung führte zu nichts.
       
       27 Feb 2016
       
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