# taz.de -- Trans*person über den Weg zu sich selbst: Ich bin Mann
       
       > Unser Autor wurde als Mädchen geboren, doch er lebt als Mann – ohne
       > Operationen und Hormontherapie. Was macht ihn dazu?
       
 (IMG) Bild: Und wenn er schwanger wird? Dann will Autor Milo Schilasky Vater werden
       
       „Wenn du ein Mann sein willst, musst du im Casino gewesen sein“, sagt mein
       Vater und sieht mich an. Links und rechts seiner kleinen Nase, die meiner
       so ähnlich ist, ziehen sich tiefe Gräben zu den Mundwinkeln. Bestimmt hat
       er viel gelacht, als er jung war. Wir sitzen nebeneinander im Auto, vor uns
       gleitet das Garagentor nach oben und gibt Zentimeter für Zentimeter der
       texanischen Vorstadtnacht frei. Janusz, mein Vater, startet das Auto. Wir
       wollen nach Austin, um etwas zu tun, was Väter mit ihren Söhnen tun.
       
       Zwei Wochen zuvor bin ich meinem Vater zum ersten Mal begegnet. Er lernt
       mich als Milo, seinen 24-jährigen Sohn, kennen. Seit zwei Jahren lebe ich
       als Trans*mann. Das bedeutet, dass ich als Mädchen geboren wurde und mich
       später dafür entschied, ein Mann zu sein.
       
       Vom Weg, den ich gegangen bin, weiß mein Vater fast nichts. Davon, wie
       meine Mimik, die seit Jahren verkrampft versuchte, die von Frauen zu
       imitieren, sich allmählich entspannte. Davon, wie der Druck mich fast krank
       gemacht hätte. Mein Vater hat seine Tochter nie kennengelernt. Wenn wir
       zusammen im Auto sitzen, sind wir zwei Männer auf dem Weg in die Nacht.
       Auch wenn man uns später im Casino vielleicht anders lesen wird: als einen
       älteren Mann im Jogginganzug und ein junge Frau in einem weißen Herrenhemd.
       
       Berühmte Trans*menschen sind oft solche, die klassische Formen von
       Männlichkeit und Weiblichkeit leben. Die Schauspielerin Laverne Cox, die
       erste Trans*frau, die für den Emmy nominiert wurde, spielt in der Serie
       „Orange is the New Black“ eine Gefängnisinsassin, die einen improvisierten
       Friseursalon betreibt. Sie ist Expertin für Styling und Make-up. Das Model
       Benjamin Melzer präsentierte als erster Trans*mann auf dem Cover der
       Zeitschrift Men’s Health seinen perfekten Oberkörper – ohne Brüste, mit
       starken Bauchmuskeln. Sein Bart ist dicht und akkurat gestutzt.
       
       Wir Trans*leute sind manchmal ein Spiegel dafür, mit welchen Codes
       Geschlecht in der Gesellschaft markiert wird. Und wo die Grenzen liegen.
       
       ## Eine neue Generation von Trans*personen
       
       Die meisten Trans*männer entscheiden sich dafür, das Hormon Testosteron zu
       nehmen, das die Stimme tiefer macht und den Körper behaarter. Viele lassen
       sich die Brüste entfernen oder ein Penoid formen, eine Art Penis aus der
       Haut einer anderen Körperstelle. Laut einer schwedischen Langzeitstudie
       bereuen nur sehr wenige, etwa 2 Prozent, diese Entscheidung. Ich habe
       meinen Körper so gelassen, wie er ist. Auch in Zukunft will ich keine
       Hormone nehmen oder mich operieren lassen.
       
       Mit dieser Einstellung bin ich Teil einer neuen Generation von
       Trans*personen, die ich die Trans*alternativen nenne. Lange musste man sich
       in Deutschland geschlechtsangleichend operieren und sterilisieren lassen,
       um auch auf dem Papier das gewünschte Geschlecht zu haben. 2011 wurde
       beschlossen: Das ist verfassungswidrig.
       
       Ich werde oft gefragt, ob alles nur eine Kopfsache ist, wenn der Körper
       keine Rolle spielt für die Entscheidung, ein Mann oder eine Frau zu sein.
       Woran macht man das Geschlecht, mit dem man sich identifiziert, dann fest?
       
       Es hat lange gedauert, bis ich Antworten gefunden habe. Es war eine Suche
       danach, was es für mich bedeutet, ein Mann zu sein. Eine Suche, von der ich
       glücklicher zurückgekommen bin.
       
       Auf der Autofahrt durch die staubigen Landschaften von Texas schweigen mein
       Vater und ich. Ich mustere ihn von der Seite, studiere seine Mimik. Söhne
       orientieren sich an ihren Vätern. Diese schnelle Kopfbewegung, dieses
       Hochziehen einer Augenbraue. Bilde ich mir die Ähnlichkeit ein?
       
       „Hallo Janusz! Wenn du willst, besuche ich dich diesen Sommer, damit wir
       uns kennenlernen können“, schrieb ich meinem Vater einige Monate zuvor. Ein
       paar Tage später skypten wir. „Hello Milena“, begrüßte er mich. Ich
       unterbrach ihn. „Ich bin nicht mehr Milena, ich heiße jetzt Milo.“ Ich
       erklärte ihm, dass ich ein Trans*mann bin. Die Leitung knackte. „Kannst du
       mich sehen?“, fragte er. Er habe nicht ganz verstanden. Ich bin jetzt ein
       Mann, wiederholte ich. „Ah, okay. Well.“ Gut, komm erst mal her, legte er
       schnell nach. Wir besprachen Termindetails.
       
       Mein Vater verließ meine Mutter zu Beginn der Schwangerschaft. Janusz, der
       polnische Gastarbeiter, emigrierte in die USA. Seitdem wusste er von einer
       Tochter in Deutschland, kannte sie aber nur von Fotos. Jetzt hat er, neben
       seinen zwei Söhnen, die in den USA wohnen, einen dritten. Irritierte ihn
       das nicht? Wieso fragte er nicht noch einmal nach?
       
       ## Das Gesicht des Balletttänzers brannte sich ein
       
       Als ich sieben war, lebte ich mit meiner Mutter in einem kleinen Dorf im
       Thüringer Wald. Das ist das Alter, in dem die meisten Trans*menschen
       merken, dass sie im „falschen Geschlecht“ geboren wurden. Zehn Jahre
       später, mit 17, outen sie sich im Durchschnitt. Damals sah ich zum ersten
       Mal einen queeren Menschen. Auf einer Postkarte, die meine Mutter von einer
       Freundin aus Berlin bekommen hatte. Auf dem Foto war ein Mann, der ein
       Ballettkleid trägt. Eine Trans*frau, würde ich heute sagen, wenn die Person
       das Kleid auch im Privatleben anhat. Und ein Transvestit, wenn sie das
       Kleid nur auf Partys und bei Bühnenauftritten trägt und sich sonst als
       männlich definiert. Das Bild ließ mich nicht los, der ernste
       Gesichtsausdruck faszinierte mich.
       
       Ich erinnere mich daran, dass ich ein Mädchen war, das sich nicht wie eines
       fühlte. Von neun bis zwölf verbrachte ich viele Unterrichtsstunden damit,
       die Körpersprache von Jungen und Mädchen zu vergleichen. Breitbeinig saßen
       die Jungen da. Wenn sie sich meldeten, hoben sie nicht einen Finger,
       sondern die ganze Hand. Die Mädchen saßen gedrängter, schlugen die Beine
       übereinander. Manchmal schmiegte die eine ihren Kopf an die Schulter der
       anderen. Ich war damals raumgreifend und dominant.
       
       Lehrerinnen machten auf mich einen gestressteren Eindruck als Lehrer. Um
       die Klasse bei Laune zu halten, liefen sie aufgeregt durch die Bankreihen
       und sprachen sehr schnell. Ich konnte mir nicht vorstellen, einmal wie sie
       zu werden. Wenn ich an meine Zukunft dachte, sah ich mich als entspannten,
       gut gelaunten Mann. Da ich erst mit 16 meine Blutungen bekam, konnte ich
       bei den Mädchen oft nicht mitreden. Ich wollte keine großen Brüste.
       
       Das Licht im Casino in Austin ist gedämpft. Roulette-Kugeln klackern im
       Kessel. Es ist heiß. Janusz hat sein Dominospiel mitgebracht. Ich lege
       einen weißen Stein mit sechs Augen in die Mitte, aber mein Vater ist noch
       nicht bereit zu spielen. Er zeigt mir Fotos auf dem Smartphone. Seine
       Familie im Urlaub. Florida, Lake Tahoe, Warschau.
       
       Janusz ist Ingenieur, programmiert Maschinen für die japanische Industrie.
       Er hat es geschafft, einen relativ gut bezahlten Job zu bekommen. Sein
       Alltag ist streng strukturiert: Er geht in den Betrieb, lässt sich von
       seiner Frau gängeln, zahlt den Kredit am Haus und am Auto ab. Seine beiden
       Söhne sieht er nur selten.
       
       Endlich legt er einen Stein. „Renata wusste nicht, dass es dich gibt“, sagt
       er. Seine Frau weiß sehr viel nicht. Aber vor mir will Janusz nichts
       verheimlichen. “Du sollst mich richtig kennenlernen, so wie sonst niemand“,
       hat er gesagt. Nach der ersten Runde zeigt er mir Bilder von Frauen, mit
       denen er geschlafen hat, letztes Jahr auf der Dienstreise in Südkorea. Auf
       einem Bild sehe ich Janusz inmitten einer Gruppe von Stripper_innen, die
       ich als Trans*frauen lese. „Die waren sehr nett.“ Ich bin verstört und will
       nicht nach Details fragen. Mit seinen Eltern über Sex reden ist unangenehm.
       
       „Ich kann meine Frau nicht leiden“, sagt Janusz später. „Weißt du, es gab
       in meinem Leben so viele Frauen. Ich habe sie alle geliebt. Dieses Monster
       liebe ich nicht.“ Warum hast du sie geheiratet? „Weil sie mich mehr liebt
       als ich sie. Solltest du auch so machen, ist schmerzfreier.“
       
       Sich vor der Ehefrau wegducken und heimlich Sex mit anderen haben? Ein
       seltsames Männlichkeitsbild. Die gedrückte Stimmung im Casino, die
       unterkühlten Worte meines Vaters, das alles ist mir fremd. Nachdem ich zum
       fünften Mal verloren habe, steht Janusz plötzlich auf. „Wir gehen jetzt“,
       sagt er.
       
       ## „Some men have vaginas, get over it“
       
       Ein Mann, würde mein Vater sagen, kann Auto fahren und seine Familie
       ernähren. Er ist stark und schweigsam.
       
       Den ersten persönlichen Kontakt mit Trans*personen hatte ich während des
       Studiums. Ich trug mich für eine Barschicht einer studentisch organisierten
       queeren Party ein. Eine Stunde vor Beginn traf sich das Organisationsteam.
       Ein Mensch trug Bart, dazu Häschenohren und Rock. Eine andere Person, die
       ich wegen des Make-ups und den langen Haaren als weiblich las, sprach mit
       sehr tiefer Stimme. Alle stellten sich vor und sagten auch, ob sie mit „er“
       oder „sie“ angesprochen werden wollen. Als ich an der Reihe war sagte ich:
       „Ich bin Milena und habe noch nie darüber nachgedacht“. Ich fragte mich:
       stimmt, warum sagen eigentlich immer alle „sie“ zu mir?
       
       Auf der Party fühlte ich mich so wohl wie sonst selten unter vielen
       Menschen. An einer Wand klebten Plakate: „Some women have penises, get over
       it“ und „Some men have vaginas, get over it.“ Während mein Blick über die
       Tanzfläche schweifte, war mir noch nicht klar, dass ich ein Trans*mann bin.
       Ich wusste aber, ich gehörte hier irgendwie dazu.
       
       Ich befreundete mich mit immer mehr Trans*personen. Einige suchten Wege, um
       anders auszusehen als vor ihrer Transition. Haare im Gesicht, an Beinen und
       Rücken ließen sie weglasern, steckten Watte in den BH oder einen Stuffer,
       ein Penisimitat, in die Unterhose.
       
       Manche wollten so bleiben, wie sie waren. Ein Trans*mann, der als Frau
       schon langes Haar trug, fand, die Mähne passe sehr gut zu seinem Image als
       Heavy-Metal-Fan. Ein anderer hatte Angst, das Testosteron könnte ihn zu
       einem vollkommen anderen Menschen machen. Mache gingen einen Mittelweg: Sie
       ließen sich die Brüste abnehmen, entschieden sich aber gegen Hormone.
       
       Für eine Hormontherapie braucht ein Trans*mann die Diagnose eines
       Therapeuten oder einer Therapeutin. Dann kann er das Testosteron spritzen,
       schlucken, als Gel oder Pflaster auftragen. Die Regelblutungen setzen aus,
       die Stimme bricht, der Körper wird behaarter. Später nimmt das Körperfett
       ab und die Muskelmasse zu. Die Klitoris wächst. Nach etwa zwei Jahren
       setzen einige Trans*männer das Hormon ab, woraufhin die Blutungen wieder
       einsetzen. Andere nehmen es weiter. So oder so: Die körperlichen
       Auswirkungen bleiben.
       
       ## Schluss mit Stabhochsprung
       
       Balian Buschbaum ist einer, der einen neuen Körper wollte. Den richtigen,
       wie er in Interviews sagt. Er hieß früher Yvonne und war deutsche Meisterin
       im Stabhochsprung. Ich erinnere mich noch daran, wie ich Yvonne Buschbaum
       im Fernsehen sah. Eine burschikose Frau, fand ich damals, mit kurzen Haaren
       und hartem Blick.
       
       Als Buschbaum anfing, Testosteron zu nehmen, musste er mit dem
       Stabhochsprung aufhören, weil das Hormon auch ein Dopingmittel ist. Heute
       ist er Trainer, er tanzte in der RTL-Show „Let’s Dance“ und schreibt Bücher
       über seine Transition vom weiblichen zum männlichen Körper.
       
       Buschbaum ist Mitte dreißig, dunkle Haare, Dreitagebart. Das Internet ist
       voller Bilder seines muskulösen Oberkörpers. Sein neuestes Buch heißt:
       „Frauen wollen reden, Männer Sex: Wie verschieden sind wir wirklich, Herr
       Buschbaum?“ Ich lese es mit großer Skepsis. Sind das hier mehr als
       Vorurteile über Männer und Frauen?
       
       Ein paar seiner Beobachtungen überraschen mich doch, weil ich mich in ihnen
       wiedererkenne: Wenn man Frauen von einem Plan abbringt, sind sie schnell
       irritiert und blockiert. Männer dagegen schieben so was leichter beiseite
       und konzentrieren sich wieder aufs Wesentliche. Frauen interpretieren in
       knappe Aussagen mehr hinein als Männer. Frauen genießen es, lang und breit
       von Problemen zu erzählen.
       
       Ein Mann, würde Balian Buschbaum sagen, ist jemand, der viel an Sex denkt
       und versucht, Probleme von der Lösung her zu denken.
       
       Geschlechterklischees, klar, einerseits. Andererseits sind das auch
       subtile, gesellschaftliche Muster, die wir erlernt und verinnerlicht haben.
       
       Ich will meinen Körper nicht angleichen. Aber: Wenn ich Trans*männer wie
       Balian Buschbaum sehe, finde ich sie schön. Ich beneide sie dafür, dass sie
       ernst genommen werden.
       
       ## Der große Bruder
       
       Bei Janusz in Austin ist es einfach. Ich kann plötzlich vieles sein, was
       ich in Deutschland nie war. Bruder zum Beispiel. Rick ist 15, Moe ist 12,
       meine unbekannten Geschwister. Eines Nachmittags gelingt es mir, sie aus
       ihrer Playstation-Hölle zu locken. Wir gehen baden, im Pool des Bezirks,
       für den jeder Hausbesitzer einen jährlichen Beitrag zahlt. Moe öffnet das
       Tor mit einer Karte: Piep, Siit, Warten. Klick. Ein Poolboy notiert Namen
       und Adresse.
       
       Es ist niemand da, neben dem Pool liegt ein Stein, von dem man prima
       springen kann. Meine Brüder aber haben plötzlich keine Lust mehr.
       Vielleicht kriege ich sie doch? Platsch! Mit drei Zügen bin ich am anderen
       Ende des Beckens. Platsch! Rick und Moe wollen schwimmen, das sehe ich
       ihnen an. Bruder sein. Was ist das? Ich springe ins Wasser, noch mal und
       dann noch mal. „Ihr seid ja immer noch da“, rufe ich rüber. Rick schlüpft
       aus seinem T-Shirt. Yes, denke ich. Cool sein, bewundert werden wollen –
       machen große Brüder das so? In diesem Moment habe ich das Gefühl, dass mich
       meine Brüder immer um Hilfe fragen können, egal wie blöd ich sie finde.
       „Achtung Milo!“, ruft Rick. Platsch!
       
       Aus der Frage, warum ich eigentlich mit „sie“ angesprochen werde, aus dem
       diffusen Gefühl, dass etwas nicht stimmt, wurde ein Prozess, der mich
       beinahe umgeworfen hätte. Ich begann meine Nachrichten mit Kürzeln zu
       signieren. Ich wollte nicht mit Milena unterschreiben.
       
       Als ich 23 war, stand meine Abschlussarbeit an, aber mein Magen schnürte
       sich jeden Tag weiter zu. Laufen, atmen, sprechen – all das wurde zur Qual.
       An einem grauen Nachmittag im Mai saß ich an meinem Schreibtisch und
       versuchte mich zu konzentrieren. Aber dann fühlte es sich in mir so an, als
       würde ich auf einen Schlag sehr wütend, es ging auf und ab, immer und immer
       wieder. Wie eine Säule in der Mitte meines Körpers, die ansteigt und sinkt.
       
       Ich schrie so hoch und solang, das meine Stimmbänder schmerzten. Meine
       Mitbewohner_innen standen eine halbe Stunde in meinem Türrahmen, ich lag
       auf dem Boden. Dann fuhr mich ein Taxi in die Psychiatrie, ich hatte darum
       gebeten.
       
       Viele Trans*menschen können nicht mit dem Druck leben. Laut einer Studie
       aus Nordrhein-Westfalen versucht fast jede_r Dritte, mindestens einmal sich
       umzubringen.
       
       Zwei Wochen bleibe ich in der Klinik. Ich bekomme keine Therapie. Die Ärzte
       diagnostizieren einen Umbruchmoment in meinem Leben, fühlen sich für die
       Begleitung der Transition aber nicht geschult.
       
       Ich beginne mich selbst zu therapieren, betrachte mich im Spiegel meines
       Patient_innenzimmers. Wen sehe ich da? Ist das noch Milena?
       
       Als Milena aufzutreten wird immer anstrengender, ich kippe immer wieder in
       einen anderen Modus, dem ich den Namen Milo gebe.
       
       Milo ist noch ein Kind und benimmt sich auch so. Während der Zeit in der
       Psychiatrie lerne ich, zwischen diesen beiden Modi zu wechseln. Ich will,
       dass Milo heranwächst und selbstständig wird.
       
       Meine Hände gleiten über meinen Körper. Wie wäre es, einen Penis zu haben?
       Soll ich Hormone nehmen? Kräftiger würde ich sein, als Trans*mann
       sichtbarer. Die Eingriffe kamen mir kompliziert vor.
       
       Und wenn ich schwanger würde? Was macht das Testosteron dann mit mir? Bei
       Thomas Beatie, einem US-amerikanischen Trans*mann, war das eine Sensation:
       Ein Mann, der Kinder austrug. Er hatte Geschlechtsangleichung nur durch
       Hormone hinter sich. Wie sich das auf ein Baby auswirkt, ist noch nicht
       ganz geklärt. Ich wünsche mir eigene Kinder.
       
       ## Schwanger und männlich
       
       In den USA verklagen sich gerade der Bundesstaat North Carolina und die
       US-Regierung gegenseitig. Es geht um die Frage, ob es verfassungsmäßig sein
       kann, Trans*männern das Benutzen einer Männertoilette zu verbieten. Es ist
       ein Test der gesellschaftlichen Toleranz. Wie wird es erst, wenn schwangere
       Männer bald präsenter werden?
       
       Ich finde nicht, dass eine Schwangerschaft meine Männlichkeit infrage
       stellte. Was die hormonellen Veränderungen mit mir machen würden, kann ich
       jedoch nicht sagen. Vielleicht würde ich mich wieder mehr als Frau fühlen.
       Oder ich fände meinen eigenen, männlichen Umgang mit den Gefühlen während
       der Schwangerschaft. Es macht mir Angst, dass ich als schwangere Person
       weiblich wahrgenommen würde. Aber mich deswegen angleichen und
       sterilisieren zu lassen, sehe ich nicht ein. Ich will Vater werden.
       
       Neulich kam ein Brief von der Sparkasse. An Milena Schilasky. Ich habe
       meinen Namen nicht offiziell geändert, denke aber oft darüber nach. Um den
       Geschlechtseintrag auf der Geburtsurkunde und auf dem Personalausweis
       anzupassen, müsste ich einen Antrag beim Amtsgericht stellen, das mich
       zunächst anhören würde. Außerdem müsste ich zwei psychologische Gutachten
       einholen und beweisen, dass ich seit mindestens drei Jahren den dringenden
       Wunsch hege, im anderen Geschlecht zu leben. Das gerichtliche Verfahren,
       inklusive Gutachten, kostet zwischen 1.000 und 3.000 Euro.
       
       Die Linke fordert, das Transsexuellengesetz aufzuheben, die Grünen wollen
       es ändern. Ein Vorbild könnte Irland sein. Dort wurde 2015 beschlossen,
       dass Trans*personen die Eintragung des Geschlechts auf der Geburtsurkunde
       ändern lassen können, ohne zuvor zu einer/einem Ärztin/Arzt oder eine_m
       Psycholog_in gehen zu müssen. In Argentinien, Dänemark, Malta und Kolumbien
       ist es ähnlich. Ich träume von einem Personalausweis, einer
       Gesundheitskarte oder einem Büroschild, auf dem der Name steht, mit dem ich
       angesprochen werde.
       
       Es gab Momente in meiner Transition, in denen ich Frauen hasste, weil sie
       dazu tendieren, mich noch mal ganz genau zu fragen, warum ich ein Mann sein
       will. Ich merke, dass ich mit meiner Männlichkeit auch ein neues Verhältnis
       zu Frauen finden muss.
       
       An einem Samstag im Frühling besuche ich die erste Frau, in meinem Leben,
       meine Mutter. Wir laufen am Fluss entlang. Sie ist Mitte fünfzig und ein
       ganzes Stück kleiner ist als ich. Hätte sie damals lieber einen Jungen oder
       ein Mädchen gehabt? „Es gibt keine typische Tochter und keinen typischen
       Sohn“, sagt sie. „Aber ehrlich gesagt, habe ich mir als Alleinerziehende
       eher zugetraut, eine Tochter zu haben. Das hat sich aber ganz schnell
       aufgelöst.“ Dann: „Ich habe manchmal von anderen gehört, dass meine Tochter
       so wild sei. Ich fand dich aber immer in Ordnung.“
       
       Meine Mutter ist eine Feministin. Geschlecht ist für sie dekonstruierbar.
       In jedem Mann und in jeder Frau sind gegengeschlechtliche Attribute zu
       finden. Das fand sie schon immer, auch bevor sie anfing, zum feministischen
       Gesprächskreis zu gehen und Judith Butler zu lesen.
       
       „Ich würde behaupten, dass du keine geschlechtsspezifische Erziehung
       hattest.“ Ich will wissen, ob wir uns früher als Mutter und Tochter
       verhalten haben, aber so was gibt es für sie nicht.
       
       Mütter und Töchter wollen sich gegenseitig oft bestätigen. Die Mutter fragt
       die Tochter zum Beispiel, ob ihr ein Kleid steht oder nicht. „Das mache ich
       schon lange nicht mehr“, sagt meine Mutter. Ich muss grinsen und freue
       mich, dass es ihr wichtig ist, mich als Sohn zu behandeln. Mütter sprechen
       mehr mit Töchtern als mit Söhnen, habe ich gelesen. Meine Mutter sagt: „Den
       Sohn lasse ich doch jetzt auch nicht still neben mir herlaufen. Das ist
       schon wieder eine Schublade.“
       
       Ein Mann, würde meine Mutter sagen, ist ein Mann, wenn er einer sein will.
       Er kann weich und schwach, stark und selbstbewusst sein.
       
       ## Ein Rollenspiel, Spaß, aber keine Zweifel
       
       Wenn es taffe Frauen wie meine Mutter gibt und weiche Männer wie mich, wenn
       Söhne nicht unbedingt anders behandelt werden müssen als Töchter, wozu
       braucht es dann überhaupt noch die Transition zu einem anderen Geschlecht?
       
       Als Studentin habe ich mir mich als muskulösen Mann mit Penis vorgestellt,
       der mit Männern Sex hat. Der echte Sex, den ich damals hatte, verlief nach
       dem heterosexuellen Vagina-in-Penis-Schema. Der empfangende Part störte
       mich. Der Gedanke, Männer mit meinem Penis anal zu penetrieren bereitete
       mir viel mehr Lust.
       
       Als Liebhaber bin ich schwul. Ich liebe Männer, die Männer lieben. Und ich
       liebe die Rollenspiele der schwulen Kultur. Manchmal habe ich plötzlich den
       Wunsch, mich übertrieben zu kleiden. Auf Partys trage ich dann Nagellack,
       Minirock, und Perücke und stopfe mir falsche Brüste unters Oberteil. Nur
       für eine Nacht. In diesem Spiel bin ich eine „Tunte“. Was ich dabei fühle,
       ist kein Spiel. Es ist mir wichtig, anderen durch meinen Namen zu
       signalisieren: Ich bin ein Mann.
       
       „Du bist kein Mann, du trägst einen Rock“, erklärt mir das Nachbarsmädchen.
       „Sie sind kein Mann, das kann ich sehen“, sagt meine Vermieterin. Menschen,
       die nicht trans sind, erklären mir gern, dass ich eine Frau bin. Und
       Trans*personen unterstützen mich vehement in meinem Männlichsein.
       
       Die letzte Silvesternacht verbrachte ich in einer Tuntenbar. Mit Anzug und
       Fliege. Zwischen all den Perücken und Push-ups entdeckte ich einen
       freundlich aussehenden Mann. Wir stießen an, als es zwölf schlug.
       
       Er erzählte mir, dass er ein Trans*mann ist und seit vier Jahren
       Testosteron nimmt. „Wie heißt du eigentlich?“, fragte er. „Ich bin der
       Milo.“ „Ach so, du bist auch ein Trans*mann?“ Er sah mich an, lehnte sich
       nach vorne und brüllte mir ins Ohr: „Das hast du gut hingekriegt, man
       sieht, was du sein willst!“
       
       „Papa ein Mann“, sagt mein zweijähriger Mitbewohner Paul eines Morgens beim
       Frühstück. Er sitzt auf dem Schoß seines Vaters. Seine Mutter ist auch da.
       Paul kann schon halbe Sätze sagen, das Neueste sind Vergleiche. Er weiß,
       dass es Kinder, Babys und Erwachsene gibt.
       
       Jetzt also Geschlechter. „Mama ein Frau.“ Mit seinem dicken Stubbelfinger
       zeigt er auf seine Mutter. Alle lachen. Niemand von uns hat ihm jemals
       gesagt, welchem Geschlecht er_sie angehört.
       
       Dann zeigt er auf mich und ruft: „Milo ein Frau.“ Schweigen. Pauls Papa
       beißt in sein Brötchen, die Mutter guckt betreten zur Seite. „Milo ist ein
       Mann, ich bin ein Mann“, sage ich. „Nein!“ schreit Paul. Das Kind, das vor
       Kurzem einen alten Badelatschen unter meiner Nase hin und her schwenkte und
       erklärte, das sei ein Schiff, widerspricht mir. Wieso?
       
       Mama hat lange Haare, Papa kurze. Ich habe einen Gendercut, links und
       rechts abrasiert, in der Mitte ein Streifen langer Haare. In Pauls Logik
       müsste ich also Mampa, Mannfrau, sein. So denkt Paul aber nicht. Für ihn
       gibt es Männer und Frauen.
       
       Ein Mann, würde mein kleiner Mitbewohner Paul sagen, hat kurze Haare und
       eine tiefe Stimme. Er spielt Fußball mit ihm und schenkt ihm Autos.
       
       „Und was bist du, Paul?“, fragt seine Mutter. „Ein Frau“, antwortet er und
       lacht.
       
       Mich macht zum Mann, dass ich mich selbst als einen sehe, aber auch, dass
       mich andere als Mann akzeptieren. Je mehr Menschen mich mit neuem Namen und
       männlichem Pronomen ansprechen, desto sicherer fühle ich mich. Meine
       Familie, mein ganzes Umfeld bestärkt mich darin. Vielleicht brauche ich
       deswegen keine Operationen.
       
       ## Alles ist ordentlich, dann fällt eine Axt
       
       Ich würde keinem Mann, egal, ob er nun äußerlich als solcher erkennbar ist
       oder nicht, seine Selbstdefinition absprechen. Und vielleicht ist das auch
       sehr männlich: Ein Mann ist auch, wer nicht infrage stellt, wenn sich sein
       Gegenüber als Trans*mann outet. Jemand, der eine Realität hinnimmt, ernst
       nimmt und mit ihr weiterdenkt. Das unterscheidet ihn von den meisten
       Frauen, denen ich begegnet bin.
       
       Es ist zwei Uhr nachts. Mein Vater und ich fahren vom Casino nach Hause.
       Wir biegen in die Straße ein, die zu der kleinen Einfamilienhaussiedlung
       führt, in der er wohnt. Sanfte Hügel, Springbrunnen, akkurat frisierte
       Vorgärten.
       
       Ich bin müde. Janusz holt einen Kaffee aus dem Kühlschrank, stürzt ihn
       hinunter. Dann verschwindet er im Geräteschuppen und kommt mit einer Axt
       zurück.
       
       Ohne sich nach mir umzudrehen, zielt er auf das Buchsbäumchen im Vorgarten.
       Er wirft. Die Axt landet in der Mitte des Stamms. Äste wackeln. „Nimm die
       Axt. Halte sie so“, befiehlt er. Ich sehe einen Mann, der sich darüber
       freut, einen weiteren Sohn in die Kunst des Mannseins einzuweisen. Es ist
       ein Verständnis von Geschlechtern, das nicht meins ist. Aber eins, das mich
       akzeptiert.
       
       Janusz schwingt die Axt nach oben und geht leicht in die Hocke. „Du musst
       lernen, die Rinde zu spalten, mein Sohn.“
       
       Ich nehme die Axt, setze an und werfe daneben.
       
       Milo Schilasky ist Journalist und lebt in Berlin. Diese Geschichte hat er
       unter einem Pseudonym geschrieben.
       
       17 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Milo Schilasky
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Transgender
 (DIR) Transgender
 (DIR) Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
 (DIR) Homosexualität
 (DIR) Queer
 (DIR) Männer
 (DIR) Frauen
 (DIR) Geschlechter
 (DIR) Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
 (DIR) Rollenbilder
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Geschlechtsidentität
 (DIR) Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
 (DIR) Game of Thrones
 (DIR) USA
 (DIR) Rollenklischees
 (DIR) Trans-Community
 (DIR) North Carolina
 (DIR) Barack Obama
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Psychoanalytikerin über Geschlecht: „Wir sind nicht fluide“
       
       Es gibt in unserer Gesellschaft ein Bedürfnis nach geschlechtlicher
       Eindeutigkeit, sagt Psychoanalytikerin Becker. Und zugleich das Bemühen,
       diese aufzuweichen.
       
 (DIR) Trans-Aktivisten kritisieren Netflix-Doku: Lang lebe die Königin
       
       Die Netflix-Doku über den Tod der Trans-Ikone Marsha P. Johnson soll ein
       Plagiat sein. Sie basiere auf der unbezahlten Arbeit schwarzer Künstler.
       
 (DIR) Verleihung der Emmy Awards: „Game of Thrones“ räumt ab
       
       Der große Sieger war „Game of Thrones“, danach wird's politisch: Bei den
       68. Emmys gab es neben Preisen für eine fiktive Präsidentin auch viel
       Kritik an Trump.
       
 (DIR) Basketball-Profiliga in den USA: Spielabsage wegen Transfeindlichkeit
       
       Das All-Star-Game 2017 wird nicht in Charlotte, North Carolina,
       stattfinden. Transgender werden dort bei der Benutzung öffentlicher
       Toiletten benachteiligt.
       
 (DIR) Psychoanalytikerin über Sexualitäten: „Viagra ist eine Prothese“
       
       Die Geschlechterforscherin Ilka Quindeau glaubt nicht an Homo oder Hetero.
       Ein Gespräch über rosa Spielzeug und die innere Genitalität des Mannes.
       
 (DIR) Miss Trans Israel: „Ich habe was zu bieten“
       
       Die Miss Trans Israel vertritt eine konservative Minderheit: Tallinn Abu
       Chana ist eine arabische Christin aus Nazareth.
       
 (DIR) LGBT-Rechte in den USA: Bibeln, Klotüren und alte Seilschaften
       
       In North Carolina dürfen Transmenschen nicht das Klo ihrer Wahl benutzen.
       Hinter dem umstrittenen „HB2“-Gesetz steckt ein Kulturkampf.
       
 (DIR) US-Militär: So richtig schwul
       
       Der neue Heeresminister des US-Militärs ist anders als alle anderen vor
       ihm. Er liebt Männer. Das durfte er aber erst 2010 zugeben – dank Obama.