# taz.de -- Reaktionen auf Brexit-Votum: Tage der Reue
       
       > Britische EU-Befürworter wollen ihre Niederlage mit Hilfe einer Petition
       > rückgängig machen. Doch das ist juristischer Unfug.
       
 (IMG) Bild: Präsident von London statt nur Bürgermeister – wäre das was für Sadiq Khan?
       
       LONDON taz | Sie können es immer noch nicht fassen. „Ich war total
       geschockt, als ich am Freitag aufwachte“, erzählt ein Student in London,
       der heftig mit seiner Freundin über den Brexit diskutiert. Er sieht die
       Schuld für den überraschenden Sieg der EU-Gegner bei der Volksabstimmung
       vom Donnerstag bei Leuten wie sich selbst, die viel zu passiv geblieben
       seien: „Man kann nicht sechs Wochen lang nichts tun, am Ende ein paar
       Flugblätter an seine Freunde verteilen und sich dann wundern.“
       
       73 Prozent der unter 24-Jährigen in Großbritannien stimmten für den
       EU-Verbleib – für viele war es das erste Mal, dass sie an eine Wahlurne
       gingen. Jetzt tun sie sich schwer damit, ihre Niederlage zu akzeptieren.
       Sie sind überzeugt davon, dass sie mit etwas mehr Engagement gewonnen
       hätten.
       
       Für Dienstagabend rufen die EU-Unterstützer zur Großkundgebung in London
       unter dem Motto „London Stays“ (London bleibt) auf, außerdem zu
       Versammlungen in den Universitätsstädten Oxford und Cambridge sowie den
       Metropolen Manchester, Liverpool und Cardiff. „Cambridge hat massiv für den
       Verbleib in der EU gestimmt, mit 73 Prozent für Remain“, erklären die
       dortigen Initiatoren. „Schließt euch uns an, um vereint mit Europa,
       London, Schottland und anderen Gebieten zu stehen, die nicht für Leave
       stimmten.“
       
       [1][Ein Volksbegehren für ein neues EU-Referendum], von einem
       Studentenaktivisten am Freitag auf der dafür vorgesehenen Internetseite des
       britischen Parlaments gestartet, sprengte binnen kürzester Zeit alle
       Rekorde. Am Sonntag um 10.16 Uhr Ortszeit überstieg die Zahl der
       Unterzeichner die Dreimillionenmarke. Die Petition fordert das Parlament
       auf, nachträglich festzulegen, dass ein Referendum wiederholt werden muss,
       wenn keine Seite bei einer Wahlbeteiligung von mindestens 75 Prozent auf
       mindestens 60 Prozent kommt – am Donnerstag hatte der EU-Austritt bei einer
       Beteiligung von 72 Prozent mit 52 Prozent der Stimmen gesiegt. Allerdings
       sind rückwirkende Regeländerungen juristischer Unfug – und politisch
       wiederholt dieses Begehren die zentrale Schwäche der Pro-EU-Kampagne vor
       der Volksabstimmung: Missachtung der Gegenseite.
       
       ## An eine tatsächliche Sezession glauben Beobachter nicht
       
       Am meisten Unterstützung findet die Petition in Londons zentralem Wahlkreis
       Cities of London and Westminster, dem Wahlkreis mit den meisten Millionären
       und wenigsten Rentnern des Landes. Knapp die Hälfte der rund 98.000
       registrierten Wähler dort haben unterschrieben.
       
       [2][Eine Internetpetition für eine Abspaltung Londons von Großbritannien],
       die der Freelance-Computerjournalist James O’Malley am Freitag nach eigenen
       Angaben als Witz startete, erhielt bis Sonntag immerhin 165.000
       Unterschriften. „London ist eine internationale Stadt, und wir wollen im
       Herzen Europas bleiben. Der Rest des Landes ist nicht einverstanden. Lasst
       uns die Scheidung eingehen, und wir ziehen zu unseren Freunden auf dem
       Kontinent“, schreibt O’Malley und wendet sich an Londons Bürgermeister
       Sadiq Khan: „Wären Sie nicht lieber Präsident Sadiq?“
       
       [3][Der Labour-Politiker Sadiq Khan] hatte aktiv für den EU-Verbleib
       gestritten. Er fordert nun eine eigene Vertretung Londons in den britischen
       Gremien, die die Marschroute für die Austrittsverhandlungen mit Brüssel
       festlegen sollen – ähnlich der bereits geplanten Beteiligung der
       Autonomieregierungen in Schottland, Wales und Nordirland, die ein
       gesetzliches Mitspracherecht in EU-Fragen haben.
       
       Dies ist auch der Hintergrund, vor dem Schottlands Autonomieregierung jetzt
       offiziell die [4][Vorbereitungen für ein erneutes
       Unabhängigkeitsreferendum] auf den Weg gebracht hat. Die Drohung einer
       Abspaltung soll Druck auf die Brexit-Verhandlungen ausüben. An eine
       tatsächliche Sezession glauben Beobachter nicht: Eine Beibehaltung des
       britischen Pfundes als Landeswährung, wie bisher geplant, wäre nach einem
       Brexit mit einer EU-Mitgliedschaft Schottlands unvereinbar. Ein Wechsel zum
       Euro wäre aber nicht mehrheitsfähig.
       
       Die ökonomische Basis eines unabhängigen Schottlands schwindet ohnehin: Der
       Abbau der großen Ölbohrplattformen in der Nordsee hat begonnen, Schottlands
       Öleinnahmen lagen 2015 nur noch bei 130 Millionen Pfund – weniger als ein
       Fünfzigstel der 7,5 Milliarden, die die SNP 2014 in Aussicht stellte. Ein
       Referendum kann auch nur mit Zustimmung des britischen Parlaments angesetzt
       werden.
       
       ## „Es gilt Demokratie – findet euch damit ab“
       
       In London kursieren derweil Überlegungen, den Brexit auf parlamentarischem
       Wege zu verhindern. Denn letztendlich liegt die Gestaltungsmacht beim
       gewählten Parlament, das Referendum ist rechtlich nicht bindend. Nur rund
       160 der 650 Unterhausabgeordneten gelten als Befürworter eines
       EU-Austritts. Also sei es legitim für die Abgeordneten, noch diese Woche
       eine Abstimmung anzusetzen und gegen Brexit zu votieren, argumentiert David
       Lammy, Labour-Abgeordneter für den Nordlondoner Wahlkreis Tottenham: Man
       dürfe nicht „unsere Wirtschaft auf der Grundlage von Lügen und der Hybris
       von Boris Johnson zerstören“, sagte er am Sonntag.
       
       Eine vom Brexit-Lager geforderte Aufhebung der britischen Gültigkeit der
       EU-Verträge per Abgeordnetenvotum bedürfte ebenso einer parlamentarischen
       Mehrheit wie eine spätere Billigung möglicher
       Brexit-Verhandlungsergebnisse.
       
       Es gibt auch die Meinung, dass nach David Camerons Rücktrittsankündigung
       Neuwahlen fällig sind und ein neues Parlament gar nicht durch das
       Referendum gebunden wäre.
       
       Abgeordnete, die im Parlament das Votum ihrer eigenen Wähler am 23. Juni
       ignorieren, dürften allerdings unter Rücktrittsdruck ihrer eigenen Basis im
       Wahlkreis kommen. Und bei Neuwahlen hätten sie einen schlechten Stand. Der
       Druck wäre bei allen Parteien groß, in Wahlkreisen mit Brexit-Mehrheit
       Brexit-Befürworter als Kandidaten aufzustellen. Dann könnte am Ende doch
       eine Anti-EU-Mehrheit im Parlament stehen.
       
       Das Problem mit all diesen Planspielen: Es geht darum, ein Mehrheitsvotum
       zu kippen, und die EU-Befürworter stehen letztendlich als schlechte
       Verlierer da. Auf Anti-EU-Seite zirkuliert im Internet eine Landkarte der
       Referendumsergebnisse mit dem Zusatz: „Zu viele ‚Remainers‘ sind arrogante
       Arschlöcher. Sie verwechseln ‚hoch gebildet‘ mit ‚intelligent‘. Es gilt
       Demokratie – findet euch damit ab.“
       
       26 Jun 2016
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://petition.parliament.uk/petitions/131215
 (DIR) [2] https://www.change.org/p/sadiq-khan-declare-london-independent-from-the-uk-and-apply-to-join-the-eu
 (DIR) [3] /Buergermeisterwahl-in-London/!5302250/
 (DIR) [4] /Unabhaengigkeitsreferendum-nach-Brexit/!5316502/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
       ## TAGS
       
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