# taz.de -- Unabhängigkeitstag in der Ukraine: Langsam nach vorn
       
       > Vor 25 Jahren wurde die Ukraine unabhängig von der Sowjetunion. Was hat
       > sich seitdem verändert, in der Poltik, im Alltag? Eine Bilanz.
       
 (IMG) Bild: Auf der Feier zum Unabhängigkeitstag 2012. Ein Jahr später begannen die Proteste auf dem Maidan
       
       Zum 25. Unabhängigkeitstag der Ukraine am 24. August möchte ich über mein
       Land erzählen. Keine Geopolitik, keine ruhmreichen Geschichten! Schlichte
       Sachen über den Alltag; darüber, wie es einem einfachen Ukrainer all die
       Jahre erging.
       
       Ich wurde 1987 geboren, vier Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
       Ich gehöre zur Generation, die in einer unabhängigen Ukraine aufgewachsen
       ist. Was wir als Kinder sahen, war der wirtschaftliche und soziale Ruin
       eines Eximperiums. Fabriken zerfielen, Busse und Züge verrotteten, das
       Alu-Geschirr in der Kita ließ einen metallenen Beigeschmack zurück. Alles
       um uns herum war sowjetisch, wir verabscheuten es von ganzem Herzen.
       
       Mag sein, dass die Älteren, die noch die Zeit der Stagnation erwischt
       haben, sich an einen obligatorischen Arbeitsplatz, kostenlose Medizin oder
       soziale Leistungen erinnern konnten. Wir jedoch – die Kinder der Brüche
       historischer Epochen – sahen ausschließlich den wirtschaftlichen Kollaps,
       die Mutation der Staatsdiener in korrumpierte Banditen und leere Regale.
       Desto spannender und moderner schien uns alles, was aus dem Westen kam –
       Kleidung, Autos, Filme, Musik oder der Kaugummi mit bunten Aufklebern. Wir
       hatten gar keine Alternative zur europäischen Gesinnung.
       
       Meine Generation war der Motor beider Revolutionen – der orangen von 2004
       und des Euromaidans von 2013. Weil wir keine Angst hatten; wir wussten gar
       nicht, was es heißt, in einer Atmosphäre totaler Einschüchterung zu leben.
       Und: Wir liebten unser Land, missachteten aber unseren Staat. Wir waren
       Patrioten, interessierten uns für ukrainische Geschichte und Kultur,
       bewunderten die Natur, sangen während der Fußballturniere mit Inbrunst die
       Hymne und schwenkten die gelb-blauen Fähnchen. Wir waren überzeugt, dass
       unser Volk eines besseren Lebens würdig war.
       
       ## Durch Russlands Politik wurden wir europäischer
       
       Aber diesen bürokratischen Staatsapparat, diese ganzen fettbäuchigen
       Kommunisten, die sich nach dem Zerfall der UdSSR zu Demokraten umgefärbt
       haben und an der Macht blieben, die Exfabrikdirektoren, die sich ganze
       Vermögen geklaut haben und zu neuen Bossen des Lebens aufschwangen, all die
       käuflichen Milizionäre, das allgegenwärtige Schmiergeld – dieses
       postsowjetische Monster, noch ungeheurer als in „Das Schloss“ Kafkas, haben
       wir gehasst. Deswegen sind wir auf die Plätze unserer Städte gezogen.
       
       Nach dem Sieg 2004 habe ich triumphiert. Es schien, sämtliche Perspektiven
       würden sich mir und meinem Land eröffnen. Aber Monate und Jahre vergingen,
       und nichts tat sich.
       
       Zehn Jahre später gingen wir erneut auf die Straße, zum Euromaidan. Unser
       Bekenntnis zu Europa, obwohl wir seit über 20 Jahren unsere Regierung
       zwingen, Richtung Westen zu gehen. Aber ausgerechnet durch Russlands
       Politik ist die Ukraine europäischer geworden: Seit der Krim-Annexion und
       dem Verlust des Donbass hat sie einen Löwenanteil an prorussischen Wählern
       verloren.
       
       Meine ausländischen Freunde denken trotzdem, uns verbinde vieles immer noch
       mit Russland, und fragen, warum wir so inständig „nach Europa“ wollen.
       Statt über die europäische Wiege der ukrainischen Kultur, über den Barock
       und die Freiheitsliebe als Bestandteil der ukrainischen Mentalität zu
       erzählen, rede ich dann von den kleinen und schlichten Dingen. Vom Alltag.
       
       Wenn sich ein Ukrainer in seiner Wohnung heutzutage umschaut, findet er
       keine russischen Waren. Bis auf Gas und Propaganda-Seifenopern im
       Fernsehen. Keiner würde sich heute ein russisches Auto, Geschirr- oder
       Möbelstück, geschweige denn ein in Russland hergestelltes technisches Gerät
       kaufen wollen. Wir haben uns von Russland entfernt, auch wenn es bei uns
       nicht selten ähnlich aussieht.
       
       Ich bin öfter auf Einladung von Literaturfestivals in Russland gewesen und
       habe gesehen, dass die Straßen dort genauso schlimm sind wie in der
       Ukraine. Schulen und Krankenhäuser wurden seit Ewigkeiten nicht renoviert,
       Rentner können sich nicht mal eine Tasse Kaffee oder einen Kinobesuch
       leisten.
       
       ## Wir sind auf dem richtigen Weg
       
       Es gibt aber auch einen Unterschied: Unser nördlicher Nachbar besitzt in
       Sibirien einen unerschöpflichen Reichtum an Gas und Erdöl. Norwegen, das
       ebenso gut an seinen Bodenschätzen verdient, konnte einen fantastischen
       Staat mit hochentwickelter Infrastruktur aufbauen und ist einer der
       Anführer auf der Liste der florierendsten und menschenfreundlichsten Länder
       der Welt. Das Leben der Menschen in Russland hingegen ist genauso hart und
       schutzlos wie in der Ukraine.
       
       Weil es sein vieles Geld nicht für die Lebensverbesserung der eigenen
       Bevölkerung ausgibt, sondern allein für die Befriedigung seiner imperialen
       Ambitionen. Bombardements in Syrien, Finanzspritzen an Quasirepubliken wie
       Transnistrien, Donbass, Ossetien oder Abchasien, Bestechung europäischer
       Politiker und die Propaganda. Anhand dieser schlichten Tatsachen
       beschlossen die Ukrainer, dass sich ihre Wege von denen der Russen
       scheiden. Sie wollten mit denjenigen in die Zukunft aufbrechen, die die
       modernsten Computer und nicht die mörderischsten Bomben entwickeln.
       
       Das ist der richtige Weg; und auch wenn ich vieles vernichtend kritisieren
       könnte – viel zu langsame Reformen, korrumpierte Eliten, die Mängel der
       Kiewer und lokalen Regierungen – ist das 25-jährige Jubiläum der
       Unabhängigkeit der Anlass, die Situation aus einer längerfristigen
       Perspektive zu sehen. Und das macht optimistisch.
       
       Ich lebe in der Stadt Ushhorod; ich kann mich sehr gut an den Anfang der
       Neunziger erinnern, ich sehe, wie vieles sich seitdem geändert hat. Was für
       einen Weg nach vorn wir zurückgelegt haben!
       
       Damals hatten wir keine jungen, gebildeten politischen Eliten. Damalige
       Politiker, made in der SU, kannten die Welt nicht, sie wussten nicht, wie
       man Reformen durchführt, wie man eine freie Marktwirtschaft schafft. Heute
       gibt es diese Eliten, und unter den Parteien im Parlament gibt es einen
       Wettbewerb darum, welche der Parteien mehr junge Leute mit sauberer Weste
       und europäischen Diplomen aufweisen kann.
       
       ## Das Wort „Ukraine“ hat sich mit Sinn gefüllt
       
       In diesen zweieinhalb Jahrzehnten haben wir mehrmals unsere proeuropäische
       Gesinnung unter Beweis gestellt und die Demokratie bei zwei Revolutionen
       mit Blut verteidigt. Sachen gelten als selbstverständlich, die es früher
       nicht mal im Ansatz gab, Rampen für Rollstuhlfahrer zum Beispiel. Auf der
       Straße trifft man immer mehr Menschen, die Deutsch, Englisch oder
       Französisch reden. In meiner Straße hängt ein Billboard, das darüber
       informiert, dass der Staat dem Bürger 30 Prozent des Preises für
       Kunststofffenster oder einen Heizkessel mit alternativem Brennstoff
       bezahlt.
       
       Als ich zur Schule ging, pfiff der Wind durch die Scheiben, und im Hof, wo
       das Rohr entlanglief, schmolz der Schnee. Heute haben Schulen und
       Krankenhäuser gedämmte Fenster.
       
       Auf dieser niedrigsten Ebene – eines Menschen, einer Familie, einer Wohnung
       – wird der Grundstein für die energetische Unabhängigkeit des Landes
       gelegt. Heute sind wir ein Staat mit einem enormen Gasverbrauch und einer
       schwachen Wirtschaft.
       
       Fakten sprechen ihre eigene Sprache, auch gegenüber dem großen Nachbarn.
       Die Ukraine, die keine aktive militärische Unterstützung vom Westen
       erhalten hat, konnte aus eigener Kraft die russische Aggression stoppen.
       Die Russen sprachen einst von „Neurussland“, das sich Hunderte von
       Kilometer nach Westen, bis nach Charkiw und Odessa, erstrecken sollte.
       Dieser Plan ist nicht aufgegangen. Die Ukraine hat über eine Million
       Flüchtlinge von der Krim und aus dem Donbass untergebracht und ist nicht
       kollabiert.
       
       Gut, wir sind nicht zu einem „Tigerstaat“ geworden. Aber wir bewegen uns
       langsam und zielstrebig nach vorn. Diese 25 Jahre waren eine Zeit, in der
       sich der Begriff „Ukraine“ mit Sinn füllte, so wie klitzekleine Quadrate
       auf dem Bildschirm zeigen, dass sich der Computer lädt. Der größte Anlass
       für Optimismus ist die Tatsache, dass die Ukrainer kapiert haben: Damit der
       Computer besser funktioniert, sollte man nicht den Bildschirm, sondern den
       Prozessor ersetzen. Man sollte sich selbst ändern, und das tun wir – Tag
       für Tag. 25 Jahre lang.
       
       Aus dem Ukrainischen von Irina Serdyuk
       
       24 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andrij Ljubka
       
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