# taz.de -- Proteste bei den Olympischen Spielen: Wut, Scham und Gleichgültigkeit
       
       > In Rio de Janeiro will sich noch keine gute Laune einstellen. Stattdessen
       > sind zahlreiche Demonstrationen und Streiks geplant.
       
 (IMG) Bild: Trotz Olympia gibt es in Rio derzeit nicht viel zu lachen
       
       RIO DE JANEIRO taz | Kurz vor dem Eröffnungsspektakel der Olympischen
       Spiele beginnt auf den Straßen von Rio de Janeiro ein
       Demonstrationsmarathon. „Weg mit Übergangspräsident Temer“ und „Gegen
       olympische Katastrophen aller Art“ lauten die Slogans an der Copacabana.
       „Wir planen noch weitere Aktionen während der Spiele, in Rio und auch in
       anderen Städten. Und wenn es klappt, auch innerhalb der Sportstätten“,
       kündigt Guilherme Boulos von der Arbeiterobdachlosenbewegung MTST an.
       
       Die Aktivisten gehören zusammen mit den Landlosen, Gewerkschaften, linken
       Parteien und vielen anderen Bündnissen an, die den abrupten
       Regierungswechsel im Zuge eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsidentin
       Dilma Rousseff rückgängig machen wollen.
       
       Doch damit ist der Konsens auch schon erschöpft – für einige ist Olympia
       ein Kommerzevent samt zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, für andere
       sind die Spiele Symbol des fortschrittlichen Brasilien unter Rousseff und
       ihrem Vorgänger Lula da Silva und sollten als solche auch gefeiert werden.
       
       Für Freitagnachmittag wird eine erste Eskalation befürchtet. Das
       Volkskomitee Olympia und über hundert weitere Organisationen rufen zum
       Abschluss von Anti-Olympia-Aktionstagen zu einer Demonstration im Stadtteil
       Tijuca auf, nur rund 15 Fußminuten vom Maracanã-Stadion entfernt.
       
       ## Militarisierte Stadt
       
       „Die Stadt ist völlig militarisiert. Wir befürchten einen harten
       Polizeieinsatz“, sagt eine Aktivistin. Problematisch sei auch die
       Rechtslage: Für Olympia gibt es ein eigenes Gesetz, das das Recht auf freie
       Meinungsäußerung in vielerlei Hinsicht einschränkt.
       
       Schlimmer noch sei das neue Antiterrorgesetz, das Rousseff zum
       Unverständnis vieler Anhänger kurz vor ihrer Suspendierung noch
       unterschrieb. „Es ist so formuliert, dass Demonstrationen und andere
       Protestformen sozialer Bewegungen schnell darunter fallen können“,
       kritisiert die Aktivistin.
       
       Doch Massenproteste erwartet niemand. Viele interessieren sich überhaupt
       nicht für das Sportspektakel; laut Umfrageergebnissen sind 60 Prozent der
       Menschen in Brasilien sogar dagegen, Gastgeber zu sein: Sie befürchten,
       dass die Spiele dem Land mehr schaden als nutzen werden, ganz abgesehen
       davon, dass bereits Milliarden dafür ausgegeben wurden. Viele Cariocas –
       so heißen die Bewohner Rios – werden auch gar nicht in der Stadt sein, denn
       zu Olympia sind unter anderem den Schulen Zwangsferien verordnet worden, um
       das erwartete Verkehrschaos zu minimieren.
       
       Andererseits kündigten schon mehrere Gewerkschaften an, ihre Anliegen im
       internationalen Scheinwerferlicht auf die Straße zu bringen. Die Rede ist
       von Streiks des U-Bahn-Personals, der Angestellten im öffentlichen
       Gesundheitssystem und bei Teilen der Stadtreinigung. Hintergrund sind eine
       Reihe sozialer Probleme und finanzieller Engpässe, die durch die
       olympischen Investitionen noch vertieft wurden.
       
       ## Streiks überall
       
       Dramatisch sieht es bei der Bildung aus: Die öffentlichen Schulen haben
       gerade fünf Monate Streik hinter sich, die Lehrkräfte der staatlichen
       Universität UERJ beendeten erst letzte Woche einen langen Streik.
       Gestritten wird über Gehälter, Arbeitsbedingungen und die Ausgestaltung der
       Lehrpläne.
       
       Betroffen sind fast alle Bereiche des öffentlichen Dienstes. Im April
       befanden sich 33 Berufsgruppen im Ausstand, darunter Polizisten und Ärzte.
       Oft kann der Staat die Löhne nicht mehr zahlen. Erst eine Finanzspritze des
       Bundes von umgerechnet fast einer Milliarde Euro im Juni brachte die
       Situation in der Olympiastadt wieder unter Kontrolle.
       
       Rio de Janeiro leidet wie der Rest des Landes unter einer schweren
       Wirtschaftskrise. Neben der anhaltend hohen Inflationsrate macht vor allem
       zunehmende Arbeitslosigkeit zu schaffen. Die Menschen haben weniger Geld in
       der Tasche.
       
       Richtig Angst haben die Cariocas vor der Zeit nach Olympia. Zehntausende,
       die auf olympischen Baustellen oder anderweitig in der Eventmaschinerie
       beschäftigt waren, werden plötzlich auf der Straße stehen. „Die Stadt wird
       bankrottgehen, die Frage ist nur, ob noch vor den Paralympics oder erst
       danach“, sagt der Jurist Alfredo Souza voraus. Neben den hohen
       Olympiaausgaben macht er Korruption und Misswirtschaft für die Lage
       verantwortlich. Souza: „Die Politiker haben nur bis zu den Spielen gedacht,
       alles, was danach kommt, scheint ihnen egal.“
       
       ## Deftiger Galgenhumor
       
       Es ist schwierig, dieser Tage optimistische Einheimische in Rio zu finden.
       Obwohl sich angesichts der langen Kette kleiner und großer Missgeschicke im
       Zuge der Vorbereitungen – vom Einsturz eines Panoramafahrradwegs bis zu
       Brand und Diebstahl in der Unterkunft der australischen Mannschaft –
       langsam ein deftiger Galgenhumor entwickelt. Lächelnd und überzeugt geben
       sich lediglich die unzähligen Angestellten und freiwilligen Helfer in
       Olympiatracht.
       
       Olympia ignoriert all diese Alltagsprobleme der Gastgeber. Oder doch nicht?
       Seit Wochenbeginn gibt es Gerüchte, die streng geheim gehaltene
       Eröffnungszeremonie werde einen Überfall zeigen, also die Kriminalität in
       der Stadt thematisieren. Opfer der fingierten Attacke bei der Generalprobe
       soll das Topmodel Gisele Bündchen gewesen sein.
       
       Einer, der dabei war, sah die Szene anders: „Ein ambulanter Händler wird
       von der Polizei am Strand misshandelt und flüchtet sich in die Arme von
       Gisele, die ihn beschützt.“ Empörung macht sich breit, eine Überarbeitung
       der Szene wird zugesagt. „Wir sollten unsere besten Seiten zeigen. Die
       schlechten kennen doch alle schon“, twitterte ein Carioca, der sich für
       seine Stadt zu schämen scheint.
       
       4 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Behn
       
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