# taz.de -- Naturlandschaft in China: Im Zauberwald von Yunnan
       
       > Von neu endeckten Menschenaffen, ihren achtsamen Freunden und
       > naturbegeisterten Vogelflüsterern. Ein Besuch in den Gaoligong-Bergen.
       
 (IMG) Bild: Regengeschützter Blick in den Wald
       
       Es gibt nicht allzu viele Weltgegenden, in denen man binnen drei Stunden
       mühelos vierzig Vogelarten beobachten kann. „Und mit dem Fernglas über
       sechzig“, tönt Hou Ti-gou, den manche auch den „Vogelflüsterer“ nennen. Ihm
       und einigen beherzten Nachbarn ist es zu verdanken, dass Baihualing, ein
       unscheinbares Dorf in den Gaoligong-Bergen, heute prosperiert. Die
       umliegenden Bergwälder sollen bis zu 600 Vogelarten beherbergen – mehr als
       es in ganz Europa gibt.
       
       Als der Direktor des Yellowstone kürzlich auf Besuch kam, bekannte er, von
       einer solchen Natur habe er immer geträumt. Die schmale, aber gut 500
       Kilometer lange Bergkette im äußersten Westen der Provinz Yunnan erstreckt
       sich parallel zu der Grenze zu Burma. Ihre nördlichsten Ausläufer ragen
       über 5.000 Meter auf. Hier in Baihualing sind die Berge nur mehr halb so
       hoch, und ganz im Süden verebben sie dann schon in den Gefilden des
       tropischen Regenwalds.
       
       Als Schüler nahm Hou sie mit der Steinschleuder aufs Korn, die Häherlinge
       und Waldtauben, die Bülbüls und Timalien. „Die schmeckten so gut.“ Seinem
       Lehrer brachte er oft Beute mit, „damit er weniger streng mit mir war. Aber
       durchgefallen bin ich trotzdem.“ 1989 heuerte ihn dann ein taiwanisches
       Lehrerpaar als Führer an. „Die wollten die Vögel nur sehen – und mich auch
       noch dafür bezahlen!“ Sie bekehrten ihn schließlich, und seither hat er nie
       wieder ein Tier getötet.
       
       Dafür schickten sie ihm Gleichgesinnte, im Jahr darauf etwa einen
       britischen Birdwatcher mit einer Dolmetscherin, die ihn respektvoll mit
       „Lehrer Hou“ ansprach. Bisher war er immer nur „der kleine Hou“ gewesen.
       Das Lausbubenhafte ist ihm geblieben: Typ Skilehrer, ständig unter Strom,
       dabei dem ein oder anderen Gläschen nicht abgeneigt.
       
       ## Schule der Natur
       
       Einen derart eigenwilligen Neubau wie den der Hous besitzt kein anderes
       Dorf. Der futuristische, weit vorspringende Pfahlbau mutet wie ein Filmset
       für James Bond an. Für drei Tage hat sich eine Schulklasse aus der
       Provinzhauptstadt Kunming hier einquartiert. Abends bringen sie ihre
       Erlebnisse zu Papier: „Im Wald waren wir leise, damit wir den Bären nicht
       störten“, heißt es dann. Oder: „Ich habe den ersten Frosch außerhalb eines
       Restaurants gesehen. Und er sprang nicht mal weg.“
       
       Vor einigen Jahren hat die Parkverwaltung eine „Schule der Natur“ ins Leben
       gerufen, in der Familien und Schulklassen Exkursionen durch die Berge
       unternehmen. Es ist Teil einer Aufwertung des Schutzgebietes, das bald zum
       Nationalpark hochgestuft werden soll.
       
       Am nächsten Morgen absolvieren wir einen dreistündigen Parcours, den die
       Gemeinde angelegt hat. Obwohl er noch auf ihrem Grund und Boden verläuft
       und die Kernzone lediglich touchiert, lässt sich kaum ein romantischerer
       Bergwald denken. Die ersten Eindrücke geraten verwirrend. Man sieht den
       Baum vor lauter Wald nicht, alles sprießt, wächst und verrottet
       gleichzeitig.
       
       Magnolien und Kamelien strotzen um die Wette, Lorbeer- und
       Teestrauchgewächse verheddern sich. Die Bäume dienen nur als Gerüst für
       Ranken, Flechten und Lianen. Der Pfad führt zu Wasserfällen, Schluchten,
       Grotten und Thermalquellen.
       
       ## Stadtmenschen im Wald
       
       Entlang des Wegs haben Hou und seine Mitstreiter Beobachtungsstände für
       Birdwatcher angelegt. Mit hyperprofessioneller Ausrüstung behängt, stiefeln
       sie die Hänge hinauf und hocken sich in Tarnkleidung auf die Lauer.
       Unterwegs treffen wir die lustigsten Leute. Etwa den Lehrer aus Hongkong,
       der uns mitten im Busch Pralinen anbietet.
       
       Oder den Jungen aus Peking, der als Trophäe ein wildes Bananenblatt
       herumträgt, das größer als er selber ist. Fast alle Besucher stammen aus
       Metropolen wie Kanton oder Kunming, einige auch aus Taipeh oder aus
       Singapur. Die meisten gehören der Mittelschicht an, sind wohlhabend und
       gebildet. Den Eltern ist sehr daran gelegen, dass ihre Kinder hier Natur
       aus erster Hand erleben. China entdeckt seine Wildnis, als Gegenwelt zur
       erdrückenden Wirklichkeit der Städte.
       
       Erst spät am Nachmittag kehren wir zurück. Baihualing, wörtlich „hundert
       Blumen“, ist so etwas wie Chinas gallisches Dorf. In den neunziger Jahren
       erlangte es landesweit Bekanntheit, als es sich vor Gericht mit einem hohen
       Funktionär anlegte, der Holzeinschlag im großen Stil betrieben hatte. Und
       siehe da: Baihualing gewann. Schon damals ergriffen die Waldbauern auch
       Maßnahmen gegen die Erosion. Inzwischen pflanzen sie bevorzugt Bäume, die
       Vögel anlocken. Denn mehr Vögel locken wiederum mehr Vogelkundler an.
       
       Das Dorf verfügt über eine von elf „Stationen“ des Parks, Stützpunkten für
       Wildhüter und Verwaltung, für Polizei und Feuerwehr, und Anlaufstellen für
       Besucher. Dank einer Finanzspritze aus Hongkong konnte auch ein
       hochmodernes Infozentrum eröffnen, das die verschiedenen Ökosysteme und
       ihre Bewohner vorstellt, vom Schneeleoparden bis zum Salamander.
       
       ## Wütender Fluss
       
       Von der Terrasse aus schweift der Blick über das Tal des Nu Jiang, in Birma
       „Saluen“ genannt. Er bildet den westlichsten der „drei Parallelflüsse
       Yunnans“. Als wäre ihre Bahn mit einer Gabel gezogen worden, fließen hier
       drei der mächtigsten Ströme der Erde nebeneinanderher. Der Jangtsekiang
       macht schließlich kehrt und rauscht quer durch China bis ins Gelbe Meer.
       Der Mekong überantwortet sich nach langer Reise durch Hinterindien dem
       Südchinesischen Meer, und der Saluen mündet in die Andamanensee. Er mag
       weniger bekannt sein, doch auch er ist länger als die Donau. Ruhig und
       seicht streicht er dahin, schillernd wie flüssige Jade.
       
       So muss er sich auch im Sommer 1942 dargeboten haben, als die Japaner von
       Birma her nach Norden vordrangen. Bis dahin war Chinas Armee über die
       abenteuerliche Burma Road mit Nachschub versorgt worden. Doch just über
       diese Straße stießen nun die Japaner bis ans Westufer des Nu Jiang vor. An
       einer seichten Stelle schien der Fluss fast stillzustehen, und ihre Panzer
       rollten hinein.
       
       Er spülte sie wie Spielzeug fort. „Nu Jiang“ heißt „wütender Fluss“. Die
       Japaner vermochten ihn nie zu überwinden, ihr unerhörter Siegeszug fand
       hier seine Grenze. Das Kriegsgeschehen an der Yunnan-Front ist in China
       Schulbuchwissen, hier aber wird es hautnah erfahrbar. Hous Vater, Jahrgang
       1935, hat noch die Luftschläge der „Flying Tigers“ miterlebt, wagemutiger
       amerikanischer Piloten. In karmesinrote Seide gewandet, zeigt er den Gästen
       sein spektakulär vergammeltes Kabinett mit vergilbten Fliegerfotos und
       verbeulten Stahlhelmen. Der Besuch ist schon deshalb spannend, weil die
       Blindgänger nie entschärft wurden.
       
       ## Der Forschungsreisende
       
       Einer der letzten Forschungsreisenden alten Stils, der diese Berge
       durchstreifte, war Joseph Rock. Er lebte in Lijiang und zog in den
       dreißiger Jahren mit Maultierkarawanen bis in den Himalaja, der vielen
       Räuberbanden wegen mit Begleitschutz. Da Rock schon früh in die Staaten
       ausgewandert war, wird er gemeinhin als Amerikaner geführt. Doch er war
       Österreicher durch und durch. Was sich etwa in der unersättlichen
       Wissbegier des Autodidakten äußerte, in seiner gänzlich unamerikanischen
       Sehnsucht nach fernen Ländern und Kulturen, und in seinen Wutanfällen über
       den chinesischen Koch, den er mehrfach feuerte, weil er partout keine
       Wiener Küche zustande brachte. Und den er dann doch jedes Mal wieder
       einstellte.
       
       Auf seinen Spuren fahren wir nach Baihuacun, einem Dorf ähnlichen Namens
       hundert Kilometer weiter südlich, das ebenfalls eine Parkstation
       beherbergt. Hier wurde eine Entdeckung gemacht, für die auch Joseph Rock
       viel gegeben hätte. Ins Rollen gebracht hat sie der Dorfschullehrer Li
       Jia-hong. Vor zwei Jahrzehnten vernahm er einen unerhörten Gesang, ein
       forderndes Flehen aus den Tiefen des Urwalds. Und er verfiel ihm. Wann
       immer die Bauern ihm zutrugen, sie hätten „die schwarzen Affen“ gehört oder
       gar gesehen, versuchte er, sie aufzustöbern. Nach acht Jahren gelang ihm
       das erste Foto. Langsam lief die Maschinerie der internationalen
       Forschungsgemeinschaft an. Am Ende waren Spezialisten aus vier Kontinenten
       damit befasst.
       
       Im Mai dieses Jahres veröffentlichten sie ihre Ergebnisse: Dorfschullehrer
       Li Jia-hong hat eine neue Menschenaffenart entdeckt. Bis dahin waren diese
       Affen einer benachbarten Art von Weißbrauengibbons zugerechnet worden. Doch
       die Gaoligong-Gibbons bilden eine eigene Spezies, von der es nur mehr rund
       zweihundert Exemplare geben dürfte.
       
       ## Der Tierfreund
       
       Gemeinsam mit Lehrer Li durchstreifen wir den Busch. Ein klassischer
       Naturfreund und Autodidakt, unbefangen, eigenwillig, professionell. Als
       Pädagoge hat er die „Schule der Natur“ mit aufgebaut. Zudem filmt und
       fotografiert er inzwischen für die Parkverwaltung die Tierwelt vom
       Rieseneichhörnchen bis zum Roten Panda. Dabei campiert er auch manche Nacht
       im Freien. „Vor den Tieren habe ich keine Angst, eher schon vor den
       Menschen.“
       
       Respektvoll begutachtet er Bärenlosung am Wegrand – einige Kollegen wurden
       von Kragenbären böse zugerichtet. Oben am Kamm pflücken ein paar Bäuerinnen
       Teekräuter, die, zu Diskusscheiben gepresst, wie Schwarzer Afghane aussehen
       und auch betörend riechen.
       
       Nach einer Schlitterpartie auf einem Dschungelpfad treffen wir im Schatten
       eines riesigen Ingwergewächses den Wildhüter Jiang Zi-an, der als
       Leibwächter eine Gibbonfamilie begleitet. Lächelnd weist er auf drei
       Gesellen hoch droben in den Wipfeln. Nein, vier, die Mutter hat als
       Anhängsel ein Junges vor der Brust, während der Vater und das zweite Junge
       sich von einem Ast zum anderen hangeln. Sie schmausen zarte Blätter, als
       wäre jedes einzelne eine Delikatesse, sie kratzen sich das Fell, schmausen
       weiter – und ignorieren uns komplett.
       
       Sie turnen, als wären sie gegen die Schwerkraft immun. Bedächtig folgen wir
       ihnen durch den Wald und vergessen die Zeit. Zwischendurch macht Jiang sich
       auf zur Station, um etwas zu essen. Wildhüter wie er sind die wahren Helden
       der Berge.
       
       Sie harren sommers in den Regengüssen des Monsuns aus und winters in den
       klammen Räumen ihrer Stützpunkte. Sie laufen Gefahr, im Sumpf stecken zu
       bleiben oder sich an Bambushalmen aufzuspießen, die hart und spitz wie
       Speere sind. Doch für kargen Lohn hüten sie eine kleine Affenbande wie ihre
       Augäpfel. Drei Viertel aller Affenarten in Asien sind vom Aussterben
       bedroht, und 95 Prozent ihres Lebensraumes schwinden.
       
       Jiang kommt schließlich zurück, um uns abzulösen. Zum Abschied danke ich
       ihm für seinen Einsatz. „Schon in Ordnung“, frotzelt er, „Lehrer Li hat mir
       ja eine Extraportion Reisbrei versprochen.“ Die anderen verlangen schon mal
       Zulage, wenn sie Überstunden leisten sollen; er sieht es einfach als seine
       Aufgabe an.
       
       Ich möchte ihm meine Hochachtung ausdrücken, doch alles, was mir einfällt,
       klänge entweder banal oder pathetisch. Aber sei’s drum. Ob nun dazu befugt
       oder nicht, ich danke ihm im Namen der Menschheit. Er nimmt es zur Kenntnis
       und folgt seinen Schützlingen ein Stück tiefer in den Wald hinein.
       
       15 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Schomann
       
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