# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Amerikanische Krankheit
       
       > Während die Republikaner Obamacare abschaffen wollen, gibt es in manchen
       > Bundesstaaten nun Pläne für eine öffentliche Krankenkasse.
       
 (IMG) Bild: „Kämpfe für deine Gesundheit“, heißt die Parole auf dem Mundschutz des Demonstranten
       
       In den USA freunden sich immer mehr Leute mit der Idee eines staatlichen
       Gesundheitswesens an. Bislang war das Land in dieser Hinsicht der große
       Außenseiter. In der gesamten industrialisierten Welt gehört eine
       öffentliche Gesundheitsversorgung zu den Grundrechten, die auf
       unterschiedliche Weise garantiert und implementiert wird.
       
       In Deutschland reglementiert der Staat die Preise für standardisierte
       Behandlungen und Medikationen, die von privaten Leistungsträgern erbracht
       werden; die Bürger werden nach der Höhe ihres Einkommens an den Kosten
       beteiligt und gegebenenfalls vom Staat unterstützt. In Kanada sind die
       Provinzen die Träger öffentlicher Einheitskrankenkassen, die Verträge mit
       unabhängigen Gesundheitsdienstleistern schließen; private
       Krankenversicherungen unterliegen gesetzlichen Regulierungen oder sind ganz
       verboten. Der National Health Service in Großbritannien ist zu hundert
       Prozent staatlich, seine Angestellten sind Staatsbedienstete. Die
       Leistungen dieser Systeme sind für alle Bürger da und werden staatlich
       reguliert und finanziert.
       
       In all diesen Ländern ist die Gesundheitsversorgung wesentlich
       kostengünstiger als in den USA, wo dafür mehr Geld ausgegeben wird als in
       jedem anderen Land der Welt. Im nächsten Jahr werden Kosten in Höhe von 18
       Prozent des US-Bruttosozialprodukts erwartet, während die Ausgaben in
       anderen OECD-Ländern durchschnittlich bei 11 Prozent liegen. Trotz dieser
       enormen Kosten sind rund ein Zehntel der erwachsenen Amerikaner gar nicht
       und weitere zig Millionen unterversichert. Und die häufigste Ursache von
       Privatinsolvenzen sind die Ausgaben für medizinische Behandlungen.
       
       Angesichts der enormen Ausgaben verbreiten die Politiker und einflussreiche
       Stimmen die Meinung, dass sich die USA ein öffentliches Gesundheitssystem
       gar nicht leisten könnten. Eine Übernahme durch den Staat bringe nur
       steigende Kosten, also höhere Steuern, und eine schlechtere
       Gesundheitsversorgung. Doch diese Befürchtungen entbehren jeder Grundlage,
       wie man an praktisch allen entwickelten Ländern mit gesetzlicher
       Krankenversicherung sehen kann. Allerdings ist das Ausland für die meisten
       US-Bürger so fern wie der Mars, schließlich besitzen nur 36 Prozent von
       ihnen einen gültigen Reisepass. Und doch findet die Idee plötzlich breite
       Resonanz.
       
       Die einheitliche Krankenkasse war in der Debatte über den 2010
       verabschiedeten Patient Protection and Affordable Care Act noch kein Thema.
       Das PPACA-Gesetz, mit dem sich Obama ein innenpolitisches Denkmal setzte,
       hat den privaten Krankenversicherungsmarkt reformiert, den
       Versicherungsschutz auf weite Teile (wenn auch nicht alle) der bisher
       unversicherten Bürger ausgeweitet und das ganze System stabiler verankert.
       
       ## Entlastung der Reichen
       
       Die aktuelle Gesetzesinitiative im Kongress zielt nicht auf die Ausweitung,
       sondern auf die Abschaffung von Obamacare. Nachdem die Republikaner die
       Exekutive und beide Häuser der Legislative kontrollieren, wollen sie
       steuerliche Entlastungen für die Reichen durchsetzen und dies durch
       Einsparungen im Gesundheitswesen finanzieren, indem sie den erweiterten
       Krankenversicherungsschutz zurücknehmen und die Mittel für Medicaid, die
       staatliche Gesundheitsversorgung für Arme, drastisch kürzen.
       
       Laut dem Congressional Budget Office (CBO), das Kosten-Nutzen-Analysen für
       geplante Gesetzesvorhaben erstellt, hätte der vom Repräsentantenhaus
       verabschiedete (aber vom Senat blockierte) Gesetzentwurf über den American
       Health Care Act 2017 (AHCA) zur Folge, dass 14 Millionen Bürger ihren
       Versicherungsschutz sofort verlieren und sich die Zahl der Unversicherten
       bis 2026 auf 26 Millionen erhöhen würde. Diese Aussicht hat viele Anhänger
       der Demokraten (und einige der Republikaner) auf die Barrikaden getrieben.
       In Bürgerversammlungen mit ihren gewählten Abgeordneten attackieren sie
       lautstark deren Haltung in der Gesundheitspolitik.
       
       Der Protest gegen die drohende Zerstörung von Obamacare geht weit über die
       Verteidigung des Status quo hinaus und gewinnt mit der Forderung nach
       [1][„Medicare für alle“] für US-Verhältnisse durchaus radikale Züge. Eine
       führende Rolle spielen dabei die Gewerkschaften. „Die Einheitskasse ist
       jetzt zum zentralen Politikum geworden, weil die Leute den baldigen Verlust
       ihrer Krankenversicherung fürchten – und wir bieten eine Lösung an“,
       erklärt Rose Ann DeMoro, die an der Spitze der nationalen wie der
       kalifornischen Krankenpflegergewerkschaften steht. Schon läuft im
       Repräsentantenhaus eine Gesetzesvorlage über die Gründung einer
       Einheitskasse um, ohne allerdings die Chance auf eine Mehrheit zu haben.
       
       Auch in zahlreichen Bundesstaaten ist der Enthusiasmus für die von der
       Linken lange vernachlässigte Idee einer allgemeinen staatlichen
       Gesundheitsversorgung neu entflammt. Richard Gottfried, Abgeordneter im
       Unterhaus des Staates New York, hat schon vor Jahren eine entsprechende
       Gesetzesvorlage eingebracht, nun fand sie plötzlich eine Mehrheit. Solche
       oder ähnliche Initiativen werden wahrscheinlich mehrere Anläufe brauchen.
       In Colorado scheiterte im November 2016 eine Volksinitiative zur Einführung
       einer Einheitskrankenkasse, und in Nevada legte der Gouverneur sein Veto
       gegen eine Ausweitung von Medicaid ein.
       
       Doch solche Rückschläge spornen offenbar auch an. Ähnliche Initiativen gibt
       es inzwischen in den Staaten Washington und Oregon und demnächst auch in
       Illinois. Die Physicians for a National Health Program (Ärzte für ein
       nationales Gesundheitswesen) haben detaillierte Vorschläge erarbeitet, die
       in angesehenen Ärztezeitschriften veröffentlicht werden. Sie finden
       Resonanz bei vielen Ärzten, die es leid sind, ihre Honoraransprüche gegen
       private Versicherungsgesellschaften einklagen zu müssen.
       
       ## Eine Methode der Kostenkontrolle
       
       Eine allgemeine Gesundheitsversorgung soll für Fairness und soziale
       Gerechtigkeit sorgen. Und entgegen allen Vorurteilen stellt sie die einzige
       bewährte Methode der Kostenkontrolle dar. Auch schlaue Plutokraten wie die
       Investmentgurus Warren Buffett und Charles Munger von Berkshire Hathaway
       befürworten inzwischen ein öffentliches Gesundheitssystem, weil die
       explodierenden Behandlungskosten die Konkurrenzfähigkeit der US-Unternehmen
       beeinträchtigen.
       
       Das entscheidende Sparpotenzial liegt bei den Verwaltungskosten der
       privaten Versicherungen, die keinerlei medizinischen Mehrwert erbringen.
       Ein Autorenteam von Ärzten, die den Physicians for a National Health
       Program angehören, beziffern den Einspareffekt auf fast 500 Milliarden
       Dollar jährlich. Die US-Regierung könnte jedoch auch ein mehrgliedriges
       System wie in Deutschland einführen und die eigene quasimonopolistische
       Verhandlungsmacht nutzen, da der Staat mit Medicare und Medicaid der
       weitaus größte Abnehmer der Pharmaindustrie ist. Er könnte also die enorm
       hohen Preise für Behandlungsverfahren, rezeptpflichtige Medikamente und
       Medizintechnologie drücken.
       
       Auch eine Revision der Gesetze zum Schutz geistigen Eigentums könnte die
       Preise senken helfen. So könnte man die Patentlaufzeiten von Medikamenten,
       die oft das Ergebnis öffentlich finanzierter Forschung sind, stärker
       begrenzen und damit die Markteinführung kostengünstigerer Generika
       beschleunigen. Die Profitmargen der großen Pharmakonzerne liegen im
       Vergleich mit anderen Branchen sehr hoch, was auf Kartellabsprachen
       zulasten der Patienten schließen lässt.
       
       Der Ökonom Dean Baker hat sogar angeregt, die Entwicklung neuer
       Arzneimittel aus dem Privatsektor herauszulösen und ein staatlich
       finanziertes Forschungsinstitut einzurichten, das diese Medikamente zum
       Selbstkostenpreis verkaufen und damit enorme Kosten einsparen könnte.
       Entgegen den von Kapitalseite verbreiteten Mythen wurden viele der
       wichtigen pharmakologischen Durchbrüche des 20. Jahrhunderts, vom
       Penicillin bis zum Polioimpfstoff, an staatlichen Universitäten oder durch
       nichtprofitorientierte Forschung erzielt.
       
       ## Als kommunistisch verteufelt
       
       Die großen Widerstände, die einer Vergesellschaftung der Medizin in den USA
       entgegenstehen, sind eher politisch als ökonomisch. Viele gewählte
       Republikaner denunzieren die Idee einer allgemeinen Krankenversicherung als
       moralisch verwerflich und kollektivistisch. Der republikanische Abgeordnete
       Mo Brooks will sogar durchsetzen, dass die neue AHCA von Kranken höhere
       Beiträge verlangt als von Leuten, „die gesund sind und etwas getan haben,
       um ihre Körper gesund zu halten“.
       
       Dabei ist keineswegs klar, ob die republikanischen Wähler tatsächlich so
       hartnäckige und tiefe Vorbehalte gegen eine Vergesellschaftung der Medizin
       haben. Anfang der 1960er Jahre haben die Republikaner und ein Großteil der
       Ärzte militant gegen Medicare gekämpft. Damals hatte die American Medical
       Association das Vorhaben in Rundfunkspots als kommunistisch verteufelt,
       dennoch wurde das Gesetz 1965 verabschiedet. Heute ist Medicare allgemein
       anerkannt und politisch unangreifbar. Und weil beide Parteien ihre soziale
       Basis erweitern wollen, scheint politisch vieles möglich.
       
       Aber zunächst einmal gilt es, genügend Demokraten von der Notwendigkeit
       einer allgemeinen Gesundheitsversorgung zu überzeugen, was keineswegs
       leicht ist. Zwar hat sich Bernie Sanders für eine gesetzliche Einheitskasse
       ausgesprochen, aber seine siegreiche Rivalin Hillary Clinton verurteilte
       das Vorhaben als „utopisch“ – ein merkwürdiges Attribut für ein System, das
       in vielen anderen Ländern einwandfrei funktioniert.
       
       Selbst wenn die Demokraten in Washington eine allgemeine
       Krankenversicherung weiterhin ablehnen, werden die Initiativen in den
       Bundesstaaten weitergehen. Das zentrale Schlachtfeld ist fürs Erste
       Kalifornien. Dort hat der Senat ein Gesetz zur „allgemeinen
       Gesundheitsversorgung“ verabschiedet, das allerdings keinen genauen
       Finanzierungsplan enthält.
       
       ## Mit Sprechchören für die Einheitsversicherung
       
       Das Gesetz ist Resultat des ständigen Drängens von Aktivisten. Die
       National Nurses Union, die Gewerkschaft des Pflegepersonals, warb vor dem
       letzten Parteitag der kalifornischen Demokraten mit Sprechchören für die
       Einheitsversicherung. Nachdem Gouverneur Jerry Brown, der sich anfangs
       dafür ausgesprochen hatte, inzwischen herumeiert, hat Justizminister Xavier
       Becerra seine Unterstützung zugesagt.
       
       Die Kosten des Projekts werden auf 400 Milliarden Dollar geschätzt, und nur
       die Hälfte davon kann ohne zusätzliche Einnahmequellen aus dem Etat des
       Bundesstaats gedeckt werden – so lange, bis die Kosten durch Maßnahmen auf
       einzelstaatlicher und Bundesebene weiter sinken. Dennoch sind die
       Befürworter optimistisch. Die Gewerkschafterin DeMoro meint: „Kalifornien
       ist die sechstgrößte Wirtschaft der Welt, die Einführung einer
       Einheitskasse wird also einen starken Ausstrahlungseffekt haben. Wir
       hoffen, dass Kalifornien die USA dazu bringt, für ihre Bürger nach dem
       Vorbild der übrigen Industrieländern eine solide Gesundheitsversorgung
       einzuführen.“
       
       Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Selbst wenn das Projekt zum Gesetz
       und vom Staat Kalifornien finanziert wird, bestimmt Obamas Affordable
       Care Act, dass jeder Bundesstaat, der ein öffentlich finanziertes
       Gesundheitssystem einrichtet, einer Ausnahmegenehmigung der
       Zentralregierung bedarf. Man kann füglich bezweifeln, ob der
       ultrakonservative Gesundheitsminister Tom Price – trotz aller konservativen
       Lippenbekenntnisse zum Föderalismus – im Fall Kalifornien diese Genehmigung
       erteilen würde.
       
       Kein Mensch erwartet, dass in den USA ein öffentliches Gesundheitssystem
       auf einen Schlag etabliert wird – und ohne erhebliche Widerstände auf allen
       Ebenen der Regierung. Und doch ist, was gestern noch als frommer Wunsch
       erschien, heute zu einem Schlüsselthema der amerikanischen Innenpolitik
       geworden.
       
       14 Jul 2017
       
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