# taz.de -- 100 Jahre Oktoberrevolution: Als der Funke übersprang
       
       > Die Ereignisse in Russland 1917 wirkten auch in Berlin. Der Historiker
       > Ralf Hoffrogge bringt fast vergessene Kapitel dieser Geschichte zum
       > Vorschein.
       
 (IMG) Bild: Berlin 1917: Vor den Lebensmittelläden gibt es lange Schlangen.
       
       Die Oktoberrevolution 1917 in Russland, die Novemberrevolution 1918 in
       Deutschland, Lenin, Liebknecht, Luxemburg – das sind die Ereignisse und
       Namen, mit denen die revolutionären Umwälzungen zu Beginn des 20.
       Jahrhunderts chiffriert werden. Doch wer gesellschaftliche Entwicklungen
       nachvollziehen will, muss nach den Geschichten hinter der Geschichte
       suchen. Wer etwa verstehen will, wie es dazu kommen konnte, dass die gerade
       noch so kriegs- und kaiserbegeisterten Deutschen ihre Monarchie in die
       Wüste beziehungsweise die Niederlande schickten, der könnte auf die
       Geschichte Richard Müllers stoßen.
       
       Es ist die Geschichte einer Radikalisierung, sie erzählt, wie aus einem
       einfachen Gewerkschafter ein Revolutionär wurde, der mit einem geheimen
       Netzwerk gegen den Willen der eigenen Gewerkschaftsführung Massenstreiks
       Hunderttausender Arbeiter organisierte und damit den Sturz der Monarchie
       entscheidend vorantrieb. Der Berliner Historiker Ralf Hoffrogge hat sie in
       einer 2008 erschienenen Biografie aufgeschrieben und damit aus der
       Vergessenheit gehoben.
       
       Zu Beginn des ersten Weltkriegs arbeitet Richard Müller in Berlin als
       Dreher. Seit 1914 leitet er seine Branchengruppe innerhalb des Deutschen
       Metallarbeiter-Verbands (DMV), von revolutionären Bestrebungen ist er da
       noch weit entfernt.
       
       Das ändert sich im Laufe des Krieges. Müller und seine Kollegen begreifen,
       dass es ihre eigenen Leute sind, die in dem Krieg sterben, für den sie die
       Waffen herstellen. Der Krieg tötet die Arbeiterklasse, und nicht nur Müller
       versteht mit der Zeit, dass daran weder Monarchie und Militär noch die
       Sozialdemokratie und auch nicht die eigene Gewerkschaftsführung etwas
       ändern werden. Die oppositionell gesinnten Gewerkschafter beginnen, sich zu
       vernetzen, „beim Glase Bier“ kommt man im Anschluss an die offiziellen
       Sitzungen zusammen.
       
       Schnell wird daraus eine Widerstandsorganisation innerhalb des DMV.
       Entscheidend dafür sind die Obmänner, vergleichbar mit heutigen
       Betriebsräten, allerdings mit einem informelleren Status. Weil sie
       Vertrauensleute in den einzelnen Abteilungen hinter sich haben, kann das
       aus 50 bis 80 Personen bestehende Netzwerk, das Müller nun mit einigen
       Genossen aufbaut, Tausende ArbeiterInnen erreichen.
       
       Diese Gruppe, die sich später Revolutionäre Obleute nennt, ist klandestin
       organisiert, aber dennoch kein avantgardistischer Zusammenschluss: Die
       Obleute sind in ihren Betrieben verankert, und sie weigern sich zeit ihres
       Bestehens, politische Aktionen gegen den Mehrheitswillen der ArbeiterInnen
       zu erzwingen. Von der eigenen Gewerkschaftsführung entfernen sie sich
       ebenso wie von der SPD. Nach deren Gründung im April 1917 schließen sie
       sich der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) an,
       doch auch hier bleiben sie als eigene Organisation bestehen.
       
       Zur USPD gehört auch die Spartakusgruppe um Rosa Luxemburg und Karl
       Liebknecht. Sie setzt auf ständige politische Aktionen, die im
       Zusammenspiel mit den Reaktionen der Polizei zur Eskalation führen und so
       die revolutionäre Stimmung anheizen sollen. Die Obleute verspotten diese
       Strategie als „revolutionäre Gymnastik“, der sich die Arbeiterklasse nie in
       einem ausreichenden Maße anschließen werde. Dennoch: Die beiden Gruppen
       brauchen sich gegenseitig: „Während die Spartakisten die Flugblätter
       schrieben und das ideologische Futter lieferten, hatten die Revolutionären
       Obleute die Verankerung in den Betrieben, ohne die all die Flugblätter
       wirkungslos geblieben wären“, beschreibt es Hoffrogge.
       
       Denn die Obleute können etwas, was die Spartakusgruppe allein nie schaffen
       würde: Streiks organisieren, und zwar massenhafte. Im Juni 2016 sind es
       rund 50.000 ArbeiterInnen, die sich an einem Solidaritätsstreik für Karl
       Liebknecht beteiligten, am sogenannten Brotstreik im April 1917 nehmen
       bereits mehrere hunderttausend teil, und im Januar 1918 streiken
       schließlich eine halbe Million Arbeiter und Arbeiterinnen.
       
       Diese Radikalisierung hat entscheidend auch mit den Ereignissen im Herbst
       1917 in Russland zu tun, die der deutschen Arbeiterklasse zweierlei vor
       Augen führen: zum einen, dass die Monarchie lange nicht so fest im Sattel
       sitzt, wie es den Anschein hatte, und zum anderen, dass dieser Krieg nicht
       aus den Gründen geführt wird, mit dem ihn die Herrschenden zu rechtfertigen
       versuchen. Denn die deutsche Führung sabotiert den nun von Russland
       angebotenen Friedensprozess – dass es bei diesem Krieg nicht um
       Selbstverteidigung, sondern um imperialen Machtgewinn geht, ist damit
       offensichtlich. Dass die Lasten des Krieges nur von einem Teil der
       Bevölkerung geschultert wurden, ist gerade in Berlin ebenfalls
       augenscheinlich; ein beliebtes Flugblatt zu dieser Zeit ist der Abdruck der
       Adlon-Speisekarte.
       
       Auch wenn die Massenstreiks gerade in der Rüstungsindustrie die politische
       Führung treffen, enden sie doch zunächst in einer Niederlage. Nach dem
       Januarstreik radikalisieren sich die Obleute deswegen weiter und beginnen,
       sich zu bewaffnen. Im November 1918 schließlich ist es die Meuterei der
       Kieler Matrosen, die das Fass endgültig zum Überlaufen bringt. Hastig
       reagierten die Berliner Revolutionäre mit der Ausrufung eines
       Generalstreiks. Die Reaktionen sind überwältigend, das Militär leistet kaum
       Widerstand – am 9. November ist die deutsche Monarchie Geschichte.
       
       Der Rest sei nur noch kurz erzählt: Weiterführende sozialistische Ideen wie
       der aus den gewerkschaftlichen Versammlungen geborene Plan einer
       Räterepublik scheitern am Widerstand der SPD, der Spartakusaufstand 1919
       wurde niedergeschlagen, was auch die Revolutionären Obleute schwächt. Aus
       ihnen entwickelte sich die Rätebewegung, die sich letztlich ebenfalls nicht
       durchsetzen konnte – am Ende stand das wenig revolutionäre
       Gewerkschaftsmodell, wie wir es noch heute kennen. Müller selbst zog sich
       um 1929 aus der Politik ins Privatleben zurück. Im Mai 1943 starb er in
       Berlin – Todesursache und Grabstätte sind bis heute unbekannt.
       
       19 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Malene Gürgen
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Russische Revolution
 (DIR) Weltgeschichte
 (DIR) Schwerpunkt Erster Weltkrieg
 (DIR) Rosa Luxemburg
 (DIR) 100 Jahre Oktoberrevolution
 (DIR) 100 Jahre Oktoberrevolution
 (DIR) KP China
 (DIR) Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
 (DIR) Lenin
 (DIR) Lenin
 (DIR) Gregor Gysi
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Liebknecht-Luxemburg-Demo in Berlin: Bleiwüsten und rebellische Herren
       
       Tausende gedenken der ermordeten Kommunisten Rosa Luxemburg und Karl
       Liebknecht. Thematisch geht es um noch viel mehr.
       
 (DIR) 100 Jahre Oktoberrevolution: Die Mumie der Revolution
       
       Vor 93 Jahren starb Lenin. Seine Leiche liegt noch immer im Mausolem. Zeit,
       ihn zu beerdigen. Doch die KP und der Tourismusverband sperren sich.
       
 (DIR) 100 Jahre Oktoberrevolution: Der Tod der Revolution
       
       Ist 100 Jahre nach 1917 ein gewaltsamer Umsturz möglich? Die globale
       Ungleichheit ist kaum geringer als damals. Und doch ist heute fast alles
       anders.
       
 (DIR) 100 Jahre Oktoberrevolution: Kommunismus mit Millionären
       
       Chinas KP hat großen Zulauf von Akademikern, Unternehmern und Millionären.
       Den Arbeitern nutzt der Kommunismus bisher kaum.
       
 (DIR) 100 Jahre Oktoberrevolution: Die Zukunft der Vergangenheit
       
       Die Russische Revolution war in Sachen Queerfeminismus nicht nur ihrer Zeit
       voraus, sondern auch unserer. Ein Essay.
       
 (DIR) Lenin und die Schweiz: Die große Revolution
       
       Die Oktoberrevolution stand in mehrfacher Verbindung mit der Schweiz. Für
       viele Russen war sie ein Sehnsuchtsland. Eine Ausstellung in Zürich.
       
 (DIR) Lenins Heimfahrt per Zug aus der Schweiz: Der Revolutionär soll Chaos stiften
       
       Vor 100 Jahren half die deutsche Regierung dem russischen Exilanten zur
       Rückkehr in seine Heimat. Deutschland verlor den Krieg trotzdem.
       
 (DIR) Gregor Gysi zur LL-Demo am Sonntag: „Das gibt moralische Rechtfertigung“
       
       Am Sonntag wird Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts gedacht, die
       Oktoberrevolution wird 100: Gregor Gysi über den Wert des Erinnerns.