# taz.de -- Die Wahrheit: Bären für Benjamin
       
       > Es gibt einen Platz in Berlin, der ist benannt nach dem großen
       > Philosophen Walter Benjamin. Es ist eine Stätte des ästhetischen Grauens.
       
 (IMG) Bild: Bei Theodor Adorno, hier links neben dem Verleger Siegfried Unseld, schrieb Rolf Tiedemann seine Dissertation, Archivbild von 1968
       
       Es gibt Situationen im Leben, in denen man dringend schützend eingreifen
       möchte: wenn Kleinkinder unbeaufsichtigt von sorglosen Eltern auf
       Bahnsteigen herumtaumeln oder wenn Fußgänger tagträumend über stark
       befahrene Kreuzungen latschen. Manchmal will man sogar dem Geist
       Verstorbener zu Hilfe eilen wie dem von Walter Benjamin, der 1940 seinem
       Leben selbst ein Ende setzte, weil er nicht mehr an Rettung vor den Nazis
       glaubte oder vielleicht weil er wusste, was ihm und seinem Namen in Zukunft
       noch zugemutet werden würde.
       
       Nicht nur muss er seit dem Jahr 2000 als Namenspate für einen Platz in
       Berlin-Charlottenburg herhalten, auf dem die meiste Zeit des Jahres
       vornehme Granitkühle herrscht, seit Wochen wird in dieser steingewordenen
       Unwirtlichkeit zur Erbauung der wenigen Flaneure auch noch ein heftiger
       ästhetischer Kampf ausgetragen. In der unbelebten Weite vor unnahbaren
       Fassaden tobt eine Farbschlacht wie auf einer indischen Hochzeit, vor
       zuchtmeisterlich angeordneten Säulengängen feiert Berlin einen
       Kitschexzess. Was hat Walter Benjamin verbrochen, dass ihm nicht nur ein
       seltsam unbehauster Platz gewidmet, sondern auch noch eine Leistungsschau
       aus hundertvierzig „Buddy Bären“ draufgeknallt wurde?
       
       Dabei geht es, wie die Schrift auf einem fröhlich blauen Teddybauch
       verkündet, um nichts Geringeres als die Menschenrechte. Wie man weiß, haben
       mit Farbe bekleckerte Bärenskulpturen bei deren Durchsetzung immer schon
       große Erfolge erzielt, leider waren sie nicht zur Stelle, um schützend für
       Benjamin Spalier zu stehen, als er aus Frankreich über Spanien nach
       Portugal fliehen wollte und die faschistischen Spanier ihn nicht
       hineinließen. Dabei hätte das putzige Bärchen, das mit empört gereckten
       Tatzen „Respect for all Life“ fordert, die Nazis bestimmt total
       eingeschüchtert!
       
       So sehr ich mir auch einrede, dass die Säulengänge eigentlich ganz schön
       sind und die Wasserspiele ausgeklügelt, sträubt sich mein empfindsames
       Gemüt gegen Verniedlichung. Der Platz erinnert mich einfach an die
       Architektur des Faschismus, und das in Kombination mit infantiler
       Bärengemütlichkeit erweckt den starken Wunsch nach einem Menschenrecht auf
       Unversehrtheit vor ästhetischer Verirrung im öffentlichen Raum.
       
       „Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer
       Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist Dialektik im
       Stillstand.“ So formulierte Benjamin, als hätte er’s geahnt. Was dieser
       Zusammenprall von kalter Architektur, wild gewordenem Event und
       Namensgeberbiografie auslöst, sind mulmige Gefühle, Würgreiz und Scham. Am
       7. Januar, so hat man versprochen, ist der Spuk vorbei. Was danach kommt?
       Vielleicht eine Gartenzwergausstellung mit Panflötenkonzert, oder die
       Dinger wandern zur Einklagung der Menschenrechte in die UN-Vollversammlung
       und nach Nordkorea. Peace, Love and Understanding! Der Dialektiker wird es
       wohl verkraften.
       
       4 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Pia Frankenberg
       
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