# taz.de -- Social Scoring in China: Im Reich der überwachten Schritte
       
       > Die einen gehen bei Rot über eine Straße, die anderen gucken Pornos im
       > Netz. Chinas Behörden kontrollieren ihre Bürger – die braven bekommen
       > Prämien.
       
 (IMG) Bild: Alles schön abgesichert auf dem Tiananmen-Platz in Peking
       
       PEKING taz | Wer wagt es, sich vorzudrängeln, in der Schlange von Menschen,
       die am Schalter geduldig wartet? Wer geht bei Rot über die Ampel oder wirft
       seinen Müll einfach auf den Gehweg?
       
       Begeht man auf Pekings Straßen oder woanders in China eine dieser
       normalerweise vernachlässigbaren Sünden, wird einem schon bald klar werden:
       Es gibt keinen unbeobachteten Moment. Der Übeltäter wird für diese Vergehen
       zwar nicht eingesperrt. Aber er bekommt die Konsequenzen auf andere Weise
       zu spüren; etwa, wenn es um die nächste Beförderung geht, oder um eine
       Kreditanfrage. Dann wird der im Vorteil sein, der sich aus Sicht der
       chinesischen Regierung immer brav verhalten hat.
       
       Was die Führung derzeit vorhat, droht zum größten Volkserziehungsprogramm
       zu werden, das die Menschheit je erlebt hat. Von „Social Credit System“ ist
       die Rede, einer Art Schufa für so gut wie alle Belange des
       gesellschaftlichen Lebens. Es soll bereits 2020 eingeführt werden. Wer sich
       gut verhält, wird belohnt, für schlechtes Verhalten gibt es Strafen.
       Möglich wird das vor allem durch die rasanten Fortschritte in der
       Überwachungstechnik, bei der China inzwischen an der Spitze steht. Die
       Technik soll selbst aus einer unüberschaubaren Masse jeden Einzelnen sofort
       identifizieren können. Eine digitale Diktatur.
       
       ## Das System ist lernfähig
       
       Ein Besuch beim Start-up-Unternehmen Megvii im Nordwesten Pekings, dem
       chinesischen Silicon Valley, vermittelt einen ersten Eindruck, zu was
       moderne Technik alles fähig ist. Die Kamerasoftware im Vorführraum erkennt:
       ein Mann. Beim Alter ist sie sich erst noch etwas unschlüssig. Auf dem
       Bildschirm schwankt die Angabe zwischen 35 und 42. Doch dann pendelt sich
       die Zahl bei 38 ein. Volltreffer.
       
       Die Software vermisst zudem das Gesicht, erstellt ein Bewegungsprofil und
       merkt sich spezielle Merkmale wie Leberflecken, die Form der Ohrmuscheln
       und die Augenfarbe. Erfasst die Kamera denjenigen später erneut, spuckt die
       Software alle Daten sofort aus – dieses Mal alles korrekt. Das System ist
       lernfähig. „Wenn du vor einer unserer Kameras stehst, wissen wir sofort,
       wer du bist“, sagt Ai Jiandan aus der Öffentlichkeitsabteilung von Megvii.
       „Jedes Gesicht hat seine speziellen Merkmale.“
       
       Was in Berlin am Bahnhof Südkreuz seit vergangenem Sommer in einer
       hochumstrittenen Testphase steckt, ist in Peking Alltag. In U-Bahnhöfen,
       Einkaufszentren, auf belebten Straßen – zu Hunderten hängen die
       intelligenten Kameras an Pfeilern oder Straßenlaternen der chinesischen
       Hauptstadt und erfassen alles, was an ihnen vorbeiläuft oder -fährt. Die
       Kamera sendet die aufgezeichneten Daten an Rechenzentren, die diese
       analysieren und quasi in Echtzeit ausführliche Profile erstellen. Sie sind
       dann gespeichert und für Behörden oder private Sicherheitsfirmen jederzeit
       abrufbar.
       
       Megvii, ein Unternehmen mit inzwischen 400 Mitarbeitern, zählt private
       Sicherheitsfirmen zu seinen Kunden, Betreiber von Einkaufszentren und
       Luxuswohnanlagen. Größter und wichtigster Kunde aber ist der chinesische
       Staat. Der rüstet sicherheitstechnisch derzeit massiv auf. Wer schon mal
       negativ aufgefallen ist, könne mit der Megvii-Technik beim Betreten einer
       U-Bahn-Station sofort aufgehalten werden, erklärt Ai. Aber mehr noch geht
       es um Erziehung.
       
       ## Der Staat vergibt Noten
       
       In rund einem Dutzend Versuchsregionen, die über das ganze Land verteilt
       liegen, wird „Citizen Scoring“, die Bürgerbewertung, bereits ausprobiert.
       Dort gibt der Staat seinen Bürgern Noten. Wer zum Beispiel über das
       Internet gesunde Babynahrung bestellt, erhält Pluspunkte. Wer sich hingegen
       Pornos ansieht oder zu viel Zeit mit Computerspielen verbringt, muss mit
       Abzügen rechnen.
       
       Vorgesehen ist, dass Nutzer mit mindestens 1.300 Punkten die höchste
       Bewertung AAA erhalten. Können sie diesen Stand einige Zeit lang halten,
       sollen sie vergünstigte Kredite erhalten oder eine bessere
       Krankenversicherung. Auch bei der Vergabe von Studienplätzen könnte sich
       eine hohe Punktzahl der Eltern positiv auswirken. Wer hingegen unter einen
       Wert von 600 fällt, landet in der schlechtesten Kategorie D. Betroffene
       müssen dann sogar befürchten, ihre Jobs zu verlieren.
       
       Vergeben werden sollen die Punkte über Regierungsbehörden; die dazu – so
       der Plan – von privatwirtschaftlichen Unternehmen Zugriff auf zum Beispiel
       das Surfverhalten der Nutzer haben. Über eine Smartphone-App kann sich
       jeder über den eigenen Punktestand informieren. Zudem sollen aber neben den
       Behörden auch Banken und Arbeitgeber, Vermieter, Einkaufsplattformen,
       Reiseveranstalter und Fluggesellschaften Einsicht in die Bewertung
       erhalten. Nun, da sich die Gesichtserkennungstechnologie bewährt hat, soll
       auch das Verhalten der Bürger im Straßenverkehr, in Bahnhöfen, auf
       Flughäfen und in Einkaufszentren mit in die Bewertung einfließen.
       Gesichtsdatenbanken zum Abgleich hat der Staat längst, denn jeder
       chinesische Bürger hat einen Personalausweis mit einem biometrischen Foto.
       
       „China befindet sich im Rausch der künstlichen Intelligenz“, stellt die
       Beratungsagentur Bürger Sino Consulting mit Sitz in Berlin fest. Seitdem
       die chinesische Führung ihren „Entwicklungsplan für künstliche Intelligenz“
       vorgestellt habe, boome diese Technik in der Volksrepublik, schreiben die
       Experten. „China ist in diesem Bereich schon jetzt ein wichtiger
       Innovationstreiber und dabei größter Wettbewerber der USA.“ Europa und
       Deutschland hingegen seien im Vergleich dazu „unbedeutend geworden“.
       
       ## Belohnung für Biogemüse
       
       Auch die Konsumindustrie ist von den neuen technischen Möglichkeiten
       begeistert. Alibaba, das chinesische Amazon, betreibt mit seinem Dienst
       Sesame Credit seit einiger Zeit ebenfalls ein umfassendes Bewertungssystem.
       „Wer zehn Stunden am Tag vor dem Rechner sitzt und Videospiele spielt,
       dürfte nicht gerade sehr agil sein“, sagt Li Yingyun, Mitarbeiterin bei
       Sesame Credit. Wer hingegen häufig Biogemüse online bestelle, zeige
       Verantwortung und Gesundheitsbewusstsein. Zur Belohnung winken verbilligte
       Flugreisen und andere Vergünstigungen.
       
       Zur Teilnahme an Sesame Credit ist bislang niemand verpflichtet. Nach
       eigenen Angaben stellt das Unternehmen die Daten aber schon jetzt Behörden
       und Banken zur Verfügung. Alibaba hat die Daten von fast 800 Millionen
       Kunden gesammelt. Tencent, Betreiber des erfolgreichen chinesischen
       Kurznachrichtendienstes [1][Wechat] und die Nummer zwei unter den
       chinesischen Tech-Unternehmen, arbeitet an einem ähnlichen System. Bei
       Wechat gibt es etwa eine integrierte Zahlmöglichkeit. Jeder Geldtransfer
       wird dort erfasst – und gespeichert.
       
       Alibaba will noch einen Schritt weiter gehen. Wer künftig Geschäfte
       betritt, die mit Alibaba-Technik arbeiten, wird von den Kameras sogleich
       erfasst. Die Software merkt sich, vor welchen Kleidungsstücken die Kundin
       stehen bleibt oder was sie anprobiert. All das fließt dann in das
       Benutzerprofil ein. Online können dann noch mehr Produkte angeboten werden,
       die speziell auf die Vorlieben der Person ausgerichtet sind. Als
       Alibaba-Marketing-Chef Chris Tung diese Pläne Mitte November in Shanghai
       vorstellte, wollte eine Journalistin wissen, wie es Alibaba mit der
       Privatsphäre hält. Der Alibaba-Topmanager verstand schon die Frage nicht.
       
       ## Bonuspunkte für Linientreue
       
       Ob mit der Gesichtserkennungstechnologie, kombiniert mit der
       Bürgerbewertung, künftig auch die Linientreue überprüft wird? Möglich sei
       das, befürchtet der Pekinger Netzaktivist Wang Bo, der nicht mit seinem
       richtigen Namen genannt werden möchte. Er berichtet von der Versuchsstadt
       Rongcheng in der ostchinesischen Provinz Shandong. Wer sich dort regelmäßig
       die Website der parteinahen Volkszeitung anschaue, bekomme Bonuspunkte. Es
       dürfte nicht lange dauern, bis jemand ein kleines Programm schreibt, das
       jeden Tag für ihn die Zeitungswebsite öffnet und den wissbegierigen Bürger
       simuliert.
       
       Wer es hingegen wage, in den sozialen Medien ständig über die Missstände im
       Land zu schimpfen, bekomme Punkte abgezogen, sagt Wang. Er spricht vom
       „kommunistischen Musterbürger“, den die chinesische Führung auf diese Weise
       schaffen wolle. Worauf die Entwicklung hinausläuft, ist für ihn
       offensichtlich: „Die totale Kontrolle.“
       
       10 Feb 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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