# taz.de -- Die Wahrheit: Versunkene Bossa-Fee
       
       > Niemand tanzte, keiner flog wie er zur sanften Musik des Bim Bom einer
       > Astrud Gilberto: Jean-Pierre Cassel, der König der rhythmischen Sprünge.
       
 (IMG) Bild: Bei allen Erfolgen blieb er eine menschenscheue Leidensgestalt: João Gilberto
       
       Neulich stolperte ich beim Prokrastinieren über einen Clip der sympathisch
       großzähnigen Komponistin und Sängerin Astrud Gilberto von 1966, da war sie
       schon zwei Jahre vom Bossa-Erfinder João Gilberto geschieden, durfte aber
       noch seinen Song „Bim Bom“ interpretieren. „Bim Bom“, inspiriert von den
       Schritten der Waschfrauen, die ihre Wäsche elegant auf dem Kopf
       transportieren, ist ein Muster an entspanntem Rhythmus, und klingt so, als
       würde man sanft von einer seidig weichen Decke gestreichelt, während man
       unter einem Retro-Sonnenschirm liegt, neben einem eine Caipirinha.
       
       Nach einer Minute Bim-Bom-Bim-Bim-Bom, in der ich mich über Astruds Beehive
       freute und ihre Zähne zählte, schaut sie plötzlich wissend lächelnd zur
       Seite. Dort erscheint nämlich ein Mann in dem – bis auf ein paar Sockel mit
       moderner Kunst – leeren Studio. Er trägt Anzug, weißes Hemd und Fliege,
       aufgrund der Bildqualität kann man sein Gesicht genauso wenig erkennen wie
       die Kunst – aber wer schaut schon auf die Kunst?!
       
       Der Mann tanzt! Er fliegt! Eine Bossa-Fee im Anzug. Er hat den Rhythmus
       erfunden, gefressen und verdaut, immer exaltierter werden seine Sprünge, er
       nutzt den Raum aus, tanzt seinen Namen, poliert mit seinen glänzenden
       Schuhen den Boden und schert sich nicht darum, dass er ein bisschen
       aussieht wie Mike Myers im Vorspann zum ersten Austin-Powers-Film, in dem
       ein Flashmob zu „Soul Bossa Nova“ von Quincy Jones tanzt.
       
       Schwer beeindruckt recherchierte ich, wer der Mann ist und ob man ihn noch
       heiraten kann, allein wegen des ersten Hochzeittanzes. Aber leider handelt
       es sich um Jean-Pierre Cassel, den Vater des Schauspielers Vincent Cassel,
       der vor elf Jahren mit 85 starb. Hätte ich doch nur früher prokrastiniert!
       
       Cassel tanzte auch 1964 zu Serge Gainsbourgs akustischem Rock-’n’-Roll-Song
       „Chez les yé-yé“. In dem Clip richtet Gainsbourg die prominenten Augenringe
       in die Ferne, dahinter macht Cassel ganz allein den Swim, den Monkey, den
       Bird, den Mash Potato und den Boogaloo, als ob es kein Morgen gäbe. Und
       vielleicht gibt es auch keins: Gainsbourg holt in der Mitte des Songs, als
       Cassel gerade einen rhythmischen Pferderitt simuliert, plötzlich ein
       Klappmesser aus der Anzugtasche und hält es für den Rest des Songs in der
       rechten Hand, fuchtelt gar ein wenig herum. Will er meinem Freund Cassel an
       dessen blitzweißen Hemdkragen?! Nein, der tanzt weiter, so versunken in
       seinen Tanz-Binge, dass er das Messer nicht bemerkt.
       
       Ich weiß nicht, ob man anhand dieses subtilen Bedrohungsszenariums einen
       Rückschluss auf den meiner Ansicht nach viel zu frühen Tod Cassels ziehen
       kann. Aber ich bin mir sicher, dass ich etwas Großem auf der Spur bin.
       Etwas, in das die französische Unterhaltungsindustrie genauso verwickelt
       ist wie die Bossa-Nova-Gemeinde Brasiliens. Etwas, das mit Ausdruckstanz zu
       tun hat und mit unterdrückten Aggressionen. Wenn meine Theorie ausgereift
       ist, werde ich sie hier vortanzen.
       
       4 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jenni Zylka
       
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