# taz.de -- Ein Jahr nach dem Hochhausbrand: Grenfell Tower – Asche im Herzen
       
       > Die Untersuchung der Katastrophe von Grenfell Tower ist in vollem Gange.
       > Die Zukunft der Überlebenden und der Nachbarschaft ist völlig offen.
       
 (IMG) Bild: Der grüne Herz-Button erinnert an die furchtbare Nacht im Grenfell Tower
       
       LONDON taz | Etwas verloren stand Niles Hailstones im Korridor des alten,
       eleganten Backsteingebäudes, in welchem der Untersuchungsausschuss zum
       Grenfell Tower tagt. „Ich bin heute zum ersten Mal hier“, gestand der junge
       Aktivist der Gruppe Westway 23. Zum Auftakt hatte der Ausschuss zunächst an
       alle Toten erinnert, viele Überlebende hörten gebannt und tapfer zu, sogar
       als Warnungen kamen, dass gleich Fotos und Filme des brennenden Hochhauses
       gezeigt würden. Auf der Mission nach der Wahrheit gibt es kein Weggucken.
       
       Aber was ist die Wahrheit? Pünktlich zum Jahrestag hat ein [1][langer Essay
       im London Review of Books] Furore gemacht. Autor Andrew O’Hagan nimmt darin
       die konservative Bezirksverwaltung von Kensington and Chelsea vor vielfach
       geäußerter Kritik in Schutz – aber ignoriert seinerseits die
       jahrzehntelange Marginalisierung Nordkensingtons, die althergebrachte
       Verachtung gegenüber den Bewohnern des Stadtviertels, in dem der Grenfell
       Tower steht. Der TV-Sender Channel 4 will E-Mails des ehemaligen
       Bezirksverwaltungschefs Nick Paget-Brown gesehen haben, in denen er sich
       nach dem [2][Inferno] über den Medienshitstorm beschwert und über
       „Sprachbarrieren, Erziehungsrückstände und fehlendes Verständnis“ bei den
       Leuten lästert. „Sie, die Bewohner dort, sind wie Gangs“, soll er
       geschrieben haben.
       
       Der Wettstreit der Interpretationen wird schärfer – weil er auch die
       Schuldfrage berührt. Opferanwalt Imran Khan forderte in seiner
       Eröffnungserklärung beim Untersuchungsausschuss, dass die Möglichkeit
       institutionellen rassistischen Verhaltens der Behörden geprüft werde müsse.
       Laut Polizei sind die Bezirksverwaltung und ihre
       Wohnungsverwaltungsgesellschaft KCTMO (Kensington and Chelsea Tenant
       Management Organisation) die Einzigen, gegen die derzeit strafrechtliche
       Vorwürfe erhoben werden. Doch weder diese beiden noch irgendjemand anders
       meint, für das Inferno direkt verantwortlich zu sein.
       
       ## Woran lag es?
       
       Lag es an der Außenfassade, über die sich die Flammen hochfraßen? Der
       Hersteller sagt, er hätte lediglich die Paletten hergestellt und sei nicht
       für den Einbau verantwortlich gewesen. Lag es am Dämmstoff, der das Feuer
       weiterleitete? Der Hersteller verweist auf die Verantwortlichen des
       Baudesigns, wie Studio E und die Baufirma Rydon. Die wurden von der KCTMO
       beauftragt. KCTMO macht angeheuerte Experten und Subunternehmer
       verantwortlich, da sie selbst nicht das Fachwissen zu Außenfassaden hatte,
       und für Sicherheit sei die Verwaltung zuständig.
       
       Lag es an der möglicherweise mangelhaften Abnahme bei der
       Brandschutzprüfung des renovierten Gebäudes? Die vertraglichen Prüfer
       ließen wissen, nicht für die Außenfassaden zuständig gewesen zu sein,
       sondern nur für Innenbereiche; und sie hätten gewarnt, dass manche
       Modifizierungen die Ausbreitung eines Brandes aus einer Wohnung in eine
       andere erleichtern könnten.
       
       Die laufende Untersuchung bringt ständig neue Skandale zutage. Weder die
       neun Wohnungstüren noch die Aluminium-Polyethylen-Platten der neuen
       Außenfassade waren feuerfest. Den Platten fehlte eine Sicherheitsprüfung
       nach britischem Standard; sie wurden nur nach einem für Gebäude über 18
       Meter Höhe eigentlich nicht vorgesehenen niedrigeren EU-Standard geprüft.
       Das neue Dichtungsmaterial nährte das Feuer ebenso wie die neuen
       Fensterrahmen aus stark brennbaren Material.
       
       So konnte das durch einen [3][defekten Kühlschrank] ausgelöste Feuer in
       Wohnung 16 in kürzester Zeit die Außenfassade in Brand setzten.
       Zwischenräume innerhalb der Fassade, eine Fehlkonstruktion, schufen einen
       Kamineffekt, der das Feuer regelrecht in die Höhe zog. Rauchabsauger
       funktionierten nicht, giftiger Rauch breitete sich durch das ganze Haus
       aus, ein Feuerlift war defekt, die Wassertrockenleitung mangelhaft.
       
       ## Fehler der Feuerwehr?
       
       Handelte dann auch noch die Feuerwehr falsch? Sie riet den Bewohnern
       stundenlang, das brennende Gebäude nicht zu verlassen. Eine im
       Untersuchungsausschuss im Zeitraffer gezeigte Videomontage beweist, dass
       bereits gegen 1 Uhr 30, rund 30 Minuten nach der ersten Brandmeldung um 0
       Uhr 54, das Feuer die Dachetage erreicht hatte. Aber erst um 2 Uhr 47 gab
       es die Order zur Evakuierung des Hauses.
       
       Die Feuerwehr will aber den Einsatz der „tapferen Einsatzkräfte, die
       schwerwiegende Entscheidungen in Sekundenschnelle treffen mussten“,
       anerkannt haben und verweist auf fehlende Brandbarrieren, fehlende
       Alarmsysteme, einen fehlenden Plan für eine Massenevakuierung und weitere
       Mängel, die jegliche Erfahrung der Einsatzkräfte überschritten hätten. Aber
       laut Aussagen stand die Notrufdienststelle nicht im Kontakt mit den
       Einsatzkräften vor Ort. Zu viel Zeit und Personal soll verschwendet worden
       sein, ein Feuer zu löschen, das sich längst nicht mehr löschen ließ, statt
       einfach die Menschen zu retten, behaupten die Vertreter der Opfer. Als die
       verbleibenden Menschen dann doch durch das brennende Gebäude den Weg nach
       draußen suchten, fehlten größere Sauerstofftanks und Atemgeräte. Im
       Treppenhaus herumliegende Materialien der Feuerwehr sollen die Flucht
       erschwert haben, einige Türen zum Treppenhaus wurden von der Feuerwehr
       nicht geschlossen, was die Rauchentwicklung verschlimmerte.
       
       Eine andere Strategie der Feuerwehr hätte womöglich Menschenleben rettet
       können – dennoch bleibt die Frage, warum das Hochhaus nicht brandsicher
       war. Neue Richtlinien für Außenfassaden verlangte schon 2013 die
       Untersuchung des Brands des Londoner Lakanal-Hochhauses, der im Jahr 2009
       unter Grenfell-ähnlichen Umständen sechs Tote forderte. Doch die
       Empfehlungen wurden nicht umgesetzt. Grenfell-Richter Sir Martin Moore-Bick
       will nun Empfehlungen schon vor dem für einen Zwischenbericht vorgesehenen
       Zeitpunkt Anfang nächsten Jahres vorlegen.
       
       ## 43 Haushalte im Hotel
       
       Es gibt auch anderweitig viel zu tun. Noch immer sind 43 Haushalte aus dem
       Grenfell Hochhaus provisorisch in Hotels untergebracht, obwohl die
       Bezirksverwaltung wegen des Brands 300 Wohnungen kaufte. Von den 203
       Haushalten, die eine neue Bleibe benötigten, sind nach amtlichen Angaben
       erst 134 in neue Wohnungen gezogen.
       
       Die britische Regierung hat angekündigt, die Entfernung von brennbaren
       Außenfassaden an 300 Hochhäusern in Großbritannien zu finanzieren.
       Allerdings werden die Gelder hierfür aus dem nationalen Sozialwohnbauetat
       kommen, was bedeutet, dass deswegen weniger neue Sozialwohnungen entstehen.
       
       In Nord-Kensington selbst ist das Leben diese Woche gebannt ruhig. Auf dem
       Portobello-Flohmarkt ist die Gemeinde vollkommen unter sich. In der
       Gemeinschaftszone unter der Hochstraße Westway pflanzt eine einzelne
       Volontärin Blumen. Der Hochhausturm selbst ist inzwischen verdeckt, umhüllt
       mit einer weißen Plane, wie ein 67 Meter langes Leichentuch, auf dem ein
       grünes Herz steht und die Worte „Grenfell, für immer in unseren Herzen“.
       
       ## Ein Gemeinschaftszentrum entsteht
       
       Herzen fehlen anderswo. Nord-Kensington ist ein Jahr nach dem Inferno auf
       der Suche nach sich selbst. Die Vielfalt, Diversität und Offenheit der
       Gegend gibt es noch, und doch ist sie verletzt. Wo an der Arkade des
       Westway auf Initiative der Künstlerin Sophie Lodge Herzen angebracht waren,
       entsteht ein Gemeinschaftszentrum, finanziert vom BBC-Rundfunk – aber gegen
       den Wunsch lokaler Aktivist*Innen. „BBC Get Out!“ hat jemand auf den
       Bauzaun geschrieben.
       
       Niles Hailstones, der einen anderen Bereich besetzt hält, erklärt, was
       abläuft: „Wir mussten uns nehmen, was der afrikanisch-karibischen
       Gemeinschaft von den Verwaltern des Westway verweigert wurde“, sagt er. Die
       Westway-Stiftung plant ein kommerzielles Multimillionenprojekt , obwohl
       sie verpflichtet ist, Räume der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen.
       Hailstones ist davon überzeugt, dass rassistische Denkweisen hier
       mitspielen.
       
       Künstlerin Sophie Lodge hat ihre Herzeninstallation gerade noch retten
       können. „Wir werden sie bei den Gedenkfeiern anwenden.“ Auf ihrem neuen
       grünen Herzen im Maxilla Park steht diese Woche jedoch nicht mehr der alte
       Slogan: „ComeUnity“. Stattdessen das Wort „Remember“ – Erinnere. Mit
       staatlichen Zuschüssen wird sie bald keine Herzen mehr machen, sondern
       künstliche tropische Blumen. Ihre ersten Testblumen schmücken die
       Nachbarschaft von Grenfell.
       
       Am Donnerstag, dem Jahrestag, wird es eine Reihe von Andachten und
       Erinnerungsfeiern geben, darunter ein christlicher Gottesdienst, ein
       islamisches Fastenbrechen – es ist Ramadan, genau wie damals, als der Tower
       brannte – und der inzwischen traditionelle Schweigemarsch am Abend rund um
       den Tower herum. Landesweit soll in ganz Großbritannien mittags eine
       Schweigeminute gelten.
       
       13 Jun 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.lrb.co.uk/v40/n11/andrew-ohagan/the-tower
 (DIR) [2] /Grossbrand-in-London/!5420761
 (DIR) [3] /Ursache-fuer-Grenfell-Tower-Brand/!5424552
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Zylbersztajn
       
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