# taz.de -- Verbrechen auf Schweizerisch: Abgründe tun sich auf
       
       > Arte zeigt an zwei Freitagen „böse“ Filme nach Kriminalfällen in der
       > Schweiz: brutal authentisch – und mit Fanny Ardant.
       
 (IMG) Bild: Schwieriger Schüler: Szene aus „Tagebuch des Todes“
       
       Ein Kriminalfall, der nicht mit einer küchenpsychologisch einleuchtenden
       Erklärung auftrumpft. Der rein gar nichts anbietet, woran der Zuschauer
       sich festhalten könnte. Vielleicht wurde, wie es ja so heißt, der
       Gerechtigkeit Genüge getan, ein Urteil gesprochen. Wie im ersten von vier
       Filmen „Schockwellen“, die Arte zeigt, jetzt im Juli, während andere
       öffentlich-rechtliche Sender nur in ihren Archiven kramen.
       
       Alle Filme beruhen auf brutalen Verbrechen, wie sie so – oder so ähnlich –
       in der Schweiz verübt wurden. Die verbürgte Authentizität ist ihre einzige
       Rechtfertigung – denn sonst würde kein Sender so was produzieren, kein
       Zuschauer so was gucken.
       
       Der erste Film, „Tagebuch des Todes“: Ein gerade achtzehnjähriger Schüler
       erschießt mit der Pistole aus Vaters Kleiderschrank seine Eltern. Das wird
       nicht allzu explizit gezeigt. Unerträglich ist die Frage: Warum hat er das
       nur getan? Warum tötet ein Junge seine Eltern: „Meinen Vater, weil er ein
       armseliger Typ ist, der mich zutiefst anwidert. Meine Mutter, um ihr zu
       ersparen, als Witwe mit einem kriminellen Sohn leben zu müssen.“
       
       Immerhin hat sich der Sohn, vor der Tat, schriftlich erklärt und seine
       Aufzeichnungen an seine Französischlehrerin geschickt. Der ratlose
       Untersuchungsrichter macht ihr Vorwürfe: „Haben Sie da nichts kommen
       sehen?“ Seine Vernehmungen des Jungen sind nämlich nicht sehr ergiebig:
       „Hat Ihnen Ihr Vater irgendwann Leid angetan? Hat er Sie gedemütigt, Sie
       verprügelt? Hat er Sie sexuell missbraucht?“ „Nein. Niemals, Monsieur.“
       „Und Ihre Mutter? Hat Ihre Mutter Ihnen was angetan? Sie verprügelt oder
       Sie beleidigt?“ „Nein.“
       
       Da fällt dem Richter eben nichts Besseres ein, als der Lehrerin
       vorzuhalten, ihre Schüler mit dem Ödipus-Mythos – Vatermord! – vertraut
       gemacht zu haben. Wahrscheinlich sind es die von ihm beförderten
       Schuldgefühle, die sie dazu veranlassen, den Jungen, der sich selbst zur
       Vollwaise gemacht hat, während seiner Freigänge aus dem Gefängnis bei sich
       aufzunehmen: „Sie haben keine Angst, dass ich Sie töte?“ „Nein. Ich glaube,
       nicht. Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil Sie nur noch mich auf dieser Erde haben,
       Benjamin.“
       
       ## Ein Star
       
       Die bedauernswerte Lehrerin des bedauernswerten Jungen wird gespielt von
       Fanny Ardant, die ein so großer Star ist, dass Paolo Sorrentino sie in „La
       Grande Bellezza“ als Fanny Ardant hat auftreten lassen. Die Regisseurin
       Ursula Meier könnten Kinogänger von ihrem grotesk-schönen Film „Home“
       (2008) kennen, der von einer Familie handelt, die sich in ihrem Leben und
       Haus am Rande einer unfertigen Autobahn ziemlich gut eingerichtet hat – bis
       die Autobahn eröffnet wird.
       
       In Meiers Beitrag zur „Schockwellen“-Reihe bleibt für originelles Erzählen
       so wenig Raum wie im zweiten Film von Frédéric Mermoud, der zuvor die Regie
       bei vier Folgen der – originellen – Wiedergänger-Serie „Les Revenants“
       (deutscher Titel: „The Returned“) besorgt hat. Wollte man Mermouds Projekte
       auf einen Nenner bringen – es wäre wohl: das Abgründige.
       
       Abgründe tun sich auf in „Reise ohne Rückkehr“, zweiter Film also, wenn
       diese Reise in der Ermordung sämtlicher Mitglieder einer Sekte durch ihren
       transzendenten Schwachsinn fabulierenden Guru besteht. Oder ist es
       kollektiver Selbstmord? Um die Erörterung juristischer Fragen nach der
       Tatherrschaft geht es Mermoud aber offenbar nicht – lieber zeigt er alle
       Handgriffe des Tötens in epischer Ausführlichkeit. Ehrlich gesagt: Die
       Netflix-Documentary „Wild Wild Country“ (über die Bhagwan-Kommune in
       Oregon) ist der erhellendere Beitrag zum Thema Sekten-Irrsinn, der
       unterhaltsamere sowieso.
       
       In Henning Mankells Wallander-Krimi „Vor dem Frost“ wird aus einem
       Überlebenden des Jonestown-Massakers in Guayana 1978 mit über 900 Toten
       später ein christlich-fundamentalistischer Terrorist. Sollte es den
       „Schockwellen“ etwa darum gehen, solchem krimitypischen billigen
       Psychologisieren eine möglichst apodiktische Absage zu erteilen? Da wären
       sie nicht die Ersten. Mittwochabend, Sommerloch-Wiederholung des
       SDR-„Tatorts“ „Rot – rot – tot“ aus dem Jahr 1978 im SWR Fernsehen.
       Kommissar Lutz zu Assistent Wagner: „Irre haben kein Motiv. Bis auf das,
       was ihren Irrsinn ausmacht.“
       
       20 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Müller
       
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