# taz.de -- Biologin Juliane Filser über Ökologie und Kapitalismus: „Nachhaltigkeit müsste Schulfach werden“
       
       > Die Ökologin Juliane Filser über politisierende Forschung, die Dramatik
       > des Insektensterbens und das Falsche an Tiefkühlpizza.
       
 (IMG) Bild: Ohne Insekten, sagt Juliane Filser, „würden wir in unserem Dreck buchstäblich ersticken“
       
       taz: Frau Filser, während wir sprechen, ist es über 30 Grad warm, seit
       Wochen hat es kaum geregnet. Ist das schon Klimawandel oder noch Wetter? 
       
       Juliane Filser: Das immer extremer werdende Wetter ist natürlich der
       Klimawandel. Das Zusammentreffen von Trockenheit und Hitze über eine so
       lange Periode macht mir ernsthafte Sorgen. Selbst in Schweden brennen jetzt
       die Wälder, überall fehlt Wasser. Die Bauern klagen zurecht, dass ihr
       Ertrag drastisch sinkt, weil Getreide und Obst notreif werden. Selbst der
       Mais zeigt bei der Trockenheit schon Stressreaktionen – obwohl er als
       subtropische Pflanze Hitze gewohnt ist. Die Veränderungen machen sich aber
       auch in der Tierwelt bemerkbar: Auf Exkursionen finden wir regelmäßig
       Wespenspinnen – die gab es vor einiger Zeit noch überhaupt nicht. Sie
       wandern langsam in den Norden.
       
       Kann man gegen dieses komplexe globale Problem etwas vor Ort tun? 
       
       Die Kommunalpolitik müsste umfangreich über Wassersparmöglichkeiten
       informieren. Das ist das Allerwichtigste. Ich bekomme immer Zustände, wenn
       meine Nachbarn ihren Rasensprenger tagsüber stundenlang laufen lassen. Das
       ist komplett sinnlos, weil in der Hitze alles verdunstet. Wenn überhaupt,
       sollte man Rasen in den frühen Morgenstunden oder abends wässern, wenn es
       richtig kühl ist.
       
       [1][Das niedersächsische Stade hatte vor ein paar Wochen Probleme mit der
       Wasserversorgung] und Delmenhorst hat derzeit ähnliche Sorgen. Sollten wir
       Rasen lieber vertrocknen lassen? 
       
       Wasser ist unsere wichtigste Ressource. Wenn wir anfangen, mit Trinkwasser
       den Garten zu gießen, verschwenden wir es. Bremen etwa bekommt sein
       Trinkwasser größtenteils aus Niedersachsen und trägt damit dort zur
       angespannten Lage bei.
       
       Wie kann man besser über die Dramatik der Situation aufklären? 
       
       Ein Schulfach Nachhaltigkeit wäre dringend notwendig. Kurzfristig könnte
       man Aktionstage machen: Lasst Schulkinder doch mal erzählen, wie sie zu
       Hause Wasser sparen. Oder der lokale Versorger macht ein
       Wasserspargewinnspiel.
       
       Was würden Sie als Politikerin tun, um klimaschonende Verhaltensweisen zu
       fördern? 
       
       Mit einem Wassersparbonus ein Anreizsystem etablieren: Diejenigen, die viel
       Wasser sparen, bekommen es günstiger als Verschwender. Aktuell bekommen es
       Großverbraucher billiger – das ist absurd.
       
       Haben Sie sich durch Ihre Forschung politisiert? 
       
       Durch meine Eltern war ich schon immer politisch. Als Kind bin ich durch
       die Straßen gelaufen und habe mit dem Finger SPD in den Schnee auf den
       Windschutzscheiben geschrieben. 1982 bin ich bei den Grünen eingetreten.
       Während meines Studiums habe ich mich dann für Pflanzenschutz
       sensibilisiert. Meine Diplomarbeit schrieb ich über Hopfenmonokultur. Ich
       wohnte damals in Bayern in der Nähe von Hopfenfeldern. Die werden sehr
       häufig gespritzt mit heftigen Auswirkungen auf die Artenvielfalt: Es gab
       dort nur ganz wenig Schmetterlinge, kaum Vögel und wenig Bienen. Meine
       Proben ergaben, dass die häufig gespritzten Felder nahezu tot waren.
       Eigentlich wollte ich auch Regenwürmer untersuchen, aber leider gab es kaum
       welche. Nicht mal beim Bio-Bauern, weil der auch mit Kupfer als Fungizid
       arbeiten darf.
       
       Wie hat sich der Gebrauch von Pestiziden über die letzten Jahrzehnte
       verändert? 
       
       Die Produktion hat sich quantitativ nicht erhöht, dafür sind aber viele
       Mittel giftiger geworden. Moderne Pflanzenschutzmittel sind in der Regel
       viel toxischer als die alten. Wo ich früher einige Kilogramm pro Hektar
       genutzt habe, braucht ein modernes Gift oft nur ein Zehntel oder
       Hundertstel. Die Umweltschäden wachsen entsprechend.
       
       Die Leidtragenden sind vor allem die Insekten, oder? 
       
       Vergangenes Jahr ist die [2][viel beachtete Studie] erschienen, dass die
       Biomasse der Insekten in den letzten 30 Jahren [3][um 75 Prozent
       zurückgegangen] ist. Das ist sehr traurig. Vor 30 Jahren habe ich studiert.
       Noch heute zeige ich in Vorlesungen ein Bild aus einem Kalender vom
       Umweltbundesamt. Abgebildet ist ein Insektenkasten mit Laufkäfern. Es war
       der Schaukasten des damaligen Landwirtschaftsministers in
       Schleswig-Holstein, Bernd Heydemann, für den er 1958 gesammelt hatte. Es
       war ein wirklich reich bestückter Käferkasten. 1988, also 30 Jahre später,
       ist Heydemann noch mal an dieselben Orte gegangen, hat mit den gleichen
       Methoden Käfer für einen weiteren Kasten gesammelt: Schon damals war er
       geschrumpft auf circa 20 Prozent. Von dieser schon reduzierten Menge hatten
       wir in den letzten 30 Jahren noch mal einen Rückgang um 75 Prozent – das
       ist ein Drama.
       
       Wie haben Sie reagiert, als Sie das erste Mal von dieser neuen Studie
       hörten? 
       
       Ich habe wirklich Panik bekommen. Als ich das in der Vorlesung erzählt
       habe, war ich den Tränen nah. Wir leben von Insekten. Ohne sie ist es aus,
       und zwar ganz schnell. Und ich rede nicht nur von Bienen – die sind ja nur
       das Kuscheltier unter den Insekten –, ich rede von all denen, welche die
       unsichtbare Drecksarbeit tun. Die das abgestorbene Laub, Aas und Kot
       verwerten. Das geht alles nicht ohne Insekten. Ohne sie würden wir in
       unserem Dreck buchstäblich ersticken.
       
       Inwiefern beeinträchtigt das Insektensterben auch andere Arten? 
       
       Alles würde zusammenbrechen. Insekten sind die Hauptnahrungsquelle von
       Vögeln, auch Säuger, Fische und Amphibien ernähren sich von ihnen. Es geht
       alles Hand in Hand, auch das ist längst publiziert, wird aber konsequent
       kleingeredet. Nachtigallen höre ich hier kaum noch. Letztes Jahr war ich
       auf einer Halbtagsexkursion, wo wir kaum noch irgendwelche Allerweltsvögel
       singen hörten.
       
       Was müsste sich ändern? 
       
       Die gesetzlichen Testverfahren für Pflanzenschutzmittel haben große Lücken.
       Mittel werden nur an einzelnen Arten getestet: Es wird zum Beispiel
       geprüft, wie Algen auf Gift reagieren. Dabei wird ignoriert, wie sich das
       Mittel auf dritte Arten auswirkt – etwa wenn andere Lebewesen die
       behandelte Pflanze fressen. Die Risiken solcher Wechselwirkungen sind
       dramatisch unterschätzt. Zudem wird immer nur ein Wirkstoff getestet. In
       der Realität wendet der Bauer aber nicht nur ein Pestizid an, sondern
       mehrere. Wir haben da draußen eine giftige Cocktail-Suppe.
       
       Wie viel Schuld geben sie der chemischen Industrie? 
       
       Sie kämpft mit extrem harten Bandagen: Oft werden Daten zurückgehalten,
       KritikerInnen drangsaliert. Es geht nur um Profite. Und damit sind wir beim
       Grundproblem: dem Kapitalismus. Der ist krank. Ich bin keine Marxistin,
       sondern Naturwissenschaftlerin – ich kann rechnen. Der Kapitalismus geht
       nicht auf: Er funktioniert nur bei ständigem Wachstum, einem größer
       werdenden Markt und Bevölkerungszunahme. Das macht aber den Planeten leer.
       So einfach. Wer nachhaltig denkt, muss sich vom Kapitalismus verabschieden.
       
       Wie sollten wir als Konsumenten damit umgehen? 
       
       Unser Lebensstil – das ständige Fliegen in den Urlaub, Autofahren und
       häufiger Fleischkonsum – tun weder dem Klima gut noch den Rohstoffen. Wir
       sollten möglichst wenig Produkte kaufen, die mit viel Wasser hergestellt
       werden, biologische und regionale Produkte selber kochen und keine
       Tiefkühlpizza essen. Bio-Obst bringt viel und spart jede Menge Pestizide.
       Ich dachte immer, Hopfen ist die Giftküche schlechthin, da wird zwölf bis
       14 Mal pro Jahr gespritzt. Aber Obstbauer spritzen ihre Plantagen bis zu 40
       Mal im Jahr. Äpfel im Supermarkt sehen nur schön aus.
       
       Aber wer soll sich ausschließlich Bio leisten können? 
       
       Wir müssen uns auch davon verabschieden, bei Lebensmitteln zu sparen. Es
       ist gesünder, weniger und qualitativ besser zu kaufen.
       
       Erzählen Sie das mal einem Sozialhilfeempfänger. 
       
       Aber dann möchte ich auch deren Kühlschrank sehen. Das sind nämlich genau
       die Leute, die den ganzen verarbeiteten Dreck kaufen.
       
       Weil er günstig ist. 
       
       Eine Tiefkühlpizza ist nicht günstig. Wissen Sie, wie viel Pizzen ich von
       einem Kilo Mehl und zwei Dosen Tomaten machen kann? Entschuldigung, aber
       ich brauche auch keine Chipstüten und diesen ganzen Mist! Ich kann auch
       Leitungswasser anstatt Zuckerwasser trinken. Diese permanente Grillerei ist
       doch irrwitzig. Natürlich verdiene ich gut. Aber ich bin sehr arm
       aufgewachsen und weiß, was es heißt, kein Geld zu haben. Meine Mutter hat
       mit 15 Mark die Woche gewirtschaftet. Wir haben trotzdem vernünftig
       gegessen – komisch, es geht. Bei uns gab es keine Fertigprodukte und wir
       haben nur einmal die Woche Fleisch gegessen.
       
       Und wie bekommt man die Industrie in den Griff? 
       
       Ich bin eine Freundin von Anreizsystemen. Ich will kein Feindbild der
       Industrie aufbauen, von Feindschaften kann man nicht leben. Die chemische
       Industrie hat ja auch nichts von kaputten Böden, sodass sie nichts mehr
       produzieren kann. Wir müssen Allianzen schmieden und gemeinsam fragen: Wie
       können wir dafür sorgen, dass ihr leben könnt, gleichzeitig aber auf
       Wachstum verzichtet?
       
       Haben Sie schon mit der Industrie zusammengearbeitet? 
       
       Ja, in mehreren Projekten zu Nanopartikeln. Es ging ganz darum, was man für
       umweltfreundlichere Produkte tun kann. Ein Schmierstoffhersteller hat nach
       unserer Forschung einen hochgiftigen Bestandteil seines Produkts mit einem
       unbedenklichen ausgetauscht.
       
       Haben Sie das Gefühl, mit Ihrer Forschung durchzudringen? 
       
       Die Frage nach der politischen Wirksamkeit treibt mich tatsächlich um. Wir
       müssen nicht zum hundertsten Mal belegen, dass etwas falsch läuft und der
       Klimawandel existiert. Ich will, dass sich jetzt was ändert. Ich will in
       mehr Gremien kommen, in denen man etwas bewirken kann. Ich habe ja auch
       schon in der EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit gesessen – dort schafft
       man Fakten. Unsere letzte Publikation zu Pflanzenschutzmitteln, [4][„Der
       stumme Frühling“], war ein erster Schritt – sie war in allen großen Medien,
       die EU-Kommission hat sie in ihrer Stellungnahme zitiert. Natürlich würde
       ich auch nicht Nein sagen, wenn mich ein Konzern bitten würde, in seinen
       Aufsichtsrat zu gehen. Mit einer wertschätzenden Aufmerksamkeit kann man
       mit vielen Akteuren etwas bewirken.
       
       29 Jul 2018
       
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 (DIR) [1] /Folgen-der-Hitze-in-Niedersachsen/!5505990
 (DIR) [2] http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371%2Fjournal.pone.0185809
 (DIR) [3] /Studie-zu-Artensterben/!5453844
 (DIR) [4] https://www.presseportal.de/pm/16070/3952113
       
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