# taz.de -- Buchprojekt: „Wie ich wurde, wer ich bin“: Meine Geschichte erzähle ich selbst
       
       > Als könnten sie nicht selbst erzählen, wird meist über und nicht mit
       > Menschen mit geistiger Behinderung gesprochen. Ein Buchprojekt macht es
       > endlich anders.
       
 (IMG) Bild: „Ich kenne viele Menschen, weil ich immer hilfsbereit und lustig bin“, sagt Hildegard Wittur, hier in ihrer Wohnung
       
       Seit über 20 Jahren arbeitet David Permantier als Sozialarbeiter mit
       lernbehinderten Menschen im betreuten Einzelwohnen der Lebenshilfe in
       Kreuzberg und früher auch in anderen Bezirken. Er unterstützt sie nach
       individuellem Bedarf im Alltag und in den verschiedensten Lebenslagen, das
       reicht von der Unterstützung in der Haushaltsführung über die Organisation
       einer Tagesstruktur bis hin zur Begleitung in Krisen und bei
       gesundheitlichen Problemen. Aufgefallen ist ihm bei seiner Arbeit vor allem
       eines: „Es gibt zu jedem Klienten Berge von Berichten. Sie sollen einen
       Menschen beschreiben, Lebensdaten werden gelistet, Stationen aufgeführt und
       das Verhalten analysiert.“
       
       Zahlen, Daten, Fakten: Nur ansatzweise, sagt Permantier, wird nach dem
       Studium der Akten etwas vom gelebten Leben nachvollziehbar. Und wie es den
       Menschen formt.
       
       Im Gespräch ergibt sich ein ganz anderes Bild. Das betrifft auch den
       Sozialarbeiter selbst: „Ich verstehe mich als Vermittler zwischen Klient
       und Umfeld. Auch wir müssen uns erst kennenlernen – denn auch unsere
       Lebenswelten berühren sich kaum.“
       
       Wieso kommen die sogenannten geistig Behinderten kaum vor, nach allem, was
       sie in den Versuchs- und Tötungsprogrammen der Nazis erleben mussten? Sie
       werden in Heimen versorgt, in Ämtern verwaltet. Die meiste Zeit wird nicht
       mit ihnen, sondern über sie geredet wird. Permantier will genau erfahren,
       wer seine Klienten sind, was sie beschäftigt, wie sie denken. Er entwickelt
       einen Fragenkatalog, führt Interviews, will die individuelle Sicht
       darstellen und anderen zugänglich machen. Die Arbeit an den Texten wird
       durch die jeweiligen Bezugsbetreuer begleitet.
       
       ## Biografien von Menschen, die behindert wurden
       
       Ist der behinderte Blick ein anderer? Das Buch ist eine wichtige Lektüre
       für die ganze Gesellschaft. „Als professioneller Unterstützer hast du es in
       der Regel mit zwei Vorurteilen zu tun. Das eine lautet: „Ihr trinkt die
       ganze Zeit Kaffee.“ Das andere: „Das könnte ich ja nicht, mit so Leuten
       arbeiten.“
       
       Beides zeige ihm, wie separiert Menschen leben müssen. Der Buchtitel „Wie
       ich wurde, wer ich bin. Biografien von Menschen, die behindert wurden“
       kündet davon, wie normal Ignoranz und Exklusion sind. Und überhaupt: Ist
       Behinderung nicht zum Teil Ansichtssache? Der Mann auf dem Cover des Buches
       will mit auseinandergebreiteten Armen fliegen – wer kann das schon? Aus der
       Position des Vogels etwa sind alle Menschen behindert.
       
       Unterstützung für seine Projektidee bei der Suche nach Fördermitteln sowie
       bei der Auswahl findet er bei Georg Engel von [1][Zukunftssicherung Berlin
       e. V. für Menschen mit geistiger Behinderung]. Die Aktion Mensch finanziert
       das Biografieprojekt mit 5.000 Euro.
       
       Wer sind die Menschen, die hier schreiben? Sie sind Teil des Lebens des
       Sozialarbeiters. Zum Beispiel Hildegard Wittur (siehe Foto oben), Kind von
       alkoholkranken KZ-Überlebenden; Permantier begleitet sie seit 25 Jahren als
       Betreuer. Sie ist Mitglied jener Kunstwerkstatt, die Permantier im Auftrag
       der Berliner Lebenshilfe leitet.
       
       ## Die Erzähler stammen aus Ost und West
       
       Kersten Wolter war Permantiers erster Klient überhaupt. Er fasst sein
       Leben, geprägt von der Knute der strengen Großmutter, so zusammen: „Ich war
       einfach nicht so, wie sie es gerne gehabt hätte, da half keine Prügel.“
       
       Oder Eva Müller, die von der Zukunftssicherung betreut wird: Sie inszeniert
       sich auf dem Autorenfoto als Freiheitsstatue: „Bei meiner Geburt waren
       meine Hände zusammengewachsen und ich hatte ein Loch in der
       Herzscheidewand.
       
       Die Geschichten ihrer Behinderungen, Beziehungen, und Arbeit bilden auch
       ein Ausschnitt der Berliner Zeitgeschichte ab: Die Erzähler stammen aus Ost
       und West. „Sie zeigen, wie unser Leben in unterschiedlichen Systemen unter
       verschiedenen Bedingungen funktioniert“, sagt Permantier.
       
       Das Buch – ein Verlag wird noch gesucht – lässt Menschen von ihren Kämpfen
       und Träumen berichten. Es soll Einblick geben in jene Welten, die sich
       hinter den Zuschreibungen der „geistigen Behinderungen“ verbergen.
       
       Dieser Text ist Teil eines mehrseitigen Schwerpunktes mit drei der neun
       Biografien von Menschen, die behindert wurden – in der taz.berlin am
       wochenende vom 11./12. August 2018.
       
       11 Aug 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.zukunftssicherung-ev.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Kiontke
       
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