# taz.de -- Abschied von Angela Merkel: Wo alles begann
       
       > Ihren ersten Wahlkampf startete Angela Merkel 1990 in einer Fischerhütte
       > auf Rügen. Was ist davon geblieben?
       
 (IMG) Bild: Merkel und die Fischer, 1990, Rügen
       
       RÜGEN/STRALSUND taz | Ein paar Vögel piepsen, mürrisch, als wüssten sie,
       dass es jetzt doch kalt wird und es wirklich kein Zurück mehr gibt, kein
       Zurück vom Herbst. Die Blätter leuchten so sattrot und golden, als seien
       sie in Farbtöpfe gehängt worden und noch nicht getrocknet. Das Wasser des
       Dänholmkanals schwappt sachte an die schmalen Fischerboote. Und der Kleine
       Dänholm, dieses zwischen Stralsund und der Insel Rügen eingehegte
       Erdkissen, ruht in der Sonne. An diesem Kleinen Dänholm gibt es ein Museum,
       dort steht die Replik einer Fischerhütte.
       
       [1][Das Original stand einst ganz in der Nähe.] Vor 28 Jahren, am 2.
       November 1990, öffnete Angela Merkel die Tür dieses Fischerschuppens in
       Lobbe, Südost-Rügen. Es war kühler, stürmischer, nebliger als im November
       2018. Und abgesehen davon war alles ganz anders. Merkel zog in ihren ersten
       Wahlkampf, sie kandidierte in der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl für
       den Wahlkreis „Stralsund-Rügen-Grimmen“, den ihr Parteifreunde verschafft
       hatten. Sie, die 36-Jährige aus Templin, Brandenburg, wohnhaft in Berlin,
       wollte nun also dieses Fleckchen Welt erobern.
       
       [2][Das Foto, das an diesem Tag entstand], wurde berühmt. Auch, weil es,
       wie man nun weiß, ikonografisch für die Kanzlerschaft von Angela Merkel
       steht. Sie sitzt in weißem T-Shirt, lila Strickjahre und Jeansrock im
       seitlich hereinbrechenden Licht, um sie herum fünf Fischer in blauer
       Arbeitskluft, mit schweren Schuhen, Seemanns- oder Wollmützen auf dem Kopf.
       Sie schauen aus dem Fenster oder in die Luft. Die Besucherin klammert sich
       an ein Schnapsglas, zwei Gläser soll sie an diesem Tag getrunken haben.
       Unbeholfen wirkt sie, passiv, doch auch so, als würde sie das nicht im
       geringsten stören. Merkel soll sachlich interessiert gewesen sein,
       berichten die Fischer anschließend, sie habe viel nachgefragt, nachgehakt,
       zugehört, keine Meinungen geäußert. Ein Stil, den sie immer bewahrt hat.
       
       Einer der Fischer sagte Jahre später über Merkels Besuch: „Sie hat den
       Eindruck gemacht, als wenn sie uns verstehen würde.“ Sie honorierten das
       und wählten Merkel. Gleich in der ersten gesamtdeutschen Wahl erreichte sie
       48,5 Prozent der Erststimmen. Dann folgten sieben Wahlperioden. In jeder
       einzelnen gewann sie, einmal mit mehr als 50 Prozent der Stimmen. „Das ist
       meine politische Heimat“, sagte sie mal.
       
       In dieser Heimat waren Fischerhütten einst an jedem Strand zu finden, als
       Lager für Fanggeräte und Zubehör. Heute gibt es kaum noch welche. Und
       Angela Merkel gibt den CDU-Vorsitz frei, nach 18 Jahren. Die Lokalpolitiker
       der Insel hatten eine verlässliche und immer mächtigere Ansprechpartnerin
       auf Bundesebene, seit 2005 sogar einen direkten Draht ins Kanzleramt. Seit
       nunmehr 13 Jahren.
       
       Aber nicht mehr lange, höchstens noch drei Jahre. Und der Fischerschuppen
       in Lobbe auf Rügen, er wurde im vergangenen Jahr abgerissen.
       
       Am Kleinen Dänholm ist das Abbild des Schuppens die erste Attraktion beim
       Rundgang durchs Nautineum, das Exponate der Fischerei zeigt. Waagerecht
       genagelte Bretter, verblichenes Rot, offenstehende Türen. Und darin
       Gegenstände, die schon da waren, als die Kanzler noch nicht Schmidt, Kohl,
       Schröder oder Merkel hießen, sondern Ebert, Scheidemann, Stresemann und von
       Papen.
       
       Im Schuppen riecht es nach Ölzeug und Teer. Man kann sie sich gut
       vorstellen, die Fischer, die herumeilen zwischen ihrem Fangzeug, den
       gusseisernen Bottichen, dem Schnaps. Netze und Seile hängen von der Decke,
       eine Fischerhose über einem Balken, ein Fischerschlitten steht in einer
       Ecke, und unter dem kleinen Fenster ein Tisch. Über und über bedeckt mit
       Zeitungen, DDR-Büchern, Bierflaschen. Das berühmte Foto von Merkel und den
       Fischern, es hängt an der Innenseite einer Schranktür.
       
       ## Sie blieb einfach sitzen
       
       Und sogar jetzt, ohne Fischer, wird einem schnell klar, wie fremd man sich
       hier fühlen kann. Wie naiv und unwissend, nichtsahnend von den Sorgen der
       Männer, die von diesem Geschäft leben müssen, nur im Klaren darüber, wie
       wenig man hierhergehört. Doch Merkel erwies sich schon damals als uneitel
       und stoisch, sie blieb einfach sitzen und passte so auch irgendwie zu den
       Rügener Fischern. Diese hatten sich mehr von dem direkten Draht zur
       Kanzlerin erhofft: Zur Zeit der Wende gab es 2.000 Fischereibetriebe auf
       Rügen, heute sind es kaum mehr 100.
       
       Indes fungierte Merkel wie ein Scheinwerfer, der Vorpommern besonders hell
       ausleuchtete. Auch, weil Großereignisse wie der G8-Gipfel 2007 in
       Heiligendamm, ein Barbecue mit US-Präsident Bush 2006 in Trinwillershagen
       und der Besuch von Prinzenpaaren, Königen und Königinnen an der Ostseeküste
       stattfanden.
       
       Eine, die bei all diesen Ereignissen dabei war, ist Andrea Köster,
       langjährige Bürgermeisterin von Bergen auf Rügen und bis heute
       Kreistagspräsidentin. Angela Merkel hat sie zu der Zeit kennengelernt, als
       diese mit den Fischern in der Hütte saß. Sie sagt, Merkel sei mehr als eine
       Parteifreundin. „Ihr wird oft vorgeworfen, herzlos zu sein, aber das ist
       nicht so. Sie hat mich während meiner Scheidung unterstützt. Sie hat ein
       großes Herz.“
       
       Die frühen 1990er Jahre hat Andrea Köster als „unheimlich spannende“ Zeit
       in Erinnerung, in der viel möglich war. In Vorpommern wurden
       Verkehrsprojekte sicher eine Spur schneller umgesetzt als anderswo: die A20
       oder die Rügenbrücke, auch der Bau eines Medienzentrums. Und Andrea Köster
       saß beim Besuch des US-Präsidenten plötzlich mit First Lady Barbara Bush am
       Tisch.
       
       ## „Merkel weiß nichts von uns “
       
       Den Rückenwind der Kanzlerin, den hat auch Burkhard Lenz gespürt, der seit
       2006 für die CDU im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern sitzt. Im Hafen von
       Lauterbach, im Südosten von Rügen, liegt sein Ausflugsschiff „Julchen“. Mit
       ihm fährt er Touristen auf die unter Naturschutz stehende Insel Vilm, führt
       Touren zu Honeckers einstigem Ferienhaus. Drei, vier Mal im Jahr kam Merkel
       in ihren gemeinsamen Wahlkreis, mit ihr besuchte er Betriebe und
       Kindergärten, schüttelte Hände und lächelte in Kameras. „Sie hat für uns
       hier gekämpft“, sagt er, „dass das wegfällt, werden wir deutlich zu spüren
       bekommen.“ Die Insel hat nicht einmal 70.000 Einwohner, über die Jahre habe
       sie gefühlt fast jeder mal getroffen.
       
       Zwei von denen, die Merkel immer nur von Weitem gesehen haben, schlendern
       an diesem Nachmittag durchs Nautineum am Kleinen Dänholm. Sie wollen
       unerkannt bleiben, es sind Kathi und ihr Bruder, beide etwa Mitte 40, beide
       auf Rügen aufgewachsen. Sie lebt noch immer auf der Insel, er ist
       weggezogen. Kathi sagt, es sei Blödsinn, dass sie die Rügenbrücke nur wegen
       Merkel bekommen hätten. „Die da oben wissen doch überhaupt nicht mehr, wie
       es auf der Insel Rügen aussieht. Merkel weiß nichts über uns, ihr Volk.
       Wenn sie mal hier war, kam sie mit dem Hubschrauber, dinierte in einer
       schicken Villa in Binz, winkte zweimal ins Volk und war weg.“ Nichts wüsste
       sie davon, für welchen Hungerlohn manche auf der Insel schuften, welche
       Umwege sie manchmal fahren müssten.
       
       Und dann sagt Kathi: „In dieses Vakuum, das CDU und SPD hinterlassen haben,
       ist die AfD gestoßen.“ Eine Alternative für viele, aber bestimmt nicht für
       sie, sagen die Geschwister. Aber ja, die Stimmung gegenüber Merkel sei
       gekippt, doch zum Glück auf Rügen nicht so sehr wie etwa auf Usedom. Auch
       Andrea Köster sagt, dass Merkels Popularität verhindert habe, dass die AfD
       auf Rügen eine größere Rolle spiele.
       
       Und Landrat Burkhard Lenz meint, selbst 2016, als die „Flüchtlingskrise“
       schon ihren Namen hatte, habe man sie in Göhren, unweit der Fischerhütte,
       in der alles begann, noch mit Jubel empfangen. „Allerdings“, gibt Lenz zu,
       „auch auf Rügen gibt es in der Flüchtlingsfrage einen Riss. Die Leute
       stehen entweder hinter Merkels Haltung oder lehnen sie ab. Differenzierte
       Töne gibt es nicht.“
       
       Das Nautineum am Kleinen Dänholm geht jedes Jahr zum 1. November in die
       Winterpause. Wenn es im Mai 2019 wieder öffnet, ist nicht nur die
       Fischerhütte Geschichte.
       
       2 Nov 2018
       
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