# taz.de -- Ein Jahr nach dem Mord in Kandel: Wenn der Mob sich durchsetzt
       
       > Ein Mordfall in Kandel vor einem Jahr rüttelte die Medienlandschaft auf.
       > Es zeigte sich, dass Redaktionen sich von Rassist*innen beeinflussen
       > lassen.
       
 (IMG) Bild: Immer wieder gab es in Kandel Demonstrationen und Gegenkundgebungen. So auch im September 2018
       
       In einer kleinen Gemeinde im Südwesten soll am Donnerstag eines
       schrecklichen Verbrechens gedacht werden. Im pfälzischen Kandel wollen sich
       Rechtsextreme, Linke, Unpolitische und jene versammeln, die einfach nur
       trauern wollen. Die Realität ist kompliziert, selbst in einer Kleinstadt.
       Aber als der Mord in Kandel vor einem Jahr passierte, musste die Realität
       für alle plötzlich ganz einfach sein.
       
       Am 27. Dezember 2017 verschickte das Polizeipräsidium Rheinpfalz eine
       Meldung über ein Tötungsdelikt in Kandel. Dort hatte offenbar ein
       15-Jähriger eine Gleichaltrige in einem Supermarkt erstochen. Auf
       juristischer Ebene ist der Fall seit September abgeschlossen: [1][Der Täter
       wurde zu achteinhalb Jahren Haft wegen Mordes verurteilt], das Urteil ist
       rechtskräftig. Für die öffentliche Debatte aber hatte das Ereignis
       Auswirkungen, die ein Jahr später nicht zu den Akten gelegt werden können –
       weil sie subtiler sind.
       
       Denn die Ereignisse in Kandel markierten den Tag, an dem die Tagesschau
       sich gegenüber einer wütenden Masse an Social-Media-Nutzerinnen
       [2][rechtfertigte] – dafür, dass sie das Thema nicht aufgegriffen hatte.
       Und das, obwohl es sich erstens um ein Thema handelte, das in die regionale
       Polizeiberichterstattung gehörte, und zweitens, weil die Hauptsendung der
       Tagesschau zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ausgestrahlt worden war.
       Doch die anonymen Stimmen im Netz forderten Schlagzeilen, weil der
       Tatverdächtige Afghane war.
       
       Es war das Ereignis, das zeigte, dass Redaktionen in Deutschland sich in
       ihrer Arbeit von Rassist*innen beeinflussen lassen. Denn Kandel wurde zum
       überregionalen Thema. Und das, obwohl viele andere sogenannte
       „Beziehungstaten“ zur gleichen Zeit in den Spaltenmeldungen der
       Lokalblätter verblieben waren. Als Beziehungstaten werden Gewalttaten
       bezeichnet, deren Motiv mit einer Beziehung zusammenhängt, etwa Eifersucht
       oder Demütigung – in Abgrenzung zu politisch motivierten Taten oder etwa
       Raubmorden. Beziehungstaten werden in der Berichterstattung in der Regel
       als weniger relevant eingestuft.
       
       Kandel bestätigte, dass das Gespenst der „Willkommenskultur“ Redaktionen in
       die Defensive gerückt hat. „Wir waren 2015 zu einseitig frohgemut“, lautet
       rückblickend die Bewertung. [3][Auch Studien behaupten das], wenngleich mit
       Einschränkung. Medien hätten das Narrativ „Wir schaffen das“ unkritisch
       übernommen, hätten zu sehr an Geschichten von klatschenden
       Begrüßungskommitees und interkulturellen Nachbarschaften gehangen und zu
       wenig die Schwierigkeiten steigender Geflüchtetenzahlen betont.
       
       Ob das so pauschal stimmt, darf bezweifelt werden und lässt sich nicht
       belegen. Natürlich gab es von Anfang an die zweifelnden Stücke, die Texte,
       die die Integrationsfrage stellten oder anmerkten, dass ein Sozialstaat,
       der längst dabei ist, sich dramatisch zu verkleinern, sicher nicht einfach
       so tausende Geflüchtete versorgen kann, jedenfalls nicht ohne eine
       politische Vision. Aber war die Gesamt-„Stimmung“ der Berichterstatung
       dennoch zu optimistisch? Das liegt letztlich in der Wahrnehmung jeder
       Einzelnen.
       
       Und doch hat die Angst, man konstruiere vom Newsdesk aus eine liberale
       Multikulti-Scheinrealität, sich festgesetzt. Der Vorwurf, man schwinge sich
       dazu auf, das Volk zu einem besseren zu erziehen, verunsichert. Also
       begegnen Redaktionen dem durch die Konstruktion einer Gegenrealität.
       Nachrichtenagenturen und einzelne Zeitungen bedienen das Bedürfnis nach
       nationalistischer Einordnung damit, dass sie neuerdings die Herkunft von
       [4][Tatverdächtigen immer nennen], was früher wegen des
       Minderheitenschutzes unüblich war. Die Polizeidienste verfahren ähnlich,
       wie die Badische Zeitung neulich recherchierte. Die Polizeidirektion Weil
       am Rhein publiziert nämlich auf einmal [5][viel mehr Meldungen über
       illegale Grenzübertritte], obwohl diese zurückgehen. Begründung: „Die
       Anzahl der Pressemitteilungen wurde dem öffentlichen Interesse angepasst“.
       Gegenrealität.
       
       Das theoretische Argument, dass Medien immer ein Stück weit subjektiv
       arbeiten und nicht erst seit drei Jahren, dass nicht eine Redaktion alleine
       für Objektivität sorgen kann, sondern nur alle im Zusammenspiel miteinander
       – dieses Argument ist wenig hilfreich, weil es denen in die Hände spielt,
       die Realitätskonstruktion vorwerfen. Jenen gut organisierten Rassist*innen
       also, die ihre Wunschrealität im Netz durchboxen.
       
       Ähnliche Fälle wie Kandel hat es längst gegeben und wird es vielleicht
       wieder geben. Niemand behauptet, dass nicht berichtet werden darf. Aber
       groß? Wie überstürzt? Und für welches Publikum? Für Kandel braucht man sich
       diese Fragen nicht mehr zu stellen. Kandel hat längst die Bedeutung, die es
       nicht verdient.
       
       27 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Urteil-wegen-Mordes-an-Ex-Freundin/!5529922
 (DIR) [2] /Berichterstattung-zum-Totschlag-in-Kandel/!5473781
 (DIR) [3] /Berichterstattung-ueber-Fluechtlingskrise/!5434399
 (DIR) [4] /Kolumne-Gehts-noch/!5470616
 (DIR) [5] https://www.badische-zeitung.de/die-weiler-bundespolizei-hat-anfang-2018-illegale-einreisen-haeufiger-gemeldet-obwohl-es-weniger-wur
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Weissenburger
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kandel
 (DIR) Messerangriff
 (DIR) Frauenmord
 (DIR) Schwerpunkt Femizide
 (DIR) Kandel
 (DIR) Rechtstextreme
 (DIR) Rechtstextreme
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Kandel
 (DIR) Kandel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Rechte Dauerdemonstrationen verboten: Kandel ist wieder nur eine kleine Stadt
       
       Mehr als ein Jahr lang besuchten Rechtsextreme den pfälzischen Ort. Endlich
       sind die Rechten verschwunden. Gestoppt hat sie eine Baustelle.
       
 (DIR) Rechtsextreme Szene im Allgäu: Grüne Wiesen, brauner Sumpf
       
       Sebastian Lipp beobachtet auf dem Blog allgaeu-rechtsaussen Rechtsextreme
       im Allgäu. Dort agiert Bayerns größte Nazi-Kameradschaft.
       
 (DIR) Rechtsextreme Demo in Fulda: Fackelmarsch der Neonazis
       
       Rechtsextreme instrumentalisieren die Toten der alliierten Bombenangriffe
       in Fulda. Am 16. Februar ist ein weiterer Fackelmarsch geplant.
       
 (DIR) Rassismus in den Medien: Eine Frage der Relevanz
       
       In Sankt Augustin hat ein Mann mutmaßlich eine 17-Jährige ermordet. In der
       Berichterstattung spielt vor allem seine Nationalität eine Rolle.
       
 (DIR) Urteil wegen Mordes an Ex-Freundin: Kandel soll zur Ruhe kommen
       
       Der Mord an der 15-jährigen Mia machte die rheinland-pfälzische Stadt
       Kandel zum rechten Wallfahrtsort. Nach dem Urteil soll das vorbei sein.
       
 (DIR) Urteil nach Mord in Kandel: Acht Jahre und sechs Monate Haft
       
       Eine 15-Jährige wurde kurz nach Weihnachten in Kandel erstochen. Der Fall
       löste bundesweit Debatten aus. Jetzt wurde ihr Ex-Freund wegen Mordes
       verurteilt.