# taz.de -- Europäische Fluchtgeschichte(n)
       
       > Warum es sich in Zeiten globaler Migrationsbewegungen lohnt, auf die
       > Hugenotten zurückzublicken, erklärt der Historiker Alexander Schunka im
       > Interview und auf dem taz lab
       
 (IMG) Bild: Am 18.10.1685 flüchten 50.000 Hugenotten nach Brandenburg
       
       Interview Vincent Bruckmann
       
       taz am Wochenende: Herr Schunka, in Ihrem Buch reden Sie von „der
       bedeutendste Migrantenruppe der Vormoderne“. Wer waren die Hugenotten? 
       
       Alexander Schunka: Die Hugenotten sind die Protestanten Frankreichs. Dort
       hat es auch eine Reformation gegeben, aber anders als in Deutschland: In
       Frankreich sind seit dem 16. Jahrhundert die protestantischen Bewohner und
       Bewohnerinnen immer stärker unter Druck geraten. Viele haben sich im Laufe
       des 17. Jahrhunderts zur Emigration in die Nachbarländer entschlossen. Man
       geht von etwa 200.000 Migranten aus, die sich damals über Europa verteilt
       haben.
       
       Was ist das Europäische an der Fluchtgeschichte der Hugenotten? 
       
       An den Hugenotten sehen wir: Migration ist nicht allein ein aktuelles
       Phänomen. Migranten und Migrantinnen haben bestimmte Wünsche, Probleme,
       Ansprüche, Erwartungen – Aufnahmegesellschaften auch. Die Hugenotten sind
       nicht überall willkommen gewesen. Außerdem handelt es sich hier um eine
       grenzüberschreitende Diaspora in unterschiedlichen europäischen Ländern und
       auch über Europa hinaus.
       
       Was erhofften sich die Aufnahmeländer und die Hugenotten voneinander? 
       
       Die Geschichte der Hugenotten ist voller Mythen. Zum Beispiel, dass es sich
       um standhafte Protestanten gehandelt hat, die bei Nacht und Nebel,
       Frankreich entfliehen mussten und dann von toleranten Fürsten aufgenommen
       wurden, die von dem wirtschaftlichen Know-how der Hugenotten profitiert
       hätten. Aber es ist alles ein bisschen komplizierter. Jede Seite hatte
       bestimmte Interessen. Der Kurfürst von Brandenburg zum Beispiel hatte die
       Absicht, nach dem Dreißigjährigen Krieg sein verwüstetes Land zu bevölkern
       und seine Konfession gegenüber den vielen Lutheranern in der Bevölkerung zu
       stärken. Damit wollte er sich auch international als Schützer der
       Protestanten darstellen.
       
       Haben sich die Erwartungen erfüllt? 
       
       Der Kurfürst Brandenburg-Preußens hat nicht nur die wirtschaftlich potenten
       Zuwanderer bekommen, die er sich erhofft hat. Ein großes Problem in der
       Hugenotten-Forschung wie auch heute: Migration wird sehr oft nach Nutzen
       und Schaden klassifiziert. Das heißt, dass man Migrantinnen und Migranten
       in nützlich und weniger nützliche einteilt.
       
       Wie muss man sich die Flucht der Hugenotten vorstellen? 
       
       Bei Flucht denkt man an etwas Plötzliches, aus einer existentiellen
       Notsituation heraus. Bei den Hugenotten gab es das auch. Aber ebenso, ohne
       die Schrecken dieser Migration kleinzureden, gab es sehr genau geplante
       Umsiedlungen: an Orte mit denen die Hugenotten bereits Kontakt gehabt
       hatten.
       
       Heute treiben Flüchtlinge wochenlang auf dem Mittelmeer, weil kein EU-Land
       seinen Hafen für sie öffnen möchte. Gibt es vergleichbare Fälle bei den
       Hugenotten? 
       
       Es gibt zahlreiche Fälle von Entwurzelung. Leute, die über Jahre von
       Almosen gelebt haben, die es nicht geschafft haben, sich irgendwo
       anzusiedeln. Vielleicht auch, weil sie nicht in das Schema der „nützlichen“
       Migranten gepasst haben.
       
       Welchen Einfluss hatten die Hugenotten auf die Aufnahmegesellschaften? 
       
       Die Berliner Aufklärung, zum Beispiel, das was Berlin im 18. Jahrhundert
       groß gemacht hat, wäre ohne die Hugenotten und deren internationale
       Kontakte kaum denkbar gewesen. Und auch politisch oder wirtschaftlich waren
       viele Hugenotten aktiv.
       
       Warum sollten sich auch Nichthistoriker mit den Hugenotten befassen? 
       
       Um die aufgeheizten Diskussionen über das Für und Wider von Zuwanderung,
       über den „Nutzen“ von Migration, etwas zu erden. Wenn man sich klarmacht,
       dass es bestimmte Mechanismen von Migration, von Aufnahme, von
       Lebensbewältigung an Zuwanderungsorten oder von Ängsten der aufnehmenden
       Bevölkerung schon zu anderen Zeiten gegeben hat. Daraus muss man das Beste
       machen, denn Migration ist etwas, mit dem wir uns alle auseinandersetzen
       müssen – heute genauso, wie man es in der Vergangenheit getan hat.
       
       Auf dem taz lab spricht Alexander Schunka über die Fluchtgeschichte der
       Hugenotten.
       
       26 Jan 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Vincent Bruckmann
       
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