# taz.de -- Österreich nach der Ibiza-Affaire: Hart im Nehmen
       
       > Zwei Monate vor der Neuwahl in Österreich zieht die Schriftstellerin
       > Doris Knecht eine ernüchternde Bilanz: Die Politik wird nicht abgestraft.
       
 (IMG) Bild: Mit den Vengaboys bejubeln 20.000 Menschen das Ende der Regierung. Doch was kommt jetzt?
       
       Dieses Österreich. Berge, Seen, das kitschig-schöne [1][Walzer-Wien] und
       politische Skandale mit so dummen Drehbüchern, dass sie in Hollywood eher
       wenig Chancen hätten. Zuerst ein Video, in dem ein FPÖ-Vizekanzler
       gemeinsam mit einem anderen FPÖ-Politiker auf Ibiza ein Land und seine
       größte Zeitung an eine falsche russische Oligarchin verscherbeln wollen:
       als Drehbuchplot reichlich überspitzt. Doch bevor wir uns davon erholt
       haben, dass es sich dabei um ungefälschte österreichische Politrealität
       handelt, bekommt die Geschichte einen Spin-off: Ein weiterer politischer
       Skandal fliegt deshalb auf, weil eine Rechnung über 76,45 Euro nicht
       beglichen wurde.
       
       Aussteller der Rechnung: eine Akten- und Datenträgervernichtungsfirma
       namens [2][Reisswolf] (ja, wirklich). Die erstattete nach mehreren
       erfolglosen Mahnungen Anzeige wegen Betrug. Die Wiener Stadtzeitung Falter
       veröffentlichte am 23. Juli ein Video – und den Krimi um den
       Social-Media-Beauftragten des ehemaligen Bundeskanzlers Sebastian Kurz
       (ÖVP), der fünf Festplatten unter falschem Namen fünf Tage nach der
       Ibiza-Affäre im Mai vernichten ließ. Was sie enthielten, weiß man nicht.
       Ein Zusammenhang wird, wenngleich von ÖVP und Kurz entschieden dementiert,
       nicht ausgeschlossen. Die „Soko Ibizia“ nahm Ermittlungen auf.
       
       Am Tag vor dem Tag des [3][Ibiza-Videos] war ich in Wien auf der
       Donnerstagsdemo; wie an fast jedem Donnerstag seit der türkis-blauen
       Regierung, gemeinsam mit ein paar Freundinnen und Freunden. Es war uns fast
       eine Art Stammtisch geworden. Wenn wir nicht verhindert waren, trafen wir
       uns donnerstags bei der Demo, in der Nähe des Schildes mit der Aufschrift
       „Kexit“, das immer von einem großen, langhaarigen Mann getragen wurde. Wir
       trafen uns bei Kälte, Regen und Schnee. Wir gingen mit, vorne, in der Nähe
       des Wagens, von dem DJ-Musik schepperte, die Stimmung war immer entspannt
       und fröhlich, nie aggressiv. Wir wollten vor allem Präsenz zeigen gegen
       diese Regierung und ihre Politik, um das Gefühl zu haben, irgendetwas zu
       tun, wenn auch nur gegen unsere eigene Hilflosigkeit. Hauptsache, man
       zeigte Präsenz, man zählte. Zahlen sind wichtig bei Demos.
       
       Am Tag vor dem Tag, an dem die Regierung zerbröselte, war die Zahl klein,
       wir waren vielleicht zwei-, dreitausend. Ich traf kaum Bekannte, nur einen
       Journalistenkollegen, mit dem ich mich darüber unterhielt, wie wenige
       Medien- und Kulturmenschen mit demonstrierten. Wir sagten, das müssten
       zehnmal so viele Leute sein, wie wir es den ganzen kalten Winter über
       gesagt hatten. Und: „Wart ab, im Frühling werden wir viel mehr sein.“ Aber
       nun war es warm, die Regierung rückte das Land Woche für Woche weiter nach
       rechts, schränkte ungeniert die Rechte und Freiheiten von Frauen,
       Minderheiten, Asylwerbern, Armen und der Kultur ein – und trotzdem wurden
       wir immer weniger.
       
       ## Das Ende der Kurz-Ära
       
       Auf dem Wagen brüllte ein junger Mann in die Musik hinein Parolen, mit
       denen ich wenig anfangen konnte. Ich verließ den Demonstrationszug früher
       als sonst, hatte kein gutes Gefühl, nicht für den Widerstand, nicht für das
       Land. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Resignation je so groß war,
       und ich schreibe schon seit dreißig Jahren über Österreich. Am nächsten Tag
       kam dieses Video an die Öffentlichkeit. Und als bei der Donnerstagsdemo
       zwei Wochen später die Vengaboys „Going to Ibiza“ direkt vor dem Kanzleramt
       live spielten, bejubelten 20.000 Leute das Ende der Regierung. Das Ende
       einer Koalition der ÖVP mit der Freiheitlichen, deren Innenminister Herbert
       Kickl noch in seinen letzten Stunden, als die Abwahl schon fix war, eine
       Verordnung erließ, die den Stundenlohn von Asylwerber*innen für
       gemeinnützige Tätigkeiten auf menschenverachtende 1,50 Euro senkte.
       
       In den Tagen zuvor war auch aus der Linken Kritik am Entschluss der SPÖ
       laut geworden, die Ära Kurz mit einem Misstrauensantrag zu beenden: Das sei
       verantwortungsloser Revanchismus und destabilisiere das Land. Eine
       merkwürdige Kritik in einer Situation, in der Sebastian Kurz das Land gegen
       alle Warnungen und aus Machtkalkül einer gefährlichen rechten Truppe
       ausgeliefert hatte. Denn die Gründe für den Misstrauensantrag liegen auf
       der Hand: Man konnte Kurz nicht als Kanzler in den Wahlkampf schicken, als
       der er nicht zuletzt das EU-Parkett und die Kür der neuen Kommission dazu
       nutzen würde, den Staatsmann zu tanzen, um so die Kratzer wegzupolieren,
       die das peinliche Scheitern der ÖVP-FPÖ-Koalition auf seinem Harnisch
       hinterlassen hatte. Wie angebracht das Misstrauen ist, hat die ÖVP auch
       angesichts der Schredder-Affäre (Operation Reisswolf!) gerade wieder
       bewiesen
       
       Das Aufatmen über das Ende dieser Regierung war sogar in Teilen der ÖVP
       spürbar, die den Kurz-Kurs, ähnlich wie die US-Republikaner, nur gegen
       innere Widerstände mitgetragen hatten. Viele Entscheidungen, die die
       Regierung während ihrer Amtszeit traf, wurden unmittelbar nach ihrem Ende
       von einem Parlament rückgängig gemacht, das nun freie Mehrheiten abseits
       von Regierungsvereinbarungen bilden konnte.
       
       So wurde nun das noch von der früheren SPÖ-ÖVP-Koalition vorbereitete
       Rauchverbot in der Gastronomie beschlossen. Die Kurz-Strache-Regierung
       hatte es auf Wunsch der FPÖ „gekübelt“ – das Volksbegehren ignorierend, das
       881.569 Österreicher*innen für einen besseren Nichtraucherschutz
       unterschrieben hatten. Eine Farce. Apropos Volksbegehren: Von der Kurz-Ära
       am tiefsten eingeprägt hat sich bei mir das Bild der Regierungsbank an dem
       Tag, an dem das Frauen-Volksbegehren, unterzeichnet von fast einer halben
       Million Österreicher*innen, im Parlament behandelt wurde. Sie blieb
       leer. Die Regierungsmitglieder, auch die Frauenministerin, hatten den
       Plenarsaal verlassen: welch Affront und Respektlosigkeit gegenüber
       demokratischen Prozessen.
       
       ## Regieren nach dem „Trump-Prinzip“
       
       Das Vertrauen gerade von Frauen in den österreichischen Rechtsstaat war da
       bereits gründlich irritiert. Denn nachdem die Grünen-Politikerin [4][Sigi
       Maurer] via Facebook brutal sexuell belästigt worden war und den
       mutmaßlichen Verfasser öffentlich gemacht hatte, wurde sie von diesem
       verklagt und tatsächlich wegen übler Nachrede selbst zur Zahlung von 4.000
       Euro Schadenersatz verurteilt. Das Urteil wurde 2019 aufgehoben, der
       Prozess muss wiederholt werden. Von der ÖVP-FPÖ-Regierung kam für Frauen
       selten Unterstützung. Im Gegenteil: Sie kürzte Subventionen für
       Fraueneinrichtungen, etwa für Gewaltschutz und Prävention, massiv. Dafür
       schürte sie Debatten über die Einschränkung von Schwangerschaftsabruch.
       
       Auch das ist symptomatisch für eine Regierung, die nicht wie frühere
       versuchte, Anderswählende ins Boot zu holen. Vielmehr ist eine fast
       kindische Lust spürbar, Kritiker*innen und Andersdenkende zu bestrafen.
       Mit rigider Message Control verfolgte auch sie das „Prinzip Trump“. Nach
       ihm kommt es letztlich nicht darauf an, ob etwas wahr ist, sondern darauf,
       wie viele eine Message glauben.
       
       Genau so handhaben Kurz und seine Leute nun auch den Schredderskandal. Er
       wird heruntergespielt, ein Mitarbeiter habe „Mist gebaut“, heißt es.
       Außerdem handle es sich bei dieser Art der Datenvernichtung um ein ganz
       normales Prozedere bei der Amtsübergabe. Auch Kurz-Vorgänger Christian Kern
       (SPÖ) habe es praktiziert. Kern hat Kurz allerdings umgehend aufgefordert,
       diese Aussage zurückzunehmen, sonst werde er Klage erheben.
       
       ## „Jetzt erst recht“
       
       Der SPÖ hilft dies alles etwas: Die Führungsdebatte über Pamela
       Rendi-Wagner ist verstummt, die Werte der SPÖ steigen in den Umfragen
       vorsichtig. Und auch die Grünen haben sich erholt. Sie dürften neu formiert
       den Wiedereinzug ins Parlament problemlos schaffen. Doch die Kurz-ÖVP liegt
       in den Umfragen weiterhin vorne. Was von einem erstaunlichen Masochismus
       ihrer Wähler*innen zeugt, denen die letzte Regierung unter anderem
       12-Stunden-Arbeitstage verordnete und den Zugang zur Mindestsicherung
       erschwerte. Aber Österreicher*innen sind hart im Nehmen. Das bewies auch
       die EU-Wahl: Neun Tage nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos bekam
       Hauptdarsteller Heinz-Christian Strache mehr als 37.000 Direktstimmen.
       „Jetzt erst recht“, so der Schlachtruf, der den Täter zum Opfer
       stilisierte. Und das funktionierte.
       
       Ähnliches versucht derzeit auch das Team um Sebastian Kurz. Um von der
       Schredder-Affäre abzulenken, präsentiert man den ÖVP-Helden als Opfer
       sinistrer Machenschaften. Doch die Nebelgranaten scheinen in den eigenen
       Linien hochzugehen. Sein Apparat stottert. Der 32-Jährige wirkt
       verunsichert, geschwächt. Er scheint mit der Kanzlerschaft auch sein
       persönliches Mojo verloren zu haben.
       
       Wird ihn dieses Österreich dennoch Ende September erneut wählen? Die
       Donnerstagsdemos gehen sicherheitshalber schon bald wieder los.
       
       4 Aug 2019
       
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