# taz.de -- ORF/ZDF-Film „Balanceakt“: Genaue Prognose unmöglich
       
       > „Balanceakt“ erzählt überzeugend realistisch von einer Architektin, die
       > an Multipler Sklerose erkrankt. Julia Koschitz brilliert in der
       > Hauptrolle.
       
 (IMG) Bild: Marie (Julia Koschitz) und Sohn Luis (Jeremy Miliker) bei einem Konzert in der Musikschule
       
       Dustin Hoffman als Autist. [1][Julianne Moore als Demenzkranke]. Eddie
       Redmayne als Stephen Hawking. Krankheiten sind beinahe eine sichere Bank,
       wenn es für Hollywoodschauspieler darum geht, eine Rolle nach ihrem
       Oscar-Potenzial auszuwählen. Da können sie ihr Potenzial so richtig
       entfalten.
       
       Aber wir sind hier nicht in den Hollywood Hills. Sondern auf dem
       Lerchenberg, in Mainz, wo das ZDF residiert. Und für das Stammpersonal des
       deutschen Fernsehens gibt es keine Oscars (außer man heißt Christoph Waltz
       und hat das Glück, Quentin Tarantino zu treffen). Aber es gibt den „Preis
       für Schauspielkunst“ des Festivals des deutschen Films in Ludwigshafen: ein
       schöner, wichtiger Preis, und in diesem Jahr geht er an Julia Koschitz, die
       es mit jedem Oscar-Gewinner aufnehmen könnte, für ihre Rolle in
       „Balanceakt“ (Buch: Agnes Pluch). Sie spielt darin eine lebensfrohe
       Architektin, die eine schwere Krankheit ereilt.
       
       Es dauert ganze acht Minuten, bis die taffe Frau, die auf der Baustelle das
       Sagen hat und die in ihrer Freizeit gern mit dem Lebensgefährten (David
       Rott) und dem gemeinsamen Sohn (Jeremy Miliker, „Die beste aller Welten“)
       in der Steilwand klettert, die Diagnose bekommt: „Bei Multipler Sklerose
       ist eine genaue Prognose unmöglich. Sie müssen mit körperlichen und
       mentalen Symptomen rechnen. Welche wann wie auftreten, lässt sich nicht
       voraussagen. Mit dieser Unsicherheit müssen alle Betroffenen leben.“
       
       Betroffen sind auch ihre Kleinfamilie, in der sie das Familieneinkommen
       besorgt, ihre besorgten Eltern und die jüngere Schwester (Franziska Weisz),
       die viel in der Weltgeschichte herumgereist ist. Es ist eine etwas
       fernsehfilmhafte Konstruktion, wenn nun die Schwester und der musizierende
       Mann lernen müssen, Verantwortung zu übernehmen, während die Architektin
       lernen muss, diese abzugeben. Einer Alphafrau wie ihr muss das schwerer
       fallen als einem Heimchen am Herd – so die Prognose. Es ist ein Auf und Ab
       der Gefühle, auf Momente des Glücks und der Hoffnung folgen stets
       Rückschläge. Julia Koschitz kann ihr Potenzial so richtig entfalten.
       
       ## Regisseurin Vivian Naefe weiß, wovon sie erzählt
       
       Und wenn die Familie ausgelassen gemeinsam mit dem Fahrrad einen Ausflug
       macht, dann versteht Koschitz es, nicht nur dieses Glück überzeugend zu
       spielen, sondern auch den Vorbehalt, unter dem dieses Glück steht. „Ist
       beim Klettern passiert“ – irgendwann werden der Architektin die Kollegen
       diese Erklärung für ihr plötzliches Hinken nicht mehr abkaufen.
       
       „Mein Körper gehört nicht mehr mir. Ich löse mich auf, Axel“, sagt sie
       ihrem Mann und müsste es gar nicht sagen, weil die Koschitz das doch so
       überzeugend spielt. Angeleitet von Regisseurin Vivian Naefe, die weiß,
       wovon sie erzählt: starb doch ihre Mutter an MS, als sie acht Jahre alt
       war. Ihr Film sieht vor allem sehr realistisch aus. Und führt so auch den
       Unterschied zwischen – öffentlich-rechtlichem deutsch-österreichischen (es
       handelt sich um eine Koproduktion des ZDF mit dem ORF) – Fernsehen und Kino
       vor Augen.
       
       Wie originell und poetisch, wie bildgewaltig und, ja, überwältigend schön
       man eine tragische Krankengeschichte auch erzählen kann, hat vor zwölf
       Jahren Julian Schnabels „Schmetterling und Taucherglocke“ vorgeführt, über
       einen Mann, der nach einem Schlaganfall nur noch durch das Blinzeln der
       Augenlider kommunizieren konnte. Mit dem Fernsehfilmrealismus ist es
       hingegen so eine Sache: Streichmusik aus dem Off ist da nicht wirklich
       förderlich.
       
       Aber darüber und über ein paar andere Routinen und über das
       Krankheitsfilm-typische Motiv der Besinnung auf die wahren Werte kann man
       unter dem Eindruck der Schauspielkunst der Preisträgerin durchaus
       hinwegsehen. Lerchenberg eben. Worüber man nicht hinwegsehen kann, ist
       diese – vermutlich der Erstausstrahlung im ORF am
       Welt-Multiple-Sklerose-Tag am 29. Mai geschuldete – erbaulich-sentimentale
       Schlussminute auf dem Niveau eines „Aktion Mensch“-Einspielers.
       
       26 Aug 2019
       
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