# taz.de -- talk of the town: Angst vor Kritik
       
       > Der türkische Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan wurde am Dienstag
       > nach wenigen Tagen in Freiheit erneut festgenommen. Das hat den Klang von
       > Rache
       
 (IMG) Bild: Ahmet Altan, in Istanbul am 12. November von der Polizei abgeführt
       
       Von Erk Acarer
       
       Nur acht Tage nach fast dreieinhalb Jahren in Haft unter Auflagen aus dem
       Hochsicherheitsgefängnis Silivri entlassen, ist Ahmet Altan schon wieder im
       Gefängnis. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft hatte auf eine selbst für
       türkische Verhältnisse skandalöse Weise Revision gegen die Haftentlassung
       eingelegt und sich gegen die Richter durchgesetzt. Daraufhin nahmen auch
       die eigentlich zuständigen Richter ihre Entscheidung zurück, die Haft
       aufzuheben.
       
       Erst im Oktober war ein Paket zur Justizreform durch das Parlament
       gegangen, das insbesondere für Menschen, die aufgrund von Einschränkungen
       der Meinungsfreiheit im Gefängnis sitzen, Besserungen bringen sollte. In
       den Medien wurde bereits darüber spekuliert, welche Intellektuellen jetzt
       freikommen würden. Viele Beobachter*innen hofften, dass die Justiz sich
       jetzt vom Klammergriff der Exekutive freischwimmen könne, zumindest in
       Teilen. Doch die unrechtmäßige Wiederverhaftung von Ahmet Altan zeigt, dass
       es immer noch nicht die Justiz ist, die in solchen Fällen das letzte Wort
       hat, sondern die Politik.
       
       Zwei Wochen nach dem erfolglosen Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurde
       Ahmet Altan verhaftet. Der diesjährige Träger des
       Geschwister-Scholl-Preises war zuletzt Herausgeber der regierungskritischen
       Zeitung Taraf, die nach dem Putsch verboten wurde. Konkret vorgeworfen
       wurde ihm, am Vorabend des Putsches in einer Live-Talkshow „unterschwellige
       Botschaften“ verbreitet zu haben, die „assoziativ“ zum Regierungssturz
       aufgerufen haben sollen. Deshalb wurde er unter dem Vorwurf inhaftiert,
       „willentlich und wissentlich einer bewaffneten Terrororganisation Hilfe
       geleistet“ zu haben – und am 4. November dieses Jahres unter Auflagen
       freigelassen.
       
       Ahmet Altans Strafverteidigerin Figen Çalıkuşu erfuhr erst aus dem
       Fernsehen vom erneuten Haftbefehl gegen ihren frisch entlassenen Mandanten:
       „Nicht mir, sondern der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu wurde das
       Schriftstück zugestellt.“ Unter normalen Bedingungen hätte der
       Gerichtsentscheid zur Entlassung weder von der Staatsanwaltschaft
       angefochten noch von einem anderen erstinstanzlichen Gericht ignoriert
       werden dürfen, sagt Çalıkuşu der taz. „Jemand hat bei der Rechtsbeugung die
       Bremszüge durchtrennt“, sagt sie. Und Ahmet Altans früherer Anwalt Veysel
       Ok schrieb auf Twitter: „In ein und demselben Verfahren zweimal
       freigelassen und zweimal erneut inhaftiert. Versuchen Sie das einmal
       juristisch zu erklären. Einigen wir uns lieber darauf, dass es ein Racheakt
       war.“
       
       Allerdings ist es nicht nur die Regierung, die sich augenscheinlich an
       Ahmet Altan rächen will. Seine eigentlich erfreuliche Haftentlassung in der
       ersten Novemberwoche legte auch den tektonischen Bruch offen, der sich
       durch die Opposition in der Türkei zieht. Als Chefredakteur der Zeitung
       Taraf hatte er in der Vergangenheit auch einiges an der Politik der
       AKP-Regierung als „demokratische Vorstöße“ gelobt. Diese Redaktionslinie
       wurde ihm nicht verziehen, obwohl er im Laufe der Jahre zu der Auffassung
       kam, dass die AKP sich zum Schlechten gewandelt hatte. Viele namhafte
       Oppositionelle hatten deshalb wenig dagegen zu sagen, dass Altan für ein
       Verbrechen im Knast saß, das er nie begangen hatte.
       
       Zweifelsohne machte es die gespaltene Meinung unter Oppositionellen den
       Machthabern leichter, eine erneute Rechtsbeugung im Fall Altan zu begehen.
       Sobald es von Personalien abhängig gemacht wird, ob man sich dagegen
       empört, dass die Justiz von der Exekutive kontrolliert wird oder sich über
       Einzelentscheidungen sogar freut, lässt man der AKP in ihrer Willkür freie
       Hand. So kann Erdoğan das Justizsystem als Rutenbündel benutzen und
       Rechtsprechung als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln etablieren.
       Für Anwältin Çalıkuşu ist dieser Reflex Symptom einer chronischen
       Erkrankung der türkischen Gesellschaft: „Gerechtigkeit und Freiheit wollen
       alle immer nur fürs je eigene Team.“
       
       Die AKP-Regierung hat die Verfassung der Türkei nicht nur verändert,
       sondern auch das bestehende Recht unverhohlen gebrochen und eine Auslegung
       durchgesetzt, die dazu dient, Dissident*innen zum Schweigen zu bringen.
       Ein weiteres Mal ist deutlich geworden, dass dem Rechtsproblem der Türkei
       nicht mit einer Justizreform beizukommen ist. Auch nach den jüngsten
       Reformen sind „Terrorismusverbrechen“ noch immer äußerst vage definiert. Im
       Osten des Landes können deshalb Bürgermeister*innen abgesetzt werden, die
       mit 70 Prozent der Stimmen gewählt wurden. In dieser Atmosphäre können
       Reformen nur darauf abzielen, das lädierte Vertrauen der Menschen ins
       Justizsystem mittels kosmetischer Maßnahmen zu reparieren. Und denjenigen
       ein Schlupfloch bieten, die der Regimekritik müde geworden sind und sich am
       liebsten vor den Karren der Machthaber spannen lassen würden. Erdoğan hat
       nach wie vor Angst vor freiem Denken und jeder Form von Kritik. Er wird
       immer wieder neue Wege finden, Rache an seinen Kritikern zu nehmen, indem
       er sie einer Justiz aussetzt, die er sich gefügig gemacht hat.
       
       Aus dem Türkischen 
       
       von Oliver Kontny
       
       14 Nov 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Erk Acarer
       
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