# taz.de -- Buch über Anti-Atomkraft-Bewegung: Neue Heimat
       
       > Wie der Gorleben-Konflikt sie selbst, ihre Region und das ganze Land
       > verändert hat – das erzählen Zeitzeugen und Protagonisten des Protests.
       
 (IMG) Bild: Auf dem Weg nach Hannover: Landwirte aus dem Kreis Lüchow-Dannenberg unterwegs zum Protest
       
       Laut schallen Sprechchöre und Lieder am 31. März 1979 über den Klagesmarkt
       in Hannover. Rund 100.000 Menschen haben sich bei Dauerregen zur bis dahin
       größten Anti-Atomkraft-Demonstration der Bundesrepublik versammelt. Auch
       die umliegenden Straßen sind verstopft, Straßenbahnen kommen nicht mehr
       durch. An den Lichtmasten hängen klatschnasse Transparente mit Parolen
       gegen Atomkraft, aus vielen Fenstern wehen Fahnen mit der gelben Sonne.
       
       Die Demonstranten warten auf die Lüchow-Dannenberger Bauern, die sechs Tage
       zuvor mit ihren Traktoren aufgebrochen sind, [1][um in Hannover gegen die
       in Gorleben geplanten Atomanlagen zu protestieren.] Mühsam bahnt sich der
       aus 350 Schleppern bestehende Konvoi seinen Weg durch die Menge. Sichtlich
       erschöpft von der langen Fahrt durch Regen und Kälte, greift sich auf der
       improvisierten Bühne der 23 Jahre junge Landwirt Heinrich Pothmer das
       Mikrofon. „Mein lieber Herr Albrecht …!“, ruft er, der Rest seiner Rede
       geht im Jubel unter.
       
       Gut zwei Jahre zuvor hat der damalige niedersächsische Ministerpräsident
       Ernst Albrecht (CDU) Gorleben im Kreis Lüchow-Dannenberg als Standort für
       ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ benannt. Auf 16 Quadratkilometern sollte
       ein „Industriepark“ entstehen, mit atomarer Wiederaufarbeitungsanlage,
       einem Zwischenlager und weiteren Fabriken. Den strahlenden Müll wollte
       Albrecht im unterirdischen Salzstock verbuddeln lassen.
       
       [2][In der strukturschwachen Region, so sein Kalkül, würden die Leute schon
       nichts dagegen haben] – und erst recht nichts gegen die versprochenen
       Arbeitsplätze. Die Rechnung geht aber nicht auf: Viele Lüchow-Dannenberger
       lehnen die Atomanlagen strikt ab. Um die Unbedenklichkeit seiner Pläne
       nachzuweisen, hat Albrecht für Ende März 1979 Fachleute zu einem Hearing
       nach Hannover eingeladen. Das ist der Anlass für den Treck der Landwirte
       und die Rede von Bauer Pothmer. Unter dem Eindruck des Massenprotestes
       knickt Albrecht teilweise ein, eine Wiederaufarbeitungsanlage hält er nun
       nicht mehr für durchsetzbar.
       
       ## Lächeln über die Wendländer
       
       „Mein lieber Herr Albrecht …!“ So ist auch ein Buch betitelt, das den
       Protestzug der Landwirte und den jahrzehntelangen Widerstand im Wendland
       Revue passieren lässt. Zunächst für eine Ausstellung zum 40. Jahrestag des
       Trecks konzipiert, hat das „Gorleben-Archiv“ nun eine erweiterte und reich
       bebilderte Fassung veröffentlicht.
       
       Den Schwerpunkt des Bandes bilden Beiträge von und Interviews mit rund drei
       Dutzend Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Sie alle haben als Betroffene und
       Beteiligte im Konflikt um die Gorlebener Atomanlagen und dem damit
       einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungsprozess im Landkreis
       Lüchow-Dannenberg eine Rolle gespielt – in der Bürgerinitiative oder der
       atomkraftkritischen bäuerlichen Notgemeinschaft, in Kirchengemeinden und
       Kommunalparlamenten, in Parteien, Berufsverbänden, Zeitungsredaktionen.
       
       Denn die Protestbewegung verhinderte ja nicht nur den Bau einer
       Wiederaufarbeitungsanlage und – zumindest bislang – auch eines atomaren
       Endlagers. Sie beeinflusste nicht nur nachhaltig den Diskurs über die
       deutsche Atompolitik. Sondern sie entwickelte sich auch zum Motor einer
       neuen selbstbewussten Zivilgesellschaft.
       
       Der parteilose Lüchow-Dannenberger Landrat Jürgen Schulz beschreibt in
       seinem Beitrag „ein negatives Stimmungsbild“, das vor allem übergeordnete
       Behörden zunächst über die widerständigen Wendländer zeichneten: „Vertreter
       unseres Landkreises wurden per se belächelt, nicht richtig ernst genommen,
       abgestempelt, in eine bestimmte Schublade gesteckt. Lüchow-Dannenberger
       waren die Schmuddelkinder im Lande“, das Wendland „galt … als
       Krawallmacher-Gegend“.
       
       ## Familien gespalten
       
       Dabei, so Schulz, wurde doch durch die Standortentscheidung rund um
       Gorleben „Heimat nachhaltig gestört, ja, vielleicht sogar zerstört“. Den
       Lüchow-Dannenbergern sei mit den geplanten Atommüllanlagen eine Last
       aufgebürdet worden, die bis dahin noch niemand in der Bundesrepublik habe
       schultern müssen – „eine Last für die Ewigkeit“.
       
       In den Kommunalparlamenten des Landkreises und bei der darin dominierenden
       CDU stieß die Standortentscheidung zunächst auf große Zustimmung, die
       Gemeinderäte und der Kreistag freuten sich auf Arbeitsplätze und
       Gewerbesteuereinnahmen. Viele der für das Buch Interviewten schildern,
       warum und wie sie sich auf den fundamentalen Streit mit der Obrigkeit
       einließen. Und wie das Thema Gorleben Familien spaltete, alte
       Freundschaften zerstörte, aber zugleich neue schuf, wie es zum Verlust der
       alten politischen Heimat und zum Gewinn einer neuen führte.
       
       Anna Gräfin von Bernstorff etwa erinnert sich an „sehr konfliktreiche
       Jahre“. Ihr Mann Andreas – der Großgrundbesitzer aus Gartow weigerte sich,
       Land an die Atomkraftkonzerne zu verkaufen – wurde wegen seiner
       Gorlebenskepsis aus der CDU ausgeschlossen. „Es hat ihn total aufgeregt,
       dass man in dieser Partei nicht einmal kritisch nachfragen durfte, sondern
       alle die gleiche Meinung haben mussten.“ Gleichzeitig fanden die
       Bernstorffs in der Protestbewegung neue Freunde: Studenten aus den Städten
       und Aussteiger, Künstler und Lebenskünstler. „Das war eigentlich eine
       schöne Erfahrung, dass wir jetzt auch mit Menschen zusammenkamen, mit denen
       wir sonst gar nicht viel Berührung gehabt hätten.“
       
       Auch die kürzlich im Alter von 93 Jahren gestorbene, oft als „Mutter des
       Widerstands“ titulierte Lilo Wollny ist für das Buch nach ihren Erfahrungen
       gefragt worden. „Man hat uns ja mehr oder weniger für verrückt erklärt,
       weil wir uns so gewehrt haben“, erzählt sie. Menschen, die früher Freunde
       waren, seien plötzlich keine Freunde mehr gewesen. Dafür kamen andere dazu,
       die Freunde wurden, „so war das Leben, niemals langweilig“. Wollny kann
       sich „nicht erinnern, dass ich mich schämen müsste, weil ich vielleicht zu
       viel Widerstand gegen die Regierung organisiert habe. Da ist nichts, was
       ich ernsthaft bereuen müsste … Ich glaube, ich habe nicht umsonst gelebt.“
       
       ## Auf der Siegerstraße
       
       Eberhard Malitius, der 1971 als Gemeindepastor in die Nähe von Gorleben
       nach Langendorf kam, kann über die Risse und Zerwürfnisse in den
       Dorfgemeinschaften ebenfalls ein Lied singen. Wurden die Gorlebenkritiker
       in seinem Ort anfangs gemieden und boykottiert, war es später genau
       umgekehrt. Er habe erlebt, „wie in einer Art Dominoeffekt einer nach dem
       anderen umkippte beziehungsweise die Fronten wechselte“, berichtet der
       Pfarrer. „Leute, die manchmal noch kurz davor dafür waren. Das war manchmal
       hochdramatisch.“ Malitius selbst hatte sich erst nach der Standortbenennung
       vom technikaffinen Saulus zum atomkritischen Paulus gewandelt.
       
       Der Kirchenmann beschreibt auch die beispiellose Aufbruchstimmung, die
       infolge des Hannovertrecks große Teile der Bevölkerung erfasste: Das war so
       „wie beim Fußball, wenn man in so einem großen Stadion ist und die eigene
       Mannschaft gewinnt. So ein ähnliches Gefühl hatten wir damals auch. Wir
       sind auf der Siegerstraße! Wenn so viele Leute mitmachen, auch mit
       Treckern, dann fühlt man sich irgendwie schon halb als Sieger.“
       
       Aus einem fast vergessenen, extrem konservativen Landstrich am äußersten
       Rande der Republik wurde das Wendland – eine lebendige und selbstbewusste
       Region mit einer eigenen Identität und einer kritischen Bürgergesellschaft.
       Der Widerstand als Demokratielabor: In den harten Konflikten mit den
       Atomkraftbefürwortern, aber auch in der Protestbewegung machten viele
       Menschen Lernprozesse durch und entwickelten neue Fähigkeiten.
       
       „Durch diese vielen Treffen, die es ja gab, hatten wir hier in
       Lüchow-Dannenberg seit der Standortbenennung praktisch permanente
       Volkshochschule“, sagt Wolfgang Ehmke, bis heute Pressesprecher der
       Bürgerinitiative. „Dass man den richtigen Weg, die nächste Aktion
       aushandeln musste oder manchmal auch aushalten musste, was man eigentlich
       nicht so gut fand, das war, glaube ich, einzigartig.“ Der Drehbuchautor
       Peter Bauhaus drückt es so aus: „Ich glaube, dass wir alle in den letzten
       Jahrzehnten eine politische Bildung vom Feinsten genossen haben, was den
       Umgang mit Macht, mit Versprechen, mit Versuchen, uns über den Tisch zu
       ziehen, angeht.“
       
       Auch Heinrich Pothmer kommt in dem Buch noch einmal zu Wort. „Die gesamte
       Gemeinschaft, die gesamte Bundesrepublik hat durch unseren Protest
       letztlich gewonnen. Wenn wir diese Saat nicht gesät hätten, wäre es
       wahrscheinlich auch nicht zu dieser Ausstiegsentscheidung gekommen.“ Seine
       berühmt gewordene Rede vom März 1979, sagt Pothmer dann noch, habe er auf
       seinem Traktor geschrieben, in Gedelitz am ersten Tag des Hannovertrecks.
       „Völlig aus dem Bauch, ziemlich hingekritzelt. Aber ich denke, es ist
       ziemlich rübergekommen.“
       
       14 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Gorleben/!t5011617
 (DIR) [2] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/Vor-40-Jahren-Erste-Probebohrung-in-Gorleben,gorleben2084.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Reimar Paul
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Anti-Atom-Bewegung
 (DIR) Wendland
 (DIR) Gorleben
 (DIR) Anti-AKW
 (DIR) Anti-Atom-Initiativen
 (DIR) Wendland
 (DIR) Gorleben
 (DIR) Schwerpunkt Anti-AKW
 (DIR) Siedler
 (DIR) Gorleben
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) 40 Jahre Republik Freies Wendland: 33 Tage Widerstand
       
       Vor 40 Jahren besetzten Hunderte Umweltschützer ein Bohrloch im Gorlebener
       Wald und riefen die Republik Freies Wendland aus. Ein Augenzeugenbericht.
       
 (DIR) Archäologe über Republik Freies Wendland: „Gasmaskenfilter und Kabelbinder“
       
       Der Archäologe Attila Dézsi hat mit früheren BewohnerInnen die Reste der
       Republik Freies Wendland ausgegraben. Ein Gespräch über bleibende
       Erinnerung.
       
 (DIR) AKW-Gegner starb 2004: Gedenken an Sébastien Briat
       
       Vor 15 Jahren starb der französische Anti-AKW-Aktivist Sébastien Briat bei
       einem Unfall. In Hitzacker wird nun ein Gedenkstein für ihn aufgestellt.
       
 (DIR) Völkische Expansion: Neonazis suchen Lebensraum
       
       In Mecklenburg und in der Lüneburger Heide setzen sich rechte Siedler fest.
       Wie kann man damit umgehen?
       
 (DIR) Nachruf auf Lilo Wollny: Mutter des Widerstands
       
       Mit 93 Jahren ist Lilo Wollny gestorben. Wie eine einfache Hausfrau den
       Anti-AKW-Protest vor allem im Wendland prägte.