# taz.de -- Corona im Kultur-Alltag: Die Langeweile in Zeiten von Corona
       
       > Corona heißt nicht nur Quarantäne, sondern auch Langeweile. Nach Absage
       > der LSD-Lesebühne bereitet sich Uli Hannemann auf das große Nichtstun
       > vor.
       
 (IMG) Bild: Berlin Mutter und Tochter hören einem Konzert am Sennefelder Platz von ihrem Fenster aus zu.
       
       Im digitalen Kalender unserer Lesebühne ändere ich die Einträge für die
       nächsten Wochen: Statt „Gast: Elfriede Jelinek“, „Offenes Mikro: Mario
       Barth“ oder „Urlaub: Ivo, Ersatz: Knorkator“, steht nun unter „Gast“
       jeweils nur noch „Corinna.“ Ein Euphemismus. Die Veranstaltung ist seit
       Freitagabend offiziell abgesagt.
       
       Schon in den beiden Wochen davor hatten wir befürchtet, dass keiner mehr
       käme. Doch mit der Aussicht, dass die Show jederzeit zum vorerst letzten
       Mal steigen könnte, kamen eher mehr Leute als zuletzt. Als wäre das
       Bedürfnis nach einer Form von Unterhaltung gestiegen, wie wir sie eben
       bieten: niedrigschwellig, nah am Publikum, komisch, aktuell und zugleich
       doch irgendwie tröstend. Die Stimmung war blendend. Das war dumm.
       
       Drei Tage später herrscht Gewissheit. Ich lade per Rundmail die Gäste für
       die nahe Zukunft aus, ersetze sie durch Corinna, und werde gleich darauf
       schrecklich müde. Alles, was für mich zu tun war, ist hiermit getan,
       wahrscheinlich für sehr lange Zeit.
       
       Mit Wucht packt mich ein überwältigendes Gefühl der Sinnlosigkeit und wirft
       mich wie einen nassen Sack aufs Sofa nieder. Dabei ist es gerade mal der
       allererste Tag nach dem Beschluss, dass sämtlicher Fun zu ruhen habe. Wie
       soll das bloß weitergehen? Morgen, in einem Monat, in einem Vierteljahr?
       
       Ich könnte irgendwas schreiben, aber auf einen weiteren Corona-Text wartet
       die Welt nicht, die Welt wartet auf gar nichts mehr, und nichts wartet auf
       die Welt. Warum sollte ich schreiben – etwa, weil das mein Beruf ist? Es
       gibt keine Berufe mehr, außer Pflegepersonal, Totengräber und Dr. Drosten.
       Alles andere zersetzt sich in seiner immanenten Nutzlosigkeit wie in
       Schwefelsäure. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen. Die Spreu trennt sich
       von der Spreu und geht dabei in Flammen auf.
       
       ## Langeweile: Das Privileg der Jugend?
       
       Am frustrierendsten muss sich das für die Berufe anfühlen, die schon immer
       sinnlos waren. So sehe ich vor der Corona-Schau um acht versehentlich noch
       den Rest der Börsennachrichten. Trader lenken kein Taxi, sie backen kein
       Brot, sie malen kein Bild. Ich hatte für dieses eitle Papiergeschacher nie
       mehr als Verachtung übrig, doch die im Angesicht der ins Bodenlose
       stürzenden Kurse weinenden Börsenmenschen machen mir plötzlich Angst. Es
       ist fast so, als hätte ich etwas mit ihrem Leid zu tun, und ich fürchte,
       das habe ich auch.
       
       Ich könnte ein Buch lesen, doch die Aussicht auf den monatelangen,
       ungehinderten Abbau des Lesestapels bringt meinen Puls fast auf Null.
       Plötzlich frage ich mich, was ich damit soll, und vor allem wozu. Nur, um
       den Widerhall in meinem leeren Kopf mit dem Buchstabenbrei zu dämpfen? Und
       was soll ich mit Netflix, was soll denn bitte noch irgendjemand mit
       irgendwas?
       
       Ich könnte einen Blick in die Zeitung werfen. Die Sportseite habe ich ja
       immer gern gelesen. Ergebnisse, Tabellen, Spielberichte. Aber da waren
       gestern nur die Vorberichte über Geisterspiele drin. Und heute? Die Absagen
       derselben Geisterspiele. Wenn alles abgesagt ist, können sie die Sportseite
       einstellen. Sie können überhaupt alles einstellen. Jede Seite ist ohnehin
       nur voller Corona, Corinna, Corolla, Carola. Mir ist so langweilig.
       
       Langeweile ist normalerweise ein Privileg der Jugend und der Kindheit. Die
       Zeit verläuft so langsam, man hat schier unendlich viel davon. Dagegen hat
       man kaum Taktiken zur eigenen Dauerbetriebsamkeit entwickelt, und wo es
       Pflichten gibt, sind diese meist vom Feind aufoktroyiert, so dass man sich
       ihrer naturgemäß schnell und billig zu entledigen sucht.
       
       ## „Ich“ ist ein Synonym für Arschloch
       
       Anschließend sitzt das Kind dann da und hat gepflegte Langeweile. Lange
       Sonntagnachmittage, an denen ich stundenlang tränenden Auges und untätig
       aus dem Fenster starrte, mich gleichzeitig verfluchend, dass ich die
       wertvolle Zeit wie gelähmt vertat, denn anderntags würde auch nur eine
       entsetzliche neue Schulwoche beginnen.
       
       Später hatte ich niemals wieder Langeweile, sondern eher das Gefühl, nie
       genug Zeit für alles das zu haben, was ich gern erledigen wollte. Das ist
       nun vorbei, denn jetzt habe ich Alte-Leute-Langeweile und die fühlt sich
       viel schlimmer an als die des Jugendlichen. Wissentlich verschwenderischer.
       Schuldhaft. Deprimierend. Es ist, als warte man auf einen Bus nach
       Nirgendwo, von dem man weiß, dass er nicht kommt, weil er längst den
       Betrieb eingestellt hat.
       
       Nicht schreiben, nicht fernsehen, nicht lesen, nicht essen. Kein Appetit.
       So weit ist es schon. Kein Fernsehfußball am Wochenende, die Geisterspiele
       sind ja abgesagt. Keine Lesebühne. Kein Fußballtraining für mich auch am
       Mittwoch, die Sportplätze sind gesperrt. Kein Kino, kein Bier, kein
       geselliges Beisammensein. Alles was schön ist, wird verboten – was weder
       religiöse Fundamentalisten, Helmholtzplatzis noch die bayerische Polizei
       vermochten, schafft dieses Virus im Handumdrehen.
       
       Und, ja, ich gebe es zu: Ich hätte wohl zu spät von meinem Spaßprogramm
       gelassen. Für jemanden, der Lunge, Hirn und Leber anscheinend für so
       verzichtbar wie den Blinddarm hält, ist das nur logisch. Ohne Helm, Gurt
       und Gummi – was kostet die Welt?
       
       Ich persönlich fürchte mich weniger vor der Krankheit als vor Depression
       und Langeweile. Aber „Ich persönlich“ ist auch meistens nur ein Synonym für
       Arschloch. Wir haben nun mal nur 107 kompetente Lungenärzte für 28.000
       Intensivbetten. Genau deshalb bin ich froh, dass für mich so entschieden
       wurde. Idioten, Hedonisten und Harthörige muss man zur Vernunft einfach
       zwingen. Gähn.
       
       16 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uli Hannemann
       
       ## TAGS
       
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