# taz.de -- Katastrophenforscher über Corona: „Wir waren blind“
       
       > Krisenprävention wurde zu lange vernachlässigt, sagt Martin Voss. Ein
       > Gespräch über soziale Missstände und andere Lehren aus der Coronakrise.
       
 (IMG) Bild: Das wäre doch nicht nötig gewesen: Bessere Krisenvorsorge hätte sich bei Corona ausgezahlt
       
       taz: Herr Voss, in einer aktuellen Umfrage gibt ein Viertel der Befragten
       an, nach der [1][Coronakrise] weniger Geld ausgeben zu wollen. Verändert
       die Pandemie unser Konsumverhalten langfristig? 
       
       Martin Voss: Ich bin kein Ökonom, aber klar ist, wir werden weniger
       Kaufkraft in der Gesellschaft haben. Geplante Anschaffungen wie der Kauf
       eines Autos oder einer Stereoanlage werden nun zunächst aufgeschoben, aber
       bei vielen auch zurückgenommen, da andere Fragen in den Vordergrund rücken.
       Allerdings sind nicht alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen
       betroffen.
       
       Fast ein Drittel der Deutschen kann sich keine unerwarteten Ausgaben von
       1.000 Euro leisten. 
       
       Jede Krise und Katastrophe trifft besonders diejenigen, die ohnehin
       verletzlich sind. Sie haben weniger Ressourcen, um sich abzusichern. Wir
       bezahlen jetzt den Preis dafür, dass wir uns eine gesellschaftliche
       Ungleichheit geleistet haben, die einen Großteil der Bevölkerung am
       existenziellen Limit hält. Das gilt natürlich nicht nur national, sondern
       besonders auch global. Der beste Schutz vor Katastrophen ist die Reduktion
       von Armut.
       
       Schlecht bezahlte Dienstleistungsberufe, wie Krankenschwestern,
       Kassiererinnen oder Busfahrer, erfahren in diesen Tagen mehr Anerkennung.
       Unternehmensberater oder Hedgefondsmanager, sogenannte „Bullshit-Jobs“, wie
       sie der Anthropologe David Graeber nennt, erscheinen geradezu überflüssig.
       Welche Lehren lassen sich daraus ziehen? 
       
       Wir dürfen den Wert von Arbeitsleistungen nicht völlig dem Markt
       überlassen. Der Markt bewertet nicht nach gesellschaftlichen Maßstäben,
       welche Art von Arbeit für eine Gesellschaft von besonderer Bedeutung ist,
       er ist keine moralische Wertungsinstanz. In der jetzigen Krise fällt uns
       besonders auf, dass wir diese wichtigen Berufe sowohl sozial als auch
       monetär nicht hinreichend anerkannt haben.
       
       Manche sehen in der Pandemie eine Chance, gesellschaftliche Missstände zu
       beseitigen. Was glauben Sie, überwiegen langfristig die positiven oder die
       negativen Folgen? 
       
       Weder noch. Man könnte sagen, dass auch eine Katastrophe wie der Zweite
       Weltkrieg positive Folgen hatte, weil man danach klüger war als vorher.
       Trotzdem hätten wir uns das lieber erspart. In jeder Krise und Katastrophe
       liegen immer auch Chancen, weil tradierte Handlungspfade und bestimmte
       Muster des Denkens infrage gestellt werden. Dadurch nehmen wir neue
       Handlungsoptionen in den Blick. Wir waren blind und können jetzt wieder ein
       bisschen sehen.
       
       Ist die Coronakrise eine Krise des Kapitalismus? 
       
       Es ist keine Krise des kapitalistischen Grundgedankens an sich. Jedoch
       handelt es sich insofern um eine Krise des Kapitalismus, als wir sehen
       können, wo seine größten Schwachstellen sind. Diese müssen wir wieder
       stärker durch staatliches Steuerhandeln kompensieren.
       
       Zeit also für eine neue Infrastrukturpolitik? 
       
       Wir haben in Deutschland die Tradition des Ordoliberalismus, was wir später
       soziale Marktwirtschaft genannt haben und wovon immer weniger übrig
       geblieben ist. Dieser Entwurf besagt: Es gibt Bereiche, die nicht adäquat
       vom Staat bedient werden können, und Bereich, in denen der Markt nicht
       angemessen funktioniert. Der Gesundheitsbereich ist ein Beispiel für
       Letzteres. Wir müssen diese Krise zum Anlass nehmen, um auch andere
       Bereiche auf solche Schwachstellen zu überprüfen und Marktversagen zu
       korrigieren.
       
       Glauben Sie, dass auf die Coronakrise ein grundsätzlicher Wertewandel
       folgt? 
       
       Definitiv. Es ist eine so fundamentale Krise, dass wir in allen Bereichen
       des Lebens von tagespolitischen Themen auf Grundsatzfragen umschwenken
       werden. Diese grundsätzlichen Verteilungsfragen, die Sie ansprechen, aber
       auch unser Selbstverständnis als Menschen haben wir in den letzten Jahren
       nicht mehr diskutiert. Ich bin überzeugt, dass kein gesellschaftlicher
       Bereich davon frei bleibt, egal ob es die Ökonomie, das Soziale, die Ethik
       oder die Umweltfragen sind.
       
       Armut, Vereinsamung, Depressionen – wie lange darf die Ausnahmesituation
       andauern, damit der gesundheitliche Nutzen die sozialen Kosten überwiegt? 
       
       Dieses Abwägen ist der Kern des Problems. Auch damit haben wir uns im
       Vorfeld nie auseinandergesetzt. Was ist es uns wert, für den Schutz ganz
       besonders gefährdeter Menschen soziale und ökonomische Konsequenzen in Kauf
       zu nehmen? Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir nicht dahingeschwenkt
       sind, das Ökonomische vor die Gesundheit zu stellen. Damit wäre vor Corona
       durchaus auch zu rechnen gewesen. Es geht hier eben um unser
       Selbstverständnis als Menschen, auf Ihre Frage gibt es daher keine einfache
       Antwort.
       
       Wie kann ein Ausstiegsszenario aussehen? 
       
       Wir werden schauen müssen, welche Bereiche des Lebens für eine Gesellschaft
       fundamental sind. Das ist ein Realexperiment, Sozialtechnologie par
       excellence. Wir werden wohl anfangen, bestimmte Bereiche zu liberalisieren,
       manche Geschäfte wieder tageweise zu öffnen, wichtige Industriebereiche wie
       die Autoindustrie wieder hochzufahren und den Bürgerinnen und Bürgern
       wieder erweiterte Bewegungsfreiheiten einzuräumen – aber jeweils so, dass
       man es in Hinsicht auf die Fallzahlen noch kontrollieren kann. Wir werden
       in den nächsten Wochen und Monaten mit solchen Maßnahmen experimentieren
       müssen.
       
       Bereits 2012 hat das RKI in einem Bericht [2][den Verlauf einer
       potenziellen Corona-Pandemie recht genau vorhergesagt]. Hätte sich
       Deutschland besser vorbereiten müssen? 
       
       Die Studie ist seit jeher öffentlich. Noch vor vier Monaten, als die ersten
       Nachrichten zur Situation aus China kamen, saß das Zukunftsforum
       öffentliche Sicherheit (Anm. d. Red.: fraktionsübergreifende Initiative von
       Abgeordneten des Deutschen Bundestags) bereits daran, dieses Szenario zu
       überarbeiten und nochmals auf die Gefahr hinzuweisen.
       
       In dem Papier steht drinnen, dass es keine Frage ist, ob eine Pandemie
       geschieht, sondern wann. Der Bericht von 2012 war ein Weckruf, der die
       breite Öffentlichkeit ganz offensichtlich nicht erreicht hat. Das zeigt,
       wie wenig es die Gesellschaft vorher interessiert hat, sich mit dem Risiko
       einer Pandemie zu beschäftigen.
       
       Wird die Gefahr potenzieller Krisen gemeinhin unterschätzt? 
       
       Definitiv. Medien richten ihren Fokus auf das Alltägliche oder auf aktuelle
       Krisen und nicht so sehr auf potenzielle Gefahren. Die Politik ist auf
       kurzfristige Entscheidungen angelegt, die Wählerstimmen bringen. Wie
       wichtig Krisenprävention ist und dass sich diese langfristig sogar
       ökonomisch rechnet, geht dabei unter. Paradoxerweise sieht man am Ende
       nicht unbedingt, ob es sich gelohnt hat.
       
       Die beste Krisenprävention hat nämlich zur Folge, dass die Katastrophe
       ausbleibt. Damit lassen sich keine Wahlen gewinnen. Zudem haben wir in der
       ganzen Welt kein adäquates Forschungszentrum, das sich mit solchen
       grundlegenden Risiken beschäftigt. Das ist für mich das größte
       Armutszeugnis. In dieser Hinsicht sind wir wirklich selbstverschuldet blind
       gewesen.
       
       Viele dieser Mechanismen treffen auch auf die Klimakrise zu. 
       
       Ja, da greifen die beiden Krisenphänomen ineinander. Wir werden ganz
       gravierende Auswirkungen auf die Diskussion um den Klimawandel haben.
       Allerdings nicht nur im positiven Sinne. Die Ressourcen haben sich deutlich
       verknappt. Es wird also sehr viel schwieriger, Gelder für den Klimaschutz
       zu mobilisieren. Ich fürchte, dass der Klimawandel vorerst von anderen
       Problemen verdrängt wird.
       
       Gleichzeitig erleben wir, dass Gesellschaft sehr viel gestaltbarer ist, als
       wir es uns in den letzten Jahren eingestehen wollten. Wenn man das Risiko
       in seiner vollen Tragweite global begreift und zu radikaler Umgestaltung
       bereit ist, dann kriegen wir auch den Klimawandel hin. Nach dem Lockdown
       sollten wir auf keinen Fall direkt wieder denselben Pfad wie vorher
       beschreiten. Der bereitet nur die nächste Katastrophe vor.
       
       13 Apr 2020
       
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